Chronik eins Untergangs – Die Bewegung ist tot – es lebe die Bewegung! S. 1 | 2015 ist ein Spitzeljahr – Überwachung S.3 |
Die Revolution beginnt (auf und) im Kopf der Philosophen – megafon-StattBlick S. 4 | Leserkommentar des Monats S. 4 | Crypto-
Wars reloaded? – Computertechnologie, Internet & Datenschutz S. 5 | Maulwurfstadt – Kinderbuchtipp S. 5 | Duzis – Facies hippocratica S. 6 | Schnappschuss S. 6 | Moralische Zerrissenheit S. 6 | Über SwissLeaks und andere Lappalien – Kurzschluss S. 7 |
Diagnose Humor – Kurzschluss II S. 7 | Syn|aes|these – Exitorial S. 7 | «Wir sind nicht dogmatisch» – Interview mit RaAupe S. 8
Die Zeitschrift aus der Reitschule | Bern
megafon | N°393 | März 2015 | 6.-
Die Bewegung ist tot – es lebe die Bewegung!
Chronik eins Untergangs
15 Jahre WEF-Protest in Bern. 15 Jahre, in denen die globalisierungskritsche Bewegung von breit abgestützten Demos in der ganzen Schweiz mit über tausend Teilnehmenden – auch aus dem umliegenden Ausland – zum polizeilich überwachten ‹Familienfest› vor der Reitschule mit guten hundert Personen degeneriert ist. 15 Jahre schleichender Zerfall. Was ist passiert? Beginnen wir am Anfang. In einer Zeit, in der noch Autobahnen blockiert wurden. Als diese Zeitung unter dem Titel «Auf nach Davos» noch eigens eine WEFSonderausgabe herausbrachte. Als Polizist_innen in Kampfmontur noch Korbschilde trugen und ‹Turtles› genannt wurden. » Fortsetzung Seite 2
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Text: bass | Illustration: Martina Walther
orneweg sei gesagt, dass es nahezu unmöglich ist, der Vielfalt und Intensität gerecht zu werden, die die WEF-Proteste im vergangenen Jahrzehnt darstellten. Zu divers und dezentral die Aktionen und Demos, zu einseitig und spärlich die Quellen dazu. Der vorliegende Text behandelt das Thema daher aus einer Perspektive, die die glorreichen Zeiten der Bewegung nur aus Zeitungsartikeln, Tagesschaumeldungen, Mobi-Material und womöglich etwas romantisierenden Zeitzeugenberichten kennt. Es begann in der Zeit um die Jahrtausendwende. Nachdem es im Januar 2000 in Davos bei einer über tausendköpfigen Demonstration zu Ausschreitungen gekommen war, rüstete die Polizei in Davos auf. Gerade noch 300 Demonstrierende konnten sich 2001 dort einfinden. Knappe tausend WEFGegner_innen, die es nicht über Landquart hinaus schafften, reisten zurück nach Zürich, wo es zu heftigen Kämpfen kam. In Bern, wo gleichentags mit einer Blockade der Lorrainebrücke die erste Aktion gegen das WEF stattfand, demonstrierten darauf ebenfalls tausend Personen gegen den Polizeieinsatz von Davos. Im Jahr 2003 wurde erstmals eine Demonstration in Davos von den Behörden bewilligt. Eine Bedingung dafür war, dass die Protestierenden in Fideris eine Kontrollschleuse – das sogenannte ‹Vehgatter› – passieren mussten. Das seit 2001 existierende Oltner Bündnis wehrte sich gegen diese Massnahme und kündigte an, die Schleuse nicht zu durchqueren. Teile der damals aus Parteien, Gewerkschaften, kirchlichen Kreisen, NGO und ausserparlamentarischen Gruppen bestehenden Bewegung liessen verlauten, sich dem Kontrollmechanismus zu fügen, was in der öffentlichen Wahrnehmung ein erstes Anzeichen von Spaltung darstellte. Am Tag der Demonstration schliesslich gelangten nur wenige Personen nach Davos. Ein grosser Teil der Demonstrant_innen reiste über Zürich nach Bern zurück, wo sich Polizei und rund 1200 Protestierende jene Strassenschlacht lieferten, die den damaligen Polizeidirektor Kurt Wasserfallen (†) von ‹Terrorismus› sprechen liess. 2004 kündigte das Oltner Bündnis keine Demonstration mehr an. Stattdessen wurde von diversen anderen Kreisen zu Kundgebungen in Davos, Chur und der Region Bern sowie einer Blockade des Flughafens ZürichKloten aufgerufen. Auch die wunderschön umgesetzte Kampagne mit gefälschten WEFPlakaten stammt aus diesem Jahr. An der Berner Demo sowie der Blockade nahmen jeweils ungefähre 500 Leute teil. Als der Extrazug mit rund 1100 Teilnehmer_innen der Churer Demo auf dem Rückweg in Landquart von unbekannter Seite angehalten wurde, bildete die Polizei den in die Geschichte eingegangenen Landquarter Kessel
und meldete sämtliche kontrollierten Personen dem Dienst für Analyse und Prävention der Bundespolizei.
