ZWÖLF #71 (März/April 2019)

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71 MÄRZ/APRIL 2019

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#71

CHF 8.50 EUR 8.50

SPIELMANN

Das Lied vom Tor

AUSWÄRTSFANS

Wie viele fahren wohin?

Almen ABDI

Im goldenen Käfig


UM DIESEN POKAL ZU SEHEN, MUSS MAN ES INS WM-FINALE SCHAFFEN – ODER NACH ZÜRICH.

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E d i to r i a l

Impressum ZWÖLF – Fussball-Geschichten aus der Schweiz wird von ZWÖLF – Verein für Fussballkultur herausgegeben. Es erscheint sechs Mal pro Jahr. Verein und M ­ agazin sind unabhängig. Meinungen von Autoren müssen sich nicht mit jenen der Redaktion decken. Herausgegeber ZWÖLF – Verein für Fussballkultur 3000 Bern info@zwoelf.ch Präsident: Sandro Danilo Spadini Redaktion Chefredaktor: Mämä Sykora (syk) stv. Chefredaktor: Silvan Kämpfen (skä) Silvan Lerch (sle), Wolf Röcken (wro), Sandro Danilo Spadini (sds). Gestaltung und Art Direction Sascha Török – Wirksame Gestaltung www.torok.ch Autoren dieser Ausgabe Martin Bieri, Pascal Claude, Michael Isler, Renato Kaiser, Nik Lütjens, Silvan Kämpfen, Gabriel Müller, ­ Raphael Rehmann, Simon Scheidegger, Mämä Sykora, Claudio Zemp. Bild/Illustration Stefan Bohrer, Gabriel Müller, Patric Sandri, Sascha Török, Dominik Wunderli. Anzeigen Nico Pfäffli, pfaeffli@zwoelf.ch, Tel. +41 79 420 15 96 Druck FO-Fotorotar Gewerbestrasse 18 8132 Egg bei Zürich Gedruckt in der Schweiz. imprimé en SuiSSe. Stampa in Svizzera. Stampato in Svizzera.

Auflage 11 100 Exemplare ISSN-Nummer 1662-2456

COVER: Bild Dominik Wunderli  www.dominikwunderli.ch

Abonnemente www.zwoelf.ch/abo Jahresabo: 51 Franken 2-Jahresabo inkl. Smalltalk-Booklet: 98 Franken Kontakt www.zwoelf.ch info@zwoelf.ch www.facebook.com/zwoelfmagazin @zwoelf_mag Sämtliche Texte, Bilder und Illustrationen sind urheber­ rechtlich geschützt. Jegliche Weiter­verbreitung ist nur mit Genehmigung der Redaktion gestattet. Die nächste Ausgabe erscheint Ende April 2019.

Fluchgefahr Nicht immer stimmt die Statistik mit der persönlichen Wahrnehmung überein. Das Stade de Genève beispielsweise ist meist menschenleer, obwohl sich gefühlt jeder dritte frühere Schulkollege aus den 80ern als ServetteFan bezeichnet und die Grenats demnach eine Anhängerschaft haben müssten, die sie von allein zum Aufstieg tragen müsste. Wir haben uns für diese Ausgabe des Klubs aus Genf angenommen, der auch in den niederen Gefilden des Schweizer Fussballs noch eine innere Grösse ausstrahlt. Die Protagonisten dieser Nummer seien allerdings gewarnt. Der sogenannte ZWÖLF-Fluch – lange war es ruhig um ihn – droht nämlich wieder aufzuerstehen. Er lastete vor allem auf den Gesprächspartnern in der Anfangszeit dieser Publikation. Longo Schönenberger, Raimondo Ponte, Andy Egli, Rolf Fringer: Alle wurden sie kurz nach Interviews mit diesem Magazin entlassen. Und nun, als wir im Januar mit dieser Ausgabe be­gannen und sie vorsorglich schon mal der grossen Genfer Rückkehr widmen wollten, schmolz der Punkteabstand zum Ende des Redaktionsschlusses so schnell wie der im Flachland nie da gewesene Schnee. Immerhin: Dass unser aktueller Interviewpartner Marvin Spielmann mit dem FC Thun absteigt, das ist wahrlich ausgeschlossen. Seine Bedeutung hoffentlich überschätzend Euer ZWÖLF


I n h a lt s v e r z e i c h n i s

#71

6

Einlaufen   Unsere Antipasti

8 S tartaufstellung

Genfer Geschichten

10

Kaisers L aute   Renato Kaiser, Neuzuzug aus dem Osten

12

LEGEN DEN SPI EL   Claudio Zemp deutet Fussballbilder

65

Auswärtsfahrt   Kriegselefanten in Abu Dhabi

65

Das grosse Z W ÖL F- quiz   Wo der Modefan scheitert

66 ­ Knapp daneben

66

Männer wie Magnin

Smalltalk   Damit gibt man am Wurststand an


14 Behütete

Schätze  Jahrelang bediente sich die Fussballwelt grosszügig aus dem Fundus an Genfer Talenten. Nun will Servette die Jungen behalten – auch wenn sie kaum spielen.

20 Grabenkämpfe

PANTONE® 202 U

Nichts symbolisierte die Unterschiede zwischen der Romandie und der Deutschschweiz so gut wie die Antipoden Servette und GC. Andy Egli erinnert sich.

22 Objektive

Schönheit  Servette-Trikots gelten als die schönsten im Lande. Warum vermag dieses Granatrot so zu verzücken?

26 Leben

in der Kurve  Seit 30 Jahren begleitet die Section ­ renat ihren Klub überallhin. Ein Gespräch mit drei Exponenten G der ältesten Schweizer Ultra-Gruppierung.

32 Klubgeschichte

im Keller  Die Historie der Grenats ist bestens dokumentiert. Sie befindet sich in einem Einfamilienhaus im schwyzerischen Ibach. NLA -Le g ende

34 Soldaten

auf Rasen  Rachid Mekhloufi stand eine grosse Karriere bevor. Er opferte sie und schloss sich dem PropagandaTeam der algerischen Befreiungsarmee an.

40 Fanreisen

Welcher Super-League-Klub bringt die meisten ­ nhänger mit an Auswärtsspiele? Und was ist die beliebteste A ­Destination? Wir haben gezählt.

42 Überflieger

auf Umwegen  Beim FC Thun ist Marvin Spielmann zu einer der prägendsten Figuren der Liga gereift. Im Interview spricht er über seine Ungeduld, den Ruf als schwieriger Spieler und Marc Schneiders Massnahmen.

50 Walliser

Spuren  Gerne erinnert man beim FC Sion daran, dass einst der grosse Ronaldinho im Klub war. Doch hat er nun bei den Junioren brilliert oder ist er doch nur um den Platz gejoggt?

52 Königstransfer

Physio  Auf der Suche nach Verstärkungen schauen sich die Klubs nicht länger nur auf dem Rasen um. Auch für die Staffmitglieder ist ein Markt entstanden.

56 Schlag

auf den Kopf  Fussball ist schwarz und weiss. ­ umindest beim Tippkick. Als Sport betreiben dies nur noch eine Z Handvoll Unverbesserliche. Auslands c h weizer

62 Schlimmer

als Brexit  Almen Abdi hatte sich tatsächlich in der Premier League durchgesetzt. Doch eine Liga tiefer spielt er nicht mal mehr eine Nebenrolle.


W ie gesa g t, äh … Wie schnelllebig der Fussball ist? Bitte sehr, hier ein Beispiel von Jérémy Guillemenot: «Ich möchte in Wien bleiben, will hier grosse Dinge erreichen. Ich fühle mich hier sehr gut und weiss, dass ich früher oder später meine Chance bekomme. Ich denke nicht an einen Abgang.» Sprachs im Dezember 2018 dem Journalisten der «Tribune de Genève» ins Mikrofon – und wechselte einen Monat später zum FC St. Gallen. Und dann war da auch noch Caiuby. In der «Augsburger Allgemeinen» legte er aus­ führlich dar, warum er vom FC Augsburg wieder in die Heimat wechseln wolle: «Ich möchte näher bei meiner Familie sein, in der brasilia­ nischen Meisterschaft, der Copa Libertadores spielen.» ­Durchaus verständlich, allerdings etwas irritierend, wenn man wenige Tage danach bei GC unterschreibt. Ähnlich lang hielt auch das Wort von Xamax-Präsident Christian Binggeli, der vor der Saison im «Tages-Anzeiger» sagte: «Michel Decastel kann in der Super League 20-mal verlieren: Ich würde ihn ­niemals fortschicken, ver­ sprochen!» Nach der 19. Runde musste er dennoch seinen Platz für ­Stéphane Henchoz räumen. Das Geheimnis des Erfolgs von Xamax-Oldie Raphaël Nuzzolo gab dieser auf Teleclub preis. Und es treibt wohl jedem ­Ernährungsberater Tränen in die Augen: «Bis 24, 25 kannst du Kebab essen und oft zu McDonald’s gehen, es ändert nicht viel an deiner Leistung.»

6

Dass er gerade einen zweiten Frühling erlebt, verdankt er vielleicht auch seiner Ergänzung: «Aber wenn du älter wirst, musst du unbedingt etwas mehr schauen darauf.» Nuzzolo war einer der Nominierten für den «SFL Best Player», den besten Spieler der Liga des vergangenen Jahres. Im Vorfeld der Gala mass er sich mit seinen Konkurrenten Guillaume Hoarau und Kevin Mbabu im Lattenschiessen. Der

eine einfache Erklärung: «Z­wischen Angriff und Ver­ teidigung hat die Mayonnaise gefehlt.» Bei der jungen Zürcher Truppe verträgt es das noch, würde wohl auch Ernährungsberater Nuzzolo so sehen. Im «SonntagsBlick» umriss Magnin die Mentalität der Romands: «Wir Welschen denken nicht zu stark an mor­ gen. Der Deutschschweizer erledigt am liebsten schon heute, was er morgen machen

Darbietung auch gleich zum letzten Mal erleben musste. Nicht in die Karten blicken lässt sich der designierte Meister­ trainer Gerardo Seoane. Die «NZZ am Sonntag» wollte von ihm wissen, was denn sein Lieblingsbuch sei, doch Gerardo Seoane blockte ab: «Das gebe ich sicher nicht preis.» Gehört ja schliesslich bei vielen Menschen zu den bestgehüteten Geheimnissen. Die Überraschung der Saison ist sicherlich der FC Thun. SRF-Mann Sascha Rufer beschloss das Berner Derby denn auch mit der Feststellung: «Die Thuner halten sich da oben in der Tabelle. Mit dieser Truppe!» Das mit den Komplimenten üben wir dann nochmals, ­Sascha Ruefer.

Neuenburger gewann, Hoarau hatte eine Entschuldigung parat: «Ich hatte kalte Füsse, und Kevin … ist halt Kevin.» Einen persönlichen Erfolg verbuchte Benjamin Kololli vom FC Zürich an ebendieser ­Award-Night: Er wurde in die «­Golden 11» der Super League gewählt. Nach seinen Zielen für 2019 gefragt, antwortete er mit verblüffender Offenheit: «Ich möchte gerne im Ausland spielen.» So sieht gelebte Klubtreue aus. Ins nächste Fett­ näpfchen trat Kololli, als er sich für den bedeutungslosen Ehrentreffer per Elfmeter gegen ­Napoli auf Instagram feiern liess. Für die Heimniederlage gegen Napoli hatte Ludovic Magnin übrigens im «Tages-Anzeiger»

müsste. Und wir Welschen erledigen es dann lieber überüber­morgen.» Würde er das in den sozialen Medien posten, es folgte wohl umgehend «Rolf Fringer gefällt das». Magnins Vorvorgänger Urs Fischer sorgt derweil in Deutschland mit Union Berlin für Furore und kommt mit seiner bodenständigen Art offenbar gut an. Kürzlich gastierte er bei einem Fanabend mit 200 Teilnehmern. Fischers Fazit in der «B.Z.»: «So etwas habe ich in dieser Grössen­ ordnung noch nicht erlebt. Es hat Spass gemacht. Auch das Heidi-Lied wurde gespielt. Alle haben mitgesungen.» Angesichts von so viel Folklore wünschen wir dem Zürcher Trainer doch glatt, dass er diese

Weniger gut als im Oberland ist die Stimmung auf dem GCCampus in Niederhasli. Einem Benutzer des Hopper-Forums schlagen nicht nur die Resultate auf den Magen, sondern auch eine neue Feststellung: «Es gibt tatsächlich ein Oberhasli? Nicht mal auf dem Land ­ge­hören wir zu den Besten.» Und zum Schluss eine Aussage des Kommentators des Glasgow-Derbys auf Teleclub, die einfach … Wie soll man sagen? Nun ja, zumindest schreibt sie die Geschichte der Religion neu. Lesen Sie selbst: «Die Rangers, der Klub der Demonstranten, und Celtic, katholisch ge­ prägt. Die Demonstranten sind meistens protestan­ tischer Herkunft, deshalb gab es immer wieder Konflikte.»


GE ZÜCKTES

Z ä hlbares

Text PASCAL CLAUDE

Estadio Vicente Calderón, Madrid Foto: DomÍnguez, Madrid

DER TABELLENSTAND DER SUPER LEAGUE. DIESMAL: PUNKTESCHNITT DER NACHWUCHSTEAMS

Auf dieser Postkarte geht es um Auf- und Abriss. Ein Michel schickte sie vor langer Zeit an einen Jean-Michel, ohne auch nur ein Wort zum Postkartenmotiv zu verlieren. Stattdessen wird in Französisch festgehalten, dass die Spanierinnen zwar allesamt «guapas» seien, aber «sehr schwierig aufzureissen». Was wohl aus Michel geworden ist? Ob er gelernt hat, in der Welt zurechtzukommen? Wir wissen es nicht. Dafür wissen wir haargenau, was aus dem Stadion Vicente Calderón geworden ist: Wo auf der vorliegenden Aufnahme eine schattenspendende Allee zur Haupttribüne führt, wurde kurz darauf die Stadtautobahn verlegt, die – in der Stadionwelt wohl einzigartig – längs durch die Haupt­tribüne führte. 2017 zog Atlético Madrid in ein ausgebautes Leichtathletik­stadion. Der Abriss des Vicente Calderón beginnt in diesen Wochen.

Einen guten Eindruck davon, wie zuversichtlich ein Klub der Zukunft entgegenschauen darf, liefern die Resultate der Nachwuchsmannschaften. Dort stehen derzeit auch Vereine ganz vorne, die sich in der Super League eher gegen hinten orientieren. Der FC Luzern, nicht eben als Talent­ schmiede bekannt, mischelt derzeit in allen Stufen an der Spitze mit, wie auch – fast schon tradi­tionell – GC. Weniger Anlass zur Freude geben aktuell die Resultate ausserhalb der Deutschschweiz. Rang Klub U15 U16 U18

Ø

1

FC Luzern

33 36 24 31.0

2

Grasshoppers

27 27 31 28.3

3

BSC Young Boys 35 27 22 28.0

4

FC Basel

26 30 23 26.3

5

FC  St. Gallen

32

6

FC Zürich

14 22 21 19.0

7

FC Lugano

24 19

8

Neuchâtel Xamax 15 10 20 15.0

9

FC Sion

10

FC Thun

29

8 23.0

7 16.7

15 13 15 14.3 7 19

9 11.7

Stand: 20.2.2019.

Zufallstreffer

Gefü hlte Wa hr heit

Im Konzert der ganz Grossen verbleibt man ja stets im emotionalen Nichts. Juve, Real, PSG: Was interessiert die das, ob ich ihnen heute im TV-Studio zu Volketswil die Daumen drücke, geschweige denn ihr Trikot zur Schau trage. Und so wird zur pfiffigen Garderobe ge­ griffen, denn wahre Unterstützung gebührt nur einem: Hopp, Urs Meier, o du 60-jähriger Ex-Schiedsrichter und ­Teleclub-Fussballexperte! Ach ja, wo bleiben die Fringer-Fans?

Die RELEVANZ von Vorbereitungsspielen

AUCH WENN ES NUR

EIN TEST WAR …

JEDER SIEG IST WICHTIG FÜR DAS

SELBSTVERTRAUEN MAN HAT GESEHEN, DASS

WIR BEREIT SIND DIE DREI PUNKTE NEHMEN WIR MIT* Nach einem Sieg

DIESEN TEST SOLLTEN WIR JETZT NICHT ÜBERBEWERTEN

WIR MÜSSEN NICHT HEUTE GEWINNEN,

SONDERN WENNS ERNST GILT

DIE INTENSIVE VORBEREITUNG HAT KRAFT GEKOSTET

SO KURZ BEVOR ES RICHTIG LOS GEHT, WOLLTE

SICH HALT KEINER MEHR VERLETZEN

Nach einer Niederlage

* Ricardo Rodriguez einst nach einem Vorbereitungsspiel mit der Nati

7


S tartaufstellung

Flucht ins Glück

Granaten

Schöne Bescherung

Zu diesem sagenumwobenen Klub gibt es natürlich auch unsere obligaten acht ­Anekdoten.

Temporärer Brexit Richtig falsch Als Sowjet-Truppen 1956 in ­ihrer Heimat einmarschieren, ist eine ungarische Juniorenauswahl auf Westeuropareise. Sie sieht die Gelegenheit zur Flucht. Karl Rappan lotst sie nach Genf in sein Café de la Bourse. Manche ziehen ins umliegende Ausland weiter, sechs von ihnen – «drei Mecha­niker, zwei Schlosser und ein Student» – schliessen sich ­Rappans Elf an. Die Ungarn-Fraktion könne dem Schweizer Fussball nur guttun, schrieb die ­lokale Presse. Das Trio um Deszö ­Makay, Valer ­Nemeth und ­Peter Pazmandy prägt fortan Ser­ vettes Offensive. Die «­Tribune de Genève» urteilt: «Sie ­haben das ‹Gespür für den F ­ ussball› und verhelfen dadurch ­ihren Kameraden zu gross­artigen ­Aktionen, die das Publikum begeistern.» Die Ungarn gewinnen 1961 und 1962 die Meisterschaft. Peter P ­ azmandy erlangt 1979 Heldenstatus, weil er in die Geschichte eingeht als einziger Trainer, der einen Schweizer Klub in einer Saison zu vier nationalen Titeln führt: Meister, Cup, Liga- und Alpencup. ­Makay und ­Pazmandy wohnen bis zu ihrem Tod in Genf, der bald 81-jährige ­Nemeth lebt weiterhin in der Calvin-­Stadt.

8

Bei Hertha Berlin herrscht am Samichlaus-Tag im Jahr 2001 Zuversicht. Für viele ist der Einzug in den Achtelfinal des UefaCups nach dem Auswärts-0:0 gegen Servette reine Form­sache. Doch dann trifft der Brasilianer Hilton (der heute mit munteren 41 immer noch als Captain Montpelliers Abwehr zusammenhält!) schon bald zum 1:0 für die Grenats. Es folgen eine Rote Karte und die Gegen­ treffer 2 (durch Alex Frei) und 3 (dank Raucher Obradovic). Eine schöne Bescherung für den Bundesligisten – und aus Freis Sicht die gerechte Strafe für eine «überhebliche Mannschaft». Spielführer M ­ ichael Preetz ist ob der Blamage restlos bedient. Als ihn der hartnäckige Reporter des Schweizer Fernsehens fragt, ob Hertha arro­gant aufgetreten sei und Servette unterschätzt habe, bricht er das Interview kurzer­ hand entnervt ab. I­ mmerhin: Die Niederlage hat für ihn auch etwas Gutes. Als Manager wird sich Preetz an den Taktikfuchs auf des Gegners Trainerbank erinnern – und ihn 2007 mit viel Getöse aus Zürich ins Olympiastadion holen: Es ist SFC-Legende Lucien Favre.

Die These, dass der Fussball­ konsum die Geografiekenntnisse exponentiell s­ teigert, bewahrheitet sich leider nicht immer. Aber gäbe es den Europa­cup nicht, hätte ­Francisco José González Arias in der spanischen Quizshow «Pasapalabra» kürzlich wohl überhaupt keine Antwort ­parat gehabt auf die Frage, wie die Hauptstadt des schweizerischen Kantons Wallis heisst. So aber reichte es immerhin zu originellem Raten: «Servette?» Wir zollen allerhöchsten Respekt für diesen Tipp. Oder was würdet ihr sagen, wenn ihr nach dem Hauptort der Provinz Extremadura gefragt würdet? Betis? Die von ihm ausgelöste Pointe begriff González zunächst wohl kaum. Die Genfer haben sie ihm unterdessen aber erklärt. In der Freude über die Vorzugsbehandlung gegenüber dem Erzrivalen aus Sion schickten sie ein Paket samt Schal und Trikot nach Spanien.

174 Tore in 367 Partien für Totten­ham Hotspur, dazu 13 Treffer in 24 Länderspielen für England: Es ist wahrlich kein Nobody, der 1976 mit 31 zu Servette wechselt. ­Martin ­Chivers wird denn auch in ­seiner zweiten Saison in Genf zum besten Ausländer der Schweiz gewählt und kommt zu Meister- und CupEhren. Der letzte ­Triumph beschert ihm einen doppelt denkwürdigen Abschied. Chivers gewinnt die Sandoz-Trophäe ­gegen GC nämlich nicht nur in ­seiner letzten Partie im SFCDress, sondern auch erst im Wiederholungsspiel. Zu verdanken hat Chivers diese Erfolge nicht zuletzt seiner schnellen Integration. Der Engländer parliert bald munter auf Französisch – was er noch heute gerne hervor­hebt: Als 2018 Harry Kane mit Real M ­ adrid in Verbindung gebracht wird, rät ihm das Mitglied von Tottenhams Hall of Fame, nicht ins Ausland zu wechseln. Das sei «nicht so einfach», ihm aber gelungen, weil er die Sprache beherrsche. Oder weil Servette – bei allem Respekt – doch nicht ganz so aussergalaktisch ist?


Fürio!

Erfinderisch

Sport frei

Um all die Finanz­eskapaden aus Servettes (jüngerer) Vergangenheit wollen wir hier ­getrost einen Bogen ­machen – mit einer Ausnahme, sie ist als Volte einfach zu gut. Also sprach Marc Roger im ­Januar 2005: «Servette ist gerettet!» Ausgerechnet der Präsident, der den Verein in den Ruin treiben wird, spart sich die grösste Pointe seiner Amtszeit für den Schluss auf – und präsentiert den Heilsbringer: Joseph Ferraye. Der libanesisch-­ französische Doppelbürger scheint als Feuerwehrmann prädestiniert, stellt er sich doch als Erfinder von Systemen vor, mit denen sich brennende Ölquellen löschen lassen. Und so drapiert er bei der Medien­ konferenz artig einen SFCSchal um den Hals, derweil sich um denjenigen des Vereins immer mehr die Schlinge zuzieht. Daran ändert auch sein (Achtung!) 5-Jahres-Plan nichts, denn die (genau!) 147 Millionen Franken, die er einzuschiessen gedenkt, lösen sich in Rauch auf. Das Geld bleibt blockiert – von «korrupten Grossbanken». So verschwindet Ferraye genauso schnell wieder von der Bild­fläche, wie er auf ihr erschienen ist. Servette muss es ihm gewissermassen gleichtun: Konkurs und Zwangsabstieg in die 1. Liga.

Die Jugend von heute sei ledig­ lich auf Konsumation aus, muss sie sich oft anhören. Dass das früher noch ganz a ­ nders war, zeigt zumindest die Gründung von Servette: Ein kleiner Junge bekommt von ­seinem Vater als Mitbringsel von einer Englandreise einen ­ovalen Ball, kurz darauf – am 20. März 1890 – wird der Servette Football Club Genève gegründet. Gespielt wird Rugby, und zwar so ambitioniert, dass die Verlierer der Trainings­ matches eine Geldstrafe zu berappen haben. Frei von Sorgen ist die jugendliche Truppe kaum je: Erst wird man vom Eigen­tümer von der Trainingswiese verjagt, am Ausweichort taucht dann plötzlich eine Fussballmannschaft aus gestandenen Mannen auf, und dann findet an ebendieser Stelle auch noch die Landesausstellung statt. Für drei Jahre ist Servette zum Nichtstun verdammt und muss danach feststellen, dass es im Land gar keine Rugby-­ Gegner mehr gibt, weil alle bereits zum Fussball gewechselt hatten. Erst jetzt wird auch bei Servette gekickt. Im Parc des Sports entsteht eine Tribüne – reserviert für Frauen und das Präsidium. 1907 schon geht der erste Meister­titel nach Genf.

Der richtige Falsche

1930 gab es noch keine europäischen Wettbewerbe, noch keine Champions League – und so erfand sie Servette kurzerhand selber. Sämtliche europäischen Meister wurden nach Genf zur «Coupe des Nations» eingeladen. Norwegen und Griechenland sendeten Protestnoten, weil sie offenbar vergessen gingen, schliesslich reisten zehn Titelhalter an – wobei sich später herausstellte, dass der spanische Vertreter Real Unión Irún gar nie Meister geworden war. Auch hierbei war die Genfer Champions League also prophetisch. Die Partien fanden in etwas gar feierlicher Atmosphäre statt. Ein Wiener Journalist merkte zum Finaltag an: «Es gab abermals Hymnen, mit denen man hier überhaupt sehr verschwenderisch umgeht.» ­Újpest Budapest wurde Sieger, weitere Austragungen des Turniers gab es nicht. Sein Faible für aussergewöhnliche Wettbewerbe verlor Servette indes nie. Noch heute kommt keine Ehren­tafel aus, ohne auf die vier Gewinne des Alpencups hinzuweisen – ein Turnier, das in den 60er-, 70er- und 80erJahren stattfand und dessen sportliche Bedeutung mangels grosser Namen bald irgendwo zwischen dem Sempione-Cup des FC-Klus-Balsthal und dem Uhrencup anzusiedeln war.

Es kommt selten vor, dass man übers Ohr gehauen wird und sich anschliessend dafür bedankt. Servette-Präsident PaulAnnick Weiller durfte dieses seltsame Gefühl 1992 erleben. Damals erwartete er nämlich den neuen Spieler aus Brasilien, der von seinem Agenten als wahre Bombe ange­kündigt worden war. Doch ­dieser Stürmer, der da in Cointrin ­landete, hatte so gar nichts gemein mit den Bildern, die man bei ­Servette von ihm kannte. Aber er hatte so ein strahlendes ­Lächeln, dass der Patron ihn gross­herzig gleichwohl mittrainieren liess. Es stellte sich heraus, dass der vorgesehene Stürmer keine Lust auf Genf verspürte, der Agent sich aber nicht mit ­leeren Händen anzureisen traute und statt­ dessen einen anderen verfügbaren Spieler mitbrachte. Der Ersatz schlug sich derart gut, dass Weiller ihn auf der Stelle verpflichte. Sein Name: Sonny ­Anderson. Die spätere Barcelona-Legende ­erinnerte sich später: «Ich hatte keine A ­ hnung, wo ich war und um welchen Klub es ging. Es war nur ein Gefallen für meinen Agenten. Gleich nach den Probe­trainings wollte ich nach Brasilien zurückkehren, aber meine Eltern fanden, ich solle dort bleiben.» Der Rest ist ­Geschichte.

