megafon Nr. 392, Feb. 2015

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Adam und Otto - International Christian Fellowship ICF S. 1 | Migros blockt – Solidarität bleibt - Solikarte S.2 | Wirr ist das Volk - Kurz-

schluss S. 4 | Eckpfeiler der Datensicherheit - Computertechnologie, Internet & Datenschutz S. 5 | Kein Kuss für Mutter - Chinder-

buech S. 5 | Leserkommentar des Monats S. 5 | Die Welten heulen ihren eigenen Totengesang, und wir sind Affen eines kalten Gottes - megafon-StattBlick S. 6 | Das grosse Gähnen - Comix S. 6 | Kate – Schmerz – Kind - Exitorial S. 7 | Ignaz und die Lügenpresse - Tage-

buch des etablierten Chaotentums S. 7 | Die Strahlkraft Rojavas - Interview mit Teslim Töre

Die Zeitschrift aus der Reitschule | Bern

megafon | N°392 | Februar 2015 | 6.-

Adam und Otto International Christian Fellowship ICF

Rund 690’000 Menschen in der Schweiz besuchen jedes Wochenende einen Gottesdienst oder andere religiöse oder spirituelle Rituale und Zusammenkünfte. Darunter befinden sich zum Beispiel Anhänger_innen der Mormonen, der Zeugen Jehovas oder Chrischonas und die Mitglieder des International Christian Fellowship, kurz ICF. Doch wofür steht jene Freikirche, die vor allem Jugendliche und junge Erwachsene in ihren Bann zu zieht?

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Text: LieberGlitzer | Illustration: Conradin Wahl

Der vom Schweizer Heinz W. Strupler 1990 gegründete ICF besitzt heute 26 Standorte in der Schweiz und 24 weitere Niederlassungen im Ausland. Die offizielle Gründung der ICF Church fand jedoch erst 1996 unter der neuen Leitung von Leo Bigger statt und wurde unter ihm 1999 in ICF-Zürich umbenannt. Bereits 1998 begann die Glaubensgemeinde, sich auf eine jüngere Zielgruppe zu spezialisieren, was noch bis heute die klare Marketingstrategie des ICF ist. Vom poppig knallbunten Gottesdienst, zum eigenen Musik-Label, ICF-TV und College, hat es der ICF geschafft, für seine jungen Mitglieder ein komplettes soziales Umfeld zu errichten. Eine kontroverse Diskussion um den ICF entfachte

das Projekt der G/12-Gruppen. Dieses Projekt - angelehnt an eine kolumbianische Glaubensgemeinde - folgte dem hierarchischen Schneeballprinzip. Vorrangiges Ziel dieser Gruppentreffen war das Anwerben neuer Mitglieder. Das Prinzip: Jede_r Mentor_in hat zwölf «Jünger_innen», von denen wiederrum jede_r zu einem_r Mentor_in mit zwölf «Jünger_innen» werden soll, also missionierend möglichst viele junge Menschen anwerben soll. Frei nach Jesus, der sich zwölf Jünger suchte, um diese zu unterrichten. Mit den vier klaren Punkten: 1. Gewinnen, 2. Festigen, 3. Trainieren und 4. Beauftragen, wurden die Mitglieder dazu angewiesen, möglichst viele Menschen mit dem ICF in Kontakt zu bringen. InfoSekta erstattet schon länger Bericht über solche Verhaltensmuster des ICF und warnt vor dem Druck, wel-

cher so auf die Gemeindemitglieder ausgeübt wird. Da durch diese G/12-Gruppen zu viel Aufruhr verursacht wurde, laufen diese Treffen heute unter dem neuen Namen «smallgroups» weiter. Doch wofür missioniert der ICF? Homosexualität als Therapiegrund In seinen theologischen Grundfragen legt sich der ICF nicht auf eine christliche Anschauungsweise fest, sondern bewegt sich zwischen den charismatischen und den evangelikalen Lehren. Dabei wird eine tiefe, persönliche Beziehung zu Gott in den Mittelpunkt gestellt. Thesen um die Gnadengabe Gottes oder die Frucht des Heiligen Geistes bilden somit die Glaubensgrundlage des ICF. Es geht also in erster Linie dar-

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um, sein gesamtes Handeln nach den Lehren Jesu Christi zu richten, seine Begabungen, wie seine Schwächen mit Gottes Gnade oder Zorn zu begründen und sich an genaue Gebote zu halten. Ausserdem sehen sich die Anhänger_innen der charismatischen Bewegung als Teil eines göttlichen Plans zur Erneuerung der Kirche und haben somit klare Missionierungsziele. Obwohl sich der ICF in seinen Grundlagen nicht festlegt, vertritt er doch zu gewissen Punkten eine sehr klare Meinung. Da ein Grossteil der Mitglieder sich aus Jugendlichen und jungen Erwachsenen zusammensetzt, sind auch Themen wie Liebe, Sexualität und Familie viel diskutiert. Im September vergangenen Jahres bezog sich der Senior Pastor des ICF Bern, Niklaus Burkhalter, in einem Interview mit der Zeitung «der Bund» auf genau diese Themen und stellte klar: Das Ideal einer Beziehung ist für den ICF die heterosexuelle Ehe. Auch der Medienbeauftragte des ICF Zürich Daniel Luber bestätigte mit der Aussage, Gott habe Adam und Eva und nicht Adam und Otto geschaffen, dass Homosexualität nicht in das Weltbild des ICF passt. Homosexualität wird mehr als Baustelle, Verwirrung oder gar Strafe Gottes angesehen und der ICF hat ein klares Vorgehensmuster. Sucht ein Mitglied Hilfe, verweist man es an Organisationen wie Wüstenstrom. Wüstenstrom ist eine Beratungsstelle für Christ_innen mit Schwerpunktthemen wie Sucht, Pädophilie oder Homosexualität. Sie bieten Therapien an und setzen auf Gebete gegen sexuelle Perversionen. Für sie liegt der Ursprung des Problems in den Schwulenbewegungen der 70er Jahre. Diese hätten mit ihrem lasziven Lebensstil negativen Einfluss auf die heterosexuelle Gemeinschaft.. Für ICF ist Sexualität in den Genen verankert und kann wie eine Krankheit therapiert werden. Oft resultiert für die hilfesuchende Personen aus diesen zum Teil jahrelangen Therapiesitzungen nichts ausser Frustration und Selbstzweifel. In gewissen Fällen führen die Behandlungen auch zu ernsthaften Depressionen. Dass sich die amerikanische Exodus International, grösste Organisation mit denselben Angeboten 2013 aufgrund ausbleibender Therapieerfolge auflöste, interessiert Wüstenstrom oder ICF wenig.

