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Wir sind Kopfarbeite r:innen geworden“

Der Publizist und Transformationsexperte Wolf Lotter fordert, die wirklich wichtigen Fragen zu stellen. Und er plädiert dafür, mehr auf Kreativität, Selbstständigkeit, Vielfalt und weniger auf Mengen, Tempo, Masse zu setzen.

Das Gespräch führte Susanne Gurschler.

SAISON :

Herr Lotter, von Wandel, von Veränderung ist, gerade in letzter Zeit, viel die Rede. Was bedeutet der Begriff beziehungsweise wie definieren Sie ihn? WOLF LOTTER: Was wir seit Jahrzehnten erleben – uns aber sehr selten bewusst machen –, ist der Wandel von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft. Den Begriff der Wissensarbeit hat der österreichisch-amerikanische Organisationsvordenker Peter Drucker geprägt. Was bedeutet das? Wir arbeiten nicht mehr im Schweiße unseres Angesichts, sondern mit dem Wissen und Know-how zwischen unseren Schultern. Wir sind Kopfarbeiter, Kopfarbeiterinnen geworden. Diese Veränderung passt aber gar nicht zur Arbeitskultur von heute, die immer noch aus der Industriezeit kommt: feste Arbeitszeiten, Arbeit im Büro, Arbeit ohne viel Selbstbestimmung. Wir versuchen, Probleme von heute mit Werkzeugen von gestern zu lösen. Das geht nicht.

Zu beobachten ist, dass Veränderung häufig mit Fortschritt, im Sinne von Gewinnmaximierung, verknüpft wird. Aber besteht Wandel im Schneller, Höher, Weiter? Nein, eben nicht. Die Industriegesellschaft hat uns Wohlstand und viele Konsumgüter beschert, das ist klar. Daran ist auch gar nicht so vieles schlecht, wie heute oft behauptet wird. Aber: Eine Massengesellschaft, die auf Massenprodukte setzt, vernachlässigt die Qualität. Deshalb geht es nicht mehr um ein Mehr vom Gleichen, sondern Besseres, das gleichzeitig persönliche Bedürfnisse besser trifft. Es geht darum, dass die Phrase „Der Mensch steht im Mittelpunkt“ nicht nur dahingesagt, sondern auch verstanden wird. Tatsächlich brauchen wir mehr Individualisierung und Personalisierung in vielen Bereichen, weniger Denken in Mengen, Masse, Tempo. Das war historisch einmal wichtig – und ist für die Grundversorgung immer noch richtig –, aber wir sind schon lange darüber hinaus.

„Wir versuchen, Probleme von heute mit Werkzeugen von gestern zu lösen. Das geht nicht.“

Nun ist ja nichts festgeschrieben, alles ist in Bewegung, verändert sich. Braucht es eine bewusste Transformation? Ja. Wir müssen dabei Inventur machen. Was können wir gut, was können wir nicht gut, was wissen wir? Da sagen alle immer: Das ist doch klar. Doch das stimmt nicht. Wir tun sehr vieles unbewusst und in Routinen. Kritisches Zweifeln, ob es nicht anders besser geht, gehört zum Geist der Innovation und Transformation dazu.

Sie sprechen von einer notwendigen Transformation und von Wissensgesellschaft. Welche Prozesse müssen dafür in Gang gesetzt werden beziehungsweise erfolgen? Wir sind da ja schon weiter als vielfach gedacht wird. Die Transformation von der Industrie- zur Wissensgesellschaft hat Menschen in den 1930er-, 1940er-Jahren beschäftigt. Damals war schon klar, wohin die Reise geht, und ich empfehle dazu immer die Arbeiten von Abraham Maslow, Josef Schumpeter und Peter Drucker. Das Wichtigste ist: Neue Organisationen denken, in denen mehr Selbstständigkeit freigesetzt wird. Der Wissensarbeiter weiß mehr von seiner Arbeit als sein Chef, das hat Peter Drucker schon vor 50 Jahren gewusst. Es wird Zeit, dass sich das herumspricht.

Was ist die Folge davon? Es wird mehr Unternehmerisches geben, es wird mehr Eigenverantwortung geben, es wird mehr Selbstbestimmung geben, wenn wir das Industriekorsett in der Organisation abstreifen. Das gilt übrigens auch für andere Bereiche, etwa die Gesellschaft. Fast alle unsere Vereine, Institutionen, Schulen sind nach dem Muster des 19. Jahrhunderts ausgerichtet, als die industrielle Revolution unser Denken erfasst hat. Seither haben wir dieses System immer nur „optimiert“, aber nicht ein besseres System erdacht. Es wird höchste Zeit, damit wir als reiches Europa nicht zum eigenen Industriemuseum werden, sondern Innovationsmeister sein können.