9


Kaisers laute

Renato kaiser ist wahlweise Satiriker, Komiker oder Slam-Poet. @Renato_Kaiser

Eine emotionale S-Bahn-Fahrt

Ausserdem wollten sie mit meiner Verpflichtung einen Schritt in den Mainstream wagen. Weg von dem, der die Weltmeistermannschaft von 1982 mit Vor-, Nach- und Mädchenname der Schwiegereltern weiss, hin zu dem, der sagt: «Weisst du, der, der hinten links spielt bei Valencia oder Sevilla, der mit den Haaren und Tätowierungen!» Ganz ehrlich: Es interessiert wirklich keinen, wer bei denen hinten links spielt, da können die noch so oft die Europa League gewinnen. Also Sevilla. Oder Valencia. Warum sollte ich mir in der CL-Gruppenphase die Mühe machen, die Mannschaften auseinanderzuhalten, wenn ab dem Halbfinal eh nur noch Kaliber wie Manchester, Manchester, Madrid und Madrid eine Rolle spielen? Husch, husch, ins Körbchen, ihr Mannschaften mit diesem einen Titel in den 70er-Jahren! «Wusstest du, dass Tennis Sport Uerdingen im Jahre 1975 einmal erst im

Elfmeterschiessen gegen den 2. FC Aberdeen den Pokal der Pokalsieg …» HALTS MAUL, MÄMÄ! Jetzt hätt ich fast verpasst, wie Rakitic «der Mann aus Möhlin» genannt wird! Der hat schliesslich mal beim FC Basel gespielt! Und dem FCB fühle ich mich als St. Galler zurzeit so nah wie nie – zumindest punktemässig. Mit Erfolg­ losigkeit kenne ich mich nämlich bestens aus, und das meine ich durchaus positiv! Nichts ist entspannter als das Leben eines Espen-­ Fans! Wir haben unsere Mitte gefunden, nicht nur tabellarisch. Kein Hoch, kein Tief, eine emotionale S-Bahn-Fahrt sozusagen. Weder müssen wir je wirklich befürchten abzusteigen (irgendein Vaduz, Lausanne oder Zürich ist da ja immer noch), noch laufen wir Gefahr, Meister zu werden. Auch letzte Saison, als wir einen ziemlichen Lauf hatten und kurzzeitig sogar Zweite waren, hat der Verein sofort reagiert, Matthias Hüppi und Alain Sutter engagiert, und jetzt sind wir wieder Mittelmass. Puh. Schwein gehabt. Doch bevor jetzt hier mein ostschweizerisches Understatement endgültig überhandnimmt, möchte ich noch anmerken: Mein Fussballfachwissen reicht natürlich schon weiter als nach Bayern oder Barcelona. Ivan Rakitic zum Beispiel, wissen ja viele nicht, hat früher in Sevilla gespielt! Oder in Valencia. Nun, wie dem auch sei. Ich spiele jetzt hier bei ZWÖLF. Ich bin Renato Kaiser – der Mann aus St. Gallen.

Renato Kaiser, geboren 1985, machte sich als Poetry-Slammer einen Namen. Im ­ interthurer Casinotheater präsentiert er seine Show «Kaiser-Schmarren», zudem ist W er bekannt für seine satirischen Videokommentare zu Politik, Gesellschaft und Kultur. Neu tritt er auch in der SRF-Sendung «Late Update» auf – und fortan als Kolumnist für dieses Magazin.

10

Claudio Bäggli

Liebe ZWÖLF-Leserinnen und -Leser, ich möchte mich Ihnen gerne vorstellen. Moment, ich fange noch mal an. Liebe zwölf Leser­ innen und Leser. Ha! Haha! Ha. Ja, genau wegen dieses filigranen Feinschmeckerhumors haben mich die Herren vom ZWÖLF engagiert, den beidfüssig geschwungenen Roberto-Carlos-Schenkel der ­Schweizer Spasslandschaft. Und natürlich um die Schreibmannschaft wieder aufzustocken. Nur ein Fussballnerdmagazin, das mehr Leute produzieren als lesen, ist ein richtiges Fussballnerdmagazin. Hihi! Tschuldigung.



L e g endenspiel

mit Claudio Zemp Der Autor mag alte Fotos und macht sich seinen eigenen Reim drauf. @postkartenfranz

zw รถ l f


Bern-Wankdorf, Cup-Final 1976, Zürich – Servette / ETH-Bibliothek Zürich, Comet Photo AG (Zürich) / Com_C08-103-010-001 / CC BY-SA 4.0

In der Pause stieg Ben auf die Kante der Werbe­ bande, stand auf und legte einen Seiltanz für die Galerie aufs Parkett. Wie Freddy Nock; mit der Jacke als Balancestab. Und es gelang, fabelhaft! Leider nahm aber keiner die artis­ tische Glanzleistung wahr, weil auf dem Feld gleichzeitig eine Marschmusik aufspielte. Mit Majoretten in kurzen, weinroten Röcken. 13


Talent-


-Los

Text Raphael Rehmann und Silvan Kämpfen @r_rehmann

Servette bringt schweizweit unvergleichlich viele Talente hervor – und hat in der Vergangenheit alle verloren, oft vor dem ersten Ernstkampf. Nun tut sich einiges im Verein. Hat der Wind endlich gedreht?


E

r wirkt wie ein gestandener Profi. Mit verschränkten Armen und leicht nach hinten gebeugtem Oberkörper gibt Kastriot Imeri im Bauch des Stade de Genève Auskunft über sich und seine Pläne. Das Rencontre mit dem viel älteren Teamkollegen eben auf dem Trainingsplatz draus­ sen? Normal. Man müsse sich schliesslich beweisen unter der Woche. Dass er seinen Vertrag bei Servette vor gut einem Jahr bis 2021 verlängert hat? Nur logisch. Dabei ist es das gerade nicht. Der bullige Mittelfeldspieler Imeri ist 18 Jahre alt, kommt regelmässig zum Einsatz in der ersten Mannschaft und hat in der Schweizer U19-Nati auch schon die Captainbinde getragen. Beste Voraussetzungen, um von Servette davonzulaufen. In den letzten Jahren war das die Regel. 2013 hatte der 18-jährige Kevin Mbabu 24 Super-League-Minuten in den Beinen, als er nach England wechselte, bei Denis ­Zakarias Transfer mit 17 zu YB waren es 2015 sechs Challenge-League-Partien. Höhere Wellen schlugen die Abgänge im Sommer danach – von Jungspielern, die noch weniger Erfahrung vorzuweisen hatten, aber als die nächsten Genfer Supertalente gefeiert wurden. Jérémy Guillemenot zog es zum FC Barcelona, Lorenzo Gonzalez zu Manchester City. Andere Abgänge waren für Servette nicht weniger bitter. Eine Vielzahl von Jungspielern musste der Klub ziehen l­ assen – nach Porto oder Southampton, aber auch nach Thun, Sion und Zürich (siehe Tabelle) –, teils bevor sie überhaupt in der ersten Mannschaft ankamen. Immer wieder kam es dabei zu Miss­ tönen. Zum Beispiel beim Wechsel von ­Christopher Lungoyi zum FC Porto im Winter 2018. Im Interview mit dem Regionalfussballportal «Proxifoot» kritisierte der damals 17-Jährige die Organisation beim Klub aus dem gleichnamigen Genfer Stadtquartier. Manchmal habe er erst am Morgen erfahren, mit welcher Mannschaft er an jenem Tag trainieren sollte. Er sei zwischen U18, U21 und der ersten Mannschaft hin- und her­geschoben worden. Lungoyi kritisierte auch, dass Servette lieber erfahrene Spieler verpflichte, statt den eigenen Junioren das Vertrauen zu

16

SFC-Chronik

schenken. «Hätte man mir versprochen, mich in die erste Mannschaft zu integrieren, wäre ich geblieben», sagte der Juniorennatispieler. Aufmarsch der Berater Servette ärgert sich über die vielen Abgänge. Das gibt auch Constantin Georges zu. ­Georges ist seit 2015 Generaldirektor des SFC. Zuvor war er nicht im Fussball tätig, kennt sich dafür umso mehr in Unternehmens­ führung und Verträgen aus, eine Qualifikation, die nach der neuerlichen Zwangs­ relegation von Servette in die Promotion League wohl unabdingbar war. Er empfängt ZWÖLF in einem kleinen Sitzungszimmer auf der Geschäftsstelle mit Blick auf das Stadion. Zum Fall Lungoyi sagt er: «Wir können nicht ausschliessen, dass das so passiert ist.» Lange schien der Klub das Problem einzig mit externen Faktoren erklären zu

wollen: mit dem aggressiven Gebaren der Grossklubs, den verblendeten Talenten, den gierigen Eltern und – am schlimmsten – den Spielervermittlern. Es gab Tage, da beäugte rund ein Dutzend von ihnen, angereist aus aller Welt, die Trainings von U15, U16 oder noch Jüngeren. Als Reaktion hat Servette vor den Plätzen in Balexert einen breiten, weinrot-weissen Sichtschutz aufgehängt. Aufgedruckt sind die 17 Meistertitel, 7 Cup-, 4 Alpen­cup- und 3 Ligacupsiege. Als wollte man sagen: Dieser Verein ist grösser als ihr. Es darf allerdings getrost bezweifelt werden, ob dies die Berater davon abhalten wird, die Junioren zu umgarnen – zum Beispiel nach dem Training, auf dem Parkplatz. Inzwischen gesteht Servette aber auch Fehler ein. Dass klare Strukturen fehlten, sei natürlich mit ein Grund für die vielen Abgänge junger Spieler gewesen, sagt

Servettes Exodus Auswahl von Talenten, die den SFC in jüngster Zeit verlassen haben. Spieler Zeitpunkt

Alter beim Wechsel Zu

Kevin Mbabu

Jan 13

17

Newcastle united

Maxime Dominguez

Feb 15

19

FC Zürich

Denis Zakaria

Jul 15

18

BSC Young Boys

Dereck Kutesa

Jan 16

18

FC Basel

Jérémy Guillemenot

Jul 16

18

FC Barcelona

Lorenzo Gonzalez

Jul 16

16

Manchester City

Yassin Maouche

Jul 17

19

FC Zürich

Miguel Rodrigues

Jul 17

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FC Thun

Christopher Lungoyi

Jan 18

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FC Porto

Becir Omeragic

Jul 18

16

FC Zürich

Timo Ribeiro

Jul 18

19

FC Sion

Alexandre Jankewitz

Aug 18

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SOUTHAMPTON

1890 Servette FC wird geboren Am 20.3. ist es so weit – gespielt wird vorerst Rugby.


G R E NAT-TAL E NT E

Andy Mueller/freshfocus

Kastriot Imeri (18) soll für das neue Servette stehen: Er wählte nicht wie viele den frühen Abgang, sondern unterschrieb einen langfristigen Vertrag.

­ onstantin Georges. Er erzählt von den BauC stellen und Hürden, die sein Klub in den letzten Jahren hat überwinden müssen. Finan­ zielle Löcher stopfen – und dem Verein neue, gesunde Strukturen verpassen. «Es ist alles ein bisschen komplexer, als es in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird.» Man müsse Prozesse etablieren, wie Verträge mit Nachwuchsspielern aufgesetzt werden, Kriterien definieren, wen man unter Vertrag nehmen wolle und zu welchen Bedingungen, kompetente Leute ins Boot holen. Und dann müsse man den Jungen auch sportlich etwas bieten können. All das, die Arbeit an der Akademie und am Staff, brauche Zeit. «Fehler sind nicht gleich dann behoben, wenn man sie erkennt und angeht», erklärt Georges. Mittlerweile habe sich aber alles stabilisiert. Und: «Aus dem Exodus der Jungen haben wir gelernt.» Ein Lorenzo Gonzalez würde heute vielleicht nicht mehr gehen. Servette antizipiert potenzielle Abgänge nun frühzeitig und bindet die Jugendspieler vertraglich. Kastriot Imeri ist nur ein Beispiel. Manche bekommen ihr Angebot schon vor dem Sprung in die erste Mannschaft. Im Herbst etwa erhielt Edin Omeragic als 16-jähriger Goalie einen Dreijahresvertrag.

1899 Die Fussball-Premiere Servette schlägt Excelsior Zürich mit 2:1.

Vor den Trainings­ plätzen hängt ein breiter Sichtschutz – wegen der ­vielen Spieler­ vermittler.

Kürzlich haben die 2001er-Jahrgänge N ­ icolas Vuilloz und ­Mathis Holcbecher – auch sie ­haben an diesem Feb­ruarmorgen mit der ersten Mannschaft trainiert – ihre Verträge bis 2022 verlängert. Damit verhindert der Klub die vorzeitigen Abgänge zwar nicht endgültig, verdient im Fall von solchen aber immer­hin etwas. Für den damals 16-Jährigen Alexandre Jankewitz soll ­Southampton im letzten Sommer über 1,5 Millionen Franken bezahlt haben. Geigers Senioren Die Entwicklung im Nachwuchs macht Hoffnung in Genf. Wie die sportliche Situation. Beides ist untrennbar miteinander verbunden, wie CEO Georges darlegt. Um den Klub bestmöglich weiterentwickeln zu können, müsse man in der Super League spielen, sagt er. Und um einen zentralen Punkt in Ser­vettes Philosophie erfüllen zu können: die Ausbildung junger Spieler. «Wenn wir in der S ­ uper League spielen, können wir den Jungen eine bessere Perspektive bieten», sagt Georges. Das wiederum könnte weitere Abgänge verhindern. Und wenn dann doch ­einer wechselt, wären die Transfer­erlöse deutlich höher.

1907 Der erste Meistertitel In der Finalpoule Siege gegen Basel und Young Fellows.

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Servette ist auf gutem Weg dahin – trotz deutlich geringerer Mittel als Rivale Lausanne. Doch zu welchem Preis? Alain ­Geiger, den hier alle nur «Coach» nennen, ist im Training stiller Beobachter. Der Staff, der schon länger im Amt ist, lässt Angriffe über die Flügel und anschliessendes von hinten Herausspielen unter Pressing üben. In der Meisterschaft setzt der Cheftrainer auf viel Erfahrung – die Genfer stellen die älteste Startelf aller Challenge-League-Teams. Von den viel gelobten Talenten spielt nur ­Kastriot Imeri regelmässig, meist als Einwechselspieler. Das Spiel prägen bekanntere Namen, die Wüthrichs oder Sauthiers. Es ist der oft ­zitierte schwierige Spagat zwischen sportlicher Ambition und erfolgreicher Integration der Jugend, die ein Lippenbekenntnis zu bleiben droht. «Imeri spielt», führt ­Geiger nach dem Training aus, während er am Stehtisch an einer Cola nippt. «Aber wenn ich ­neben ihm noch einen 18-Jährigen aufstellen würde, wäre das schwierig mit den sport­ lichen Zielen.» Vor allem Eltern und Spielerberater würden nicht begreifen, wie das mit der Ausbildung laufe. «Wenn einer Maurer, Elektriker oder Mechaniker werden will, dann macht er eine mehrjährige Lehre. Nur im Fussball haben sie das Gefühl, dass einer nach zwei Wochen schon in der ersten Mannschaft spielen kann.» Ein Klub müsse die Jungen auch etwas vor der grossen Belastung schützen. «Viele spielen daneben ja noch in der Nati», sagt Geiger. Um möglicher Skepsis entgegenzutreten, will der Walliser ganz zum Schluss des Gesprächs noch einmal betont haben: «Die Jungen sind mir wichtig!» Dass Servette seine Vision ausgerechnet mit Alain Geiger umsetzen will, hat im Sommer viele überrascht. Medien und Fans hatten mit einem Trainer moderner Prägung gerechnet. Der 112-fache Nationalspieler hatte sich selber auf die Stelle beworben. Die sieben Jahre zuvor – seit seinem Abgang bei ­Xamax – hatte er als Trainer hauptsächlich in Afrika verbracht. Sechs verschiedene Klubs trainierte er da, vor allem in Algerien, aber auch in Ägypten und Saudi-Arabien coachte Geiger. In einer Zeit, in der es weltweit eine Tendenz zu immer jüngeren Trainern gibt

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Trotz viel­ gelobter Talente: Die Genfer ­stellen die älteste ChallengeLeague-­ Mannschaft.

und Klubs bei einer Vakanz vermehrt Nachwuchstrainer zum Chef ­machen, erscheint der Entscheid zweifellos mutig. ­Constantin Georges kennt die kritischen Stimmen – und wischt sie weg. «Wer zweifelt, kennt Alain Geiger nicht», sagte er. G ­ eorges spricht von einem aussergewöhn­lichen Fussballverständnis, betont Geigers Erfahrung und seine Führungsqualitäten. Ein «Projekt wie Servette» könne davon enorm profitieren. Nährboden der Banlieues Gut möglich, dass die Verpflichtung G ­ eigers nicht nur aus sportlicher Sicht zu beurteilen ist. Die Führung will nicht nur an alte Erfolge anknüpfen, sondern dem Verein auch neben dem Platz den Glanz zurückbringen. Nach und nach besetzt man deshalb verschiedene Posten mit ehemaligen ­Servettiens. Das Training der ersten Mannschaft beobachtet Teammanager ­Lionel ­Pizzinat von der Seitenlinie, Carlos ­Varela trainiert die Stürmer. Bei den Junioren kümmert sich Patrick ­Müller um die Verteidiger. ­Massimo Lombardo, zuletzt Nachwuchstrainer im Verband und Assistent im FC ­Basel, traf gleichentags mit ZWÖLF auf der ­Geschäftsstelle ein und wurde zum neuen Chef der ­Académie ernannt. Der Klub erhofft sich neue Erfolge. 2015 nahm Servettes U19 als Junioren­m eister

1924 Doppelamt für SFC-Trainer Teddy Duckworth holt mit der Nati Olympia-Silber.

noch an der prestigeträchtigen UEFA Youth League teil. Das weckte Begehrlichkeiten. Die strukturellen Schwierigkeiten nach dem Fast-Konkurs im gleichen Jahr befeuerten die Abgänge zusätzlich. Damit lässt sich auch die aktuell geringe Zahl von sechs Servettiens in den U-Auswahlen des SFV er­klären. Nachwuchshoffnungen wird es in Genf aber immer geben. Da sind sich alle ­einig. Die NZZ hielt kürzlich fest, dass zuletzt deutlich mehr Talente aus der Calvinstadt hervorgegangen sind, als rein statistisch zu erwarten wäre. Im Artikel spricht Laurent Prince, Technischer Direktor im Schweizerischen Fussballverband, von Genf als einem «Nährboden der Banlieues» und äussert sich dahin gehend, dass dort die Kinder in ihrer Freizeit häufiger nach draussen gehen und Fussball spielen als in anderen Schweizer Städten. Ob Servette von diesem unerschöpflichen Reservoir letztlich profitieren kann, hängt nicht allein mit dem Trainer der ersten Mannschaft zusammen. Noch stehen den Jungen viele Hindernisse im Weg, die sich nicht von heute auf morgen wegräumen lassen. So spielt die U21 nur in der 2. Liga inter­regional, zwei Stufen tiefer als jene von Sion, Zürich und Basel – ebenfalls noch eine Folge der jüngsten Schwierigkeiten. Statt sich mit dem Nachwuchs von Konkurrenten mit ähnlichen Ambitionen zu messen, spielt die nächste Generation der Grenats heute also gegen Olympique Genève oder den FC ­Sierre. Den Jungen fehlt es an genug widerstandsfähigen Gegnern, um selber besser zu werden. Und das nicht erst in der U21. Matteo Vanetta war bis 2017 Juniorentrainer bei Servette. Nach seinem Abgang kritisierte er in der «Tribune de Genève» den Ablauf der Nachwuchsförderung in Genf. Im Rahmen des Projekts «Genève Education Football» erhalten Klubs in der Region wie Étoile Carouge oder der FC Meyrin Geld für die Ausbildung junger Spieler. Als Teil dieses Deals bekommt Servette spätestens ab der Stufe U15 die besten Talente dieser Vereine. Weil dieser Zusammenzug in anderen Regio­nen später stattfände, fehlten den jungen Servettiens die Gegner. «Sie lernen nichts aus solchen Spielen ohne Konkurrenz», sagte Vanetta. Und das in einem für

1928 Der erste Cupsieg GC wird mit 5:1 weggefegt.


G R E NAT-TAL E NT E

KEYSTONE/Patrick Huerlimann

Geschäftsführer Constantin Georges und und seine überraschende Verpflichtung Alain Geiger: Dessen letztes Engagement in der Schweiz lag neun Jahre zurück.

die weitere Karriere wichtigen Alter. In der vergangenen Hinrunde schlug die U15 beispielsweise die Gleichaltrigen des FC ­Zürich 8:1, die des FC Winterthur 5:1, Biel 4:0, Thun 5:2 und das Team Ticino 7:4. In späteren Alters­stufen ist das Stärkeverhältnis dann oft umgekehrt. Vanetta schlug vor, die J­ ungen länger bei ihren Stammklubs zu belassen, für Servette ist das derzeit keine Option – dafür müssten die kleineren Vereine erst die gleiche Qualität und Häufigkeit an Trainings garantieren können. Darüber hinaus kämpft Servette mit der Infrastruktur, was man schnell feststellt, wenn man etwa ein Training besuchen möchte. «Unser Stadion sieht am Samstag­ abend im Fernsehen gut aus», stellt CEO Georges fest. «Aber trainieren können wir hier nicht.» Das heisst: Der Verein ist in der ganzen Stadt verstreut. Nachdem sich die erste Mannschaft im Stadion aufgewärmt hat, muss sie fünf Kilometer mit dem Car nach Perly-Certoux zurücklegen. Auf dem Platz des regionalen 2.-Ligisten, unmittelbar an der französischen Grenze, wird trainiert. Der Nachwuchs wiederum hält seine Einheiten mehr als zehn Autominuten von der Geschäftsstelle ab, ebenfalls ausserhalb

der Stadtgrenzen. Immerhin: Das Problem der verstreuten Trainingsplätze soll sich in ein paar Jahren von allein lösen, wenn die Grenats von der Stadt das neue Trainings­ zentrum in Grand-Saconnex beim Flughafen bekommen. Dort werden sämtliche Mannschaften trainieren können. Launische Fans Der Rückhalt, den Servette in der Stadt mit dem Springbrunnen geniesst, hat in den vergangenen Jahren gelitten. Zu gut erinnert man sich an das Theater in den letzten 15 Jahren. Den Konkurs unter Marc ­Roger 2005 mit dem Neustart in der ersten Liga. Der Beinahe-Konkurs unter dem dubiosen Iraner Majid Pishyar 2012. Dann der erst­malige sportliche Abstieg unter Hugh Quennec und wieder ein Fast-Konkurs 2015. Ge­rettet wurde der Klub damals von der Fondation Hans Wilsdorf. Die Stiftung des Rolex-­ Gründers setzt sich stark für die Förderung der Genfer Kultur ein. Sie verfügt über beinahe unlimitierte Mittel. Momentan beträgt das Budget für die erste Mannschaft 5,9 Millionen Franken, der Nachwuchs kostet 1,9 Mil­lionen. Nach einem allfälligen Aufstieg dürfte es mehr sein.

1930 Charmilles-Eröffnung Mit der Coupe des Nations wird das neue Stadion eingeweiht.

Die Fondation kontrolliert über eine weitere Stiftung den Klub und stellt dadurch einen Grossteil der Mittel des Servette FC zur Verfügung. Als Klubpräsidenten hat sie ­Didier Fischer eingesetzt, einen in der Stadt ausgezeichnet vernetzten Mann. Die aktuelle Führung ist nun seit vier Jahren im Amt. Die gebeutelten Genfer sind vom Konzept und der bisher geleisteten Arbeit von F ­ ischer und Georges überzeugt. Und der Rückhalt wird mit sportlichem Erfolg wieder grösser. Nur beim Gang ins Stadion verhalten sie sich noch immer launisch wie eh und je. Gegen Lausanne kommen über 7000, gegen Vaduz und Konsorten verlieren sich darin dann wieder nur 2000. Der Genfer ist eben nicht nur Maudet-, sondern auch Mode-Fan. Servette wäre also bereit für den Aufstieg. Genf wäre bereit. Und Kastriot Imeri auch. Als persönliches Ziel hat er sich gesetzt, Stammspieler zu werden. Mit der Mannschaft will er unbedingt in die Super League aufsteigen. Und wenns nicht klappt? «Ich habe Zeit bis 2021. Bis dann läuft mein Vertrag», sagt der Jungprofi. Also bleibt sein Talent Servette erhalten? «Ich habe es vor. Ich weiss es nicht.» Es geht schliesslich um Fussball. Da weiss man nie, was passiert. Nur logisch.•

1931 Karl Rappan verpflichtet Als Spielertrainer wird er bald den Riegel erfinden.

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Stellvertreter «F

ast wäre ich selber bei Servette eingestiegen als Profi. Ich hatte nach der Jugendzeit ein Angebot vorliegen von den Grenats, und mein Vater wollte unbedingt, dass ich nach Genf wechsle, vor allem damit ich vernünftig Französisch lerne. Doch Servette bestand darauf, dass ich im Nachwuchs anfangen würde, bei GC hingegen kam ich direkt in die erste Mannschaft. Es waren die grossen Antipoden ab Ende der 70er-Jahre: das schöngeistige, spektakuläre Servette mit seinen bis dahin 14 Meister­ titeln gegen die schnörkellosen, kraftvollen Zürchern mit 17 Titeln. Es war fast schon ein Stellvertreterkrieg, Deutschschweiz gegen Romandie. Die Klubs widerspiegelten auf dem Platz die Mentalitätsunterschiede, die in jener Zeit, wo die Bevölkerung noch mehr ortsgebunden und weniger durchmischt war, deutlicher hervortraten. Servette war verspielt, verstand den Fussball als Unter­haltung, das Mittelfeld mit Didi Andrey, Marc Schnyder und Umberto ­Barberis hatte sichtlich Freude am Zaubern. Sie versuchten, Gegenspieler zu tunneln, und wählten längst nicht immer den direktesten Weg. Damit gewann das Team viele Sympathien, auch in der Deutschschweiz. Wir von GC waren spielerisch eine ganze Stufe unterhalb, hielten mit Physis und vertikalem Spiel dagegen und hatten mit Claudio Sulser einen, der gnadenlos effizient war. Aus diesen Unterschieden wuchs eine Rivalität, die zeitweise fast an jene zwischen dem FC Basel und dem FC Zürich aus den 70ern heranreichte.