Wo ist die wahre Baustelle? Gefährlich ist auch, dass viele Mitglieder von Glaubensgemeinschaften bereits in ein solches Umfeld hineingeboren werden. Oft spielt sich das Leben junger Religiöser in einem Raum frei von Kritik am eigenen Glauben ab und Denkanstösse aus einer anderen Richtung bleiben aus. Familie, Verwandte und Freund_innen, Schule und Freizeit sind geprägt vom religiösen Gedankengut. Das nahe Umfeld bietet somit keine differenzierbare Anlaufstelle für Hilfesuchende. Mit diesen Problematiken befasst sich momentan eine Gruppe junger Aktivist_innen. Neben Themenbereichen wie Sexismus, Patriarchat, Feminismus und dem in Frage stellen von genderspezifischen Rollenklischees, befasst sich die Gruppierung LieberGlitzer auch mit Homo- und Transphobie. Mit ihrer ersten Aktion schafften die Aktivist_innen es auch gleich, sich medienwirksam zu präsentieren. Mitte Dezember letzten Jahres stürmten 15 Mitglieder_innen die Bühne während einer ICF-Celebtration. Ausgerüstet mit einem Transparent mit der Aufschrift «Liebe deine Nächsten» verkündete eine Sprecherin auf der Bühne die Beweggründe der Aktion. «Wir sind heute hier um ein Zeichen zu setzen gegen Homophobie, Sexismus und Patriarchat. Wir stehen dafür ein, dass jeder Mensch das Recht darauf hat, frei zu lieben. Wie kann Liebe etwas schlechtes sein?».Was für die Gruppe eine gelungene Aktion war, ist für den ICF ein Lausmädchenstreich. Doch die Aussage von Niklaus Burkhalter gegenüber 20 Minuten, Homosexualität sei wie Mobbing oder Scheidung eine Baustelle im Leben, bestätigt die Aktivist_innen in ihrem Vorhaben. Vor allem die Versinnbildlichung von Homosexualität als Baustelle, welche impliziert, man müsse daran arbeiten, sorgte für Empörung. Lässt man persönliche und spirituelle Empfindungen aussen vor, ist wohl jedem Mensch klar, dass Sexualität weder eine Krankheit ist, noch durch Gebete umgekrempelt werden kann. Fraglich ist aber, wieso solch indifferente Mythen immer noch ihre Bahnen ziehen, in einer Welt, die sich so aufgeklärt schimpft. Liebe und Sexualität sind die zwei intimsten Aspekte im Leben eines jeden Menschen. Wieso sollten diese zwei Punkte heute immer noch gesellschaftlicher Kritik unterliegen oder gar zu einem sozialen Konstrukt hervorgehoben werden, in dem die Meinung Unbeteiligter mehr zählt als die der Beteiligten selbst? Resultierend aus einem solchen Mass an emotionaler Abhängigkeit und Unaufgeklärtheit bleibt es weiterhin wichtig, dass Menschen solche Glaubensgebilde hinterfragen, sich kritisch mit ihrem eigenen und dem Handeln Anderer auseinandersetzen und den Dialog suchen.

Solikarte

Migros blockt – Solidarität bleibt

Trotz einjähriger Verhandlungen zwischen dem Solikartenteam und der Migros war diese nicht bereit, das erfolgreiche Projekt weiter zu tolerieren. Die Solikarte aufzugeben, war jedoch nie eine Option. Sie existiert weiter – wenn auch leicht abgewandelt.

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Text: Mona Bierer | Illustration: nor

eit über 5 Jahren leistet die Solikarte nun schon einen nahezu unabdingbaren Beitrag für Sans Papiers und Nothilfebezüger_innen. Letztere sind abgewiesene Asylsuchende, die je nach Kanton und Familienstand mit CHF 4 bis maximal CHF 12 pro Tag auskommen müssen. Ein gewöhnliches Alltagsleben in der Schweiz ist damit keinesfalls möglich. Ziel einer solchen Politik ist die möglichst schnelle «freiwillige Ausreise» aus der Eidgenossenschaft. Nothilfebezüger_innen dürfen nicht arbeiten, manchmal dürfen sie ihre Unterkunft (teilweise Bunker) nur zu bestimmten Zeiten verlassen und können wegen ihrer «Illegalität» jederzeit ausgeschafft werden. Egal wie unangenehm die Schweiz es ihnen zu machen versucht: Sie wird nicht erreichen, dass diese Menschen in ihre Herkunftsländer zurückgehen, denn ohne Notwendigkeit wären sie gar nicht erst gekommen. Unangenehme und prekäre Lebenssituationen kennen sie meist schon sehr gut. Die unmenschliche Behandlung verändert also gar nichts, abgesehen davon, dass Menschen gezwungen werden, am Rande der Gesellschaft ihr Dasein zu fristen. Die Solikarte leistet hier zumindest einen kleinen Beitrag. Sie unterstützt mit dem gemeinsamen Sammeln von CumulusPunkten auf ein Konto Projekte, die zum einen die Cumulus-Bons direkt an Menschen weitergeben und zum anderen indirekt in Form von Deutschkursen, Mittagstischen etc. helfen. Anfang 2013 war die Migros nicht mehr bereit, die Solikarte in ihrer bisherigen Form zu tolerieren. Zum damaligen Zeitpunkt erreichten alle Sammler_innen in der Abrechnungsperiode von zwei Monaten gemeinsam knapp CHF 30’000, die an entsprechende Projekte weitergegeben werden konnten. Parallel mit dem stetigen Zuwachs an Unterstützer_innen die sich entschieden, lieber solidarisch auf ein gemeinsames Konto