Welche menschlichen Fähigkeiten, Eigenschaften – seien es Kreativität, Fantasie, aber auch andere Skills wie zum Beispiel die Idee als Motor der Veränderung – sollten verstärkt genutzt werden? Alles, was Sie genannt haben, mit viel Selbstbestimmung und verbunden mit selbstständiger Arbeit. Kreativität ist ja nicht einfach mehr Kunst im Büro, sondern die Grundlage neuer Problemlösungen, also echter Innovationen. Kreative sind auch gute Handwerker, die etwas Neues probieren, weil sie mit alten Lösungen unzufrieden sind. Kurz: Kreativität ist die Evolution des Geistes, des Verstandes. Hier müssen wir lernen, dass solche Themen nicht nur an die Universität gehören oder in Seminare und Coaching-Gruppen, sondern in den Alltag. Die wichtigste Frage ist: Kann man das besser machen?

„Es wird höchste Zeit, damit wir als reiches Europa nicht zum eigenen Industriemuseum werden.“

Es gibt sicher Unterschiede darin, welchen Beitrag bestimmte Bereiche, Gruppen leisten können/müssen, um einen Wandel herbeizuführen, damit wir Zukunft positiv und aktiv gestalten können. Welche würden Sie als essenziell ansehen beim Einzelnen, in der Industrie/Wirtschaft, insbesondere Tourismus, in der Gesellschaft, im Staatsgefüge? Wie ich schon sagte: die Leute mehr selbstständig arbeiten und entscheiden lassen. Im Staat heißt das: mehr Bürgerinnen- und Bürgerrechte, mehr Zivilgesellschaft. In Firmen auch. Es ist ja nicht einzusehen, dass kluge, erwachsene Menschen morgens

„Wir entscheiden jetzt, ob wir die gute Gegenwart in eine bessere Zukunft umwandeln wollen.“

ins Büro oder in die Werkstatt kommen und wie kleine Kinder behandelt werden. Sie werden, wie der Berater Jürgen Fuchs es einmal so schön gesagt hat, morgens „angestellt“ und nachmittags „ausgestellt“. Dann gehen sie nach Hause, bauen Häuser, organisieren Familien, lösen komplexe Probleme. Privat sind sie unternehmerisch und selbstbewusst. In der Firma machen sie, was „der Chef sagt“. Das ist doch von gestern. Und dann wundern wir uns, dass nicht mehr geht? Natürlich wird die Lösung besser, wenn man sie von mehreren Seiten sieht. Diversität, also Vielfalt, ist ja nicht nur ein Mann-Frau-Thema, sondern eines, bei dem der und die Einzelne/n gesehen werden. Sie werden respektiert und man traut ihnen was zu.

Nehmen wir als Beispiel den Tourismus. Sie waren kürzlich in Tirol, u. a. beim Adler Forum und beim Kreativsummit Fö N. Welche Transformationen muss dieser Wirtschaftszweig erfahren? Worin bestehen die Chancen eines Wandels im Tourismus und wie könnte er angestoßen werden, wie könnte er ausschauen? Tirol wäre gut beraten, sich zu einem Standort für Wissensarbeit zu machen, zum alpinen Mekka der kreativen Industrie. Bei Fö N, dem Festival der Tiroler Kreativwirtschaft, gab es dazu sehr gute Aufschläge, alle praxisorientiert und hervorragend. Man kann beispielsweise Transformationsprojekte forcieren, wie sie von Chris Müller und Maria Dietrich gezeigt wurden, beides ausgewiesene Praktiker der Transformation. Sie haben die Linzer Tabakfabrik zu einem mittlerweile international als Vorbild gesehenen Zentrum des neuen Arbeitens und Vernetzens gemacht. Das sind keine Visionen und Utopien, sondern handfeste Erfolgsgeschichten. So etwas braucht Tirol. Industrie, die neu denkt, die Wissen schätzt, Kreativität schätzt. Vielleicht weniger Tiroler Abend und ein bisschen Wertschätzung für Kopfarbeit und selbstständiges Denken. Auch beim Adler Forum habe ich in den Gesprächen nach der Veranstaltung deutlich gehört, was man will, wo es hingehen soll. Das ist doch schon sehr viel.

Was passiert, wenn wir diese notwendige Transformation nicht angehen, nicht schaffen? Wir werden muffig, überflüssig und, wenn wir Glück haben, noch von einigen Leuten aus den Erdteilen besucht, die Interesse an der ganz alten Zeit haben. Wir entscheiden jetzt, ob wir die gute Gegenwart in eine bessere Zukunft umwandeln wollen – oder uns an dem festhalten, was wir schon immer gemacht haben. Das reicht noch für ein paar Leute ein paar Jahre. Aber dann sind wir fertig. Und ich werde sehr laut dafür eintreten, dass das nicht so wird. Das bin ich meinem Sohn, der heuer neun Jahre alt geworden ist, schuldig. Und ich glaube, ich bin nicht allein mit dieser Haltung.

ZUR PERSON

Wolf Lotter ist Transformationsexperte und Publizist. Sein Podcast „Trafostation“ läuft seit September 2022. Lotter ist Autor mehrerer Bücher, darunter „Innovation“ (2018), „Zusammenhänge“ (2020) und „Strengt Euch an!“ (2021). 2022 erschien „Unterschiede“, in dem es um Diversität in Gesellschaft und Wirtschaft geht. wolflotter.de

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