bringt, das sich ausser durch die Transpis durch nichts von einer üblichen Brückenparty unterscheidet?
2005 wurde zur nationalen Grossdemo in Bern aufgerufen. Als die Behörden dem Bewilligungsgesuch nur unter strengen Auflagen entsprechen wollten, wurde die Demo abgesagt und zu kreativem zivilen Ungehorsam aufgerufen. Eine Tanzparade durch die Matte mit Namen ‹Dance out WEF› wurde daraufhin doch noch bewilligt. Die Bilanz des Tages waren ca. tausend Aktivist_innen und ungefähr gleich viele Polizeikräfte. 654 Personen wurden präventiv kontrolliert, 84 festgenommen. Im Zuge der darauffolgenden Untersuchungen bemängelte die Stadtregierung schon damals die angewendeten Polizeitaktiken der Präventivfestnahmen und Intimkontrollen.
‹Repression!›, ist man versucht, zu rufen. ‹Das System hat es geschafft, die Proteste sukzessive einzukesseln und gut gepfeffert auf kleiner Flamme einzukochen!› Das mag ein Stück weit stimmen. Niemand hat Lust darauf, sich für eine Bewegung, die seit Seattle ’99 keine grossen Erfolge mehr verbuchen kann, festnehmen, registrieren und ausziehen zu lassen. Doch Repression kann nicht der einzige Grund sein – schliesslich hat auch das massive Durchgreifen von Kurt dem Verstorbenen die Proteste nicht gemindert, sondern eher bestärkt.
Der Anfang vom Ende In den Jahren darauf begann der langsame, aber stetige Niedergang der anfangs so starken Bewegung. 2006 nahmen am ‹Kulturwiderstand› sowie der erneuten Tanzparade in Bern noch gute 300 Menschen teil. 2008, die Stadtpolizei mittlerweile aufgelöst, der Auftrag von der neu gegründeten KaPo Bern übernommen, fand in Bern erneut eine Demonstration mit einigen hundert Leuten statt. Die Polizei war präsent, 242 Personen wurden festgenommen, darunter zwei Journalisten und ein Mann mit Bluterkrankheit, dem Hilfeleistung im Festhalteraum anfänglich verweigert wurde. Eine Woche später demonstrierten gut 500 Leute gegen den Polizeieinsatz. 2009 fand in Bern mit 300 Teilnehmenden die letzte Tanzparty gegen das WEF statt. Reto Nause war mittlerweile Sicherheitsdirektor. 2012 kesselte ein grosses Polizeiaufgebot eine Kundgebung beim Bollwerk präventiv ein. In den folgenden zwei Jahren setzte man daher auf eine Reihe von in der Stadt verteilten Flashmobs. Was 2013 ganz gut zu klappen schien, wurde 2014 von einem grossen Polizeiaufgebot und dessen offensichtlichem Wissen über die Aktionsorte stark erschwert. Nach Davos bemühten sich von 2009 bis 2014 noch zwischen 40 und 100 Personen. Und nun? Im Jahr 2015? Die bernischen Revolutionäre mit Rechtschreibfehler im Namen künden ein ‹Familienfest› auf der Schütz an, worauf Telebärn, Tamedia-Töchter und Retos Nase ihren Krawallbefürchtungen freien Lauf lassen. Zum tatsächlichen Fest finden sich dann schliesslich – wohl auch aufgrund des stürmischen Wetters – etwas über hundert Personen ein. Die Polizei zeigt um die Reitschule Präsenz. Der Niedergang der WEF-Proteste scheint vollendet. Ein neuer Feind muss her! Doch woran liegt es, dass ein Anlass, der noch vor zehn Jahren tausend Leute auf die Strasse brachte, heute gerade mal ein paar Strassenaktionen und ein Festli hervor-