anstatt auf ihr eigenes Konto zu sammeln, kamen bei der Migros plötzlich «technische Schwierigkeiten» auf, die ein Weiterführen der Solikarte in der ursprünglichen Form nicht mehr möglich machen sollten. Auch einjährige Verhandlungen konnten diese «technischen Probleme» leider nicht mehr beseitigen und so sah sich die Solikarte vor einem Dilemma: Das Projekt aufgeben und so auch die Menschen im Stich lassen, die es gewohnt waren, in den letzten Jahren mithilfe der Solikarte noch ein paar Lebensmittel oder Windeln mehr kaufen zu können –oder einlenken und das Projekt mit einem neuen System weiterführen. Solikarte und Unterstützer_innen zeigen weiterhin Solidarität mit Nothilfebeziehenden Obwohl nicht glücklich darüber, dass die Beharrlichkeit und die beständige Überzeugung, am Ende den Kampf zu gewinnen, zu keinerlei Zugeständnissen vonseiten der Migros führten, gab es für die Solikarte nie die Option, sie aufzugeben. Die Solikarte ist jetzt zwar nicht mehr autonom, manche Menschen würden sagen, sie habe sich verkauft. Aber nur auf diese Weise können von der Solikarte unterstützte Projekte weiterhin Mittagstische und Deutschkurse finanzieren sowie Einkaufsgutscheine verteilen. Der Vorteil, der eine Unterstützung mit der Solikarte so leicht machte, lag darin, dass das Verwenden desselben kopierten Strichcodes Anonymität gewährleistete und ohne viel Aufwand mitgetragen werden konnte. Ganz deutliche finanzielle und auch motivationsbezogene Einbußen sind wohl auf den Wegfall der Anonymität zurückzuführen. Nun sollen sich die Unterstützer_innen nämlich via speziell für die Solikarte eingerichtetem Cumulus-Anmeldeformular registrieren um weiterhin Punkte für die Solikarte bzw. für Nothilfebezüger_innen zu sammeln. Das erzeugt Kritik: Nicht alle sind bereit, ihre Daten an einen Großkonzern herzugeben.


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Selbstverständlich war das Ziel der Solikarte nie ein solches und dass es letzten Endes dazu kommen würde, war lange nicht denkbar. Die Entscheidung, wo es einem wichtiger ist, fällt für jeden anders aus. Wer dann aber nicht bereit ist, die eigenen Daten für eine Anmeldung herzugeben, kann die Solikarte trotzdem (weiterhin) unterstützen. Nicht jede einzelne Person muss die eigenen Daten hergeben. Es ist nicht notwendig, dass jede Person sich registrieren lässt. Es ist ausreichend, wenn sich eine Person pro Haushalt anmeldet, die mit der Registrierung zusammen vier weitere Strichcodes zugeschickt bekommt und bei Bedarf auch noch weitere bestellen kann. Alle sammeln dann auf dasselbe Konto, von welchem die Punkte regelmäßig und automatisch auf das Solikarte-Konto transferiert werden. Personalisierte Überwachung des Einkaufverhaltens ist so auch nicht möglich. Möglich wäre es aber auf diesem Weg, illegalisierten Asylsuchenden und Sans-Papiers Unterstützung zu bieten, die durch den Wechsel auf das neue System Einbußen erleben. Von den Betroffenen selbst gab es

schon Rückmeldungen, in denen sie sich zum einen für die bisherige Unterstützung bedankten, zum anderen kundtaten, ausschließlich mit der «Hilfe» des Staates der Schweiz nicht mehr in der Lage zu sein, ihre Kinder zu versorgen. Statt wie noch vor wenigen Wochen, als die Solikarte CHF 30’000 in zwei Monaten verteilen konnte, stehen ihr jetzt nur noch CHF 8’500 zur Vergabe bereit, was sich natürlich enorm auswirkt. Es wurde so lange gekämpft - das sollte nicht umsonst gewesen sein. Für manche geht es um ein Abwägen der eigenen Grundprinzipien, für alle aber geht es um Solidarität und politisches Statement.

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Idee der solidarischen Cumuluskarte Als Debora Buess 2009 in St.Gallen an der Migroskasse arbeitete, kam ihr die Idee, dass es keinen Sinn für die Allgemeinheit macht, wenn alle ihre Cumuluspunkte nur sich selbst zugutekommen lassen. Schnell ergab sich ihnen die Schlussfolgerung: Warum nicht alle gemeinsam auf ein solidarisches Konto sammeln und die Einkaufsgutscheine Menschen zufließen lassen, die sie tatsächlich brauchen? Sie fing also an, ihren eigenen Strichcode der CumulusKarte zu kopieren und an Freund_innen zu verteilen, die tüchtig mitsammelten. Anfang 2012 bemerkte die Migros Paralleleinkäufe in verschiedenen Städten und wollte die Solikarte sperren. Mithilfe der Presse und starker Proteste lenkte die Migros jedoch ein und tolerierte die solidarische Cumulus-Karte. Die Solikarte durfte jetzt legal und autonom weitersammeln. Die Summen, die mithilfe vieler Sammler_ innen erreicht werden konnten, stiegen unablässig und erreichten 2013 zum ersten Mal mehr als CHF 10’000 in zwei Monate. Schnell wurde die 30’000er-Marke geknackt. Etwa zum selben Zeitpunkt kündigte die Migros «technische Änderungen»

an, die ein Sammeln mit der Solikarte verunmöglichen sollten. Es steht jedem frei, diese Äußerung für sich zu interpretieren. Anfang des Jahres 2014 zeichnete sich ab, dass die Solikarte die Verhandlungen dieses Mal nicht gewinnen wird - trotz erneuter massiver Proteste vonseiten mehrerer Zeitungen und Radiosender. Neu gilt es, sich via bereits für die Solikarte eingerichtetem Formular zu registrieren, was beim Punkten bei der Migros zu einer automatischen Transferierung auf das gemeinsame Konto führt. Aufgrund der bisherigen Anonymität und der damit verbundenen Unmöglichkeit, alle ehemaligen Sammler_ innen zu erreichen, liegt die Vermutung nahe, dass es weiterhin Menschen gibt, die den Wechsel nichts registriert haben und ins Leere sammeln. In Kombination mit der generellen Antipathie bezüglich der Datensammlung, ergibt sich jetzt ein deutlicher Rückgang, was die gesammelte Summe betrifft. Die alte Solikarte ist nicht mehr gültig, aber es gibt Alternativen. Die Solitarität geht weiter. Mehr Infos auf www.solikarte.ch


Kurzschluss

Wirr ist das Volk

Abonniere das m

n o f a eg

die Zeitschrift aus der

Text: bass | Illustration: nor

«Ich bin Edward Snowden». «Ich bin ein afghanisches Kind, das von einer amerikanischen Drohne in Stücke gebombt wurde». «Ich bin ein namenloser, unverurteilter Guantánamo-Häftling». Selten in der jüngsten Vergangenheit löste eine Anwendung von Gewalt derartig heftige und breite Reaktionen aus, wie jener Akt des «Terrors», der nun bis zur Übelkeit diskutiert, stilisiert und instrumentalisiert wird. «Wir sind Charlie». «Wir sind Medienfreiheit». «Wir sind westliche Grundwerte».