Physis gegen Eleganz, Erfolg gegen Schönheit, Deutschschweiz gegen Romandie: Die 80erund 90er-Jahre standen im Zeichen der Gegen­ sätze Servette und GC. Andy Egli hat beide Seiten kennen gelernt – und erzählt hier davon. aufgezeichnet von Mämä Sykora

@maemae_sykora

Distanz in der Nati Ich liebte es, gegen Servette zu spielen, weil dort Fussball zelebriert wurde. Es waren epische Duelle, vor allem in der Saison 1982/83, wo wir hauchdünn Meister wurden und im Cupfinal in extremis ein Wiederholungsspiel erzwangen, das wir deutlich gewannen. Die Sympathie beruhte allerdings nicht auf Gegenseitigkeit, sicher auch weil wir oft die Oberhand behielten. Wenn Servettiens und Grasshoppers in der Natio­nalmannschaft zusammenkamen, gab es da schon eine

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1940 Meister ohne Niederlage Zum 50-Jahr-Jubiläum gibts 19 Siege und 3 Remis.


krieg sich in der Ära von Paul Wolfisberg, dem wegen seiner Nähe zum zürcherischen «Blick» nachgesagt wurde, er würde Deutschschweizer bevorzugen, bei Niederlagen aber die Schuld den Welschen zuschieben. ServetteGoalie Erich Burgener sprach gar von der «GC-Mafia»! Diese Kritik war für mich durchaus nachvollziehbar. Exemplarisch war der Fall von Lucien Favre. Ein absolut begnadeter Techniker,

RDB by Dukas

spürbare Distanz. Die Servette-Spieler blieben mehrheitlich unter sich. Alain Geiger sagte mal: «Die kleinen Romands sassen in der Ecke, gegenüber machte sich der GCBlock breit.» Damit hatte er nicht unrecht. Das welsche Selbstwert­gefühl hat sicher darunter gelitten, dass die Romands nur noch eine Minderheit waren in der Nati, während sie in den Jahrzehnten zuvor prägend gewesen waren. Dieser Komplex akzentuierte

1949 Jacky Fatton Torschützenkönig Der SFC-Rekordhalter (307 Tore) holt zwei weitere Kronen.

einer, der wie kein Zweiter für das schöne Spiel der Genfer stand, aber eben auch sehr filigran. Ging es gegen Teams wie die Sowjet­ union oder Irland, wo einem geballte Power entgegenstand, war für Favre oft kein Platz. In der Not setzte man eher auf Wucht und Dynamik, dafür stand das Servette-Spiel wahrlich nicht. Fehlende Bereitschaft der Welschen Nicht nur feine Fussballer machten das Servette-Spiel aus, sondern auch immer – finanziell waren die Genfer GC damals ja ebenbürtig – unglaublich gute Ausländer. 1989 musste ich gegen Karl-Heinz Rummenigge und John Eriksen bestehen, das war geballte Weltklasse! Für unsere Liga war das gross­artig, als Gegenspieler aber sehr schwierig aufgrund ihrer schnellen Drehungen und ihrer Durchsetzungskraft. Titel gingen aber nach 1985 dennoch lange keine mehr nach Genf. Die kamen erst wieder, als mehr und mehr Deutschschweizer zu Servette stiessen. Das war auch ein wenig bezeichnend: Den umgekehrten Weg machten deutlich weniger. Den Welschen machte die Sprache viel mehr zu schaffen, und sie hatten weniger die Bereitschaft, den Sprung über die Saane zu wagen. Ich verkörperte den Deutschschweizer Fussball ziemlich gut. Was in Genf lange verpönt war, wurde nach der langen Zeit ohne Titel dann doch wahrgenommen als etwas, was eine Mannschaft eben auch braucht, um Erfolg zu haben. Ich habe in meiner Zeit bei Servette jedenfalls keinerlei Abneigung gespürt, im Gegenteil, ich habe grössten Respekt erfahren! Der Röstigraben war da ohnehin nicht mehr so tief: Die Welt rückte näher zusammen, das Separierende lag nicht mehr drin, die Teams waren internationaler. In der Meistermannschaft von 1994 gab es mehrere Deutschsprachige, Tessiner und Ausländer wie Håkan Mild, José Sinval oder Sonny ­Anderson, den eindrücklichsten Mitspieler, den ich je hatte. In Bern schoss uns Oliver Neuville zum Meistertitel. Da durfte ich noch einen Unterschied feststellen zwischen den Sprachregionen: Beim Feiern kommt die sprichwörtliche Lockerheit der Romands besonders gut zur Geltung.»•

1956 Rappan holt Ungarn-Flüchtlinge Makay, Németh, Pázmándy werden eine Epoche prägen.

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Text Martin Bieri

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Fussball ist schön, daran besteht kein Zweifel. Besonders schön ist er, wenn er in schönen Leibchen gespielt wird. Warum wir bestimmten Trikotfarben verfallen und andere verpönen.

Die ­ Ästhetik des ­Unperfekten

s gibt zwei hauptsächliche Gründe, weshalb Menschen Anhänger eines Fussballvereins werden: Erfolg und Nähe. Erfolg, weil die Menschen nach Höhe­ rem streben und Grösse bewundern. Und weil sie Opportunisten sind, die das Scheitern fürchten. Nähe, weil die Menschen ­loyal sind – und lauffaul. Darüber hinaus gibt es unzählige andere, individuelle Gründe, sich für einen Klub zu entscheiden: sein Stil, seine Geschichte, die eigene Geschichte; dieses eine Spiel, das man nie mehr vergisst; diese eine Reise in ein Stadion, in dem man sein Herz gelassen hat; dieser eine Spieler, der war wie kein anderer seither. Und dann sind da noch die Kleider, die eben Leute machen. Man kann es für oberflächlich halten, aber die Garderobe von

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Klubs und Nationalmannschaften trägt ­ihnen Sympathien ein, die sie sonst nicht gewonnen hätten. Warum sonst können so viele Menschen Peru an der WM 1978 nicht vergessen, wenn nicht der weissen Trikots mit der roten Schärpe wegen? Frankreich hätte 1984 weder Platini und Tigana gebraucht, noch hätte es Europameister werden müssen, um in Erinnerung zu bleiben. Die blau-weiss-roten Jerseys hätten genügt. Oder England 1966, die UdSSR in den 1980ern, das Himmelblau der Erzfeinde auf beiden Seiten des Rio de La Plata, Uruguay und Argentinien. Und Nigeria 2018, angeblich das meisterverkaufte Trikot der WM. Na ja, die Zeiten ändern sich. Bei den Klubs gibt es eine Zeitrechnung vor und nach der Einführung von Trikotwerbung. Die blauen Jerseys von Sampdoria

1960 Triumph nach 10 Jahren Unterbruch Trainer Jean Snella führt Servette zum 12. Meistertitel.

Genua mit dem Querstreifen oder die weis­ sen von Borussia Mönchengladbach mit dem Längsstreifen aus den 70er-Jahren ­wären nicht so schön, stünde der Name e­ iner Automarke, eines Wettanbieters oder eines Aktienhändlers drauf. Das Reich der Psychologie Ganz unabhängig von der Gestaltung der Dresses haben die Klubs ihre Farben. Sie sind das entscheidende Merkmal ihrer äusser­lichen Identität, die das Publikum anspricht oder nicht. Wir betreten also das Reich der Psychologie. Der deutsche Farbpsychologe Harald Braem hat sich mit der Wirkung von Fussballtrikotfarben beschäftigt. Rot ist die «Powerfarbe» der Aufregung, sie steht für Feuer und Blut, Blau steht für den Himmel und das Meer, es signalisiert


Grösse und Stärke. Weiss liest er als Passivität, ähnlich wie Grün, das auf einem Fussballfeld nichts anderes als eine Tarnfarbe sei. Vereinsfarben dienen folglich nicht nur dazu, die Klubs wiederzuerkennen, sondern auch sich selbst in ihnen. Sag mir, welches Trikot du trägst, und ich sage dir, wer du bist. Für die Klubs gilt das sowieso. ­Manche sind so sehr eins mit ihren Farben, dass ihre Nennung den Vereinsnamen ersetzen kann: Gelb-Schwarz (Achtung: Warn­ farben!), Schwarz-Gelb, the Reds, the Blues, i nerazurri, les grenats. Der Granatapfel, von dem die Farbe des Genfer Trikots seinen Namen hat, ist für seine Schönheit berühmt. «Das trockne Gold der Schale» nannte der französische Dichter Paul Valéry das Äussere der Frucht, hinter dem «eine Seele, die einst ich war», eine «geheime Architektur» erträumte. Die «Grenats» waren nicht von Anfang an mit diesem lyrischen Liebreiz gesegnet. Die Farben des 1890 als Rugbyklub gegründeten Vereins waren ursprünglich rot und grün. Die Rottöne wechselten, mit dem Lauf der Zeit setzte sich das ins Bräunliche tendierende Granatrot durch. In Erinnerung geblieben sind vielen die Jerseys mit den zwei

weissen Bruststreifen, die Servette Mitte der 80er-Jahre trug und die mit dem Schriftzug des Warenhauses Placette versehen waren, das bis Mitte der 90er-Jahre Trikotsponsor der Genfer blieb. Servette und die Unterwelt Eine Erklärung für die Schönheit der Genfer Garderobe ist in der griechischen Mytho­ logie zu finden. Der Granatapfel ist dort die Frucht der tragischen Gestalt Persephone. Hades, der Herrscher der Unterwelt, raubte sie aus Sizilien, wo ihre Mutter, die Erdgöttin Demeter, verantwortlich für die Fruchtbarkeit und das Wachsen, sie verborgen hielt. Als Demeter ihre Tochter aus dem Reich der Toten zurückholen wollte, willigte Hades unter der Bedingung ein, dass Persephone

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1971 2:1 gegen Liverpool Das Out im Cupsieger-Cup folgt erst auswärts.

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1977 Rivalität mit Sion nimmt Form an Innert kurzer Zeit wechseln vier Walliser nach Genf.

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in seinem Haus noch nichts gegessen hatte. Doch die hatte ein paar Granat­apfelkerne zu sich genommen, weshalb der Entführer Hades Rechte als Ehemann geltend machte. Die Götter lösten den Konflikt, indem man der bezaubernd schönen Persephone erlaubte, acht Monate des Jahres auf der Erde zu verbringen, die vier Monate des Winters aber bei Hades, als Königin der Unter­welt. Kein

Wunder, freuen die Menschen sich, dass die Granatroten aus der Versenkung der Winterpause aufgetaucht sind und jetzt im Frühling um den Aufstieg mitspielen. Vorreiter Aston Villa Servette hat zwei Fanclubs in der Deutschschweiz. Den älteren gibt es seit 1986. Vielleicht liegt das daran, dass die Genfer 1985 Schweizer Meister wurden und damals fast jedes Jahr im Cupfinal standen. Dass es aber auch an der Ausstrahlung ihrer Farben liegen könnte, zeigt die Tatsache, dass sich die andere alemannische Supportergruppe Maroons nennt und sich damit das ins Braun tendierende Rot der Westschweizer Landsmänner englisch auf die Fahne geschrieben hat.

Trikots ­verwandeln ­Bürger in Athleten, die sich ­anderen Regeln unterwerfen.

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1979 Einmaliges Titel-Quartett Gewinn von NLA, Liga-, Alpen- und Schweizer Cup.

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1980 Präsident Carlo Lavizzari klotzt Der Boulevard nennt Servette fortan «Millionarios».


T r i kot fa r b e n

PANTONE® In England selbst ist die Farbbezeichnung Claret gebräuchlicher, allgemein übersetzt mit Bordeauxrot. «Claret and blue» ist vielleicht die auffälligste Kombination im Farbspektrum des englischen Fussballs. Getragen wird sie von Aston Villa, West Ham United, Burnley, Scunthorpe United und früher auch Crystal Palace, darüber hinaus von einigen kleineren Klubs. In der Schweiz kleidet sich zum Beispiel Bellinzona so. Angefangen damit hat aber Aston Villa, die andern haben es dem früh sehr erfolgreichen Verein aus Birmingham nachgemacht. rotes Hemd rote Hose rote Stutzen rotes Hemd rote Hose weisse Stutzen rotes Hemd schwarze Hose schwarze Stutzen blaues Hemd blaue Hose weisse Stutzen So beginnt das Gedicht «Farben» von Ror Wolf. Nichts als eine kombinatorische Aufzählung, ruft es eine Vielzahl von Bildern und Erinnerung ab und spielt gleichzeitig auf das Willkürliche der symbolisch so aufgeladenen Farben an. Rot und Blau sind die mit Abstand beliebtesten für Fussballtrikots. In Kombination mit Weiss, das ja eigentlich die Abwesenheit von Farbe ist, bilden sie die grosse Mehrheit aller Trikotsätze. Nicht vergessen werden darf dabei allerdings die implizite Kontrastfarbe aller Jerseys, das Grün des Rasens, das den Hintergrund zu jedem Trikot bildet. Es sei denn, es werde von Fans ausserhalb der Stadien getragen. Dass die Anhänger eines Teams sich in dessen Farben kleiden, hat mit den zwei grundlegenden Funktionen von Trikots zu tun, die sich nicht zuletzt an deren Kolorierung festmachen lassen: Vereinigung und Verwandlung. Gleiche Leibchen erzeugen Uniformität und Solidarität innerhalb einer Gruppe, was sowohl spieltaktisch als auch psychologisch entscheidend ist. Wer gehört zu mir, und kann ich mich auf ihn verlassen? Im Umkehrschluss bedeutet Vereinigung folglich Abgrenzung und potenzielle Aggression, im Rahmen der Regeln ebenfalls eine Voraussetzung des Spiels. Deshalb verwandeln Trikots ihre Träger. Aus Bürgern sollen Athleten werden, die sich anderen Regeln unterwerfen. Insofern

sind Jerseys auch «Kostüme», wie der Kultur­wissenschaftler Matías Martínez schreibt. Sie signa­lisieren die Zugehörigkeit zu e­ iner ande­ren, nur temporär gültigen Welt, ­einer durchaus sakral aufgeladenen mithin, weshalb das Überstreifen des besonderen Stoffs einer rituellen Handlung gleicht und bei der Verpflichtung von Spielern entsprechend ins­zeniert wird. All das signalisieren die Farben von Fussballtrikots. Was sie im Einzelnen bedeuten, ist von der Geschichte der Klubs abhängig. Vereinsfarben werden häufig von politischen Symbolen abgeleitet, die jeweiligen Stadtwappen liegen am nächsten. Sind in Deutschland Schwarz und Weiss Teil der Vereinsfarben, weist das meistens auf die Heraldik Preus­ sens hin, das zur Zeit der Gründung vieler deutscher Vereine im Zenit seiner politischen Vormacht innerhalb des deutschen Reiches stand. Trauer und Süsse in Palermo Neben der Psychologie ist es also die Symbolik, welche die Farben eines besonderen Trikots so anziehend macht. Das Weiss, das die Corinthians aus São Paulo einst trugen, trugen sie mit solcher Würde, dass viele andere Klubs sich daran orientierten, nicht zuletzt Real Madrid, obwohl die legendären Amateure der Corinthians auf keiner ihrer Touren je in Spanien waren. Ihr Ruf allein, die Noblesse des dreckigen Fussballspiels nachgewiesen zu haben, reichte. rotes Hemd mit weissem Brustring schwarze Hosen schwarze Stutzen weisses Hemd mit rotem Brustring rote Hosen rote Stutzen oder ganz in Weiss Das ist der Schluss von Ror Wolfs Gedicht. Es endet brillant in der Farblosigkeit. «Das Trikot von Real Madrid ist weiss. Es kann Flecken haben vom Dreck, vom Schweiss und sogar von Blut. Aber niemals Flecken der Schande», sagte der ehemalige Präsident der Königlichen, Santiago ­Bernabeu. «Mein

1984 Lucien Favre mit der 10 Umberto Barberis verliert seine Nummer an den Rückkehrer.

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Herz so weiss», schrieb ­Javier Marías. Doch das Weiss ist so makellos, dass es eigentlich nichts über das Leben aussagt. Ganz anders die Trikots der Unione Sportiva Città di Palermo, die seit 1907 Pink und Schwarz trägt. Warum? Weil die Symbolik der eleganten Kombination gut zu einem Klub passt, dessen «Resultate dem Auf und Ab einer Schweizer Uhr» gleichen, wie das Gründungsmitglied Graf Giuseppe Airoldi sagte. Denn Schwarz und Pink verkörperten nichts weniger als «die Trauer und die Süsse» des ganzen Lebens. Das ist die äusserliche Symbolik der ­Farben, die uns fesseln. Aber es gibt noch eine zweite, innere. Kehren wir noch einmal zu der psychologischen Bedeutung der Farben zurück. Auch der Verhaltens­ forscher ­D esmond Morris verbindet Rot mit Aggres­sion und Vitalität, Blau hingegen mit Ruhe und Loyalität. Doch er geht noch einen Schritt weiter. Ungemischte Grund­ farben stehen in Morris’ Augen prinzipiell für Festigkeit und Stärke, wobei die Definition der Grund­farben je nach zugrunde gelegter Farb­theorie variiert. Dem gegenüber stehen die Mischfarben, die wir als schwächer wahrnähmen, weil sie Unentschiedenheit vermitteln würden. Ist das die Erklärung für die Attraktivität ungewöhnlicher Farbkombinationen und Mischungen? Ist das der Grund, weshalb das Granatrot der Servettiens so schön ist? Nicht, weil sie Schwäche symbolisieren, sondern weil, wer dieses Trikot trägt, Schwäche aushält, überwindet sogar? Seltene Mischungen bedeuten besondere Gefahr. Trikots wie dasjenige von Servette widerspiegeln eine heroi­sche Ästhetik des Unperfekten. Denn das Leben ist nicht rein, unrein ist es. Und das macht seine Schönheit aus.•

1987 Rücktritt von Marc Schnyder Der Rekordspieler (398 Ligaspiele) tritt nach 15 Jahren ab.

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Interview Silvan Kämpfen

Die Section Grenat ist die älteste Ultra-Gruppe im Schweizer Fussball. Ein Gespräch mit drei Fan-Generationen über den Instagram-Hype, Tuggen auswärts und die Jagd auf Marc Roger.

«Wir Ultras übertreiben halt gern» T

reffpunkt mit drei Vertretern der Section Grenat 1988 ist in einer Genfer Brasserie. Aktive Fussballfans sind den Medien gegenüber seit je miss­trauisch. Fotos gibt es keine, genannt werden wollen sie mit ihren Übernamen. Im Gegenzug geben sie offene Einblicke in das Innenleben und den Wandel ihrer mittlerweile über 30-jährigen Gruppierung.

Die Gesprächsteilnehmer: Steph, 40-jährig, seit 1991 in der Kurve, davon lange Capo (oder wie die Deutschen sagen: Vorsänger). Wählt die Worte mit Bedacht. Es deutet wenig auf eine wilde Vergangenheit hin. Topo, 31, aktueller Capo, seit 2001 in der Kurve. Eher impulsiver, kommt dem Typus des südländischen Ultras am nächsten. Umbi, 25, seit 2010 in der Kurve. Organisator dieses Treffens. Millimeter-Schnitt, trägt wie die anderen die bei Ultras verbreitete Markenkleidung.

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1987 Ein Weltstar in Genf Karl-Heinz Rummenigge bleibt bis zum Karriereende.

Was kommt für euch zuerst, Servette oder die Section Grenat? Umbi: Zuerst waren für mich der Klub und die Leidenschaft für ihn. Das ist das, was du aus der Kindheit kennst, als du mit dem Vater ins Stadion gingst. Und dann auf der anderen Seite sind all die Leute, vor allem natürlich die aus deiner Gruppe. Das sind Freundschaften fürs Leben. Beides ­gehört fest dazu. Steph: Die aus der Gruppe sind deine besten Freunde. Sie sind Götti deiner Kinder, Trauzeugen, Schwager. Aber das ist wichtig für uns: Wir drei waren alle zuerst Fans von Servette, bevor wir Section ­Grenat oder Ultra waren. Manche würden vielleicht nicht mehr ins Stadion, wenn es die Gruppe nicht mehr gäbe. Aber die grosse

1991 Favres kaputtes Knie Brutalo-Foul durch Veveys Gabet Chapuisat.


Wegbereiter für die Schweizer Fanszene, wie wir sie heute kennen: die Section Grenat in den 90er-Jahren im Stade des Charmilles.

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Mehrheit bei uns, zumindest in meiner ­Generation, ist in erster Linie verrückt nach Servette. Topo: Das ist dann auch etwas Nachhaltiges, man bleibt dem Klub auf die Dauer verbunden. Aber natürlich gibt es auch andere. Solche, die gerade auf dem Trip sind. Auf dem Trip? Topo: Wenn du direkt in diese Fanwelt eintauchst und das cool findest. Ohne ­einen grossen Bezug zum Fussball zu haben. Das ist dann meist etwas Kurzfristiges, das geht weniger tief. Steph: Wir hatten mal einen Typen, in der Saison 1997/98, glaub ich. Der hat da den Grand Chelem (dt. Grand Slam)

1992 Debüt von Oliver Neuville An der Seite von Sonny Anderson reift er zur Sturmgrösse.

gemacht. Er war bei allen Spielen im Stadion, auch auswärts, half auch viel mit bei den Choreos – ein einziges Jahr lang. Und dann war er von einem Tag auf den anderen weg. Man sah ihn nie mehr. Umbi: Mann, der muss wirklich auf dem Trip gewesen sein. Es gibt viele Arten, Fan zu sein. Warum steht gerade ihr zuvorderst in der Kurve? Steph: Das suchst du dir nicht aus. ­Eines Tages nahm mich mein Vater mit ins San Siro: Milan – Atalanta. Da spielte eine der besten Milan-Mannschaften überhaupt, mit van Basten und so. Aber ich habe praktisch nicht aufs Feld geguckt. Ich schaute nur auf die Curva Sud und den Gästeblock aus Bergamo.

Umbi: Bei mir lief das auch so. Ich war vielleicht 12, da ging ich mit meinem Vater nach Bergamo, nach Turin, nach St-Étienne. Topo: Steph und die Älteren nahmen mich häufig mit nach Italien, wenn S ­ ervette gerade nicht spielte. Fussball ist eine tolle Sache. Aber das Spektakel ist eben nicht ­immer nur auf dem Platz. Wir wissen natürlich, dass wir nicht in derselben Liga spielen wie die. Aber die Leidenschaft, das Zugehörigkeitsgefühl zur Gruppe, das ist überall das Gleiche. Dann ist eure Gruppe stark von Italien geprägt? Topo: Das kann man so pauschal nicht sagen. In der Gruppe mögen auch viele den südamerikanischen Stil, und dann gibt

1997 Übernahme durch Canal+ Die französische Mediengruppe tilgt Schulden.

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es die Einflüsse aus Frankreich. Aber klar: Umbi und ich sind Italiener, Steph ging da früher viel hin. Die ersten Fahnen der Kurve hatten wir von Leuten aus Torino. Die AC hat ja die gleichen Farben. Steph: Auch mit Bordeaux gab es damals Kontakte, nur weil die auch in Grenat spielten. Zu den Einflüssen muss man wissen: Die Section Grenat war bei ihrer Gründung 1988 noch keine Ultra-Gruppierung, das war mehr der englische Stil. Um 1993 herum dann begannen wir uns als Ultras zu definieren: Ab da waren wir organisiert, mit Megafon, Choreos. Da waren wir die Ersten im Schweizer Fussball. Wir machten die besten Choreos der Schweiz.

Aber die Section Grenat hat diese ­Tendenzen toleriert? Steph: Zu gewissen Zeiten war sie ­ihnen nicht abgeneigt. Dann war sie wieder klar dagegen, war aber nicht stark genug, um diese Leute rauszuwerfen. Heute ist die ganze Szene eher alternativ geprägt. Umbi: Was nicht heisst, dass wir alle links sind in der Gruppe. Es gibt ­alles, ­manche sind auch gar nicht politisch. Wir verurteilen niemanden für das, was er denkt. Ausser es ist gegen andere in der Kurve gerichtet. Topo: Es darf einfach nicht sein, dass jemand nicht ins Stadion kommt, weil er sich nicht willkommen fühlt.

In der Schweiz wart ihr Vorreiter, die grosse Masse aber hattet ihr nie. Umbi: Ach, es hatte gar nicht so viele Zuschauer in der Charmilles, wie ich immer höre? Jetzt wird es Zeit, mit Mythen aufzuräumen. (lacht) Steph: Selbst in unserer Meister­ saison 93/94 kamen nur etwa 6000 im Schnitt. Wenn wir am Bahnhof ankamen und uns die Leute mit Servette-Schal sahen, dann machten sie sich darüber lustig. Topo: Ich erinnere mich an mein erstes Spiel in der Charmilles. Ein 0:0 in der Auf-/Abstiegsrunde gegen YB. Die Stimmung war also wahrlich nicht berauschend. Steph: Auch in der Kurve waren wirklich wenige. Zu Auswärtsspielen reisten im Normalfall 50 Leute mit, nach Sion vielleicht mal 400. Heute sind es viel mehr, auch in der Challenge League.

Andere Kurven positionieren sich da klarer. Topo: Es gibt immer wieder grosse Spannungen in dieser Frage. Aber am Ende sind wir uns stets einig: keine Politik. Umbi: Unsere einzige Politik ist ­Servette. Das ist eines der Geheimnisse, weshalb es uns schon so lange gibt. Topo: Und es gibt einen weiteren Punkt, den ich für sehr wichtig halte und wir stets beibehalten konnten.

Wie ist das zu erklären? Umbi: Bei grossen Spielen spricht es sich schnell rum. Der eine aus diesem oder jenem Quartier kennt einen, der nimmt wiederum seine Kollegen mit. Es fühlt sich für viele dann auch cool an, etwa Teil von einem Fanmarsch zu sein. Steph: Die Kurve hatte früher halt auch einfach ein schlechteres Image bei den Jungen. Inwiefern? Steph: Die 90er waren noch die Zeiten der rechtsextremen Skinheads in den Schweizer Stadien. Nicht nur in Genf, sie waren überall. Eine Gruppe von Rechten aus dem Aargau kam zum Beispiel regelmässig zu Servette. Umbi: Wir machen grundsätzlich keine Politik. Es gab auch nie Spruch­ bänder oder sonst etwas in diese Richtung.

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Nämlich? Topo: Wenn Steph und die ­anderen früher «Scheiss Basel» oder «Scheiss ­Zürich» riefen, dann kriegten sie draus­ sen auf die Fresse. Und sie mussten das akzeptieren. Steph: Es gab keine Gästesektoren damals. In Sion war alles gemischt, und es gab ständig Schlägereien während des Spiels. Im St. Jakob in Basel konnte man einfach um den Platz spazieren, durch alle Tribünen. Da kamen auch schon mal die Basler Hooligans vorbei, sagten Bonjour. Manchmal tauschten wir Fotos aus, machten Fotos voneinander. Aber wenn sie uns mal verhauen wollten, dann taten sie das auch. Umbi: Das ist schwer, sich so was vorzustellen. Topo: Deshalb beleidigen wir keine Gegner, mit denen es keine Vorgeschichten gibt und die nicht unsere Erzrivalen sind – also Sion, Lausanne, Xamax, Chiasso. Aber Scheiss GC, Scheiss dies, Scheiss das, das gab es bei uns nie. Umbi: Solche Sachen kommen von ganz früher und werden einem innerhalb der Gruppe weitergegeben. Wir ändern nicht ständig unsere Mentalität, wir haben eine Linie. Ich kam viel später dazu, aber ich habe diese Dinge begriffen, und wir

1999 Letzter Meistertitel 5:2-Sieg in der Finalissima auf der Pontaise.

geben sie an die Jüngeren weiter. Und ich glaube, das trägt viel dazu bei, dass wir in der Schweiz respektiert werden. Topo: Stell dir vor, was diese ältere Gene­ration sagen würde, wenn wir unsere Zaunfahne verlieren würden, nur weil wir andere sinnlos provoziert hätten. Trotz eures historischen Vorsprungs sind die Deutschschweizer Kurven heute wesentlich grösser. Warum? Umbi: Nach der Jahrtausendwende haben die Deutschschweizer Kurven die Ultra-­Kultur für sich entdeckt und diese klar beeinflusst. Wir gingen damals in Konkurs und haben den Anschluss verpasst. Diesem Rückstand laufen wir noch immer hinterher. Topo: Die Stadionkultur in der Deutschschweiz war schon immer eine andere, mehr angelehnt an Deutschland. Fussball war da schon immer ein gesellschaftliches Ereignis. Als dort die Ultras aufkamen, passierte das dann auch in der Deutschschweiz. Bei uns war Fussball stets etwas für die Abgehängten aus den Quartieren, zum Beispiel aus der Rap-Szene, wie in der Pariser Banlieue halt. Steph: Das Wachstum der Deutschschweizer ist schon unglaublich. Ich erinnere mich noch an ein Spiel des FC Zürich in Genf. Sie hatten 21 Fahnen dabei – und 14 Fans. Umbi: Zürich ist uns vielleicht am ähnlichsten von den Deutschschweizern. Dort ist es auch sehr lateinisch geprägt. Die Deutschschweizer sind allgemein viel besser organisiert mit ihren Extrazügen und so. Die sportlichen Leistungen schlagen sich bekanntlich in den Zuschauerzahlen nie­ der. Ist davon auch die Kurve betroffen? Umbi: O ja, extrem. Ich stiess ja auch zu einer Zeit dazu, als wir 2011 in die Super League aufstiegen, 25 000 Zuschauer hatte es gegen Bellinzona. Topo: Und Pishyar schrie in die ­Kamera: «I did it!» Umbi: Ja, das war fast schon Cham­ pions League, wenn du so willst. Steph: Wenn du aufsteigst, hast du ­einen grossen Zustrom. Manche Leute kannst du halten, ein Teil geht wieder. Topo: Wir holten damals viele portu­ giesische Spieler. Und plötzlich redeten auf der Baustelle alle von Servette, und die kamen dann auch. Aber das ging schnell vorbei. Steph: In Genf fehlt die Identität. Es

2001 Weiter gegen Hertha Unter Favre 3:0-Auswärtssieg im UEFA-Cup-Achtelfinal.


S E CTION G R E NAT

Die grausamen Jahre: Zu Auswärtsspielen in der Promotion-League-Provinz, hier 2015 in Tuggen, pilgerte manchmal nur eine Handvoll Unentwegte.