Nein, die Gründe müssen vielfältiger sein. Die Spaltung der diversen Aktivist_innen, die sich schon anno ’03 an Fragen des Pragmatismus, der Militanz und der Zusammenarbeit mit Behörden abzeichnete, scheint da schon ein wichtigerer Faktor zu sein. Wo sind heute all die Gewerkschaften, Parteien, die kirchlichen Bewegungen, wenn sich die ach so wichtigen Persönlichkeiten zum x-ten Mal in Davos versammeln? Was wurde aus der Aussage der heutigen Gemeinderätin Teuscher von 2004, als sie sagte, man verstehe sich immer noch als Teil der Antiglobalisierungsbewegung? Was ist mit all der Empörung passiert, die vor nicht allzu langer Zeit noch breite Kreise zu mobilisieren vermochte? Vielleicht ist es eine Generationenfrage. Vielleicht sind all die aktiven und passiven Wutgeleiteten mittlerweile im politischen Rentenalter angelangt. Vielleicht gehört das Feld der Strassenproteste heute einer Generation, die die Momente des grossen kollektiven Aufschreiens mehr und mehr nur aus Medienberichten und Erzählungen kennt. Die das Feindbild der ‹Global Leaders› mehr aus Tradition als aus wirklicher Empörung bewirtschaftet. Vielleicht hat das WEF tatsächlich an Relevanz verloren. Nicht, weil es keine verachtens- und bekämpfenswerte Institution mehr wäre, aber weil man sich daran gewöhnt hat. Weil es eine alljährliche Konstante geworden ist, gegen die scheinbar nichts mehr auszurichten ist. Vielleicht bräuchte der Protest im Jahr 2015 mal ein neues Feindbild. Einen neuen Gegner, der die Leute wütend zu machen vermag. Einen Missstand, der mehr ist, als die ewiggleiche, wiederaufgewärmte Klassenkampf- und Kapitalismusrhetorik. Oder aber wir hinken weiterhin linken Brauchtümern hinterher. Einfach, weil’s so praktisch ist, das Gleiche zu machen wie letztes Jahr.
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Überwachung
2015 ist ein Spitzeljahr Vo r z w e i Ja h r e n e n t h ü l l t e d e r G e h e i m d i e n s t a u s s t e i g e r E d w a r d S n o w d e n d i e a l l u m f a s s e n d e n Ü b e r w a c h u n g s p r a kt i k e n d e r G e h e i m d i e n s t e N S A , G C H Q u n d C o . 2 0 1 3 g i n g a l s Ja h r d e s « N S A-S k a n d a l s » i n d i e j ü n g e r e G e s c h i c h t e e i n . D o c h a u c h h e u e r w i r d e s w o h l n i c h t b e s s e r : I n d e r E U u n d i n d e r S c h w e i z fo r d e r n S i c h e r h e i t s b e h ö r d e n m e h r Befugnisse.
verpflichtet werden. Das könnte z.B. in Wohngemeinschaften, Spitälern, Hotels usw. geschehen.
