Anzeiger für das Nordquartier 2022/04

Page 4

4

QUARTIER-MIX

Bern, 23. Februar 2022

WERKSTADT

Gemeinsamer Genuss auf Augenhöhe mit Gästen Vieles ist anders in der WerkStadt. Bereits die Entstehung war es, denn es war die Lokalität, die den Ausschlag gab zum heutigen Verweilort aus Café, Laden und Veranstaltungsraum. Es ist eine ehemalige Werkstatt, von Freiwilligen umgebaut zu einem Ort für Begegnung und Genuss. Nachhaltigkeit mit Umwelt, Produkten und Menschen stehen im Vordergrund. Martin Jost

Verweilort und Gastfreundschaft an der Lorrainestrasse. Bilder: mj

G

Im Innenraum wurde von der ehemaligen Werkstatt so viel wie möglich belassen.

äste sind willkommene Perso- für die Ideen der künftigen Gastgenen. Freundschaft ist die ge- ber umgebaut werden. Dabei wurgenseitige Zuneigung von Menschen den diese von nahezu 100 Freiwilliuntereinander. So entsteht Gast- gen unterstützt, die insgesamt 2500 freundschaft, so entstand die Ge- Arbeitsstunden leisteten. schäftsidee der WerkStadt. «Kundschaft gibt es bei uns nicht. Wir haben Offen für alle Gäste», unterscheidet Timothée Oli- «Der Raum hat eine Geschichte und vier und umschreibt mit dieser Aus- eine Seele», sagt Timothée Olivier sage Ziel und Zweck des Lokals an und erwähnt dabei den alten Parder Lorrainestrasse. Er gehört zum kettboden, dessen Flecken und SpuKernteam aus sechs Personen hin- ren seine Vergangenheit sichtbar ter den Kulissen. Dazu wurden sechs machen, «solches wollten wir unbeGastgeberinnen und Gastgerber für dingt belassen.» Das gilt auch für die tägliche Arbeit in der WerkStadt weitere ursprüngliche Details wie angestellt. «Wir pflegen mit unse- die metallenen Werkzeugschränke ren Gästen einen Austausch auf Au- oder die Säulen mit der abblätterngenhöhe. Würden wir sie als Kund- den Farbe und das sichtbare Mauerschaft betrachten, wäre der Umgang werk. Die Kompetenzen der einzeletwas anders.» nen Mitglieder Damit spricht er des Teams sind die hohe Transzwar unter«Der Raum hat parenz zwischen schiedlich, in der eine Geschichte und den BetreibenKombination erden und ihren wiesen sie sich eine Seele.» Gästen an, desjedoch als sehr halb habe der hilfreich für den Ausdruck, dass der Kunde König sei, Umbau. Und sorgten letztendlich dakeine Gültigkeit für die WerkStadt. Es für, dass im Depot der Sanitärfirma, sei von Anfang an ein Versuch gewe- die im oberen Stock immer noch ihre sen, blickt Timothée Olivier zurück, Büros betreibt, ein Raum der Begegund das sei es immer noch. «Tatsäch- nung entstanden ist. Ein Raum, der lich war es nicht so, dass das Kern- auch als Veranstaltungsort für Anteam ein Café eröffnen wollte. Es war lässe wie Lesungen, Degustationen, der Raum hier, der den Ausschlag Filmvorführungen oder Vorträge gegab.» Das neue Kapitel in der Ge- mietet werden kann. «Wir wollen schichte des schützenswerten Hau- neue Formen ausprobieren. Ich sage ses aus dem 19. Jahrhundert begann damit aber nicht, dass es auf eine anvor rund zwei Jahren. Die Lokalität dere Weise nicht funktionieren würeiner vormaligen Spenglerei und das de.» Neue Formen, das bedeutet für Depot einer Sanitärfirma mussten ihn und das Team beispielsweise das

Mitgründer Timothée Olivier und Pascale, Gastgeberin für die tägliche Arbeit.