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«Kennst du ­ Tuggen? Meinst du, das bringt dich ins Schwärmen? ­ Ein paar Meter ­hinter dir weiden die Kühe.»

gibt viele Expats und Fans von ausländischen Vereinen. Es gibt zum Beispiel eine Gruppe, die sind alle hier geboren, fahren aber zu jedem Spiel von Juventus. Das ist für mich etwas vom Schlimmsten. Umbi: Nach diesem Aufstieg habe ich, sportlich zumindest, nur noch Scheisse gesehen. In der Challenge League haben wir die Basis noch beisammenhalten können. Aber als wir dann erneut in die Promotion League zwangsrelegiert wurden … Wie behält man da die Motivation? Topo: Kennst du Tuggen? Meinst du, das bringt dich ins Schwärmen? Du ­könntest am Abend in den Ausgang, dich sonst amüsieren. Aber nein, du gehst nach ­Tuggen. Ein paar Meter hinter dir ­weiden dort die Kühe. Oder in Cham. All diese ­Käffer haben wir abgeklappert. Umbi: Wenn du mal da bist, in ­Tuggen, dann gehts. Du bist mit deinen Freunden, hast schon ein paar Biere intus. Aber wenn du dann nach vier Stunden Busfahrt müde zu Hause ankommst, dann fragst du dich

2003 Neue Heimstätte Umzug ins Stade de Genève / La Praille.

schon: Verdammt, was habe ich jetzt gerade gemacht? Es war an der Grenze zur Sklaverei damals. Wir mussten ja auch ab und zu Choreos machen, um glaub­würdig zu bleiben. Wir sind schliesslich immer noch Servette, der Ruf verpflichtet. Aber Lust ­darauf hatten wir weiss Gott nicht. Du, Steph, hast wohl noch viele erfreu­ lichere Erinnerungen. Steph: Natürlich, vor allem der Europa­cup. Als wir 2001 Hertha raus­warfen. Oder Slavia Prag. Ich studierte damals in Spanien, in Salamanca. Ich nahm den Bus nach Madrid, eineinhalb Stunden, flog von da nach Zürich und bestieg da den Car der Gruppe. Bekannte fragten mich ­später: Ah, du warst in Prag? O schön! Servette schauen? Aha. Warst du übers Wochenende? Wie, nur für fünf Stunden? Mit dem Car? Die verstanden das nicht. Topo: In Budapest war ich auch dabei. 37 Stunden im Bus hin und zurück. Das Einzige, woran ich mich erinnere, ist, dass es wie in der Sowjetunion aussah, die

2004 Marc Roger Präsident Er tätigt zu viele zu teure Transfers wie Christian Karembeu.

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Selten war das Stade de Genève so gut besetzt wie 2011 gegen Lausanne. Die Fans empfinden ihre Kurve als viel zu gross.

Macht das Alter aus euch andere Fans? Steph: Die Prioritäten verschieben sich. Aber Servette ist noch immer mein Leben.

Du hast eine Freundin, du hast ein Fami­ lienfest, du hast dies und das. Steph: Unsere Kurve ist sehr alt. Ich glaube übrigens, dass es in den Deutschschweizer Kurven eine grössere Fluktuation gibt als bei uns. Die Leute sind dort jünger. Bei uns stehen noch einige Gründer von 1988. Wir von der sogenannten Middle Class, das sind die etwa 40-Jährigen, sind etwa 15. Mein Junge ist nun vier, hat eine Fahne und schwenkt sie den ganzen Match. In der Challenge League geht das ­natürlich, da gibt es viel Platz in der Kurve. In der ­Super League würde ich ihn noch nicht in die Kurve mitnehmen, da wäre zu viel los.

Gehst du noch an alle Spiele? Steph: Zu Hause zu 95 Prozent, auswärts war ich jetzt nur in Lausanne. Topo: Wenn ich Kinder hätte, wäre das genau gleich. Ich bin vom Alter her jetzt in einer Art Übergangsphase. Grundsätzlich habe ich ein richtig schlechtes Gewissen, wenn ich mal nicht an den Match gehe. Und trotzdem tue ich es je länger, je mehr.

Fussballspiele waren noch nie ein Kinder­geburtstag. These: Es gab früher wohl nicht weniger Probleme, aber es war weniger heftig. Steph: Vergleiche sind schwierig. Es ist einfach anders. Wir hatten früher vielleicht etwas mehr Respekt, vor dem einzelnen Polizisten etwa. Und wir zer­störten im Stadion nicht einfach zum Spass die

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2005 Konkurs 11 Mio. Franken Schulden – Zwangsabstieg in die 1. Liga.

2011

«Wir zerstörten ­früher im ­Stadion nicht einfach zum Spass die WCs. Heute lassen sie sich dabei ­filmen.»

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Frauen hübsch waren und uns im Stadion 4500 Neonazis gegenüberstanden. Umbi: Ich habe all das nicht erlebt, aber ich kann mich damit identifizieren. Es sind Geschichten, die weitererzählt werden. Das gehört zur Geschichte dieser Gruppe. Schön ist auch, dass jeder noch weiss, was bei diesem und jenem Match in seinem ­Leben sonst gerade los war. Das sind immer Fixpunkte.

Super-League-Rückkehr Wiederaufstieg nach Barrage gegen Bellinzona.


S E CTION G R E NAT

WCs. Heute tun das einige und lassen sich vom Kollegen filmen, für Instagram und so. Ich sage nicht, dass wir bessere Menschen ­waren. Es ist einfach eine andere Generation. Heute ist es eine Art Wettbewerb, wer Krasseres anstellen kann. Topo: Es gibt Typen, das muss man schon auch sagen, die kommen nur, um Scheisse zu bauen. Steph: Bei grossen Spielen kommen welche mit, die wir noch nie gesehen haben, und du hast fünf Minuten Zeit, um ihnen die Mentalität der Gruppe zu erklären. Umbi: Je mehr Leute, desto mehr ­Idio­ten. In Lausanne haben kürzlich auf dem Rückweg ein paar gegen Busse ge­ treten und so. Und wir vom harten Kern sind einfach zu wenig, um das ­kanalisieren zu ­können. Wir versuchen das Ganze zwar seriös zu orga­nisieren, auch wenn mal viel mehr Leute mitkommen, als unsere Gruppe eigent­lich verträgt. Es ist aber nicht so, dass ihr grundsätz­ lich Nein zu Gewalt sagt. Steph: Das nicht. Aber wir bleiben fair. Als wir kürzlich eine Auseinandersetzung mit Xamax-Ultras hatten und sie danach Probleme mit der Polizei bekamen, haben wir uns bei ihnen erkundigt. Umbi: Wenn wir in Prügeleien ver­ wickelt werden, ist das immer spontan, nie im Vorfeld abgesprochen. Topo: In der Ultra-Szene ist das im ­Moment ja ziemlich in Mode: dass man sich i­ rgendwo Hooligan-mässig zu einem Boxkampf verabredet. Für mich macht das ­keinen Sinn, mich aufzuwärmen, weil ich weiss, dass ich um 10.30 Uhr eine Schlägerei habe. Wenn es mal knallt, dann soll das zufällig passieren, irgendwo auf der Strasse. Umbi: Damit ihr uns nicht falsch versteht: Wir steigern uns da manchmal in ­etwas rein und reden gerne darüber. Aber solche Schlägereien wie mit Xamax gibt es nur alle paar Jahre. Es ist für uns zweitrangig. Topo: In der Schweiz hält sich das Ganze auch noch im Rahmen, verglichen mit Italien oder Frankreich. Steph: Wobei … was man über ­Zürich liest: Kidnapping und d ­ ergleichen. Wenn das stimmt, ist das schon besorgnis­erregend. Wie steht euch der Verein gegenüber? Umbi: Bis auf die Paar üblichen PyroBussen hat der Klub im Moment nichts auszusetzen. Topo: Wir haben jetzt seit Langem

wieder einmal einen Präsidenten, der seit mehreren Jahren im Amt ist. Steph: Marc Roger gingen wir damals im Hilton suchen und in anderen Luxushotels. Topo: Er hatte später das Pech, dass er im selben Gefängnis sass wie ein paar Leute von uns. Steph: Mit Pishyar hatten wir es natür­ lich auch nicht gut. Und Trottignon von ­Canal + jagten wir aus dem Stadion. Ja, ja, die wilden Zeiten. Wie ist euer Verhältnis zu den Spielern? Topo: Wir sind da sehr misstrauisch geworden. Keiner hat mehr sein eigenes Lied. Nsame war der Letzte. Dann forcierte er seinen Abgang zu YB, wo wir ihn doch so gebraucht hätten, um aufzusteigen. Steph: In Italien gibt es noch h ­ äufig Gesänge für die Spieler, in der Deutschschweiz glaub auch. Topo: Gut, wir verstehen ja eh nicht, was die singen. Ja, bei einem wie Sauthier könnte man es sich mal wieder überlegen. Das ist eine treue Seele, der geht nicht weg für 10 000 Franken mehr. Steph: Grundsätzlich aber gilt: Der Spieler kommt und geht … Umbi: … das Trikot bleibt. Was singt ihr dann sonst so? Topo: Früher reisten sie ins Ausland, um einen Match zu schauen, fanden ein Lied toll und übernahmen es. Mit dem Inter­net verbreitet sich jetzt alles sofort. Steph: Jetzt singen sie alle dasselbe. Alle Kurven haben diese fünf, sechs Lieder aus Italien oder Südamerika. Umbi: Seit einigen Jahren nun sind unsere neuen Lieder alles Eigen­kreationen. Musik, die wir selber hören und cool ­finden. Rocksteady zum Beispiel oder Ska. Einfach Melodien, die uns gefallen. Die versehen wir dann mit Texten zu Servette. Topo: Eines der neuesten ist die Titel­ melodie von «Kelly’s Heroes» mit Clint ­Eastwood. Das war mein Lieblingsfilm, als ich klein war. Steph: Wir sind wohl die einzige Kurve, die das so macht. (überlegt) Na ja, vielleicht nicht gerade die einzige. Das ist typisch Ultra, wir übertreiben halt gerne. (lacht)

schreiben, aber man will sich selber auch nicht äussern. Gleichzeitig sehnt man sich nach Anerkennung. Früher nahmen wir «Sport dimanche» auf Video auf und ­regten uns dann auf, wenn sie unsere Choreo nicht zeigten. Topo: Mir ist das ehrlich gesagt egal, wenn die das nicht bringen. Heute kannst du dein Foto ja selber machen und auf Insta­gram stellen. Steph: Diese Möglichkeit gab es früher nicht. Wir waren extrem angewiesen auf unseren eigenen Fotografen. Topo: Ich will zudem auch nicht erkannt werden. Da wirfst du was aus P ­ lastik, und dann heisst es, es war eine Eisenstange. Und am Arbeitsplatz stellen sie dann Fragen. Steph: Mich riefen früher regelmässig Göttis und Onkel an. Sie hatten keine Lust, mich ständig im Fernsehen zu sehen. Ich war halt der mit dem Megafon. Topo: Es ist mir klar, dass wir Fussballfans nicht perfekt sind und viele stören in der Gesellschaft. Aber die Medien sind zu sehr auf uns fixiert. Kürzlich schrieben sie von diesem IS-Terroristen. Ja, er war eine Zeit bei uns in der Kurve, er war aber nicht Mitglied. Und er wurde nicht hier radikali­ siert. Was also hat das nun mit Servette oder unserer Gruppe zu tun? Nichts. Es schrieb ja auch niemand, wo er einkaufen ging und ob er ein ÖV-Abo besass. Es geht einzig darum, Fans zu diskreditieren. Umbi: Dabei zeigt doch unsere Gruppe gerade, dass sie gesellschaftlich etwas Einzigartiges darstellt. Eine Gruppe von Freunden, verbunden durch einen immateriellen Wert, die Generationen überdauert. Steph: Das Stadion ist einer der weni­ gen Orte auf der Welt, wo es noch einen solchen Mix gibt. Lehrlinge, Schul­abbrecher, Bankiersöhne, Studenten von US-EliteUnis. Alle haben sie ihre Stärken und Schwächen. Ich habe hier Leute kennen gelernt, die ich sonst nie getroffen hätte. Und die mir menschlich so viel gegeben haben. Topo: Und das Fansein hilft dir auch, dich selber besser kennen zu lernen. Wo du stehst, wer du bist. Und nun heisst das nächste Kapitel ­Super League? Alle drei: Bringt uns bitte kein ­Unglück. Verschreit es nicht!•

Warum reden Fans so selten mit den Medien? Steph: Das Verhältnis ist komplett schizophren. Man akzeptiert nicht, was sie

2012 Bilanz deponiert Retter Hugh Quennec folgt auf Präsident Majid Pishyar.

2013 Abstieg im Léman-Derby Der erste sportliche Abstieg nach 0:3 gegen Lausanne.

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S

ervettes Geschichte ist lang, wild und bunt. Und sie ruht in einem Zimmer in einem Einfamilien­haus im schwyzerischen Ibach. Die Kammer im Erdgeschoss würde mehrfach in einen Strafraum passen, und doch finden sich hier zu jeder Episode seit der Gründungszeit der Grenats Erinnerungsstücke, Dokumente und Nippes. An einer Wand hängen unzählige Trikots, daneben ein Regal, in dem sich Ordner aneinanderquetschen, randvoll mit Artikeln und Matchprogrammen. Gegenüber finden sich Pokale, Feuerzeuge, Pins, Sammelbilder und überhaupt so ziemlich alles, dem sich ein Servette-Logo aufdrucken lässt. Dies ist das Reich von ­Daniel Reichmuth, genannt Tschumi. Tschumi steht nicht gerne in der Öffentlichkeit, aber er liebt Servette. Ungewöhnlich ist das nicht für einen Deutschschweizer. Viele verfielen zur grossen Zeit der Genfer deren verschnörkeltem Spiel unter der ­Regie von Lucien Favre oder Umberto Barberis, nicht wenige erlagen der schieren Schönheit des granatroten Trikots. Noch heute existieren diesseits des Röstigrabens Fanclubs, ­deren Mitglieder jedes Wochenende ihrem fernen Klub nachreisen. Tschumi hingegen ist ein Einzelkämpfer. Sein Weg zu Servette führte über einen Mitschüler seines Bruders. Dessen Name: Karl Engel. Der Ibacher stand 1978 beim Cupfinal gegen die Grasshoppers im Tor, und natürlich fieberte der 8-jährige

Tschumi am Fernseher mit dem Star aus dem eigenen Dorf mit. Es wurde für ihn eine Partie zwischen Gut und Böse: da die langhaarigen, eleganten und nonchalanten Genfer, dort die verbissenen, pragmatischen und erfolgsverwöhnten Zürcher. Um Tschumi war es geschehen. «Meine Frau findet, ich sei gestört», sagt Tschumi achselzuckend. Wie viel Geld er bislang in seine Sammlung investiert hat, weiss er nicht. Es muss eine Menge sein, denn Servette-Memorabilia erzielen bei Online-­ Auktionen regelmässig Preise, die weit über denjenigen anderer Schweizer Klubs liegen. «Daran bin ich wohl nicht ganz unschuldig», schmunzelt Tschumi, der laufend einschlägige Portale nach Erwerblichem in Granatrot durchsucht und sich kaum etwas ent­gehen lässt. Die Kosten sind dabei Nebensache. «Wenn ich etwas kaufe, schreibe ich es gleich ab.» Überhaupt scheint Tschumi der vielleicht schlechteste Geschäftsmann unter den Fussball-Aficionados zu sein. Einen seiner Schätze zu verkaufen, ist für ihn trotz der Nachfrage nie eine Option. Nur Tauschen oder Verschenken kommt infrage. Längst nicht alles fände Abnehmer. Tschumis Sammelwut ist weitherum bekannt, weshalb ihm des Öfteren Material angeboten wird. Da ist zum Beispiel dieser Koffer voller Kassetten mit Radioreportagen von Servette-Spielen aus den 80er-Jahren. Oder frühere Léman-Derbys auf Video.

Eine glorreiche Geschichte wie die von Servette will gut dokumentiert sein. Aufgearbeitet wird sie allerdings nicht in einem Museum, sondern vom Inner­ schweizer Daniel Reichmuth.

Auch Skurrilitäten wie die Ovomaltine-Dose im ­Servette-Look oder ein Stück Charmilles-­ Rasen. Jedes noch so kleine Ding hat Tschumi katalogisiert und dafür eine Datenbank angelegt. Er selber findet mit einem Griff alles, was er sucht, doch Tschumi denkt auch an die Zukunft, wenn sein Traum vielleicht dereinst Wirklichkeit wird. Nichts wünscht er sich lieber, als seine Sammlung zu verschenken, natürlich an Servette. Aber erst wenn der Klub ein Projekt präsentiert, wie er diese Zeugnisse der Geschichte den Fans zugänglich machen wird. Ein frommer Wunsch für jemanden, der von seinem Klub schon mehrfach enttäuscht wurde, nicht bloss sportlich. Vom Verein ignoriert Tschumi sorgt nämlich auch dafür, dass die glorreiche Vergangenheit der Grenats nicht in Vergessenheit gerät. Um die Jahrtausend­ wende brachte er sich selber bei, wie man

Text Mämä Sykora @maemae_sykora

Bild Dominik Wunderli www.dominikwunderli.ch

Grenats ­Gedächtnis 2015 Lizenz verweigert Wegen Schulden Zwangsabstieg in die Promotion League.

2016 Zurück in der Challenge League Ein 2:1 bei Stade Nyonnais sichert den Aufstieg.


eine Website bastelt, seither ergänzt er ­ uper-servette.ch laufend um Berichte, ReS sultate und Biografien. Auch ein Buch über den Klub hat er geschrieben, mit einem welschen Kollegen, natürlich selber finanziert. Als er seine Ausgaben wieder eingespielt hatte, überliess er die übrigen Exemplare dem klammen Verein zum Verkauf. Angeboten hat dieser die Bücher indes nie, sie verstaubten im Keller. Und in der unruhigen Zeit vor dem Konkurs verschwanden einige der wenigen Pokale und Andenken, die im Besitz des Klubs waren, auf undurchsichtigen Wegen, was Tschumi heute noch ärgert. Seither hat er wiederholt dem Verein Ideen vorgelegt, um die Geschichte besser zu konservieren – und wurde im besten Fall vertröstet. Damit ist Servette hierzulande keine Ausnahme: Nur wenige Klubs haben die Pflege der Historie als Marketinginstrument schon erkannt.

2017

Die Hoffnung hat Tschumi nicht auf­ gegeben. Er baut sein Archiv weiter aus, aber eigentlich nicht für sich, sondern für seinen Klub, auch wenn der noch nichts davon wissen will. Auf dem Sammlermarkt hat der 48-Jährige harte Konkurrenz. Dass genau bei seinen Grenats so eine grosse Nachfrage besteht, erstaunt ihn nicht: «Servette umgibt etwas Mystisches, Elegantes und auch Eli­täres.» Einige Fans investieren Unmengen an Zeit und Geld in die Suche nach bestimmten Artikeln. Das Trikot der Firma Admiral ist so ein begehrtes Stück. Die Genfer trugen es Ende der 70er-Jahre und holten darin das Quadruple aus Meisterschaft, Cup, Liga- und Alpen­cup. Angeboten wird es kaum, und wenn, dann erreicht es bei Auktionen stets viertstellige Beträge. Tschumi ist sich sicher: «So ein Verlangen nach Memora­ bilia wird es beim FC St. Gallen oder beim FC Luzern nie geben.»

Adieu, Tibert Pont! Die Klublegende tritt nach über 20 Jahren im Verein ab.

2017

Das Admiral-Dress hängt natürlich auch in Tschumis Sammlung, gleich neben einer SFC-Skijacke aus der gleichen Ära. Gefunden hat er es so, wie er zu Servette gekommen ist: durch Zufall. Auf dem Fussballplatz in Ibach, wo Karl Engel seine Karriere begann – und damit auch Tschumis Fankarriere –, entdeckte er einen Jungen in eben­ diesem wertvollen Stück. Es stellte sich heraus, dass dessen Eltern es vom Grasshopper Bigi Meier erhalten hatten, der es nach dem Cupfinal 1978 mit Servette-Legende Didi ­Andrey getauscht hatte. Kurz darauf wechselte der Stoff den Besitzer – im Tausch, versteht sich. Andere hätten anschliessend das grosse Geschäft gemacht. Tschumi hingegen hegt und pflegt es, ganz uneigennützig, für Servette.•

Erstmals mit Frauenteam Zusammenschluss mit Chênois zu SFC Chênois Féminin.

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Cover-Illustration des Buches «Un maillot pour l’Algérie», herausgegeben von der Éditions Dupuis 2016 / Rey, Galic, Kris © Dupuis, 2019


NLA- L EGEN DE Text Mämä Sykora @maemae_sykora

Rachid Mekhloufi war auf dem Weg, einer der besten Stürmer der Welt zu werden. Der spätere Servettien zog es vor, seine besten Jahre bei einer National­ mannschaft zu verbringen, die es gar nicht geben durfte. Ein grosses Opfer im ­Unabhängigkeitskampf Algeriens.

Verspielter ­Revolutionär D

u musst mitkommen. Wir fahren am Sonntag», sagen die Männer mit einer Bestimmtheit, die keinen Widerspruch duldet. Der Mann mit dem Schnauzer hatte viele Fragen. Wohin? Weshalb? Antworten bekommt er keine. Nur dass es um die Sache gehe, «um unsere ­Sache». Niemand dürfe davon wissen, niemand Verdacht schöpfen, Abfahrt nach dem Spiel. Überall im Land klappt alles wie gewünscht. Doch ausgerechnet in SaintÉtienne, wo es am wichtigsten ist, kommt es zu einem Zwischenfall. Am 13. April 1958 spielt der Mann mit dem Schnauzer im Stade Geoffroy-Guichard, als wäre nichts gewesen. In der 80. Minute trifft er für seinen Klub, den Meister AS Saint-Étienne. Natürlich, denn Rachid Mekhloufi traf fast immer. Doch kurz vor Schluss prallt er mit seinem Sturmpartner zusammen, eine Kopfverletzung. Mekhloufi muss ins Krankenhaus gebracht werden. Die Männer, die ihn vor wenigen Tagen besucht haben, brechen in Panik aus. Ohne Mekhloufi, ohne ihr wichtigstes Puzzleteil, droht der grosse Plan zu scheitern,

alles aufzufliegen, der Traum zu platzen. Bis zum Morgengrauen warten sie, dann müssen sie handeln. Unbemerkt gelangen sie bis ins Zimmer des grossen Stars, der einen Verband um den Kopf trägt. «­Gehen wir!» Rachid Mekhloufi ist heute nur einer kleinen Minderheit von Fussballfans noch ein Begriff. Dabei ist unerreicht, was er für den Sport und vor allem für seine Heimat Algerien geleistet hat. Als das französische Magazin «So Foot» die 100 bedeutendsten Fussballer Afrikas wählte, kam Mekhloufi auf Platz 1, vor George Weah, Samuel Eto’o, Didier Drogba und Roger Milla. Ausschlaggebend waren dabei nicht nur sportliche Kriterien. Obwohl: Mekhloufi war ein grandioser Stürmer! 137 Tore erzielte er allein für Saint-Étienne, vier Mal wurde er französischer Meister und einmal Cupsieger. Bei seinem Abstecher zu Servette gelangen ihm 10 Tore in 11 Spielen. Dass er bis heute in seinem Heimatland verehrt wird, ist aber nicht diesen Erfolgen geschuldet. Auch nicht der Tat­sache, dass er als Trainer Algerien 1982 bei der ersten WM-Teilnahme coachte und nur wegen der «Schande von Gijon», jener

abgekarteten Partie zwischen Deutschland und Österreich, ausschied. Nein, der Grund dafür ist jene Geschichte, die mit ebenjener Flucht den Anfang nahm. Das Massaker von Sétif Geboren wurde Rachid Mekhloufi 1936 in ­Sétif, in einem Land, das damals Französisch-Algerien hiess. Seit 100 Jahren hielten die Franzosen das Land im kolonialen Würge­griff, schacherten ihren Staatsbürgern das beste und grösste Ackerland zu, während die Muslime in bitterer Armut lebten, von jeglicher Bildung ausgeschlossen waren und sich ihre Situation laufend verschlechterte. Zudem waren Tausende bei der Verteidigung Frankreichs in den Schützengräben von Verdun gestorben, über 120 000 kämpften im Zweiten Weltkrieg für Frankreich. Der Ruf nach Mitbestimmung und auch Un­abhängigkeit wurde laut. Besonders in Sétif, wo der kleine Rachid zu jener Zeit in jeder freien Minute den Ball über die Sandplätze trieb. Am 8. Mai, dem Ende des Zweiten Weltkriegs, lag Unruhe über der Stadt. Ein Demonstrationszug formierte sich,

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10 000 Algerier zogen in Richtung des Europäerviertels und forderten Gleichheit, Unabhängigkeit und «Algerien den Arabern». Es kam zu Unruhen, 28 Franzosen starben. Die Vergeltungsschläge waren noch grausamer: Armee und Marine beschossen Dörfer, 151 Todes­urteile wurden gesprochen, es gab unzählige Demütigungen und Morde. Tausende Algerier verloren beim Massaker von Sétif ihr Leben, unzählige weitere blieben traumatisiert. Die schrecklichen Erlebnisse bewegten viele dazu, sich dem Widerstand anzuschliessen. Der kleine Rachid kanalisierte seine Emotio­nen anders, durch den Fussball. Aber vergessen konnte auch er nicht. Der klein gewachsene, flinke Stürmer war auf den Bolzplätzen nicht zu stoppen. Beim lokalen Verein USM Sétif schaffte er es früh in die erste Mannschaft. Viele Ligue1-Klubs hatten in der mit so viel fussballe­ rischem Talent gesegneten Region ihre Beobachter, Mekhloufi mit seiner überragenden Ballbehandlung war bald Objekt der Begierde. Mit 18 wurde er nach Saint-Étienne für ein Probetraining eingeladen, wo er zum ersten Mal auf Rasen spielte. Trainer Jean Snella, der spätere Servette-Meister­ trainer, urteilte: «Wer etwas vom Fussball versteht, erkennt Rachids Klasse von der ersten Ballberührung an.» Mekhloufi bereitet die Umstellung keine Probleme. Als Aussen­läufer wirbelt er die Defensiven der