Reitschule Mit Artikeln, Interviews, Comix, Veranstaltungsprogramm und vielem mehr! Für 6.– im Monat!

Der politisierte Klärschlamm, der in den letzten Tagen zu diesem Thema abgesondert wurde, reicht von leicht ätzend, aber wasserlöslich bis hochradioaktiv und quarantänewürdig. Bereits wenige Stunden nach dem Attentat liess Marine Le Pen – jene Vorsitzende des Front National mit dem moralischen Standard einer gestrandeten Bachforelle – ihre Forderung nach Wiedereinführung der Todesstrafe in Frankreich verlauten. Der britische Premierminister Cameron sprach in einer Rede davon, jegliche verschlüsselte Kommunikation zu verbieten, die von den Behörden nicht vollumfänglich überwacht werden kann. Und die selbsternannten Abendlandverteidiger_innen von Pegida sehen sich in ihren wirren Ansichten bestätigt und kämpfen weiterhin mit «Wir sind das Volk»-Rufen gegen die Welteroberungspläne des Internationalen Ministeriums für Muslimisierung und Wertezerfall (MUSLINTERN) an. Doch auch hierzulande liessen die Opportunismusjünger_innen nicht lange auf sich warten, und schalmeiten ihre mit Mitleidsbekundungen gepaarten Aufrüstungsforderungen lautstark in die lokale

Medienlandschaft hinaus. SVP-Nationalrat Wobmann will irakischen und syrischen Flüchtlingen die Aufnahme verwehren, sollten sie denn muslimischen Glaubens sein, SVP-Mitglied und Blogger Cadonau fordert «muslimfreie Fluglinien» und SP-Frau Galladé will mehr nachrichtendienstliche Mittel – schliesslich stelle sich nicht die Frage, ob es einen Anschlag geben würde, sondern wann. Adi «Adolf» Amstutz will die Armee wieder vergrössern und die rot-grüne «Armeevernichtung» endgültig stoppen, das BlocherBlatt BaZ propagiert die Notwendigkeit einer «Renaissance des Wehrwillens» und eine Schweizer Pegida-Seite postet auf Facebook eine retuschiertes Bild vom Tor des KZ Auschwitz – Bildlegende: «Nach den Juden die Christen». «Wir sind das jüdisch-christliche Abendland». «Wir sind zivilisiert». «Wir sind bedroht vom Islam». Nicht alle Reaktionen zwar standen im Begriff, den globalen Bürgerkrieg zwischen «freiheitlich-demokratischem Westen» und «rückständigem barbarischem Islam» auszurufen. In weiten Teilen Europas fanden Demonstrationen statt, «gegen Gewalt, für Medienfreiheit». Das ist schön und gut – doch leider zu wenig. Niemand wird sich öffentlich stark machen für Gewalt, gegen Medienfreiheit. Wenn ich auf die Strasse gehe mit einer Forderung, die im exakten Worlaut auch die geistigen Schützengrabengräber_ innen von SP bis PNOS nachgrölen würden, habe ich etwas falsch gemacht.

Die bewaffneten Versfetischist_innen im Namen ihres Heilsbringers und die Reduitnostalgiker_innen in jenem der sogenannt «westlichen» Werte drehen an derselben Spirale. Sie alle befördern die Spaltung, die Abgrenzung, das Misstrauen gegenüber dem «Fremden», dem «Anderen». Das Attentat auf unschuldige «Ungläubige», die hetzerische «Volks»-Bewegung von Pediga und der «War on terror» – Massenüberwachung und Aufrüstungsfanatismus inklusive – sie alle gehen Hand in Hand. Und wer in dieser Situation sein «Je Suis Charlie»-Schild hochhebt und sich für die ach so gefährdete Medienfreiheit einsetzt, der schaut den dreien nur zu und sagt: «Ach, sind sie nicht süss?» «Wir rüsten auf». «Wir schaffen aus». «Wir sind nachrichtendienstlich überwacht».


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Computertechnologie, Internet & Datenschutz

Eckpfeiler der Datensicherheit Z

Text: peb & rif

um Schutz der persönlichen Informationen und der eigenen Daten im Internet müssen einige Faktoren gegeben sein, die wir in dieser Ausgabe kurz anreissen wollen. Der Fokus soll diesmal jedoch auf dem direkten Schutz deines Rechners liegen. Über Browserspuren haben wir bereits in der MegafonAusgabe Nr. 389 (November 2014) geschrieben, in der aktuellen Ausgabe soll es um Festplattenverschlüsselung und Firewalls gehen. Grundsätzlich versuchen wir auch hier, möglichst einfache technische Lösungen vorzuschlagen und wenn möglich freie Software zu empfehlen. ...when they kick in your front door... Es gibt viele gute Gründe, die Daten auf dem eigenen Rechner zu verschlüsseln und eigentlich keine, es nicht zu tun. Wer verhindern will, dass jede Person mit minimalen technischen Fähigkeiten und physischem Zugriff auf den jeweiligen Rechner die persönlichen Daten durchstöbern kann, kommt um die Verschlüsselung dieser Daten nicht herum. Eine Passwortsperre bietet keinen Schutz. Weder technisch versierte Mitbewohner_innen oder Mitarbeiter_ innen, geschweige denn Sicherheitsbehörden (etwa die Polizei nach einer Hausdurchsuchung) werden auf diese Weise aufgehalten. Access for authorised Persons only Wir empfehlen grundsätzlich eine Verschlüsselung des gesamten Systems (sogenannte Full-Disc-Encryption FDE). Auf diese Weise ist nicht nur der Umgang mit der Verschlüsselung nach der Einrichtung deutlich einfacher, sondern es werden auch Systemeinstellungen, möglicherweise gespeicherte Passwörter und systemeigene Sicherheitskopien geschützt. Für Mac und Linux sind die entsprechenden Programme bereits bei der Installation vorhanden, Linux verwendet dazu LUKS (Linux Unified Key Setup) und Apple FileVault2 (ab Mac OS 10.7), wobei FileVault von Apple selber bereitgestellt wird und proprietäre Software ist. Für Windows empfehlen wir die Verwendung von DiskCryptor. FileVault und DiskCryptor unterstützen dabei in der Regel auch eine nachträgliche Verschlüsselung bereits bestehender Systeme, was mit LUKS zwar ebenfalls möglich, aber relativ kompliziert ist. Wenn eine komplette Verschlüsselung des Systems keine Option ist – etwa weil noch andere Menschen diesen Computer benützen – sollten zumindest die persönlichen Daten verschlüsselt abgespeichert werden, sinnvollerweise in einem eigenen verschlüsselten Container. Nützliche Tools dafür sind Gpg4win (Windows), Cryptkeeper oder Gnome-