Streben nach soziokratischen Verhältnissen. Dabei wird nicht der Kompromiss angestrebt, vielmehr wird ein Vorschlag als solcher akzeptiert, Einwände werden gemeinsam variiert, bis keine Gegenargumente mehr vorliegen. Und die Gäste, wie macht sich dieser Stil für sie bemerkbar? «Wir pflegen mit ihnen eine Kommunikation auf Augenhöhe, die Beziehung zu unseren Gästen ist sehr transparent. Wir sind alle gleich. Damit wollen wir das Bewusstsein fördern, dass die WerkStadt offen ist für alle.»

Lernen mit den Gästen Natürlich, ergänzt Timothée Olivier, würden Fehler gemacht. Fehler, aus denen gelernt werden soll, gemeinsam mit den Gästen. Diesen Stil offenbarte das Team bereits anlässlich der Übernahme, indem die Bewohnerinnen und Bewohner des Quartiers eingeladen wurden. Diejenigen, die erschienen, wurden gefragt, was ihre Wünsche an ein neues Lokal sind. Immerhin handelte es sich bei der WerkStadt um einen Gastrobetrieb, der zusätzlich zu den bestehenden neu in das Quartier einzog. Dieser Aspekt war und ist Anlass genug für das Team, auf die anderen Lokale Rücksicht zu nehmen. Um diese nicht zu konkurrieren, schliesst die WerkStadt im Winter jeweils am frühen Abend. «Es ging uns von Anfang an darum», sagt Timothée Olivier, «den Menschen aus dem Quartier einen Raum zur Verfügung zu stellen.» Das tun die Betreibenden

Auch die Produkte im Laden stammen aus Betrieben, zu denen ein persönlicher Bezug besteht.

INFO WerkStadt Lorraine Lorrainestrasse 20 3013 Bern  www.werkstadt-lorraine.ch bis heute, einmal pro Woche gibt es den Trefftisch, einmal pro Monat das Quartier-Znacht. Ohne Konsumationszwang, dafür mit Austausch an Informationen und gegenseitiger Unterstützung bei Bedarf.

Lokal passt zum Quartier Die Speisen für den Mittagstisch oder saisonale Kuchen werden teils von Bewohnenden des Quartiers in die WerkStadt gebracht. So kommen Gerichte aus aller Welt auf den Mittagstisch. Das gilt auch für das monatliche Quartier-Znacht, zu dem jemand aus der Umgebung kocht und die Gäste bezahlen in Form einer Kollekte. «Diese Ideen funktionieren gut, dürfen jedoch noch weiterwachsen», sagt Timothée Olivier, «wir freuen uns, wenn weitere Personen dabei mitmachen und für die WerkStadt kochen. Es ist wie ein inspirierendes Spiel für beide Seiten.» Inspiration lebt das Team des Lokals auch bei seiner Wahl der Produkte. Sei es für das Café oder den Laden, der auf Bean-to-Bar-Schokolade und Slow-Food-Produkte spezialisiert ist. Das Geschmackserlebnis, sind die Betreibenden überzeugt, sei noch grösser, wenn die Produkte lokal und nachhaltig produziert seien. Das gilt für den Morgenkaffe über den Brunch bis zum Apéroplättli und zum Feierabendbier. «Wir beziehen sämtliche Speisen und Getränke direkt. Alle, die uns beliefern, kennen wir persönlich», versichert Timothée Olivier. Deshalb erstaunt nicht, dass grosse Namen aus dem Lebensmittelbereich in der WerkStadt nirgends auftauchen. Dafür tauchen die Gäste regelmässig auf. Gäste, denen das Lokal passt. «Denn», so Timothée Olivier, «das Quartier und die WerkStadt passen zusammen. Wir sind sehr glücklich, wie das zusammen funktioniert.»  www.werkstadt-lorraine.ch

Timothée Olivier: «Der Raum hat eine Geschichte und eine Seele.»


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.