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Ligue 1 durcheinander, wird in seiner zweiten Saison zweitbester Torschütze der Liga und für die Équipe tricolore aufgeboten. Er ist auf dem Weg, einer der besten Offensivkräfte der Welt zu werden. Doch Mekhloufi hat andere Prioritäten. Zittern an Schweizer Grenze Zu viert sitzen sie im Auto, einem Simca Aronde. Endlich ist Mekhloufi ganz im Bild: Sie wollen das Land verlassen. Zeitgleich mit dem Saint-Étienne-Stürmer ist ein Dutzend algerischer Ligue-1-Spieler zu einer langen Reise aufgebrochen. Das Ziel: die tunesische Hauptstadt Tunis. Dort will man sich treffen. Eine algerische Nationalmannschaft soll entstehen! Der algerische Befreiungskrieg, der immer härter geführt wird, wird im Ausland kaum wahrgenommen. Seit zwei Jahren wird der Konflikt offen ausgetragen zwischen der französischen Armee und dem Front de Libération Nationale (FLN). In Frankreich aber wird das Bild vermittelt, in der Kolonie sei lediglich eine Bande Terroristen aktiv. Die Nationalmannschaft soll fortan die Wahrheit in die Welt hinaustragen, spielerisch. Mit Gewehren lassen sich Gefechte gewinnen, aber kein Bewusstsein erzeugen. Das sollte der Fussball nun schaffen. Doch dafür müssen die Spieler erst einmal aus dem Land der Kolonialmacht. Verboten ist das nicht, aber verdächtig. Die Gruppenflucht bleibt nicht lange unbemerkt, und die Gruppe im Simca

Charly Minassian

Rachid Mekhloufi war auch nach seiner Rückkehr überragend: Hier bei einem verwandelten Penalty für die ­­ Saint-Étienne im Jahr 1963. AS ­

hat Verspätung. Die Grenzposten sind schon benachrichtigt worden, man solle die Algerier aufhalten. Mekhloufis Truppe wählt den Weg über die Schweiz. Die Zöllner erkennen ihn, haben aber die Meldung noch nicht gelesen. Sie plaudern mit dem jungen National­spieler über Fussball, sie scherzen – und winken ihn schliesslich durch. Die Idee einer Fussballmannschaft als Propagandainstrument kam den Führern des FLN nach einem Benefizspiel zugunsten von Erdbebenopfern. Algerier waren zwar in Frankreich unerwünscht, auf dem Platz hingegen sehr begehrt. Mitte der 50er-Jahre spielten Dutzende von Nord­ afrikanern in der Ligue 1, einige von ihnen, auch Mekhloufi, hatten gute Chancen, für die bevorstehende Weltmeisterschaft 1958 in Schweden berücksichtigt zu werden – für Frankreich, für jenes Land, das den Tod ­ihrer Verwandten und Bekannten zu verantworten hat. Der FLN, dessen Führer ­Ahmed Ben Bella selber ehemaliger Spieler von Olympique Marseille war, kontaktierte die meisten Spieler schon im Vorfeld und präsentierte die Idee einer algerischen Nationalmannschaft. Das Echo war überwältigend. Jeder wollte dem Ruf der Heimat folgen und dafür auf vieles verzichten. Da war etwa Abwehrspieler Mustapha Zitouni, Leistungsträger und Grossverdiener bei der AS Monaco, der kurz zuvor in einem Länderspiel den gros­ sen Alfredo Di Stéfano abgemeldet hatte, worauf Real Madrid hinter ihm her war. «Wir wussten: Wenn wir diese Reise antreten, gibt es kein Zurück mehr. Nie mehr Nationalmannschaft, nie mehr Ligue 1», sagte R ­ achid Mekhloufi Jahre später. Noch ist das Ziel aber nicht erreicht. Mekhloufis Gruppe übernachtet in Lausanne. Die Meldung des Exodus verbreitet sich derweil wie ein Lauffeuer, bald wird das Hotel von Journalisten belagert, die unablässig die gleichen Fragen stellen. Was macht ihr hier? Wo geht ihr hin? Verlasst ihr Frankreich für immer? Wer leitet diese Operation? Doch die Vorgabe des Reise­leiters ist klar: keine Antworten geben. Die Algerier flüchten vor dem Trubel, besichtigen die Pontaise und reisen am Nachmittag im Zug weiter nach Rom. Mekhloufi denkt an den


NLA-LEGENDE – RACHID MEKHLOUFI

Die Ankunft in Tunis markierte für die algerischen Fussballer, darunter auch Monaco-Star Mustapha Zitouni (ganz links), den Abschied von ihrem bisherigen Leben.

zVg

«Wir ­wussten: Diese Reise bedeutete nie mehr ­Nationalelf, nie mehr Ligue 1.»

wunderbaren Citroën DS 19, den er kurz zuvor bestellt hat. Er weiss, er wird ihn nie in Empfang nehmen können. Seit er das Krankenhaus verlassen hat, ist er kein Fussballer mehr, sondern ein Kämpfer. Mit dem Flugzeug geht es von Rom aus weiter nach Tunis, erst hier vereinigt sich die zukünftige Nationalmannschaft Algeriens. Tunesiens Staatsoberhaupt ­H abib ­B ourgiba und Algeriens provisorischer

Minis­terpräsident Ferhat Abbas bereiten ihr einen grossen Empfang, die Presse verbreitet die Nachricht von den Fussball-Revolutionären in die Welt. Nicht alle haben es bis nach Nordafrika geschafft. Mohamed ­Maouche wird an der Grenze wegen Desertieren verhaftet. Hacène Chabri wandert, als sein Reisemotiv klar war, wegen «Beeinträchtigung der Sicherheit des Staates» in ein Gefangenen­ lager. Die zehn Erfolg­reichen hausen im mondänen Hotel ­Majestic, ­einige haben ihre Familie dabei. Gemeinsam lauschen sie im Radio der Reportage vom Länderspiel zwischen Frankreich und der Schweiz, einem drögen 0:0. Wie anders wäre diese Partie gelaufen, hätten die Bleus auf den Spielwitz ­ihrer Algerier zurückgreifen können! Lohn von der Revolution Frankreich reagiert schnell auf die Flucht der Fussballer – und heftig. Der Verband lässt keinen Zweifel darüber aufkommen, dass er die Algerier für undankbar hält. Die Klubs kündigen die Spielerverträge fristlos, die Lizenzen werden eingezogen. Der FLN publiziert seine Absichten, die FIFA droht umgehend jeder Landesauswahl Sanktionen an, sollte sie gegen diese Algerier antreten. Doch auch positive Reaktionen gibt es: Die Nationalspieler Raymond Kopa und Juste Fontaine, beide selber mit Migrationshintergrund, schicken immerhin eine Postkarte nach Nordafrika.

Das neue Leben der FLN-Teammitglieder ist klar geregelt: Jeder Spieler erhält zwei Trikots, Trainingsanzug und Schuhe sowie monatlich 50 000 Francs – inflationsbereinigt heute etwa 900 Franken. Für die Stars der Mannschaft wie Mekhloufi oder Zitouni bedeutet das eine satte Lohneinbusse. Eine Wohnung in Tunis wird jedem Spieler zur Verfügung gestellt. Das Team trainiert täglich, die Leitung übernimmt der ehemalige Fussballer Mohamed Boumerzag, ­einer der Initianten dieser Idee. Fit müssen sie sein, die Spieler, denn was bringt eine PropagandaElf, die nur verliert? Deshalb ist die Premiere von immenser Bedeutung. Das ­Signal nach Frankreich soll sein: Seht her, wir sind grossartige Fussballer, und wir spielen nun für unser Land, das ihr uns gestohlen habt! 9. Mai 1958. Es ist so weit: Die Armee ohne Waffen hat ihren ersten Auftritt gegen Marokko. Das Stade Zouiten in Tunis ist zum Bersten voll. Viele algerische Soldaten sind im Stadion, in voller Kampfmontur. Als die FLN-Elf auf den Rasen läuft, werden Gewehrsalven abgegeben. Die algerische Flagge wird gehisst, die «Kassaman» wird gespielt, Lied der Revolution und spätere Natio­nalhymne : «Wir haben uns erhoben, und ob wir nun leben oder sterben werden. Und wir beschlossen, dass Algerien leben soll – so sollt ihr bezeugen!» Mekhloufi und seine Mitspieler haben Tränen in den Augen. «Ein unbeschreiblich bewegender Moment»,

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Für Trainer Boumerzag sind die Partien auch taktische Herausforderungen. Von der ursprünglichen Elf sind fast alles Offensivspieler, viele können nicht auf ihrer angestammten Position auflaufen. Aber ihre herausragende Qualität ist selbst dann nicht zu verkennen. Gleich mit 6:1 überfährt das FLNTeam 1961 den amtierenden Olympiasieger aus Jugoslawien. 80 000 Zuschauern sehen die Partie im Belgrader Marakana. Denn die

Abtauchen bei Servette Nur 13 der 30 eingesetzten Spieler k ­ ehren in den französischen Ligabetrieb zurück. Rachid Mekhloufi ist einer der ersten. Offi­ ziell ist er 1962 noch immer bei der AS SaintÉtienne angestellt, doch der Klubpräsident rät ihm, sich noch bedeckt zu halten. In den Augen vieler Fans gilt er als Verräter – schwer zu sagen, wie sie reagieren, wenn ihr eins­ tiges Idol plötzlich wieder auftaucht. Zudem ist der Klub soeben in die Ligue 2 ab­ ge­stiegen. Eine Lösung ist schnell gefunden: Jean Snella, sein ehemaliger Trainer, ist mittlerweile bei Servette und sucht einen Sturmpartner für seinen alternden Goal­g etter ­Jacky Fatton. Doch Snella erkennt seinen

Die erste, noch inoffizielle algerische Nationalmannschaft im Vorfeld ihres historischen ersten Spiels in Tunis.

wird Mekhloufi später sagen. «Die Emotionen waren nicht vergleichbar mit den Spielen für die Bleus.» Algerien gewinnt 2:1 und ist dank der Nationalelf dem Traum eines unabhängigen Landes ein Stück näher gekommen. Lohn von der Revolution Der Auftakt hat Signalcharakter. Weitere Frankreich-Profis schliessen sich dem Team an, das fortan Tourneen unternimmt. Erst in der arabischen Welt, im Irak und in Jordanien, dann auch in Europa. Doch die Angst vor Repressionen der FIFA ist gross, ledig­lich in den Ostblock-Staaten sind die Algerier willkommen. Sie fahren stundenlang durch Dörfer in Bulgarien, Polen, der Tschecho­ slowakei oder der Sowjetunion, spielen oft drei Mal pro Woche gegen Stadtauswahlen – oder als Stadtauswahlen getarnte Klubteams. In China bestreiten sie eine Reihe von Partien und geben einheimischen Trainern ­einen Crashkurs, in Vietnam werden sie von Ho Chi Minh empfangen. Für Mekhloufi ein besonderer Moment: «Wir haben Algerien in einem Land repräsentiert, das selber unter der französischen Kolonialherrschaft gelitten hatte.» Die Algerier gewinnen dort sämtliche Partien deutlich, worauf ­ihnen ein General versichert: «Wir haben die Franzosen im Krieg geschlagen, ihr uns im Fussball. Also werdet ihr auch noch Frankreich schlagen.»

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zVg

Gegen Olympia­sieger Jugoslawien gewinnt das FLN-Team gleich mit 6:1 – vor 80 000 Zuschauern.

Besuche der algerischen Revolutionäre sind jeweils gross angekündigt, und diese sind stets darauf bedacht, dem lokalen Publikum etwas zu bieten. Trotz den sportlichen Erfolgen und den vollen Stadien macht sich eine gewisse Ernüchterung breit. Der Reiz des Neuen ist nach drei Jahren verpufft, der Weltöffentlichkeit ins Bewusstsein rufen, dass in Algerien ein Krieg herrscht, ist bald nicht mehr nötig. Denn dieser erlebt ab 1961 eine neue Intensität, Frankreich klammert sich mit grösster militärischer Härte an seine Kolonie. Die Bedeutung als Botschafter büsst die Nationalmannschaft somit ein. Auch bei den Spielern stellt sich Ermüdung ein. «Jahrelang habe ich Spiele unter meinem N ­ iveau bestritten und nie sonderlich hart trainiert. Ich hatte das Gefühl für Anstrengung und für die Notwendigkeit zu kämpfen verloren», sagt ­Rachid Mekhloufi. Und dann endlich, im März 1962, werden die Verträge von Evian unterschrieben, die das Ende des grausamen Kriegs bedeuteten. Hunderttausende von Algeriern hat er das Leben gekostet. Im FLNTeam bleibt es erstaunlich ruhig. «Vier Jahre hatten wir darauf gewartet, aber die Freude war gedämpft. Wir trauten der Sache nicht», so Mekhloufi. Erst bei der Proklamation der Unabhängigkeit brechen alle Dämme. Das FLN-Team hört auf zu existieren. 86 Partien hat es bestritten in 14 Ländern – keines davon im kriegsversehrten Algerien – , 60 davon gewonnen und dabei 356 Tore erzielt.


NLA-LEGENDE – RACHID MEKHLOUFI

Rachid Mekhloufi *  12. August 1936 in Sétif, Französisch-Algerien 1952–1954 USM Sétif 1954–1958 AS Saint-Étienne 1962 Servette FC 1963–1968 AS Saint-Étienne 1968–1970 SC Bastia Länderspiele 1956–1957 Frankreich 1958–1962 FLN 1963–1968 Algerien

Spiele Tore k.A. 98 65 10 11 217 85 77 22

4 0 40 k.A. 9 3

ehemaligen Schützling kaum wieder: Er ist völlig ausser Form und hat einige Kilos zu viel auf den Rippen. Im Training erlegt er ihm Extraschichten auf, der 26-jährige Algerier verlangt sich alles ab. Bald ist die Kraft zurück, für die Schweizer Liga reicht es alle­ mal: Nach vier Spielen hat er bereits sechs Treffer auf dem Konto. Sein damaliger Mitspieler Pierre Georgy erinnert sich: «Solche Technik, solche Dribblings hatten wir kaum je gesehen. Das war unglaublich!» Sehr ruhig sei er gewesen, aber stets freundlich. So zurückgezogen, dass sich die Mitspieler gar nicht trauten, ihn über seine Zeit in Nord­ afrika zu befragen. «Da herrschte eine gewisse Diskretion», meint Georgy. Lange konnte Servette einen Mann dieses Kalibers freilich nicht halten. Mekhloufi

setzte seine Karriere bei Saint-Étienne fort, als wäre er nie weg gewesen. Vielleicht war er sogar besser als zuvor. «Ich habe in der Zeit mit der FLN-Equipe andere Einstellungen kennen gelernt, etwa die Krea­tivität der Ungarn oder die Einfachheit der Asiaten – Eigenschaften, die bei uns ­etwas in Vergessenheit geraten sind», sagte er einst. Mit Mekhloufi, der heute in der Nähe von Tunis lebt, stiegen die «Verts» umgehend wieder auf, 1968 feierten sie das D ­ ouble. Der Cupfinal wurde dabei zum persönlichen Triumphzug. Gegen Bordeaux drehte er die Partie mit zwei Toren, und beim späteren Empfang hörte er von Präsident Charles de Gaulle Worte, die er sich bei seiner Abreise zehn Jahre zuvor nie hätte träumen ­lassen: «La France, c’est vous!»•

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Wer wie viele Zuschauer ins heimische ­Stadion lockt, ist a ­ llseits bekannt. Wir ­zeigen nun, wer die meisten Auswärtsfahrer ­mitbringt und empfängt. Die Unterschiede sind enorm.

Besucherzahlen im Gästesektor  f

Gästefans Heimstadion St.-Jakob-Park

Die Kurve ­gekriegt

Letzigrund Stadio di Cornaredo Swissporarena Stade de Tourbillon Kybunpark Stockhorn Arena La Maladière Stade de Suisse Letzigrund

Text Silvan Kämpfen

Lesebeispiel: 753 Fans des FC Basel waren beim

S

ich als Spieler bei den mitgereisten Supportern zu bedanken, ist manchmal Party, manchmal ein Spiessrutenlauf, aber immer Ehrensache. Jedes Wochen­ ende nehmen Tausende von Fans viele Stunden und Kilometer auf sich, um ihren Verein auch auswärts zu unterstützen. Noch während der Spiele geben die Klubs jeweils die offizielle Zuschauerzahl bekannt. Diese besteht aus den verkauften Billetten und weicht aufgrund der fernbleibenden Saisonabo-Besitzer oft von der tatsächlichen Besuchermenge ab. Selbstverständlich

registrieren die Vereine aber auch, wie viele Personen exakt die Drehkreuze passiert haben. Auf Anfrage von ZWÖLF haben sie freundlicherweise die genauen Besucherzahlen in den Gästesektoren für jedes Spiel der Hinrunde 2018/19 zur Verfügung gestellt. Selbstverständlich sind wir uns auch bewusst, dass viele Auswärtsfahrer die Spiele nicht im Gästesektor besuchen. Die Sympathien der Tribünenbesucher zu erfassen, ist aber nicht möglich. So bleibt es bei dieser Annäherung an das Phänomen Auswärtssupport.

FANS PRO SPIEL IM GÄSTESEKTOR La Maladière St.-Jakob-Park Stade de suisse Stockhorn Arena Letzigrund (FCZ) Swissporarena Letzigrund (GC) Kybunpark Stade de Tourbillon Stadio di Cornaredo

559 544 517 483 437 430 388 386 340 291

Auswärtsfahrer im Vergleich zum Heimpublikum Schnitt Heimfans Anteil Auswärtsfahrer

9,1 %

40

8,3 %

4,4 %

3,6 %

10 292

4971

9340

12 059

FC Zürich

Grasshoppers

FC Luzern

FC St. Gallen

3,5 %

23 556

BSC Young Boys

3,3 %

8815

FC Sion


für alle Partien der Hinrunde 2018/19

527 701 444 255 753 463 612 287 609 453 783 342 911 444 1152 551 1156 1580

58 91 83 76 70 57 41 66 44

345 415 278 347 391 501 344 516 512

381 187 176 156 175 353 722 309 182

560 750 231 380 241

132 89 79 107 197 94

414 401 247 597

306 439 124

94 84 38 185 336 58 90 192 57

1308 1491 792 4074 425 692 811 932 565 400 553 1068 978 831 950 916 1177 831

Auswärtsspiel in Luzern im Gästesektor. Umgekehrt pilgerten 345 Luzern-Fans in den St.-Jakob-Park. Graue Zahlen: Spiele unter der Woche. Unterschiede zwischen Spielen am Samstag oder Sonntag sind nicht signifikant.

AUSWÄRTSFAHRER PRO SPIEL

Lugano: weite Reise, wenig Leute Lugano hat nicht nur die klar kleinste Auswärtsfahrtgemeinde. Ins Cornaredo wollen auch am wenigsten reisen. Beides kann damit erklärt werden, dass Lugano (zusammen mit Sion und vor St. Gallen) die grösste Distanz zu den anderen Spielorten aufweist. YB oder Luzern etwa haben es pro Match nur halb so weit. Die Maladière: Ort der Sehnsucht Würde Xamax wieder absteigen, fänden das viele schade. Denn die Maladière gewinnt den Preis des beliebtesten Ausflugsziels. Ein schön gelegenes, schmuckes Stadion mit uneingeschränkter Sicht vom Gästesektor aus dürfte dazu beitragen. Ansonsten hängt die Lust auf eine Auswärtsfahrt offensichtlich stark von der Entfernung des jeweiligen Stadions ab.

3,2 %

5330

FC Thun

3,1 %

25 058

FC Basel

FC Zürich BSC Young Boys FC Basel FC St. Gallen Grasshoppers FC LUzern FC Sion FC thun Neuchâtel Xamax FC Lugano

2,5 %

5076

Neuchâtel Xamax

2,3 %

2890

FC Lugano

938 801 791 425 415 405 293 174 126 65

FCZ: massiger Kurventourismus Der FC Zürich führt das Ranking der Auswärtsfans klar an. Und das obwohl die 4074 Gästefans im Derby gegen GC nicht ein­gerechnet sind. Auffallend ist zudem, dass der FC Basel auch auf den Gästerängen die Young Boys an sich vorbeiziehen lassen musste. Der Abstand zu den restlichen Teams ist riesig. Weil es sich bei den Zürcher Derbys um keine Auswärtsspiele im eigentlichen Sinn handelt, wurden diese für die Berechnung des ­Durchschnitts nicht berücksichtigt.

GC: Hauptsache nicht im Letzigrund Es zeigt sich, dass in Zürich die beiden Kurven ein enormes Gewicht haben – oder dass der FCZ und GC aufgrund der mangeln­den Attraktivität des Letzigrund viel mehr Heimfans haben müssten. Den klaren dritten Platz belegt hier der FC Luzern. Lugano ist wiederum Schlusslicht. Zur Berechnung haben wir die obigen Gästesektor­zahlen von den offiziellen Gesamtzuschauerzahlen abgezogen. Diese Heimfan-Zahl haben wir dann im Verhältnis zu den Auswärtsfahrern gesetzt. Die Zürcher Derbys wurden bei der Berechnung ­wiederum nicht berücksichtigt.

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«Ich habe viel gelernt, weil ich nicht oft gespielt habe» Beim aktuellen Höhenflug des FC Thun ragt einer besonders heraus: Marvin Spielmann. Im Interview erzählt er, wie er trotz Umwegen und seinem Ruf als schwieriger Spieler dahin gekommen ist.

Interview Mämä Sykora @maemae_sykora

Bilder Michael Isler

www.michael-isler.ch


A

n einem sonnigen Wintertag ist Thun fast schon kitschig. Die Aare glitzert, die nahen Berge sind perlweiss, vor den Cafés auf dem Mühleplatz sind alle Tische belegt. Es flanieren an diesem Mittwochnachmittag so viele Menschen durch die Altstadt, dass man meinen könnte, es sei Wochenende. Einer von ihnen ist Marvin Spielmann. Er geht langsam, die Hände in den Taschen seiner dicken Jacke und mit einem Lächeln auf den Lippen. Es ist die Locker­heit, die 24 Tore in den vergangenen eineinhalb Saisons mit sich bringen. «Ein guter Junge», sagt der Kellner bei Spielmanns Lieblingsitaliener. «Hast du schon wieder getroffen?» Natürlich hat er, aber es ist ihm fast schon unangenehm, das zu erwähnen. Spielmann ist einer der begehrtesten Spieler der Liga, doch aus der Ruhe scheint ihn dies nicht zu bringen. Er hört aufmerksam zu, antwortet ausführlich und überlegt, setzt dann und wann ein verschmitztes Grinsen auf. Spielmann wirkt wie einer, der sich über die schwierigeren Kapitel seiner Laufbahn, über gewisse Vorfälle in der Vergangenheit, über seine Umwege an die Spitze erst heute Gedanken macht, um sich selber besser zu verstehen. Auch wer ihn in jüngeren Jahren nicht gekannt hat, erkennt: Hier sitzt einer, der zuletzt sehr gereift ist. Du hast lange überlegt, wo wir uns ­treffen sollen. Bist du nicht oft in der Stadt unterwegs? Im Sommer schon. Im Winter verbringe ich viel mit Erholung. Ein Schläfchen am Nachmittag nach dem Training, fernsehen, auch mal gamen.

Im letzten Sommer, als ich in zwei Spielen vier Tore erzielt habe, gab es viele ­Anfragen. Einige Interviews habe ich da gegeben, dann fand auch der Klub, dass jetzt mal eine Pause angebracht sei. ­Diesen Entscheid habe ich begrüsst. Es ist nicht so, dass ich mich davor drücke. Bericht­ erstattung ist ja auch Werbung für einen Spieler. Dafür findet man viele Aussagen über dich. Zum Beispiel: «Marvin ist ein Künstler mit viel Temperament, Ge­ schwindigkeit, Sprengkraft, Technik, Schlagkraft und Kreativität.» Was denkst du, wer hat das über dich gesagt? Vielleicht Livio Bordoli, mein Trainer bei Aarau? Nein, es war U21-Nationaltrainer Heinz Moser. Wenn dich der Trainer derart lobt, müsste man meinen, du wärst seit Jahren Leistungsträger in der U21. Tat­ sächlich aber warst du da selten Stamm­ spieler. Wieso? Ganz einfach: Ich war noch nicht so weit. Ich war fussballerisch noch zu jung. Ich denke, ich bin neben dem Platz etwas reifer als andere in meinem Alter, auf dem Platz hingegen war ich lange weniger weit als andere im Kader. Ich glaube aber, ich habe in den letzten zwei Jahren hier einiges aufgeholt.

Wirst du erkannt und angesprochen, wenn du durch die Stadt gehst? Ich bin dunkelhäutig und sehe aus wie alle Dunkelhäutigen, deshalb passiert das nicht oft. (lacht) Im Ernst: Ab und zu werde ich angehauen, aber meistens bleibt es sehr ruhig.

Die Attribute, die dir Heinz Moser zu­ schreibt, passen auch auf Kylian Mbappé. Der Franzose ist dein Vorbild, was ziem­ lich speziell ist: Die wenigsten haben Vorbilder, die drei Jahre jünger sind. Das Alter spielt keine Rolle. Unsere ­Eltern schauen sich vielleicht auch die Unbeschwertheit von uns Kindern ab. Was Mbappé leistet, ist einfach unglaublich, ­davon kann man sich einiges abschneiden, auch wenn er jünger ist. Früher faszinierten mich Ronaldinho, Zidane und Ronaldo.

Du bist eine der prägendsten Figuren der Liga. Und dennoch gab es in den Zeitun­ gen bislang kaum Interviews mit dir zu lesen. Wie kommt das?

Du bist nicht gleich mit Fussball einge­ stiegen, sondern hast als Kind erst Judo betrieben. Ja. Wobei mir später mein Vater erzählt hat,

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dass ich eigentlich nur dahin gegangen bin, weil bei Übungen ein Ball im Raum lag. Irgend­wann sah auch mein Vater ein, dass ich wohl beim Fussball besser aufgehoben bin. Aber er fand, Judo sei eine gute Idee für mich, damit ich mich besser ver­ teidigen kann. Bist du gemobbt worden als Kind? Zumindest oft gehänselt worden. Ich kann mich nicht mehr gut daran erinnern, aber so schlimm ist es nicht gewesen. Ich habe keinen Knacks davongetragen. (lacht)

«Ich wollte lieber einer der Besten sein als einer von vielen bei einem grösseren Klub.»

Schon mit 9 Jahren bist du vom FC ­Dulliken zum FC Aarau gewechselt. Ein grosser Schritt? Ein Trainer hat mich entdeckt und zum FCA geholt. Nicht dass ich mich schon als grossen Star sah, aber das machte mich schon stolz. Das war ja immerhin der FC Aarau, ein Super-League-Klub. ­Anfangs wurde ich noch von Olten ins Training nach Aarau gefahren, mit 11 ging ich dann allein mit dem Zug. Ich war immer ein sehr selbstständiges Kind, vielleicht auch, weil sich meine Eltern früh getrennt haben. Dass ich viel allein auf mich genommen habe, hat die Selbstständigkeit noch mehr gefördert. Hast du Beziehungen zum Kongo, dem Heimatland deiner Mutter?