Leserkommentar des Monats

Encfs-Manager (Linux) und das Apple eigene Tool DiskUtility (Mac, proprietäre Software). Eine wichtiger Hinweis: Die Verschlüsselung ist nur dann aktiv, wenn der Computer ausgeschaltet ist (FDE) oder die Container ausgehängt wurden (Container-Verschlüsselung). Löcher in Brandschutztüren Den eigenen Rechner zu verschlüsseln ist die einzig sinnvolle Methode gegen direkte physische Angriffe, nützt aber nichts, wenn der Angriff virtuell (insbesondere aus dem Internet) erfolgt. Zuständig für den Schutz des eigenen Rechners gegen Angriffe aus dem Netz ist die Firewall. Diese verwaltet die Zugriffe auf den jeweiligen Rechner und in den Firewall-Regeln wird definiert, wer wie und von wo aus Zugriff auf den eigenen Rechner hat. Diese Regeln den eigenen Bedürfnissen anzupassen ist sinnvoll, aber oftmals kompliziert und mühselig. Mac und Windows haben von Haus aus sehr einfache Programme zur Aktivierung der Firewall, welche aber nur eingeschränkte Möglichkeiten zur Anpassung bieten und darüber hinaus zu Beginn so eingestellt sind, dass die eigenen Dienste relativ viele Freiheiten geniessen (z.B.: Synchronisierung über iCloud). Zumindest die erweiterten Einstellungen dieser Programme anzuschauen und anzupassen, ist deshalb sehr zu empfehlen. Eine Nutzerfreundliche Alternative/Erweiterung für Mac stellt das Programm IceFloor dar; für Windows gibt es unseres Wissens keine sinnvolle freie Software zum Anpassen der Firewall. Auf Linux-Systemen werden die Filterregeln standardmässig mit Hilfe des Kommandozeilen-Tools ‹iptables› verwaltet, was für unerfahrene Nutzer_innen aber nahezu unbedienbar ist. Wir empfehlen deshalb die Verwendung der Graphical Uncomplicated Firewall (gufw),welche auch für Laien recht einfach zu bedienen ist. Schön und gut, aber hä? Schriftliche Anleitungen zur Computer-Umrüstung haben ihre Beschränkungen und oft bleibt vieles unklar; was bei manchem auch hier der Fall sein dürfte. Aus diesem Grund gibt es in vielen Städten immer mal wieder Veranstaltungen, an welchen solche Kenntnisse und Fähigkeiten direkt und praxisnah vermittelt werden. In Bern etwa im Infoladen unter dem Titel «Digitales Aikido 2015». Vom 18. Februar bis zum 15. April finden regelmässig Workshops zu verschiedenen Themen der Datensicherheit statt. Weitere Informationen zu den einzelnen Veranstaltungen finden sich auf reitschule.ch und infoladen-bern.ch.

Chinderbuech

Kein Kuss für Mutter Text: Ruth Baeriswyl

Toby Tatze, der antiautoritäre Jungkater, hat ziemlich viel Ärger mit seiner Mutter. Dauernd will sie ihn küssen und herzen. Doch nicht genug, er soll auch immer geschleckt und gut angezogen sein, ja eine richtige Postkartenmieze würde sie gern aus ihm machen. Ihr Lieblingskosewort ist «Honigschneck» – wie peinlich! Allerdings weiss sich Toby mit einigen Tricks zu helfen. Zahnbürste und Waschlappen werden nur angefeuchtet, um vorzutäuschen, dass er sich gewaschen hat. Die von Mama gebügelten Sachen zerknittert der junge Kater heimlich, weil es peinlich ist, auszusehen wie aus dem Versandkatalog. Dass es irgendwann Ärger in der Schule gibt, versteht sich bei diesem Temperament von selbst. Auf dem Pausenhof folgt dann auch prompt eine rabiate Schlägerei mit Katzenkumpel Max. Darauf ist Toby sooooo schlimm verletzt, dass er sein Ohr beim Katzenarzt nähen lassen muss. Mutter Tatze muss Toby im Krankenhaus abholen und macht sich selbstverständlich angemessen Sorgen um sein verletztes Ohr. So nimmt die Geschichte ihren Lauf, bis Toby das Fass zum Überlaufen bringt. Auch Mutterliebe kennt Grenzen! Allen, die gerne vorlesen, sei dieses Buch wärmstens empfohlen. Ungekünstelte Dialoge und Bilder, die bei längerem Betrachten durch immer neue Entdeckungen aufwarten, machen es auch beim x-ten Mal lesen zum Vergnügen Die Zeichner-Legende Tomi Ungerer ist ein begnadeter Karikaturist, Graphiker, Schriftsteller, Zyniker, Liederbuchillustrator, Gesellschaftskritiker und überzeugter Elsässer. Das Buch «Kein Kuss für Mutter» ist in einer neuen, sehr schönen Fassung im Diogenes Verlag erschienen. Tomi Ungerer | Kein Kuss für Mutter |

Diogenes Verlag | CHF 21.00 im Chinderbuechlade, Bern


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megafon-StattBlick

Das grosse Gähnen Comix: Nicolophonius Fuhrimann

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Text: Tom (frühpensionierter Reitschüler)

ndlich war es soweit: Um Russland und Europa gegen die Bedrohung durch Nato, USA, EU, Nazis, Faschisten, Islamisten, Genderismus, der schwulen Weltverschwörung, Chemtrails und den miesen Rubelkurs zu verteidigen, hatte Putin den Erstschlag befohlen. Zusammen mit ostukrainischen und anderen ihm wohlgesonnenen osteuropäischen Oligarch_innen gründete er parallel zu den Kriegsgeschehnissen die Putinion, welche die politischen und wirtschaftlichen Interessen in den vom dadurch ausgebrochenen 3. Weltkrieg verschonten Regionen der Welt vertrat. In einem mehrstündigen Interview mit dem Kreml-Sender Putinion TV (PT) erklärte er seine Entschlossenheit: «Bei Kornilow - Selbst selbst wenn wir halb Europa niederbrennen und das Blut von drei Vierteln der Bevölkerung vergießen müssen, wir werden es tun, wenn es zu Europas Rettung notwendig sein sollte.» Die Armeen der Putinion überrollten die von den medialen und nuklearen Erstschlägen schwer gezeichneten Staaten Europas. Selbst Alaska war wieder russisch. Beim Suworow-Denkmal in der Urner Schöllenenschlucht vereinigten sich die vorrückenden Truppen mit Montagsdemo- und PegidaWirrköpfen, Eidgenossistanen, bürgerlichen Parteien und Wirtschaftsverbänden und schritten feierlich - unter dem Vorsitz des von Putin ernannten Westeuropa-Statthalters Christoph Blocher – zum Teufelsbrücken-Schwur: Wir wollen sein ein einzig Volk von Putin, in keiner Not uns trennen und Gefahr. Wir wollen Söldner sein, wie die Väter waren, eher die Knechtschaft, als den Tod erleben. Wir wollen trauen auf den höchsten Führer und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschenrechte.