M ar v in S p ielmann

Zum Land selber nicht, nur zu meinen Verwandten, aber von denen lebt niemand mehr im Kongo. Ich selber war noch nie da. Kürzlich hast du vom Fufu deiner Mutter geschwärmt, diesem Brei aus Bananen und Maniok. Sie lebt heute in Paris, darum kann ich das nur noch selten geniessen. Aber wenn, dann freue ich mich immer total darauf. Mit 14 Jahren wurdest du zusammen mit den talentiertesten Fussballern des Jahrgangs ausgewählt, um die Credit ­Suisse Academy zu besuchen. Eine gute Erfahrung? Unter der Woche trainierten wir in Emmenbrücke. Ich lebte bei einer Gastfamilie, an den Wochenenden ging ich heim. Das ­waren so ziemlich die zwei coolsten Jahre meines Lebens, so sehen das wohl alle, die dort waren. Damals fand ich nicht alles so toll, aber im Nachhinein war das wirklich sehr wertvoll. In den Profifussball geschafft haben es aber nur wenige, etwa Noam ­Baumann vom FC Lugano. Dein Talent war also früh bekannt. ­ arum kam kein grösserer Verein als W der FC Aarau und wollte dich haben? Interesse bestand schon, aber ich wollte in Aarau bleiben. Ich wollte lieber einer der Besten sein als einer von vielen bei einem grösseren Klub. Du wählst also lieber den einfacheren Weg? Einfacher ist dieser Weg nicht unbedingt. Schaffen muss man es ja dennoch, auch in einem kleineren Klub. Dort reicht es ja auch nicht mehr Junioren bis in den Profifussball. Der FC Aarau geniesst nicht gerade den Ruf eines guten Ausbildungsklubs. Über solche Dinge macht man sich in dem Alter keine Gedanken. Selbst als ich in den Nachwuchsauswahlen war, war es nie ein Thema, dass ich bei einem anderen Klub besser aufgehoben wäre. Heute wäre das wohl anders, die grösseren Klubs

schauen früher, dass sie Talente zu sich holen können. Bei Aarau reichte es dir nicht direkt in die erste Mannschaft, du wurdest zum FC Baden ausgeliehen in die 1. Liga. Da warst du bereits 18. Anderswo hättest du vielleicht früher schon Profieinsätze bekommen. Das habe ich mir so noch nie überlegt. Beim FCA war es Usus, dass Talente sich erst bei Ausleihen bestätigen müssen. Mir hat das jedenfalls nicht geschadet. Mein Standpunkt war immer: Wenn ich gut genug bin, schaffe ich es, wenn nicht, bin ich noch nicht reif. Da vertraute ich auf das Urteil der Trainer, die sind ja aus einem Grund in dieser Position. Ich war auch nie neidisch auf andere, ich habe es jedem Kollegen gegönnt, der Einsätze bekam. Das war eine Motivation für mich. Warst du nicht ungeduldig? Doch, natürlich, das ist wohl jeder junge Spieler. Noch heute bin ich nicht sonderlich geduldig. Mir blieb aber ja nichts anderes übrig, als bei Baden zu beweisen, dass ich reif bin für die erste Mannschaft. Auch heute noch konzentriere ich mich lieber auf das Hier und Jetzt. Was in zwei Jahren sein wird, darauf hat man keinen direkten Einfluss. 2015, mit 19 Jahren, kam dann endlich dein Profidebüt. Bist du mit der Um­ stellung gut zurechtgekommen? Oh, das war schon ein anderer Fussball! Das ging anders ab! Die Gegenspieler liefen mir nach, wenn ich sie ausgedribbelt hatte, das kannte ich nicht aus der 1. Liga. (lacht) Ich habe mich aber schnell daran gewöhnt. An einen jungen Spieler, der einschlägt, Tore schiesst und Vorlagen liefert, ist ja auch eine Erwartung gekoppelt, von­ seiten des Klubs und der Fans. Hast du diesen Druck gespürt? Nein, ich war da ganz unbeschwert. Ich wusste ja, dass ich diese Chance bekomme, weil ich offenbar die Qualitäten mitbringe, die es braucht. Ich habe einfach das

gemacht, was ich im Nachwuchs gemacht habe, dribbeln und laufen. Das hat dann auch gut funktioniert. (lacht) Ist es schwierig, da auf dem Boden zu bleiben? Es kommt auf den Charakter an. Mir kommt kein Grund in den Sinn, warum ich hätte abheben sollen, nur weil ich ein paar Spiele in der Challenge League gemacht habe. Das gilt auch heute beim FC Thun noch. Und es wäre auch nicht anders, wenn ich bei Manchester City spielen würde. Es gibt viele Fussballer, denen das passiert. Da gehöre ich definitiv nicht dazu. Ich weiss, woher ich komme, und das vergesse ich nicht. Dass ich schliesslich im Profifussball angekommen war, war für mich eine Bestätigung, klar. Aber was das bedeutet, darüber habe ich nie gross nachgedacht. Zu viele Gedanken habe ich mir wenn schon auf dem Feld gemacht. Hast du noch Kontakt mit Leuten von ausser­halb des Fussballs? Ja, sehr viel. Das schätze ich auch und ist sicher ein Vorteil davon, wenn man nicht schon in jungen Jahren zu einem grossen Klub stösst. Man ist vielleicht etwas ge­ erdeter. Wobei es auch andere gibt, die sich nur in einer ganz auf Fussball ausgerich­ teten Welt gut entwickeln können. Dein Wechsel zum FC Wil und seinen tür­ kischen Investoren nach nur einer hal­ ben Saison bei Aarau hat einige negative Reaktionen ausgelöst. Du würdest nur dem Geld folgen, hiess es. Wenn man das Sportliche anschaut: Der FCA war damals Zweitletzter, Wil im Aufstiegsrennen und mit grossen Plänen. Aus meiner Sicht war das ein sinnvoller Wechsel; was andere dabei dachten, war mir egal. Es ist meine Karriere. Klar, heute denke ich anders drüber. Ich rede nicht gerne über diese Zeit, weil niemand versteht, wie das damals war. Es kam anders heraus, als ich mir das vorgestellt hatte. Ich habe viel gelernt, gerade weil ich nicht oft gespielt habe.

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M ar v in S p ielmann

Wie meinst du das? Wenn man aus dem Nachwuchs kommt, hat man bis dahin immer gespielt. Es tut jedem gut, bei den Profis erst mal auf der Bank sitzen zu müssen. Das gehört dazu, und damit muss man umgehen können. Dadurch lernt man Geduld, und es weckt den Ehrgeiz, mehr zu leisten als bis ­anhin. Zudem hilft es, eine Situation sach­licher ­beurteilen zu können. Man bekommt zum Beispiel Verständnis dafür, wenn in einer sportlich schwierigen Situation eher ein routinierter Spieler aufgestellt wird.

«Was heisst schon schwierig? Ich bin kein ­Spieler, der Ja und Amen sagt.»

und Matteo Tosetti auf dem Flügel. Das ­waren ziemliche Kaliber vor mir. Marc Schneider hat uns mal in einem Interview gesagt, über dich hätten im Vorfeld alle gesagt, man solle ­besser die Finger von dir lassen, du seist ein schwieriger Spieler. Woher kommt ­dieser Ruf? Was heisst schon schwierig? Ich bin kein Spieler, der Ja und Amen sagt. Wenn mir ­etwas nicht gepasst hat, habe ich das auch manchmal etwas zu deutlich gezeigt. Ein gutes Team braucht beides: solche, die bei allem nicken, aber auch solche, die etwas Widerstand bieten. Bist du mit deiner Art auch mal auf die Schnauze gefallen? Oh, natürlich! Mittlerweile habe ich gelernt, dass es klüger ist, mit Leistungen zu antworten als mit Worten. Bist du vorsichtiger geworden? So würde ich das nicht sagen. Aber ich weiss heute besser, wie ich antworten soll.

Leidest du noch unter diesem Image? Ich glaube, ich habe nun bewiesen, dass dieses Image falsch ist. Ich spiele beim FC Thun, hier wird sehr gut gearbeitet, aber das grosse Geld ist nicht vorhanden. Ich bin dem Verein sehr dankbar, er hat mir die Plattform geboten, um das zu werden, was ich heute bin.

Marc Schneider sagte auch mal, der ­Kontakt zu Spielern wie Dennis Hediger, ­Nicolas Bürgy oder Sven Lauper habe dir sehr gutgetan, weil sie ein Vorbild seien in Sachen Professionalität und Ernst­ haftigkeit. Wie darf man das verstehen? Hattest du zu viele Flausen im Kopf? (lacht) Das nicht, aber von diesen ­Spielern kann man sich einiges abschauen. Wie sie in den Tag starten, wie sie trainieren und vor allem ihre Lust, die sie jederzeit auf Fussball haben. Die freuen sich auf j­ edes Training und geben immer Vollgas. Bei mir gab es schon mal Schwankungen, was die Motivation betrifft, so geht es wohl den meisten in jedem Job. Bei Thun habe ich ­gelernt, mich konstant reinzuhängen und es auch immer zu geniessen.

Auch bei Thun warst du anfangs nur Er­ gänzungsspieler. Denkst du, die haben dich absichtlich erst mal auf die Bank ge­ setzt, um dich Demut zu lehren? (lacht) Damals spielten Christian Fassnacht

Hast du darum in den letzten Monaten diese enormen Fortschritte gemacht? Das ist sicher auch ein Grund. Man sagt Fussballern immer: So wie du trainierst, so spielst du auch. Da liegt viel Wahrheit drin.

Wie bist du klargekommen in dieser turbu­lenten Zeit mit Trainerwechseln und Neuzuzügen? Ich habe es einfach hingenommen. Auch das konnte ich ja nicht beeinflussen, ebenso wenig, was Journalisten in jener Zeit geschrieben haben.

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Seine ehemaligen Trainer hat Spielmanns steiler Aufstieg überrascht. Ranko Jakovljević hatte ihn im Nachwuchs des FC Aarau und erinnert sich: «Sein Talent war unüber­ sehbar, aber sein Charakter war gar nicht einfach. Er hat gespielt, wie er wollte, und nicht, wie es dem Team geholfen hätte.» Das grösste Problem sei seine Körper­sprache gewesen: Nach misslungenen Aktionen habe er die Hände verworfen und sei stehen geblieben. Deswegen habe er viele Gespräche mit Spielmann geführt, aber auch das sei nicht einfach gewesen, weil er sehr sensibel sei. Gabor Gersten­maier, sein Trainer beim FC Baden, geht noch einen Schritt weiter: «Sein Antritt war beeindruckend, er war beidfüssig und torgefährlich. Aber er war derart ungeduldig und aufbrausend auf dem Platz, hat sich mit Gegenspielern und Schiedsrichtern angelegt, dass ich befürchtete, diese Charakter­züge könnten eine Profi­ karriere verhindern.» Spielmann habe ihn oft zur Weissglut gebracht, und er könne sich vorstellen, dass es für keinen Trainer einfach sei mit ihm. Sowohl Jakovljević wie auch Gerstenmaier waren sich einig: Wenn ein Trainer diese Punkte in den Griff kriegt, hat er in Spielmann einen grossartigen Fussballer. Dass dies jemandem gelingen würde, daran hatten sie grosse Zweifel. Doch dann kam Marc Schneider. Dein Aufschwung begann mit dem ­Berner Derby Anfang letzter Saison. Nach drei Niederlagen in Folge habt ihr YB 4:0 weggeputzt. Du warst mit zwei ­Toren Mann des Spiels. Sportchef Andres ­Gerber meinte danach: «Das könnte bei Marvin etwas auslösen.» War das so? Nicht dass mich zuvor etwas belastet hätte oder ich gehemmt gewesen wäre, aber manchmal braucht man ein Erlebnis, damit der Knopf aufgeht. Wenn ich zurückschaue, sehe ich das auch so wie Gerber damals, dieser Match hat wirklich etwas ausgelöst. Mir hat zuvor oft der Kopf einen Strich durch die Rechnung gemacht. Vielleicht hat das Selbstvertrauen gefehlt, um das auf den Platz zu bringen, was ich eigent­lich konnte. Dieses Selbstvertrauen holt man sich mit genau solchen Spielen.




M ar v in S p ielmann

Marvin Spielmann

Vom Mentaltrainer in der Nachwuchsnati habe ich gelernt, dass man sein Selbst­ vertrauen nicht aus seiner aktuellen Situation, sondern aus seinen Qualitäten ziehen soll. Das ist aber nicht so einfach, wenn man sie nicht so zeigen kann, wie man es eigentlich könnte. (schmunzelt)

«Vom Verband hat noch niemand ­angerufen.»

*  23. Februar 1996 in Olten 2014–2016 FC Aarau 2014–2015 FC Baden (Leihe) 2016–2017 FC Wil 2017– FC Thun

Spiele Tore 21 6 41 18 20 2 72 24

Länderspiele 2016– Schweiz U21

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mich nicht nach dem Match hin und fühle mich als der Grösste, weil ich gut gespielt habe. Man kann nur brillieren, weil einen das Team brillieren lässt. Hat dich der FC Thun verändert? Definitiv. Fussballerisch habe ich einen weiteren Schritt gemacht, und ich bin viel ­ruhiger und sachlicher geworden.

Was hast du an deinem Spiel geändert? Marc Schneider konnte mir einige Dinge aufzeigen, die ich optimieren konnte. ­Sicher spiele ich heute einfacher als früher. Er hat mir auch gezeigt, wie ich weniger auf die Socken bekomme. Es besteht aber immer die Gefahr, ­ inen kreativen Spieler wie dich so zu e beschneiden, dass er seine Qualitäten nicht mehr ausspielen kann. Wenn man das Unberechenbare zu sehr austreibt, dann besteht diese Gefahr, das ist richtig. Aber so ist es bei uns garantiert nicht. Meine Kreativität ging nicht verloren. Es leuchtet schliesslich jedem ein, dass es manchmal besser ist, den einfacheren Pass zu spielen, den Ball in den eigenen Reihen zu halten. Dem FC Thun ist es sehr wichtig, dass seine Spieler Werte wie Demut, Beschei­ denheit und Respekt teilen und ­leben. Neulich hattet ihr einen Knigge-Kurs zum Thema Umgang mit Menschen. Passt das zu dir? Ich war noch nie einer von denen, die sich für etwas gerühmt haben. Ich weiss, was ich kann, und dazu stehe ich. Aber ich stelle

Wenn man so konstant gute Leistungen liefert wie du, dann kommen Anfragen und Gerüchte auf. Im Sommer hiess es, Ajax, Köln oder Sampdoria wollten dich haben. Ich fand es unterhaltsam, die Gerüchte zu verfolgen. Ich sage aber auch ­ehrlich, dass es eine schöne Bestätigung für e­ inen ­Fussballer ist, wenn er vom Interesse ­anderer Klubs hört. Würdest du heute schon bei YB spielen, sässen wohl bei jedem Spiel 50 Scouts auf der Tribüne. Einem Thun-Spieler traut man den direkten Schritt ins Aus­ land aber offenbar weniger zu. Ist das nicht ungerecht? Es liegt nicht in meiner Macht, das zu ­ändern. Das ist nun mal so, und es stört mich auch nicht. Meinen Vertrag habe ich kürzlich bis 2022 verlängert, das hätte ich nicht getan, wenn ich hier nicht sehr zu­ frieden wäre. Auch Sportchef Gerber sagt aber, du ­würdest deine Karriere bestimmt nicht bei Thun beenden. Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, ich würde mir keine Gedanken machen über

einen allfälligen Transfer. Es bringt aber nichts, auf etwas zu spekulieren, wo­rauf man nur sehr bedingt Einfluss ­nehmen kann. Klar würde ich gerne für Barcelona spielen, aber ich kann ja nicht einfach da hingehen uns sagen: Da bin ich! (lacht) Es klingt doof, aber ich will einfach nur gut spielen und dann schauen, was kommt. Planen kann man nicht im Fussball. Du bist bald 23. Das ist immer noch jung, aber für Schweizer Fussballer fast schon die letzte Zeit, in der man fürs Ausland noch interessant ist. Ich habe deswegen keinen Druck. Mein ­Alter ist eine Zahl, mehr nicht. Ich grüble nicht und überlege mir, wie es ge­wesen wäre, wäre ich früher bei Thun gelandet oder bei YB im Nachwuchs gewesen. Ich ­bereue nichts, weder im Fussball noch sonst im Leben. Alles, was ich gemacht habe, auch die Umwege in meiner Karriere, hat dazu geführt, dass ich heute dort stehe, wo ich bin. Und damit bin ich zufrieden. Für die U21-Nati bist du nun nicht mehr spielberechtigt, es bleibt nur noch die ­A-Nati. Als Thun-Spieler in die Nati, das hat schon länger keiner mehr geschafft … Mauro Lustrinelli. Richtig, und Milaim Rama. Das wusste ich nicht. Da sieht man mal, dass du wirklich noch jung bist. Bei Rama ist es noch ein wenig länger her. Du könntest aber auch einen anderen Weg wählen und für den Kongo spielen. Nein, das kommt für mich nicht infrage. Ich bin hier aufgewachsen, im Kongo war ich noch gar nie. Wenn Nationalmannschaft, dann müsste es die Schweiz sein. Wenn man die Skorerliste der letzten zwei Saisons anschaut, dann kommt man ja eigentlich nicht an dir vorbei. Das überlasse ich den Journalisten, da zu spekulieren. (schmunzelt) Bis jetzt hat mich jedenfalls noch niemand vom Verband angerufen.•

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Text Silvan Kämpfen

Wie lange war er wirklich da? Hat er überhaupt gespielt? Und wo ist sein Trikot? Um die Zeit des ­Weltfuss­ballers im Wallis ranken sich Mythen.

D

iesen Artikel gibt es wegen eines Verrückten. Giovanny Tocohua erzählte jüngst in «11 Freunde» über seine Leidenschaft für Ronaldinho. Puppen, Poster, Präservative: Er sammelt alles, was mit dem letzten echten Zehner des Weltfussballs zu tun hat. 100 000 Dollar soll die Kollektion inzwischen wert sein. Nur etwas fehlt ihm, Tocohua nennt es den «heiligen Gral»: das Trikot von Ronaldinho beim FC Sion. Jetzt ist es nicht so, dass wir tatsächlich Bewunderung hegen für den stalkinghaften Trieb des in Los Angeles wohnhaften Mexikaners, der seinen Sohn tatsächlich Ronaldo getauft hat und Ronaldinho nennt. Vielmehr wollen wir Tocohuas Verzweiflung zum Vorwand nehmen, um uns für ihn auf die

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Suche nach diesem einen Stoff- und vielen Erinnerungs­fetzen zu machen. Der Weltfussballer der Jahre 2004 und 2005 war in s­ einer Kindheit ja tatsächlich im Wallis zu Gast, wo sein Bruder Roberto Assis den magischen Mittel­feldmagistraten gab. Ronaldinho soll dabei für die Junioren des FC Sion aufgelaufen sein. Es ist eine schöne Geschichte. Vermutlich stimmt sie sogar.

Geschichte in vier Versionen «Ach, Ronaldinho!», jauchzt und schwelgt Jean-Jacques Papilloud durchs Telefon. «Während die anderen Jungs von der Garde­ robe zum Trainingsplatz schlichen, jonglierte er bereits dorthin.» Papilloud war damals Juniorenverantwortlicher bei den

Wallisern. Natürlich sieht er heute im damals 13-Jährigen eine Ausnahmeerscheinung. «Er hatte diese seltene Gabe, vor allen anderen zu sehen, was passieren wird. Und der Ball gehorchte immer seinen Gedanken.» Und dann dieses bübische Lachen! Laut ­Papilloud hat sein Goldjunge im Herbst 1993 mit den C-Junioren seines inzwischen verstorbenen Bruders Didier trainiert und auch «einige Spiele» bestritten. Version 1. Elf Jahre später war der Leichtfuss Weltfussballer des Jahres. Ein Aufhänger für die Westschweizer Medien. Die Papilloud-­ Brüder traten im Fernsehen auf, «Le ­Matin» sprach mit einem ehemaligen Junior, der sein bester Freund und Sturmpartner gewesen sein will. Ronaldinho habe vor der

zVg

Sionaldinho


Schule, den Ball gegen die Mauer spielend, auf ihn gewartet. Dann seien sie oft «chrämle» gegangen oder hätten zusammen Nintendo gespielt. Gegen Conthey habe der Junge aus dem südlichsten Zipfel Brasiliens, deshalb auch «Gaúcho» genannt, mal acht Tore geschossen. Version 2. Auch der langjährige Stadionsprecher und damalige Trainer der Sittener B-Junio­ ren, Jean-Jacques Rudaz, will ­Ronaldinho unter seinen Fittichen gehabt haben. Er ist gar überzeugt: «Die meisten Spiele hat er unter mir bestritten. Nach den Trainings hat er ständig noch Freistösse geübt.» Das klingt gut. Ronaldinhos Aufenthaltsdauer im Zentral­wallis schätzt er auf maximal neun Monate. Wie Kollege Papilloud übrigens auch erinnert sich Rudaz an Probleme mit der Lizenz. Ronaldinho sei zunächst beim Verband nicht angemeldet gewesen. «Wir fragten deshalb unsere Gegner, ob er mitspielen dürfe. Nicht alle willigten ein. Es hiess, Sion bekomme wieder eine Extrawurst. Und wir hatten auch ständig Angst, dass er sich verletzt, weil das Probleme gegeben hätte ohne Versicherung.» Version 3. «Das sind alles Lügen!», schreibt nun Éric Lovey per Facebook-Messenger in Richtung ZWÖLF. Lovey war einst Berater des Brasilianers und kann einen Lebenslauf vorweisen, der sich wie ein Groschenroman liest. Einst mittelloser Akkordeonspieler im Wallis, fragte ihn Christian Constantin während seiner ersten Amtszeit an, ob er sich im Alltag um die Sion-Ausländer kümmern könne. Darunter war Roberto Assis, der sich mit dem Musiker offenbar so gut verstand, dass er ihm später die beginnende Karriere seines kleinen Bruders anvertraute. ­Lovey fädelte etwa 2001 den Transfer von Grêmio Porto Alegre zu Paris St.-Germain ein. Heute lebt er selber in Brasilien, im mondänen Bade­ort Florianópolis, und verschachert von da junge Fussballer nach Europa. Assis und Ronaldinho seien weiterhin seine besten Freunde. Er kenne die Wahrheit also genau. Damals, im Herbst 1993, sei Ronaldinho einfach bei seinem Bruder in den Ferien gewesen, in dessen Wohnung am Sittener ­Chemin des Collines, laut Lovey keine drei Monate lang. «Er hat in Sion vier, fünf Mal mittrainiert, ist ein bisschen über den Platz getrabt, um sich etwas fit zu halten. Aber er hat ganz sicher nie einen Match bestritten. Und er war auch nie Teil des FC Sion.» Dies schreibt L ­ ovey gleich mehrfach («Je le répète»). Version 4. Die Quellenlage ist dünn in dieser Wiedererlangung eines kleinen Stücks

Fussball­h istorie. Der FC Sion war noch nie ein Klub, der seine eigentlich so ruhm­ reiche Geschichte besonders gut dokumentiert hätte. Unter den Mäzenen Luisier und Constantin zählte stets das Hier und Jetzt. Matchblätter von 1993? Ein Spielerpass von ­Ronaldinho? Fehlanzeige. Von einem Trikot natürlich ganz zu schweigen. Ein Eintrag in der Spie­ler­­­datenbank des Schweizerischen Fussballverbands lässt den polternden Berater ­Lovey aber alt aussehen. Dort ist nämlich in der Tat festgehalten: Ein Moreira Ronaldo, ge­boren am 31.03.1980, Pers. Id.: 397504, war vom 17.04.1993 bis zum 31.10.1994 für die Walli­ser qualifiziert. 74 000 Euro vom Milan-Transfer Éric Lovey überzeugt das noch immer nicht. Ronaldinho sei während seiner ­g anzen ­Jugend Spieler von Grêmio gewesen, behauptet er. Daran habe sein Kurzaufenthalt im Wallis nichts geändert. «Der FC Sion wollte sich damit einfach ein bisschen aufspielen.» Verwirrend scheint die Dauer von Ronaldinhos Qualifikation. Niemand hat in Erinnerung, dass dessen Aufenthalt auch nur annähernd 17 Monate gedauert hat. In der «Players’ Tribune» erzählt der 38-Jährige denn auch, wie er während der WM 94 mit den Grêmio-Junioren Meisterschaftsspiele bestritt. Es sei aber gut möglich, dass es vor 25 Jahren solche Doppelspurigkeiten ge­ geben habe, sagt ein Kenner der FIFA-Lizenzierungsverfahren. Womöglich musste sich Grêmio bei nationalen Juniorenpartien nie darum kümmern, ob der Spieler lizenziert war. Eine Anfrage von ZWÖLF liess der Klub aus Porto Alegre unbeantwortet. 17 Monate. Sion-Präsident Christian Constantin, der den Brasilianer letztes Jahr noch vergeblich an seine Sauerkraut-Sause lotsen wollte, kennt die Zahl auswendig. Für diese Dauer hat er nämlich einst einen Soli­ daritätsbeitrag von der FIFA bekommen – und zwar als Ronaldinho 2008 von Barce­lona zu Milan wechselte. Zuvor hatte es diesen Umverteilungsmechanismus nicht gegeben. Wenn der Berlusconi-Klub damals die in den Medien kolportierten 21 Millionen hingeblättert hat, wird Constantin nach Adam Riese und dem FIFA-­Transferreglement 74 000 Euro davon eingestrichen haben. Ob Ronaldinho tatsächlich auch für Sion gespielt hat und wie lange, ist dafür unerheblich. Die Lizenzierung beim SFV genügte. Sion konnte damit bei der FIFA ein Gesuch stellen und war offenbar erfolgreich. Grêmio hat es vermutlich versäumt, in dieser Frage einen Anspruch geltend zu machen.

Gegen Conthey habe der ­Brasilianer mal acht Tore geschossen.

Von R10 selber, der sich heute im Licht des Rechtspopulisten Bolsonaro sonnt, gibt es immerhin drei Sätze zu seiner Zeit im Wallis. 2005 war er anlässlich der Wahl zum Weltfussballer in Zürich und sagte vor der RTS-Kamera in astreinem Französisch und mit breitestem Grinsen: «Ich erinnere mich noch an alles dort. Da habe ich das erste Mal Schnee gesehen, das erste Mal die Dinge etwas anders gesehen. In diesem Jahr wurde mir klar, was ich im Leben machen wollte.» Im Schnee von Crans-Montana wurde auch das einzige Foto von Ronaldinho im ­Wallis geschossen. Von ihm als Sittener Fuss­baller gibt es keine Aufnahmen. Der damalige Trainer Papilloud erklärt: «Roberto ­Assis wünschte, dass niemand filmt. Er wollte kein Aufsehen haben um seinen Bruder.» «Sehen Sie», sagt Berater Lovey. Da werde masslos übertrieben mit solchen Geschichten. Es habe doch niemand im Wallis gewusst, dass dieser 13-Jährige ein grosser Spieler werden würde. «Ich bleibe dabei: Wenn Sie mir belegen können, dass Ronaldinho tatsächlich mal für Sion gespielt hat, dann gibt es von mir Champagner – und zwar à discretion.» Giovanny Tocohua, der verrückte Sammler, würde dem unendlichen Alkohol wohl das sagenumwobene Sion-Trikot vorziehen. Bis dahin muss er sich mit seiner 2000-fränkigen Ronaldinho-Puppe vertrösten. Oder vielleicht mit der Erkenntnis, dass es dieses Leibchen gar nie gegeben hat. Seine Sammlung wäre dann komplett.•

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Text Simon Scheidegger @theSimon_S

Illustration Patric Sandri

www.ps-illustration.com

Trainer scharten früher nur ­Vertrauensleute um sich, heute ist der Staff massiv gewachsen, und die Spezialis­ ten k ­ ommen von überall her. Es ist ein ­richtiger Markt ent­ standen – auch in der Schweiz.

Staffwechsel T

rainingszentrum Zuzenhausen, irgendwann im Mai 2018. Der letzte Bundesliga-Spieltag der Saison steht auf dem Programm. Hoffenheim empfängt Dortmund. Michael Schuhmacher tut, was er in den letzten drei Jahren immer getan hat: die Spieler der Kraichgauer bestmöglich auf die Partie vorbereiten, damit sie einsatzfähig sind. Er löst Blockaden, macht aktivierende Massagen und Dehnübungen, bringt Tape an. Beim Aufwärmprogramm steht er beobachtend dabei, damit er eingreifen könnte, sollte sich ein Spieler verletzen. Hoffenheim gewinnt 3:1 und sichert sich einen Platz in der Champions League. Als der 34-Jährige einen guten Monat später wieder einen Fussballplatz betritt, tut er dies nicht mehr in Sinsheim, sondern auf der Zürcher Allmend. Bei seiner Ankunft gab es keine Präsentation, keine Medienmitteilung. Schuhmacher ist immer noch Physiotherapeut eines Fussballklubs, doch auf seiner Jacke prangt nun das Logo des FC Zürich. Er war ein Wunschtransfer. Super League statt Bundesliga, Allmend Brunau statt Zuzenhausen. Ein Abstieg? Mitnichten! Schuhmacher spricht von einer «gros­ sen Chance», die sich ihm mit dem Engagement beim FCZ geboten habe. Nach sieben Jahren in Deutschland – erst vier Saisons beim 1. FC Köln, dann drei in Hoffen­heim –, wo er immer in untergeordneter Rolle Teil eines grösseren Physioteams war, ist er beim FCZ leitender Physiotherapeut. Er ist

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bei jedem Training dabei, behandelt, verbindet, stabilisiert und erstellt individuelle Trainingspläne. Schuhmacher ist das Bindeglied zwischen der medizinischen Abteilung und der sportlichen Leitung. Mit Cheftrainer ­Ludovic Magnin tauscht er sich täglich über die Entwicklung und die Probleme der Spieler aus. «Ludo kennt es ja selber auch aus der Bundesliga, wie es in einem gut funktionierenden Staff laufen muss.» Bundesliga-Standard im Training Der Transfer von Michael Schuhmacher steht für einen Trend, der im Schweizer Klubfussball Einzug hält – hin zu einer Professionalisierung des Betreuerstabs. Beim FCZ hatte der damalige Technische Leiter Marco Bernet schon vor Jahren darauf gepocht, den Staff um Fachleute zu erweitern, wie er dem «Tages-Anzeiger» erzählte. Der Klub habe das Geld aber lieber in hoch bezahlte neue Spieler investiert. Bernet zog die Konsequenzen und verliess den Klub, der FCZ stieg daraufhin ab. Als Lehre daraus haben sich die Zürcher nun doch in diese Richtung bewegt. Für das Personal im Hintergrund ist eine Nachfrage entstanden, und damit einher gehen auch Aufstiegsmöglichkeiten. Bei der Suche nach Verstärkungen schauen sich die Klubs heute nicht nur auf dem Rasen, sondern auch in den Büroräumlichkeiten der heimischen Konkurrenz oder jenseits der Grenze um. «Wir suchten nicht explizit

im Ausland einen Physiotherapeuten», präzisiert FCZ-Sportchef Thomas Bickel. «Sondern primär einen Mann mit Kompetenz, Qualität und Erfahrung.» Doch auch den neuen Stürmertrainer hat der FCZ ennet der Grenze gefunden, niemand geringeres als Florent Malouda, den ehemaligen französischen Nationalspieler. Auch bei anderen Super-Ligisten wurde zuletzt am Team neben dem Feld genauso geschraubt wie an demjenigen darauf. Der FC Sion verpflichtete mit Luca Crespi einen Physiotherapeuten, der vorher beim FC Genua gearbeitet hatte. Der FC Basel ersetzte nach einer Vorrunde, in der die Spieler nicht nur sportlich unter den Erwartungen geblieben, sondern auch immer wieder von Verletzungen gebremst worden waren, Leistungsdiagnostiker Michael Müller und Konditionstrainer Mathieu Degrange, den man im Sommer noch dem FC Sion abgeluchst hatte, durch die beiden Spanier Ignacio Torreño Jarabo und Luis Jesús Suárez Moreno-Arrones. Der Videoanalyst Nnamdi Aghanya wiederum wechselte einst von Basel nach St. ­Gallen, Konditionstrainer Alex Kern arbeitete schon für die Grasshoppers, den FC Zürich, Lausanne-Sport und Wohlen. «Natürlich gibt es heute auch für Staffmitglieder einen Markt», sagt Thomas ­Bickel. Dieser ist aber mit demjenigen für die Spieler in mehrerlei Hinsicht nicht zu vergleichen: Es gibt weder Ablösesummen noch irgend­ein Verzeichnis, in dem alle wichtigen



Informationen und Qualifikationen zu Personen abrufbar wären, um die Suche anhand bestimmter Kriterien und Faktoren zu ermöglichen. Vielmehr wird ein Staff primär mit Leuten bestückt, die schon eine Verbindung zum Verein haben, und sei dies über Ecken. Michael Schuhmacher etwa wurde durch eine Aushilfsphysiotherapeutin der TSG Hoffenheim, die mehrheitlich in ­Zürich arbeitet, mit dem FCZ-Mannschaftsarzt bekannt gemacht. Der neue Assistent beim FCSG, Ioannis Amanatidis, war einst Spieler unter Peter Zeidler. Gegenseitige Vertrautheit scheint das A und O, auch wenn Bickel betont: «Es ist das Ziel, die bestmöglichen Leute zu beschäftigen.» Harzig gestaltet sich die Suche nach Personal für jene, denen das Netzwerk fehlt. Von anderen Super-League-Klubs ist zu hören, dass das Bedürfnis nach einem transparenten, organisierten Markt wie bei den Spielern vorhanden wäre. Die fortschreitende Professionalisierung lässt vermuten, dass dies nur noch eine Frage der Zeit ist. Grosse Klubs im Ausland lassen sich die Spezialisten derweil von Headhuntern suchen. Qualität scheint vermehrt auch mit Quantität einherzugehen. Betreuerstäbe wachsen, und regelmässig werden neue

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Posi­tionen geschaffen. Basel und Lugano beschäftigen gemäss ihrer Website den grössten Staff (20), während GC und St. Gallen sieben Betreuer weniger in ihren Reihen haben. «Technical Filmer» haben heutzutage ebenso ihren Aufgabenbereich wie RehaTrainer. Beim FCZ sind bei einer morgendlichen Sprinteinheit neben Schuhmacher nun gleich drei weitere Mitglieder des medizinischen Staffs anwesend. Zu den beiden Masseuren ist im Sommer der liechtensteinische Ex-Nationalspieler Martin Büchel als Osteopath dazugestossen. «So kenne ich das, das ist Bundesliga-Standard», sagt Schuhmacher. In der Schweiz ist die Position des Osteopathen im Fussball noch exotisch. Der FCZ wolle bei der Zusammensetzung des Staffs proaktiv und präventiv handeln, sagt Bickel. Also nicht erst etwas ändern, wenn ein Problem auftrete, sondern antizipieren und etwas unternehmen, bevor es überhaupt entstehen könne. Und der Sportchef ist überzeugt, dass sich die Integration von Büchel gelohnt hat. Er lockert Blockaden in Wirbeln und Gelenken. Man werde erst Ende Saison eine definitive Analyse machen können, aber die Dienste von Büchel würden von den Spielern genutzt und geschätzt. «Er

bringt einen Mehrwert.» Die Hoffnung ist, dass durch das Zusammenspiel zwischen dem Osteopathen und Physiotherapeut Schuhmacher die Spieler schneller von Verletzungen zurückkommen. Neue Impulse in Ausbildung Reto Gertschen, als Aktiver Meister mit Sion und YB, ist seit knapp zwei Jahren Aus­ bildungschef beim Schweizerischen Fussballverband. Seit seinem Rücktritt begleitet er angehende Trainer auf dem Weg zu i­ hren Diplomen, in dieser Zeit seien die Anforderungen an die Sportler wie auch das Umfeld stetig gestiegen. «Gute Athletiktrainer, Assistenztrainer und Goalietrainer sind die Basis», sagt Gertschen. Er spricht in diesem Zusammenhang von Kernkompetenzen. «Wenn ein Team in diesen Bereichen gut aufgestellt ist, lässt sich schon etwas heraus­holen.» Dass die Klubs sich auch bei der Vergabe der übri­ gen Posten viele Gedanken machen, kann der 54-Jährige gut nachvollziehen. So etwa beim Videoanalysten, dem heute eine «zentrale Position im Betreuerstab» zukommt und ohne den kein Super-­Ligist mehr auskommt. Diese Entwicklung hat auch der Verband regis­triert. Er bietet deshalb erstmals eine Ausbildung zum Video­analysten an. Der Kontrast zu Gertschens Aktivzeit ist riesig: Als YB 1986 mit Gertschen den Titel holte, standen Trainer Alexander Mandziara lediglich ein Assistent und zwei Masseure zur Seite. Um die Goalies Urs Zurbuchen und Stefan Knutti kümmerte sich jeweils am Montag der frühere Meistertorhüter Walter Eich. Zudem beschäftigte YB einen Teammanager im Teilpensum, der sich unter anderem um Administratives kümmerte. «Assistenten haben heute eine andere und viel gewichtigere Rolle als früher. Und das ist gut so, weil es in der Schweiz viele gute TrainerAssistenten gibt», sagt Gertschen. Dies werde seit wenigen Jahren auch in der Ausbildung honoriert: Jemand, der mehrere Jahre im Profibereich als Assistent gearbeitet hat, darf sich für den Lehrgang für die höchste Stufe, die UEFA-Pro-Lizenz, anmelden. Die Rundumbetreuung hat die Situation für die Spieler deutlich verbessert, für die Staffmitglieder hat sich die Ausgangslage grundsätzlich verändert. Die Spezialisierung hat neue Posten und Vollzeitstellen geschaffen. Früher war ein Physiotherapeut etwa in einer Klinik angestellt und hat sich nebenher noch kurz um die Fussballer gekümmert. Heute ist das eher die Ausnahme. Auch M ­ ichael Schuhmacher konzentriert sich ganz auf seine Tätigkeiten beim FCZ.


MARKT DER ASSISTENTEN

Für Klubs, denen das Netzwerk fehlt, ­gestaltet sich die Suche nach ­Staff-Leuten harzig.

Sechs bis sieben Tage pro Woche arbeite er, da bleibe keine Zeit für Nebenerwerbe. N ­ ötig ist das ohnehin nicht mehr. «Wir zahlen branchenübliche Löhne», sagt Sportchef ­Bickel dazu. Natürlich seien diese nicht vergleichbar mit den Spielergehältern. Schuhmacher ergänzt: Der Lohn eines Physios sei etwa gleich wie in der Bundesliga, bei ihm nun aber der höheren Verantwortung angepasst. Bickel und die Kirsche Angesichts der schnell wachsenden Betreuer­ stäbe liegt es nahe, dass bisweilen das Sprichwort mit den vielen Köchen und dem Brei die Runde macht. Dass ein möglichst grosser Staff nicht zwingend bessere Ergebnisse liefert, weiss auch Reto Gertschen: «Als Trainer muss man sich gut überlegen, was man will, damit man bei den Kernkompetenzen bleiben kann und nicht zu viel Energie dafür aufwenden muss, einen Staff überhaupt zu führen und zu koordinieren.» Welche Unterstützung ein Trainer wünsche, sei sehr indivi­duell. Einige wollen etwa vor dem Training fixfertig aufbereitetes Videomaterial, andere erledigen das lieber selber, statt

deswegen noch einen Angestellten mehr im Team zu haben. Der FCZ ist mit insgesamt 15 Staffmitgliedern inklusive Sportchef Bickel ungefähr im Super-League-Durchschnitt. «Wir sind aktuell sehr gut aufgestellt», meint B ­ ickel. Wie die allermeisten Super-Ligisten erhebt der FCZ in Trainings und Spielen Daten, die es ermöglichen sollen, die Leistungsfähigkeit der Spieler genau zu beobachten. Heute sei dies essenziell, findet Bickel, und auch die Spieler erhoffen sich vermehrt, nicht nur auf dem Platz, sondern auch in der Daten­ bank eine gute Figur abzugeben, um ihren Marktwert zu steigern. Die Grossklubs gehen bereits einen Schritt weiter auf ihrem Weg der ständigen Optimierung. Bickel hat im Ausland schon beobachtet, wie Spieler in Kältekammern geschickt und ihnen am Morgen als Erstes Blutproben entnommen wurden. «Da ist das Gleichgewicht schon etwas verloren gegangen.» Er orientiere sich zwar schon an den grossen Ligen und schaue, was dort gemacht werde, sagt Bickel. Adaptieren würde er aber nur das Gute. «Cherry ­picking» nennt er das.•

Pi wie Pep Es ist ein kalter Mittwochmorgen im Januar. Über die Tribünen der Stockhorn Arena pfeift ein bissiger Wind hinweg. Die Spieler des FC Thun haben sich in den Katakomben versammelt, wo Konditionstrainer Pi ­Zürcher eine intensive Krafteinheit leitet. Sie schwitzen, als sie sich auf den Fitness­ matten verrenken und die vorgezeigten Übungen nachmachen. Es ist ein Bild, wie es bei jeder Profimannschaft kurz vor Meisterschaftsstart vorkommen könnte. Doch ­etwas ist anders. Unter ihren schwarzen Trainern tragen die Spieler weder Pulsuhren noch Brustgurte. Anders als die meisten Super-­Ligisten erhebt der FC Thun keine Daten, um die Leistungen der Spieler zu überwachen und zu vergleichen. Weder in den Trainings noch während der Ernstkämpfe. Klar sei dies zum Teil auch den limitierten finanziellen Möglichkeiten des Vereins geschuldet, sagt ­Zürcher. «Aber ich sehe nicht, wofür diese Daten die Lösung sein sollten.» Seit elf Jahren ist er beim FC Thun für die Fitness der Spieler zuständig. Zu Beginn seiner Tätig­ keit als Konditionstrainer habe er auch

Daten gesammelt, doch ausser einem Mehraufwand brachte es ihm nichts. «Zahlen beruhigen einzig das Gewissen. Für mich ist ein Spieler keine biomechanische Maschine. Das Wichtigste ist das Spiel auf dem Platz.» 2015 absolvierte er eine einjährige Fortbildung bei Francisco Seirullo, dem langjährigen Direktor für Trainingsmethoden beim FC Barcelona. Auch Pep Guardiola wurde von Seirullo in seine Lehre ein­geführt. Pi Zürcher hat die Schule des Spaniers ver­ innerlicht, seine Übungen beinhalten fast immer einen Ball. Treppenläufe, Jo-Jo-Tests und ähnliche Übungen sucht man in seinem Programm vergebens. Erfahrungswerte sind sein wichtigster Ratgeber, und damit ist Zürcher eine Ausnahmeerscheinung in einer Branche, in der die Professionalisierung immer weiter voranschreitet, mehr Daten erhoben und zusätzliche Experten verpflichtet werden. Der 49-Jährige steht dieser Entwicklung skeptisch gegenüber: «Meiner Meinung nach wird in diesem Bereich viel Scharlatanerie betrieben, es werden irgendwelche Daten erhoben und als extrem wichtig verkauft.»

Er fragt rhetorisch: «Wie misst man Selbstvertrauen? Wie misst man Teamgeist?» Das seien für alle Trainer ganz wichtige Punkte, aber nicht messbar, ebenso wenig, ob ein Pass richtig oder falsch gespielt worden sei. «Vieles ist sehr subjektiv», sagt Zürcher. «Wir liegen lieber ungefähr richtig als exakt falsch.» Zürcher ist bewusst, dass er sich durch seine Methoden exponiert und angreifbar macht. «Wenn wir nicht gut spielen, kommen sofort Leute und fragen: ‹Was macht Pi eigentlich für Habakuk?›» Andere Konditionstrainer könnten sich hinter Zahlen verstecken, das könne er natürlich nicht. «Aber damit muss ich umgehen können.» Auch wenn seine Philosophie auf der Iberischen Halbinsel sehr verbreitet ist, glaubt der 49-Jährige nicht, dass in der Schweiz irgend­wann alle so arbeiten werden. Dazu sei die analytische Methode zu fest verankert. Dass er richtigliege und andere falsch, könne man ebenso wenig sagen wie bei den Pässen. «Aber Vielfalt ist sowieso besser als Einfalt.» (sis)

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Text Mämä Sykora @maemae_sykora

Bilder Stefan Bohrer

www.stefanbohrer.com

Tippkick kennt jedes Kind. Als Sport betreiben es aber lediglich ein paar ­Unverbesserliche. Ein Besuch bei einem inter­ nationalen T ­ urnier in Basel.

Bretter im Kopf


I

m ersten Moment ist man unschlüssig. Männer fortgeschrittenen Alters, die sich in einem Lokal hoch konzentriert über selbst gebastelte, mit grünem Filz bezogene Platten beugen. Ist das Sport? Oder ein Treffen von Menschen, die für einen Tag ihren Hobbykeller verlassen haben und nun gemeinsam ihr liebstes Spielzeug ausprobieren? Die Nase tippt auf Ersteres. Es liegt ein Hauch von Turnhallenumkleide in der Luft, eine dezente Schweissnote. Dann und wann ist ein halb unterdrücktes «Yes!» zu hören, ansonsten nur metallisches Klappern und vorwurfsvolle Selbstgespräche. Ein Pfiff lässt die Anspannung umgehend entschwinden, die Männer richten sich auf, der Lärm­pegel schwillt an, und bald wird abgeklatscht und gescherzt. Eine Runde der Gruppenspiele des Internationalen Neujahrs-Tippkick-Opens in Basel ist vorbei. Minusrekord bei Traditionsturnier Immerhin 21 Teilnehmer messen sich an diesem Turnier, das heuer zum ersten Mal ausgetragen wird. So inter­national, wie es sein Name vermuten liesse, ist es aller­dings nicht. Sechs Tippkicker sind aus Deutschland angereist, der Rest lebt in der Schweiz. Mit dem Aufmarsch in der Bar Didi Offensiv ist man beim Veranstalter, dem TKC Dreiländereck aus Basel, zufrieden. Das traditionsreichste Turnier hierzulande, der Karl-Mayer-Cup, musste kürzlich einen beschämenden Minusrekord von acht Teilnehmern erleben – obwohl es für Schweizer Tippkicker kaum mehr Gelegenheiten gibt, sich wettbewerbsmässig zu messen. Die Routiniers lassen ihre Metallkicker immer mehr verstauben, Nachwuchs gibt es so gut wie keinen. «Wer fängt denn heute noch an, Tippkick zu spielen?», fragt John ­Appenzeller rhetorisch. Der Zürcher Alt-Kantonsrat und Servette-Fan verweist auf die übermächtige Konkurrenz von Videospielen und Handy­games, während er aus einem Holzkästchen die Spieler heraussucht, die er bei der anstehenden Partie einsetzen will. Es geht um Prestige, wie immer beim Tippkick. Prämien gibt es nirgendwo. Der einzige Sponsoren­beitrag am Neujahrsturnier kommt von Hersteller Mieg: 50 dieser schwarz-weissen Bälle liess er springen. Weil die Ecken doch so schnell abrunden. Die Zinkfiguren – von den Besitzern gehütet wie Schätze – unterscheiden sich in e­ inem Punkt wesentlich von den­jenigen, die man

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Ab und zu darf der ­Kameruner für einen Schuss aufs Feld. Für einen Moment Nostalgie.

im Spielwarengeschäft kaufen kann. Das Schussbein gleich nämlich eher einer Prothese. Für jede Spielsituation haben die Turnierteilnehmer ihren bevorzugten ­Kicker bereit, deren fünf darf man an den Tisch mitnehmen. Es gibt einen für Aussenristschüsse, für TopSpins, für die Kurz- und Halbdistanz, für unberechenbare und für satte Schüsse, die man in der Szene «Bretter» nennt. Und nicht zu vergessen: den Farben­leger. Bei den Spezialisten ist es nämlich kein Zufall, wie der zwölfeckige Ball mit den je sieben schwarzen und weissen Flächen zu ruhen kommt. Die besten Tippkicker haben eine fast 100-prozentige Quote beim sogenannten Farbspiel, wo man den Ball mit viel Drall so spielt, dass wieder die eigene Farbe oben liegt. Denn diese Farbe entscheidet, wer als Nächstes am Zug ist. Die Taktik vieler Hobbyspieler hingegen geht anders: den Ball einfach nach vorne spielen und darauf hoffen, dass sie nochmals am Zug sind, um den nicht bereiten Gegner zu überraschen. Damit wäre man hier chancenlos. Tippkick sei eher wie Schach, sagen die Experten ein­hellig.


T i p p kick

«Auf Tempo zu spielen, bringt es nicht», sagt John Appenzeller, «die Präzision leidet zu sehr darunter.» Die Unterschiede zwischen den Fami­lienduellen und den Partien auf höchstem L ­ evel musste auch Appenzeller einst schmerzlich erfahren. 1984 war das, als er spontan einem Aufruf im Lokalradio gefolgt war, um an der Schweizer Meisterschaft im Zürcher Volkshaus anzutreten. Im Gepäck hatte er die Standardkicker aus dem Handel, den Querfuss und den Klumpfuss – und kassierte Klatsche um Klatsche. Angefixt aber war er: Er schaute sich bei seinen Gegnern Spielweisen ab und bastelte mit Büroklammern und Ähnlichem Schussbeine für seine Kicker. Bald gründete er einen eigenen Verein. Zu seinen fünf Stammkickern gehört noch immer einer dieser Querfüsse aus der Anfangszeit, angemalt in den Trikotfarben von Kamerun. Ab und zu darf der für einen Schuss aufs Feld. Für einen Moment Nostalgie. Alles Kopfsache Das charakteristische Geräusch des Turniers in Basel ist ein Scheppern. Denn die Deckenlampe hat für die Teilnehmer eine un­gesunde Höhe und wird bis zum Final von fast jedem Kopf einmal an­gestossen. Dabei sollte die Konzentration doch auf keinen Fall gestört werden. «Tür zu!», zischt es Neuankömmlingen entgegen, weil der Windstoss stört. Und der Fotograf wird eindringlichst darum gebeten, auf Blitzlicht zu verzichten. «Mental ist Tippkick sehr anstrengend», sagt Kim Berger, einer der Organisatoren, «deshalb halten sich die Favoriten in der Vorrunde noch zurück.» Er selber habe auch noch Probleme mit der Konzentration. Wie Werder Bremen sei er: Nach einigen Siegen denke er, es laufe von selbst, aber dann setze er sich selber Druck auf, und es klappe nichts mehr, weil der Finger zittere. Jetzt muss Berger aber los, ein vorentscheidendes Gruppenspiel steht an. Daneben richtet sich John Appenzeller für die anstehende Partie gegen den haushohen Favoriten Daniel Nater ein. Auf ihn war er bereits bei seiner ersten Schweizer Meisterschaft getroffen, 20 Tore hatte er damals eingefangen. Die Resultate der vorherigen Spiele werden auf ­einem Laptop nachgetragen, die Platten sind wieder besetzt. Nur der Anpfiff ver­zögert sich: Einer der eingeteilten Schiedsrichter ist noch auf der Toilette.

Schwarz, Weiss, Tor Ausserhalb des deutschsprachigen Raums ist Tippkick kaum jemandem ein Begriff. Erstaunlicherweise hat sich dort das deutlich komplexere Subbuteo (siehe ZWÖLF #32) als Tischfussball durchgesetzt. Die TippkickRegeln ­hingegen sind ziemlich simpel: Den schwarz-weissen Ball spielen darf jener Spieler, dessen Farbe oben liegt. Der Gegner darf seine Figur in einem Abstand von zwei Spielerlängen als Mauer aufstellen, ausser im eigenen Strafraum. 2 x 5 Minuten dauert eine Partie. Tore erzielt werden dürfen von überall, mit Ausnahme von Anspiel, Abstoss und Einwurf. Die wichtigsten Termine für Schweizer Tippkicker sind die jährliche ­Einzelund die Teammeisterschaft sowie der Karl-Mayer-Cup, benannt nach dem Erfinder des Spiels. Während die alteingesessenen Vereine über Mit­ gliederschwund klagen, ist Tippkick als Spiel weiterhin begehrt. Der Spiel­ warenhändler Franz-Carl Weber lässt auf Anfrage ausrichten, Tippkick sei ein Klassiker und Evergreen und die Verkaufszahlen trotz der Konkurrenz von modernerem Spielzeug einigermassen stabil. Es seien vor allem die Väter, die es für ihre Kinder aussuchten. (syk)

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Würde eine Fussballmannschaft auftreten, wie es die TippkickFiguren hier tun, würden sich die Zuschauer fragend an den Kopf greifen. Das beginnt schon beim Anspiel: Nater spielt den Ball direkt zur eigenen Eckfahne, wo der Ball – natürlich – auf seiner Farbe zu liegen kommt. Von dort setzt er zu einem seiner gefürchteten Weitschüsse mit viel Drall an. John Appenzeller kann mit seinem Torwart, der an einem unhandlichen Klotz befestigt ist, klären. Dabei lauert er stets auf eine Möglichkeit, überraschend mit dem Keeper zuzuschlagen. Torwarttore sind eine seiner Spezialitäten. Auch den Eckball will Nater direkt verwandeln, über­raschen kann er den Gegner damit nicht. «Ich kenne dich doch», lacht dieser. Überhaupt sind Spielzüge selten, dafür wird umso mehr geschossen, denn auf diesem Level bringen die Spieler von überall auf dem 106 × 70 Zentimeter grossen Feld gefährliche Abschlüsse hin. Die meiste Zeit ist der Stammkicker im Einsatz, nur in gewissen Situationen kommt eine der Spezialfiguren zum Zug. A ­ ppenzellers Kameruner etwa, der sich in der zweiten Halbzeit aus dem Halbfeld versuchen darf. Der Ball geht weit drüber. Nater entscheidet die Partie schliesslich klar für sich. Erstaunen tut das niemand, denn er ist immerhin Bundesliga-Spieler. Verbissene Deutsche «In der Schweiz ist Tippkick etwas eingeschlafen», sagt Nater. Turniere gebe es kaum mehr, und wenn, dann schaffe man es kaum, das Teilnehmerfeld anständig zu füllen. «Da organisiert mal ein Klub ein Turnier, und es hat fast keine Anmeldungen. Wo sind die Spieler von Leppard, Uster, Baden und Bern?», fragte Naters Teamkollege ­Markus Kälin im Vorfeld des Basler Neujahrs­turniers auf Facebook. Zusammen spielen sie mangels Herausforderungen hierzulande beim 1. TKC Kaiserslautern in der 2. Bundesliga, wo regelmässig Ligaspiele in Turnierform anstehen. Auch hier in Basel tragen sie das Trikot ihres Klubs. «Das Niveau ist viel höher als in der Schweiz, da wird viel trainiert. Und vor allem sind Deutsche viel verbissener. Die können stundenlang tüfteln, an ­ihren Spielern herumschrauben und Schüsse üben.» Nater ist Vizepräsident des Schweizerischen Tippkick-Verbands, auch Präsident Chrigu Meister ist in Deutschland aktiv. Kein gutes Signal an die hiesige Szene. Was Nater mit «eingeschlafen» meint, verdeutlicht das Inter­net: Auf den Websites der

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Wenn die ­Tippkicker über ihre Spieler reden, fallen Begriffe wie Stahlanschlag, Druckstange und FederstahlGewindeeinsatz.