Doch der Vormarsch der Putinion wurde jäh gestoppt. Die Stadt Bern hatte sich unterdessen von der Schweiz losgesagt und sich als 4. Kanton Rojavas deklariert. Köniz, Ostermundigen und Hinterkappelen schlossen sich dem Aufstand an. «Gegen Ausbeutung und Spaltung - Kollektive Selbstverwaltung!», hallte es durch alle Strassen. Durch die Bewaffnung per Enteignung von Armeelagerbeständen und Ruag-Rüstungsfabriken sowie durch die Unterstützung von Kämpfer_innen aus Kobane, die über den Seeweg aus Italien vom Tessin über den Gotthard vorrückten, konnte die kollektive Selbstverteidigung den (zugegebenermassen stockbesoffenen) Truppen Putins bei Andermatt eine derart vernichtende und traumatisierende Niederlage beibringen, dass die Redewendung «Zum Teufel mit Putin» nicht mehr eine sakral-unterirdische, sondern vielmehr eine profan-oberirdische Bedeutung bekam. Die letzten Überreste der Schweizer Putinjüngerschaft verschanzten sich derweil im Clubhaus des Schweizerischen Hauswandbildeigentümerverbandes in Muri bei Bern. Schnell wurden sie von einer Einheit des revolutionären «Kollektiv Aarebad» umstellt und beschlossen, ihrem Elend - dokumentiert durch ein Filmteam von ARTE – per Freitod ein Ende zu setzen. «Mein Eigentum ist kein Diebstahl...», rief einer noch. Dann war Ruhe. So geht das.


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Kate – Schmerz – Kind Text: sak | Illustration: nor

Baltimore - da hatten wir uns im Winter der Jahrtausendwende das erste Mal getroffen. Früher Nachmittag, viel Licht. Guten Mutes war ich nicht, aber irgendwie musste dieser Bogen zwischen Kate und dem zugegebenermassen absolut beliebigen Ort unseres Aufeinandertreffens zu schlagen sein. Verwahrlosung, Drogenabhängigkeit, Suburbanisierung, so hatte mir Wikipedia einige Stunden zuvor bei der orientierungslosen Recherche den Zustand der Stadt aufgelistet. Das war mein Schlachtplan, mit dem ich mir einen Text erhoffte, der laufende Kosten und Kontostand miteinander versöhnt. Kate Moss und Baltimore; zwei Wracks miteinander in Verbindung bringen. Zwischen zwei Shootings also dieses Zeitfenster, Timeframe sagte der Agent. Auf der anderen Strassenseite, mit Aussicht auf die Hallen der Fotostudios, setzten wir uns in das Diner, das an Reservoir Dogs und Trinkgeld erinnerte. Wir bestellten Decaf. Kate war abgeklärt, erschreckend aufgeräumt. Verwahrlosung, Drogenabhängigkeit – zwei Angelpunkte meiner Vorbereitung dahingerafft, blieb nur noch die Suburbanisierung übrig. Ich stellte fest, dass ich von Beginn weg nur zwei Angelpunkte gehabt hatte. Kate Moss und Suburbanisierung, das mag zutreffen, interessiert aber keinen Schwanz. «Nichts interessiert den Menschen weniger als sein eigenes Schicksal», hat ein Verleger mich mal angesäuselt, und Suburbanisierung, das war die Basslinie der Leserschaft aller Magazine, die als Interessenten dieser Geschichte in Betracht zu ziehen waren. Das bedeutete für mich: Man kann über Kate Moss alles schreiben, nur nichts mit Suburbanisierung, Decaf oder diesen rauftlosen Sandwiches. Das Gespräch war belanglos, der Agent unterbrach an den unbedeutendsten Stellen. Ob es nicht körperliche Abnützungserscheinungen gebe, bei diesen Shootings, fragte ich, und dachte an https://www.youtube.com/ watch?v=mVISNwNBJ-o . Natürlich sei das manchmal Anstrengend, dieses unterwegs sein, aber die Unterstützung und ... und sie mache es gerne und… und…

Wann sie das letzte Mal Schmerzen verspürt habe. «Der stärkste Schmerz, den ich jemals verspürt habe? Das war beim Zahnarzt.» Im Moment, in dem die Wörter aus Kates Mund in ihre Bedeutung schlüpften, war mir klar, dass ich mir diesen Monat um die Miete meines Appartments keine Sorgen mehr machen musste. Wie einfach das alles war. Meine Augen fokussierten auf das rot leuchtende Lämpchen des Aufnahmegeräts, das mir versicherte, dass sich dies alles tatsächlich ereignet. Weder Kate noch der Agent schienen meinem Gedankengang auch nur annähernd gefolgt zu sein, alles pc. Noch am selben Abend titelte ich: «The most pain I ever suffered was at the dentist.» Ansonsten war es ein unterdurchschnittliches Interview. Aber was ist schon ein gutes Interview gegen einen solchen Satz. Er hat einfach alles; Suburbanisierung, Decaf, Verwahrlosung, Drogenabhängigkeit und die ganze Sinnlosigkeit, mit welcher uns die Neunzigerjahre ins neue Jahrtausend entliessen. Vanity Fair intensivierte das Angebot am offensivsten und bekam den Zuschlag. Graydon Carter war es dann auch, der mich bei einem informellen Anlass zu reanimieren versuchte (manchmal wünscht man sich, dass Anlässe wieder formeller werden,