Tippkick-Klubs sind die News schon Jahre alt, das regel­­mässig erscheinende «Informationsbulletin» des Verbandes, das traditionell mit einem frauen­feindlichen Cartoon aufhört, listet vor allem Ergebnisse von Turnieren in Deutschland auf. Den schleichenden Niedergang erlebt auch John Appenzeller. Der von ihm gegründete Klub, die TKC Birmensdorf Eagles, schaffte es letztes Jahr nach 34 Jahren zum ersten Mal nicht, die nötigen vier Teilnehmer für die Mannschafts-Schweizer-Meister­schaft zusammenzukriegen. Wie überall existieren auch bei den Eagles, vom Servette-Fan nach dem Genfer Wappentier benannt, viele Mitglieder nur noch auf dem Papier. Nun hat Appenzeller ausgemistet und


T i p p kick

kümmert sich dafür ausgiebiger um den Nachwuchs. Das vielversprechendste Talent versucht sich gerade an Platte 2. «Lucien, was habe ich gesagt?», korrigiert der Beobachter, als sein Schützling seinen Spieler mit zu viel Abstand vom Ball hinstellen will. Lucien ist 7-jährig und John Appenzellers Sohn, heute bestreitet er sein zweites Turnier. Klatschen muss er nicht fürchten. Man will die Neueinsteiger nicht vergraulen und hält sich vornehm zurück. Schrauben und Schleifen In John hat Lucien einen guten Trainer. Vieles hat der Vater bereits ausprobiert, um besser zu werden. Anfangs pinselte er noch seine Spieler im Granatrot von Servette an und verpasste ihnen die Nummer seiner Helden – noch trägt einer in seinem Set die 25 wie M ­ artin Petrov –, dann versuchte er es mit Spielern ganz in Schwarz, «­wegen des psychologischen Effekts». Genützt hat es nichts. Fortschritte machte er auch wegen seiner Frau: «Sie hat mir gesagt, ich solle aufhören, mich immer so schnell aufzu­geben.» Profitiert hat er aber vor allem von der Hilfe von Branchen-Guru Bernd ­Weber. ­Dieser Name wird hier mit aller­grösster Ehrfurcht ausgesprochen. Seit Jahren verbessert der Deutsche laufend die Profi­figuren und reist an Turniere, wo er den Spielern seine Werke zum Testen gibt. Jeder hier hat schon bei ihm eingekauft, Weber ist sozusagen der grösste Spieler­vermittler im Tippkick-­Geschäft. Appenzeller hat einen ganz in Gold, 180 Euro hat er dafür hingelegt. Der Goldfuss wurde um­ gehend zu seinem Stammspieler. Auch andere schwärmen von ­ihren Erwerben, und wenn sie darüber sprechen, fallen Begriffe wie Stahlanschlag, Druckstange und Federstahl-Gewindeeinsatz. Tippkick ist eben nicht nur Sport, sondern auch Ingenieurskunst. Im Endspiel des Turniers sind die Deutschen unter sich. ­Thomas Krätzig schlägt ­Peter Funke, den einstigen Landesmeister, mit 7:5 nach Verlängerung. Die übrigen Teilnehmer sind da schon beim Bier, applaudieren nach Toren und planen ihre nächsten Turnier­ reisen. Aus Konkurrenten sind längst Freunde geworden, es werden Mitfahrgelegenheiten und Übernachtungsmöglichkeiten angeboten. Die verbliebenen Verfechter des Tippkicks in der Schweiz sind zu ­einer verschworenen Einheit geworden, die den Glauben nicht aufgegeben hat, dass ihr liebstes Hobby doch noch Verbreitung findet.

«E-Sports dr Stegger zieh», steht an eine Wand gesprayt, wenn man mit dem Zug von Basel Richtung Osten fährt. Der Spruch ist Zeuge des Protests der FCB-Fans dagegen, dass ihr Verein sich ein Team von Play­station-Zockern hält und damit neue Märkte erschlies­ sen will. Hätte Präsident Burgener stattdessen doch nur den Tippkick­ club Dreiländereck eingegliedert!•


ER SL S CHA N D W EI Z

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Almen und der ­goldene Eulenkäfig

Als Toptransfer mit PremierLeague-Erfahrung kam Almen Abdi im Sommer 2016 nach Sheffield – und hat seither kaum gespielt. Was ist passiert?

Text Nik Lütjens


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imago / UK Sports Pics Ltd

nglischer Humor kann brutal sein. «Theresa Mays Brexit-Vereinbarung ist der schlechteste Deal aller Zeiten», schrieb der politische Rechtsausleger Nigel Farage im vergangenen November auf ­Twitter. «Dann haben Sie offenbar noch nie von Almen Abdi gehört», antwortete ein Fan von Sheffield Wednesday. Kolportierte 3,9 Millionen Franken gab der Verein im Sommer 2016 für den Schweizer Mittelfeldspieler aus. Trainer Carlos Carvalhal versprach: «Die Fans werden sehr bald seinen Namen singen.» Schliesslich war Abdi ­Sheffields vermeintlicher Königstransfer. Ein Wunschspieler, der schon vieles gewesen war in seiner Karriere: Meisterregisseur und ­Paria im FCZ, Hoffnungsträger und Reservist in Udine. Aber auch: Aufstiegsheld und Taktgeber in Watford. «Ich will nicht in einer Welt leben, in der Abdi kein Watford-Spieler mehr ist», schrieb ein Fan der «Hornets» kurz vor Abdis Abgang. Denn «Almen und die Hornissen» war zwar kein Bestseller, aber doch eine Erfolgsgeschichte.

Zolas Zuneigung Abdis Aufschwung in der Londoner Vorstadt Watford war nicht unbedingt vorhersehbar. In der Championship, der zweithöchsten englischen Liga, wird vor allem gepresst und körperbetont gerackert. Doch der feinfüssige Abdi zündete. Er fand 2012 in Gian­franco Zola einen Trainer, der ihm vertraute und ihn wegen seines intuitiven strategischen Gespürs «Professor» nannte. «Ich liebte es, ihn zu coachen: Er kann alles. Den Ball halten, Tore schiessen, Chancen kreieren», sagte Zola. Abdis öffentliche Vorlesungen zum Thema «Spielerische Lösungen mit offensiver Sprengkraft» stiessen auf Resonanz. In seinem ersten Jahr wurde er von den Fans zum Spieler der Saison gewählt. Im zweiten war er oft verletzt. Im dritten schoss er neun Tore, erlebte vier Trainer – und den Aufstieg. «Ich habe alles richtig gemacht», sagte Abdi damals. Auch in der Premier League hielt er sich achtbar. Er spielte in 25 von 38 Partien von Beginn an – deutlich mehr als sein Schweizer Teamkollege Valon Behrami. Nur: Der sensible Abdi wurde unter Trainer Quique Sánchez Flores

zur Verschiebefigur. Er kam kaum je auf seiner bevorzugten Position im zentralen Mittelfeld zum Einsatz, sondern meistens auf rechts, manchmal sogar als Aussenverteidiger. Neben den fehlenden Angeboten aus der Premier League war das der Hauptgrund für seinen vorzeitigen Wechsel nach Sheffield. Denn Fussball, gerade im Abdi-Kosmos, ist immer auch die Suche nach Vertrauen und ein bisschen Liebe. Umso erstaunlicher war das, was bei Wednesday passierte. Trainer Carlos Carvalhal schwadronierte, Abdi passe zum ambitionierten Aufstiegskandidaten wie ein Handschuh auf eine Hand – und stellte ihn ebenfalls mehrheitlich auf der Seite auf. Zumindest zu Beginn. Danach stellte er ihn gar nicht mehr auf. «Abdi hatte nie den erhofften Einfluss», sagt Journalist Dom Howson vom «Sheffield Star». Und wenn Carvalhal ihm eine Chance gab, verletzte sich der Zürcher. Symptomatisch eine Episode aus dem Februar 2017: Abdi traf mit einer traumhaften Direktabnahme gegen Nottingham Forest. Doch statt Wendepunkt einer Irrfahrt war der erste Treffer der Anfang vom Ende: Abdi fiel kurz darauf wieder verletzt aus. Seither hat er lediglich vier Meisterschaftsspiele bestritten. Das letzte im März 2018. 32 Jahre alt ist Abdi nun – und bereits eine nostalgische Figur. In der Schweiz ist er in Vergessenheit geraten, in Sheffield würden ihn die Fans gern vergessen. Ihre hohen Erwartungen wichen erst Skepsis, dann Enttäuschung. Das Label «Millionentransfer» ist für ihn zum Stigma geworden. Auf den sozia­len Medienkanälen finden sich zahlreiche Posts, in denen die Fans der «Eulen» vorrechnen, wie viel Sheffield die 23 Einsätze des «Phantoms» gekostet haben. So etwas wie Euphorie kam bei ihnen einzig im vergangenen Sommer auf, als es hiess, Abdi wechsle zum FC Zürich. Doch aus dem Transfer wurde nichts. Abdi ist, vielleicht auch selbst verschuldet, gefangen im goldenen Eulenkäfig. ­Sheffield hätte bei einem Wechsel viel Geld abschreiben müssen, Abdi auf solches verzichten. Die Parteien fanden sich nie. So kam weder ein Transfer zustande, noch gelang es, den Dreijahresvertrag aufzulösen. Und

Fussball, gerade im Abdi­-Kosmos, ist immer auch die Suche nach ­Vertrauen und ein bisschen Liebe.

mittlerweile ginge ein neuer Klub ein Wagnis ein: Abdi hat lange nicht gespielt, sein Körper nimmt sich Pausen. Der drei­fache Meister mit dem FCZ ist in Sheffield stets aufs Neue verletzt gewesen – vom Knie bis zum Auge. Die Saisonvorbereitung konnte er nie ganz mitmachen. Präsident Dejphon ­Chansiri insinuierte gar in einem Fantalk, Abdi könnte an Morbus Sheffield erkrankt sein. Abdis Schweigen Man würde Abdi gerne fragen, wie es ihm gehe. Aber der Zürcher zieht es vor zu schweigen. Ein Interview lehnt er ab. Er wolle sich auf den Fussball konzentrieren, lässt er über die Agentur seines Beraters Dino Lamberti ausrichten, nicht zum ersten Mal. Das passt zu seinem Image: Abdi gilt als zurückhaltend, sensibel, oft von einer gewissen Melancholie umweht. Wer mit ihm während seiner Zeit in Watford sprach, nahm ihn aber auch anders wahr: zugänglich, gereift. Zurzeit ist Abdi wieder einmal auf dem Weg zurück. Im Januar gab er in der U23 sein Comeback. Doch in Sheffield glaubt kaum jemand daran, dass er im letzten halben Vertragsjahr ein Gewinn werden kann, statt das zu bleiben, was er seit seinem Wechsel 2016 fast immer war: ein teures Missverständnis. Journalist Howson rechnet damit, dass Abdi auch unter dem neuen Trainer Steve Bruce Hochlohnempfänger in der Warteschlaufe bleibt. Wednesday hat im zentralen Mittelfeld ein Überangebot – und der Schweizer in den letzten zwei Jahren kaum gespielt. «Die vielen Verletzungen haben ihn langsamer

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A uslandsch w ei z er – A lmen A b di

Almen Abdi

*  21. Oktober 1986 in Prizren, heute Kosovo Spiele Tore 2003–2010 FC Zürich 132 31 2010 Le Mans (Leihe) 13 0 2010–2013 Udinese 42 0 2012–2013 Watford (Leihe) 38 12 2013–2016 Watford 77 13 2016– Sheffield Wednesday 20 1 Länderspiele 2008–2009 Schweiz

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gemacht. Er ist nicht mehr der Spieler, der er bei Watford war.» Der Wechsel zu Sheffield war in ­Abdis Karriere ein Planungsfehler. Vorwerfen kann man ihm den nicht: Es wirkte wie ein

Vernunftsentscheid, nicht wie eine Panik-­ Liaison. «Im Nachhinein hätten wir uns besser für Fulham entschieden», sagt Berater Lamberti. Die drei Jahre bei Wednesday sind nicht die einzige tiefe Delle in Abdis Karriere. Auch das traurige Ende im FCZ, als er in ­einem Machtkampf zerrieben wurde zwischen Präsident Ancillo Canepa und ­Lamberti und die WM 2010 verpasste, war eine Enttäuschung. So hat es der Spieler, von dem die Meistertrainer Lucien Favre und Bernard Challandes beide sagen, er sei der beste gewesen im FCZ, nur auf sechs Länderspiele gebracht. Challandes spricht von einer «normalen Karriere» und folgert: «­Almen hätte mehr herausholen können.» Der Ex-FCZ-Trainer hätte Abdi eine prägende Rolle im Nationalteam zugetraut. Verbrannte englische Erde Die Partitur einer Partie lesen, die Einsätze geben und im entscheidenden Moment selbst ein Solo hinlegen – das können in der Schweiz nur wenige. Doch wie viel Fussball steckt noch in Almen Abdi? Und wohin zieht es ihn im Sommer nach Ablauf seines

Vertrages? Howson glaubt, dass er in England aufgrund der vielen Verletzungen keinen Klub mehr findet. Gemäss ­Lamberti ist Abdi körperlich fit genug, um weiter Fussball zu spielen. Der 32-Jährige kann sich offen­bar vorstellen, in die Schweiz zurückzukehren, und wäre bereit, bezüglich Gehalt grös­sere Abstriche zu machen. Der Ruf von Rückholaktionen hat in der Super League in den letzten Jahren aber gelitten. Lamberti schliesst deshalb einen Rücktritt nicht aus, sollte kein ambitionierter Verein Abdi ein Angebot machen. Aus Challandes’ Sicht wäre das ein Versäumnis: «Wenn er fit ist, würde ich Almen verpflichten – sofort. Er hat a ­ lles, was es braucht, um in der Schweiz den Unter­schied zu machen.» Auch die innere Überzeugung, es nochmals allen zeigen zu wollen? 2010, als er bei Udinese bloss auf der Bank sass, sagte Abdi: «Ich weiss jetzt, wie schnell es geht vom Hero to zero – und hoffentlich umgekehrt.» In Watford ging es tatsächlich wieder aufwärts. Fragt sich, ob die Geschichte sich vor dem Karriereende wiederholt. Was nun, Almen Abdi?•

Mit dem ZVV steht Ihr Wagen nie im Offside. Die beste Taktik für den Matchtag: Wer mit dem ZVV anreist, kann sich ganz aufs Spiel konzentrieren.

. 2018 Quelle: blick.ch vom 25. Sept


Auswärtsfahrt

Text und Bild Gabriel Müller

Dangda Style Was für ein Wiedersehen nach zehn Jahren! Zugegeben: Die Freude ist nur etwas für wahre Connaisseurs, aber davon hat es unter den ZWÖLF-Lesern ja bekanntlich ­einige. Dass mir Teerasil Dangda wieder einmal begegnen würde, hätte ich nun wirklich nicht erwartet. Seine Tage auf dem Campus in Niederhasli liegen weit zurück, 2008 war die thailändische Sturmhoffnung von Man City ausgeliehen und bestritt sechs Spiele für die U21 von GC. Jetzt steht für ihn die Asien­meisterschaft an. Dangda, mittlerweile 30-jährig, führt die «Kriegselefanten» als Captain auf den Platz in Abu Dhabi. Der Speaker begrüsst derweil den Scheich der Emirate und andere Mitglieder der Familie. Das 1995 gebaute Al-Nahyan-Stadion hat nichts mit der arabischen Glitzerwelt gemein und seine besten Zeiten definitiv hinter sich. Für umgerechnet 20 Franken gab es am Kassenhäuschen ein Ticket der teuersten Kategorie. Anstehen musste man nicht, der zweitälteste Kontinentalwettbewerb nach der Copa América scheint nur zu interessieren, wenn gerade das Heimteam aufläuft. Rund 200 Thai-Fans haben sich hinter dem Tor postiert und dürfen Dangdas Treffer zum zwischenzeitlichen 1:1-Ausgleich be­ jubeln, der die Trommler zu Solo­einlagen verleitet, die selbst Phil Collins ins Staunen versetzen würde. Nur mit Anstossen auf das Tor ist nichts. Im ganzen Stadion gibt es nur Wasser und Tee. Den kann das Publikum

aller­dings gut gebrauchen, ist es für EmirateVerhältnisse an diesem Januar­abend doch empfindlich kühl: 23 Grad. Auch das kulinarische Angebot fällt eher bescheiden aus. Abgepackte Popcorn und kalte ­Samosa, gefüllte

Thailand – Indien 1:4 AFC Asian Cup Gruppe A, 1. Runde, 6. Januar 2019, Al-Nahyan Stadium, ­ Abu Dhabi, 3250 ­Zuschauer

Teigtaschen, sowie – vive la France – in Plastik geschweisste Croissants taugten eher als Fotosujet denn als gluschtige Verpflegung. Umso beeindruckender die Gebetsrufe des Muezzin der nahen Moschee, die ­sogar die Gesänge der indischen Fans übertönen – die meisten von ihnen Gastarbeiter, die auf dem Bau ihr Geld verdienen und in

die Heimat schicken. Indien kriegte bisher im Weltfussball trotz seines 1,3-Milliarden-­ Menschen-Reservoirs nicht viel auf die Reihe, aber die Thais wissen mit ihrem Ballbesitz noch weniger anzufangen. Bände spricht nicht nur Indiens 4:1-Sieg, sondern auch die Körpersprache von Dangda, der mit hängenden Schultern vom Platz trottet. Thailand – Charyl Chapuis, ein weiterer Ex-GC-Spieler, wurde für die Asienmeister­ schaft nicht aufgeboten – hat sich dann trotz der Auftaktpleite noch für die Achtelfinals qualifiziert. Dort musste man aber gegen den nächsten Einwohnerriesen end­gültig die Segel streichen, 1:2 gegen China. Zu viel für den thailändischen Verband. Er feuerte Trainer Milovan Rajevac. Für die ­Inder wiederum blieb es das einzige Erfolgserlebnis, sie schieden schon in der Gruppen­phase aus. Den Asienmeistertitel holte schliesslich – Schreck lass nach – das Team aus Katar.

Das grosse Z W ÖLF-Quiz ZWÖLF präsentiert in jeder Ausgabe eine anspruchsvolle Frage, für die einschlägige Internetsuchportale mit einer einfachen Abfrage keine brauchbaren ­Resultate l­ iefern. Wer hier reüssiert, darf sich mit Recht zum erlauchten Kreis der Fussballkenner zählen. Frage:

Dieser ausländische Klub hatte soeben die höchste europäische Trophäe eingespielt, da stellte er als Neuzugang einen Schweizer National­spieler vor. Er blieb nur eine Saison. Viele Jahre später kam der nächste Natispieler, ein Torwart, der nur eine Handvoll Partien bestritt. Auch ein aktueller Super-League-Profi lief eine Spielzeit für diesen Klub auf. Der vierte Schweizer Legionär in der Geschichte des Klubs steht derzeit im Kader. Wie heisst der gesuchte Verein?

Wer die Lösung weiss, gewinnt mit etwas Glück das neue «ZWÖLF-Lesebuch».

Die Lösung der letzten Ausgabe:

Marco Grassi Gewonnen hat: Markus Löhrer aus Zollikofen Mitmachen geht so:

E-Mail mit der Lösung an ­wettbewerb@zwoelf.ch Einsendeschluss ist der 25. März 2019.

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Knapp daneben

von PASCAL CLAUDE

Männer habens schwer Ludovic Magnin, einst selber Säugling, erzählt im Gespräch mit der NZZ, wie er nach der Spielerkarriere «eine Weile Hausmann» war, damit seine Frau mehr arbeiten konnte. Es gefiel ihm nicht so gut wie Fussball. Weder die NZZ noch sonst jemand interessierte sich für seine Arbeit. Keiner wollte wissen, ob er Windeln, Feuchttücher, Zinksalbe und Bayböl auf dem Wickeltisch in einem ­2-1-1, einem 2-2-0 oder einem 1-2-1 aufstellt. Also rief er nach zwei Wochen: «Sorry, Schatz». Und stellte die alte Ordnung wieder her. «Der Moderne Mann» hiess eine Band der Neuen Deutschen Welle. Ihre erste Single: «Umsturz im Kinderzimmer». Das war 1980. 2019 ist festzustellen, dass sich Männer noch immer schwertun mit den Anforderungen der heutigen Zeit, gerade auch solche, die im Fussball zu Hause sind. So gab es seit 2007 keinen Weltfuss­baller des Jahres mehr, der nicht ins Visier der Justiz geraten wäre. Zugegeben, es sind nur drei. Aber halten wir kurz fest: Lionel Messi, in Spanien wegen Steuervergehen zu 21 Monaten Gefängnis verurteilt. Durfte als Ersttäter zah­ egen len statt absitzen. Cristiano Ronaldo, in Spanien w und ung Bewähr auf Haft Jahren zwei zu Steuervergehen ens mindest Dazu lt. verurtei Busse 18,8 Millionen Euro Been weiblich früheren von würfe zwei Missbrauchsvor eine Ronaldo seitens Fall einem in kanntschaften, wovon an eine Schweigevereinbarung gekoppelte Zahlung von 375 000 Dollar erfolgte. Luka Modrić, in Spanien wegen Steuervergehen zu acht Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Erst Zeuge, inzwischen wegen Falschaussage Angeklagter im Prozess um den kroa­tischen Fussbal lpaten Zdravko Mamić und unterschlagene Transfergelder in Millionenhöhe. Modrić drohen des­ wegen sechs Jahre Haft. Vom letzten Weltfuss­baller ohne Vorstrafe, dem Brasilianer Kaká, ist zu lesen, er unterstütze wie Ronaldinho und Rivaldo den neuen brasilianischen Präsidenten Bolsonaro, der sich seinen Sohn lieber tot als schwul wünscht. Der Männerfussball ist ein anachronistisches Biotop. Hier gedeihen noch immer jene Pflänzchen am besten, die sich vom Moder alter Tage ernähren. Hin und wieder wird einer depressiv, spürt vor den Spielen ­einen Brechreiz oder bringt sich um. Grundsätzlich aber läuft die alte Karre wie geschmiert. Was ihn interessiere, fragte die NZZ Magnin im selben Interview. «Harte Arbeit, eine gewisse Disziplin», antwortete er. Und er hat recht, damit kommt man weit. Vielleicht nicht als Hausmann, aber sonst. Was man sich als Antworten, gerade im Fussballkontext, auch noch hätte denken können – Gerechtigkeit, Fairness, Freude, Kreativität, Sportsgeist, Verantwortung –, es muss noch warten. Und wenn wir es uns recht überlegen: Auch die Steuerhinterzieher sind nur Menschen. Wer kaum genug hat zum Leben, will sich schliesslich nicht noch schröpfen lassen.

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Smalltal k Erst seit Sommer 2018 stellt SL Benfica auch eine Frauenmannschaft und spickte sie gleich mit einigen National­ spielerinnen. Die Bilanz der ersten Saison in der zweithöchsten Liga liest sich bislang wie folgt: 16 Spiele, 16 Siege, 273 Tore, 0 Gegentore. Der Videoanalyst des FC ­Basel heisst Fabian Frei. Der türkische Zweitligist Elazig­ spor war vom Verband mit einer Transfersperre belegt worden. Nach zähen Verhandlungen wurde die Sperre schliesslich aufgehoben, allerdings erst zwei Stunden vor Schliessung des Transfer­ fensters Ende Januar 2019. Dennoch schaffte es das abstiegsbedrohte Elazigspor in der kurzen Zeit, sagenhafte 22 Spieler zu verpflichten. Am 12. Januar 2019 kam es zum Duell der beiden abstiegs­ bedrohten Premier-LeagueKlubs Burnley und Fulham. Das Heimteam kam dabei zu einem eminent wichtigen 2:1-Sieg – obwohl es dabei keinen einzi­ gen Torschuss zu verzeichnen hatte. Schürrle brachte Fulham früh in Führung, seine Teamkollegen Bryan und Odoi drehten die Partie aber gleich selbst mit zwei Eigentoren innerhalb von drei Minuten. Die Partie zwischen den englischen Amateurvereinen Earls Colne und Wimpole verlief im September 2001 ziemlich einseitig. 1:18 lag Wimpole bereits hinten, als es einen Corner treten konnte. Der Ball wurde von einem Verteidiger ab­ gewehrt und flog direkt auf Schiedsrichter Brian Savill zu. Der fackelte nicht lange und zog volley ab: Tor. Wimpole jubelte, der Gegner nahms gelassen, nicht aber der Verband, der Savill vorlud und für

sieben Wochen suspendierte. Dieser fehlende Sinn für Humor ärgerte Savill derart, dass er auf der Stelle zurücktrat. Seine Aktion verteidigte er mit den Worten: «Es zeigt, dass Schiedsrichter sein auch Freude machen kann. Wir sind keine Hitlers, die nur rumlaufen und in die Pfeife blasen.» Der 1989 zurückgetretene und 2014 verstorbene Rainer Hasler aus Vaduz spielte für GC, ­Xamax und Servette, wurde Meister und Cupsieger und zu Liechtensteins «Golden Player», dem besten Spieler der letzten 50 Jahre, gewählt. Für die National­mannschaft des Ländles lief er indes nie auf. Als Grund dafür gab er an, dass es Unsicherheiten in Versiche­ rungsfragen gegeben habe. Astronaut Neil Armstrong wollte einen Fussball mitnehmen auf seine Reise zum Mond im Juli 1969. Angeblich befand die NASA dies jedoch für zu unamerikanisch. Den nächsten Versuch, einen Fussball ins All zu bringen, unternahm Ellison Onizuka 1986, doch seine Challenger explodierte kurz nach dem Start. Der Ball wurde aus den Trümmern geborgen und seiner Witwe ausgehändigt. 30 Jahre nach dem Unglück sorgte sie dafür, dass die Expedition 49 das Erinnerungsstück auf ihre Reise zur International Space Station (ISS) mitnahm. 173 Tage blieb der Ball da, umkreiste fast 3000 Mal die Erde und kehrte im April 2017 zur Erde zurück.


Auf Wiederlesen!

Der Fussball ist schnelllebig? Nicht überall. In bald zwölf Jahren ZWÖLF erschienen Artikel, an denen sich die Zeit ihren Zahn ausbiss. Eine Auswahl solcher Geschichten findet sich im «ZWÖLF-Lesebuch» auf 220 Seiten, ein unverzichtbares Sammelwerk sowie eine Übersicht über Verpasstes, dessen Lektüre nach wie vor lohnenswert ist. Das «ZWÖLF-Lesebuch» gibt es jetzt für 29 Franken oder vergünstigt in Kombination mit einem 1- oder 2-Jahresabo. www.zwoelf.ch/lesebuch


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