Tagebuch des etablierten Chaotentums

Ignaz und die Lügenpresse

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Text: bass

gnaz sass vor seinem Computer und seufzte. Ein weiteres Projekt gescheitert. Gut hatte es angefangen. ‹Pegida Schweiz› – gemeinsam gegen dieses unsägliche Gebilde aus Gewalt, Intoleranz und Anhimmelung eines längst verstorbenen Kriegstreibers. «Du engagierst dich gegen Neonazis?» hatte ein Arbeitskollege ihn gefragt. Zecke! Nichts verstanden hatte er! Doch nun war es vorbei für ihn. ‹Pressesprecher von Pegida Schweiz› Das hatte besser getönt als ‹Präsident einer rechtsradikalen Splitterpartei›, oder ‹Unterstützer ungarischer Neonazis›. Doch die verfluchte Lügenpresse konnte auch nichts begraben lassen, mit dem sie einen aufrechten und stolzen Verteidiger seiner Nation in die braune Ecke prügeln konnte. ‹Zählt Rassisten zu seinen Freunden›. ‹Ehemaliges PNOS-Mitglied›. Passivmitglied! Wie oft hatte er das all den als Journalisten getarnten Vaterlandsverrätern erklären müssen! Nur passiv unterstützte er rechtsextremes Gedankengut!

Dabei wollte er doch nur endlich etwas machen gegen all die demokratiefremden Ausländer, die seine geliebte Schweiz unterwanderten und von innen heraus auszuhöhlen versuchten! Vier Minarette konnten sie schon bauen, bevor die Eidgenossen es ihnen verboten hatten! Und nun hatten sie es auf die Medienfreiheit abgesehen! Wehmütig klickte er sich durch die Facebook-Seite, deren Administrator er bis vor kurzem noch gewesen war. Dieser Lügenpresse würde er es zeigen! Er wählte die Nummer eines alten Kameraden aus seiner Zeit als Passiveidgenosse. «Domä? Domä, hoi! Du, bisch drbi, die linkslastige Zäckämediä ändlech emal ändgültig wäg z chlepfä?»

man könnte sie dann informeller angehen). Jetzt, drei Jahre später, Moss unterdessen Mutter geworden, könnte dies doch Anlass bieten um noch einmal bezüglich Schmerzen ins Gespräch zu kommen. Kate – Schmerzen – Kind: Die Idee ist natürlich nicht schlecht. Aber wie allen Ideen mangelt es ihr an der Umsetzung. Achtundzwanzig, ob das jung oder alt sei, um Mutter zu werden. Das werde wohl einen Knick für die Karriere bedeuten. Ob die Angst vor einem späteren Bereuen der Kinderlosigkeit beim Kinderwunsch eine nicht zu vernachlässigende Rolle spiele. Wie jemand, die als Model mit einem vergänglichen Gut handle, sich vom Gedanken des Kinderkriegens angezogen fühlen könne. Kate Moss: «Es ist ein Prozess. Und natürlich fragt man sich einiges, wenn man in diesen Zustand gerät. Einige haben gesagt, das sei wie eine Droge, dieses… äh… diese Schwangerschaft. Ich muss sagen: Das waren wohl alles Männer, die das gesagt haben. Oder Frauen, die mit Drogen höchstens oberflächlich in Berührung gekommen sind. Was mir in diesem Zusammenhang sehr geholfen hat, ist ein Zitat von William Faulkner: ‹Wenn ich die Wahl habe zwischen dem Nichts und dem Schmerz, dann wähle ich ohne Zögern den Schmerz.› Ich habe jetzt zwei Abtreibungen und eine Geburt durchgemacht. Dieser Satz hat mir in all diesen Lebenslagen – und sie waren sehr unterschiedlich – geholfen.» Müssig zu erwähnen, dass Obiges weder Wahn noch Sinn, sondern erfunden ist.

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Nr. 392 | Februar 2015

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Interview mit Teslim Töre

Die Strahlkraft Rojavas D

Interview: ffg | Illustration: mfg

ie Ereignisse im syrischen Bürgerkrieg und vor allem in den kurdischen Autonomiegebieten in Rojava beschäftigten die Linke letztes Jahr stark. Auch das megafon berichtete darüber, und in der Reitschule gab es verschiedene Anlässe. Für diese Ausgabe sprachen wir mit einem weiteren Kenner der Situation, Teslim Töre. Teslim, Jahrgang 1939, stammt aus der Türkei und ist seit über 50 Jahren Aktivist für Demokratie und Kommunismus. Er war Mitgründer verschiedener Parteien und Organisationen, darunter die bewaffnete Volksbefreiungsarmee der Türkei (THKO) und die Kommunistische Arbeiterpartei der Türkei (TKEP). Er schrieb mehrere Bücher. Zur Fahndung ausgeschrieben, floh Teslim mehrmals aus der Türkei, darunter nach Syrien. Nach mehreren Verhaftungen und einem erneuten Gerichtsprozess kam Teslim 2003 in die Schweiz, erhielt Asyl und lebt seither in Bern. Hallo Teslim. Wie sah es zu deiner Zeit in Rojava aus? Ich war zweimal länger in Syrien – 1971 bis ´74 und in den 80er Jahren. Während dieser Zeit wurde das Volk von Rojava unterdrückt. Hunderttausende junge Menschen waren Sans-Papiers. Man sagte ihnen, dass sie eines arabischen Passes unwürdig seien. Mehrere Male kam es zu kurdischen Aufständen, die aber immer wieder zerschlagen wurden.

Von welcher Kraft geht die grösste Bedrohung gegen das demokratische Projekt in Rojava aus? Der IS ist natürlich der grösste Feind. Daneben missfiel die Strahlkraft Rojavas aber ganz besonders dem ErdoganRegime. Dieses sah sich genötigt, etwas gegen Rojava zu unternehmen und so ist einer der Unterstützer des IS der türkische Staat! Das sind Feinde der Kurd_innen, der Rojava-Revolution – diese hat Erdogan und Konsorten erschüttert. Jegliche Selbstorganisation der Kurd_innen – egal wo auf der Welt – macht Erdogan grosse Angst. Also hat er den IS unter der Hand unterstützt. Erdogan wollte, dass der IS Kobane innerhalb einer Woche erobert. Erdogan sagte in den Medien, das Kobane fallen wird. Aber in Kobane war längst ein starker Zusammenhalt entstanden – und es ist nicht gefallen. Viele kurdische Jugendliche, auch Sozialist_innen aus der Türkei und aus Griechenland sowie Guerilla aus dem Kandil-Gebirge (irakisch-iranisches Grenzgebiet, Rückzugsgebiet der PKK, red.) kamen zur Unterstützung. Der Widerstand in Kobane vereint alle Kurd_innen der Welt.

Wie kam es zur heutigen Situation? Schon in den 80ern haben wir mit acht Organisationen die Vereinte revolutionäre Front gegründet. In diesen Jahren fing auch die PKK an, sich in Rojava zu formieren. Der Widerstand in Rojava wurde mit der bereits dort präsenten PKK-Bewegung erfolgreich, nicht mit den anderen kurdischen Organisationen. Während der ersten Rebellion starben 11 Menschen, viele Familien wurden von der syrischen Armee zerrissen. Durch den arabischen Frühling wurden alte Machtverhältnisse über den Haufen geworfen. Syrische Aufständische erhoben sich gegen Assad. Teils von den USA und Europa unter der Hand unterstützt, entstand die Freie Syrische Armee (FSA). Kurze Zeit später kamen die Islamist_innen nach Syrien. Spätestens, als sie Mossul eroberten, erkannte man, wie stark der Islamische Staat (IS; dort von den KurdInnen nur „die Banden“ genannt) ist. Ohne einen Schuss abgegeben zu haben eroberten sie die Stadt. Die irakische Armee flüchtete und überliess dem IS Waffen, Banken und alle anderen Güter und Institutionen. Der IS hat die neuesten amerikanischen Waffen und viel Geld gewonnen. Damit sind sie Richtung Bagdad und Südkurdistan gezogen. Überall dort, wo die Peschmerge vor dem IS geflüchtet sind, z.B. aus dem Senegal, hat sich der IS niedergelassen. Und zur gleichen Zeit haben sie die Angriffe auf Kobane gestartet. Kobane war aber bereits seit den Aufständen in Syrien organisiert. Alles, was sie vom syrischen Staat übernahmen, wurde „entprivatisiert“, kollektiviert und dem Volk zur Selbstverwaltung überlassen. Dies war äusserst wichtig, da diese Massnahme das Volk auf den Beinen hielt: Alle Produktionsmittel gehörtem nun dem Volk und das machte die Leute glücklich und produktiv. Es gehört allen und ist es also wert, verteidigt zu werden! Dieses neue System hat das Interesse anderer Völker auf sich gezogen. So fing es an, dass Araber_innen in dieses Gebiet zogen

Es gibt also ideologische Unterschiede zwischen Rojava und der Barsani-Regierung?

Es gibt grosse ideologische Unterscheide. Die RojavaKurd_innen sind demokratisch und revolutionär orientiert. Frauen haben sehr viele Rechte, die sie sich selbst erkämpft haben. Sie sind in Kaderpositionen, gleich wie die Männer. Das Barsani-Regime wiederum erlaubt einem Mann, vier Frauen zu ehelichen, und die Frau wird unterdrückt. In Rojava regiert das Volk und im Nordirak der Barsani-Klan. Wie würdest du das Rojava-System bezeichnen? Wie ist das Ganze aufgebaut?

Es ist eine richtige Volksdemokratie. Man könnte es die Schweiz oder das Schweden des Ostens nennen, das aber wirklich demokratisch ist. In der Schweiz und Schweden sind die Kapitalist_innen herrschend. In Rojava ist es das Volk. Es gibt Quartier- und Gemeindekomitees, in welchen jede_r das Recht zu sprechen hat, sowie ein Kantonskomitee, welches das Anliegen aller vertritt. Es gibt eine von Unten nach Oben gerichtete Volksregierung. Richtige Demokratie. Alle Kantone, Efrin, Cizide und Kobane, werden nach dem gleichen Prinzip verwaltet. Da der IS immer noch eine Vormachtstellung in der Region hat, sind die Kantone physisch nicht verbunden. Ich denke, dass sich mit der Zeit auch die Araber_innen an diesem System anpassen werden. in Rojava leben nebst den Kurden und Araberinnen auch Assyrer, Armenierinnen und weitere Ethnien. Aramäerinnen, Araber und Armenierinnen haben auch bewaffnete Truppen. Wenn der IS zerschlagen ist, werden auch sie in die Rojava-Armee eintreten. Alle ethnischen Gruppen haben die gleichen Rechte, können ihre eigene Sprache sprechen und ihren eigenen Glauben ausleben. Auch diese Minderheiten haben das Recht, in Führungspositionen zu besetzen. Frauenrechte werden in Rojava gross geschrieben.

Anfangs gab es allerdings keine Unterstützung von Barsani (Präsident der Autonomen Region Kurdistan im Irak, red.). Barsani und Erdogan planten den Untergang des Rojava-Projekts. Erdogan zog eine Mauer um Rojava und Barsani versuchte, Rojava und Südkurdistan zu spalten. Als Kobane gegen den IS kämpfte, änderte dies aber die Meinung der USA. Nun begannen sie, Rojava zu unterstützen, Medikamente und Waffen zu liefern. Erdogan möchte Rojava immer noch zerschlagen, hat aber keine Chance. Denn nun hat Rojava die USA und Europa im Rücken. Das Wichtigste ist jedoch, dass das europäische Volk Rojava unterstützt. Das Blatt hat sich gewendet und der IS an Boden verloren. Heute kontrollieren die Volksverteidigungseinheiten (YPG – YPJ) wieder 90% von Kobane.

Frauen sind gleichberechtigt, auch beim Führungssystem. Es gibt ein sogenanntes Pärchen-Führungssystem, d.h. immer ein Mann und eine Frau teilen sich eine Führungsposition. In allen Komitees wird das so gemacht. Beim bewaffneten Kampf gibt es eine Frauentruppe (YPJ, red.), welche ausschliesslich aus Frauen besteht; aber gleichzeitig auch Frauen, welche mit den Männern in den Krieg ziehen. Jetzt sind die Frauen in Rojava frei. Die Frauen haben eigene Pläne, Projekte und eine eigene Organisation für die Zukunft. Die Frauenbewegung ist nicht an Männer gebunden. Sie kämpfen mit ihren Waffen... Eine grössere Freiheit gibt es nicht. Was ist deine Zukunftsprognose für Rojava? Wie könnte es weitergehen? Die Revolution in Rojava ist keine sozialistische und keine bürgerliche - es ist eine Volksrevolution. In Zukunft vom Kapitalismus beeinflusst zu werden, ist möglich, aber wenn dies nicht eintrifft, wird Rojava für künftige Revolutionen im mittleren Osten ein Vorbild, weil alles, was „erobert“ wird, entprivatisiert und geteilt wird. Das zu ändern wird auch in Zukunft sehr schwierig sein. Aber: Das jetzige System ist für alles offen, ob sozialistisch oder kapitalistisch.


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