Text: ffg | Illustration: #tt
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ls nach und nach bekannt wurde, in welchem Ausmass die NSA mithilfe ihrer Komplizen die digitale Welt ausspioniert, war der Aufschrei riesig. Lange Zeit blieb der NSA-Skandal das Thema in Medien und Gesellschaft. Es sah so aus, als ob sich Edward Snowdens grösste Befürchtung nicht bewahrheiten würde: Dass die Menschen die Enthüllungen auf die leichte Schulter nähmen und einfach weitermachten wie zuvor. Doch was haben wir als Gesellschaft fast zwei Jahre nach Bekanntwerden des Skandals wirklich gelernt oder geändert? Und welche Lehren zog die Politik daraus? Stelle ich diese Frage heute, sieht es düster aus. Der Snowden-Effekt ist verpufft, nur selten flammt die Debatte über die globale Überwachung wieder auf, ob im Freundeskreis oder medial. Alles scheint seinen gewohnten Gang weiterzugehen. Die EU-Innenminister_innen trafen sich Ende Januar in Riga, um mehr Kompetenzen für Polizei- und Geheimdienste zu fordern – im Schatten der Pariser Attentate erscheint das legitim. Im Schweizer Parlament stehen dieses Jahr zwei Geschäfte an, die die Kompetenzen der Strafverfolgungsbehörden und des Geheimdienstes deutlich ausweiten könnten. Einerseits beraten National- und Ständerat über die Revision des Bundesgesetzes zur Überwachung des Postund Fernmeldeverkehrs – kurz BÜPF. Parallel dazu soll ein neues Nachrichtendienstgesetz verabschiedet werden. Längere Vorratsdatenspeicherung Der Dienst ÜPF soll durch die Revision mehr und über längere Zeit Daten speichern können, auf welche Strafverfolgungsbehörden Zugriff haben. Bereits heute zwingt das BÜPF Anbieterinnen von sogenanntem Post- und Fernmeldeverkehr (Die Post, Swisscom, Orange, Netzanbieterinnen usw.), Daten aufzubewahren und auf Anfrage an die Ermittlungsbehörden weiterzugeben. Der Dienst ÜPF fungiert hierbei als Vermittler: Gelangt beispielsweise eine kantonale Polizeibehörde mit einer Anfrage zu Person X an den Dienst, fordert dieser bei den Netzbetreiberinnen die entsprechenden Daten ein und reicht sie dann an die Polizei weiter. Durch Annahme der Revision würden mehr private Unternehmen in die Überwachungspflicht genommen. Heute sind das gemäss Chaos Computer Club ca. 50, in Zukunft wären es rund 200. Vorratsdaten sollen neu zwölf statt bisher sechs Monate gespeichert werden. Bei der Vorratsdatenspeicherung geht es um die Aufbewahrung der Metadaten, also um die Faktoren wer, wo, wann, wie lange usw. Dieser Punkt der Gesetzesrevision ist bemerkenswert, weil der Europäische Gerichtshof 2014 die präventive Vorratsdatenspeicherung als rechtswidrig erklärte. Eine weitere bedenkliche Erweiterung betrifft Personen, auf die ein WLAN-Netzwerk zugelassen ist. In Zukunft könnten sie zur Bespitzelung von anderen Nutzenden dieses WLANs unter Strafandrohung
IMSI und Trojaner Auch die Echtzeitüberwachung ist im BÜPF geregelt. Wird ein Mensch live überwacht, werden z.B. Mobiltelefon, Briefe und E-Mails abgehört und mitgelesen. Neu gäbe es für die Polizei zudem das Instrument des sogenannten IMSICatchers. Dieser funktioniert wie eine Handy-Antenne bzw. simuliert eine solche in einem bestimmten Gebiet (Reichweite 300 Meter). Der Catcher nimmt Meta-Daten auf, kann aber auch zur Abhörung benutzt werden. Der User merkt davon nichts. So könnte die Polizei zum Beispiel alle Personen registrieren, die an einer Demonstration teilgenommen haben – inklusive aller Stadtbesuchenden, die sich in Reichweite aufhielten. Der Staatstrojaner ist derweil eine der brachialsten Methoden der Überwachung. Mit diesem staatlichen Virus können verschlüsselte Mails vor dem Versand abgefangen und die gesamte Festplatte mitgelesen werden. Der Computer kann auch manipuliert werden, indem Beweismaterial entfernt oder hinzugefügt wird. Auch eine Fernsteuerung der Webcam ist kein Problem. Der Nachrichtendienst will auch rechtlich keine Grenzen mehr Neben dem BÜPF geht es im Parlament auch um das verwandte neue NDG – das Nachrichtendienstgesetz. Ziel ist es, die Kompetenzen des Schweizer Geheimdienstes NDB massiv auszubauen. Unter anderem geht es um die Nutzung von «Tarnidentitäten» durch Spion_innen; heute nichts anderes als Ausweisfälschung. Weiter sollen Private verpflichtet werden, dem NDB Auskunft zu geben und Zugang zu privat erstellten Videoaufnahmen zu ermöglichen. Bisher durfte der NDB Private nur anfragen. Heikel und vor allem dehnbar ist der Artikel 25: Hier geht es um den vollumfänglichen Zugang zum Dienst ÜPF, den Einsatz des IMSI-Catchers, das Verwanzen von Wohnungen, Fahrzeugen und Räumlichkeiten. Das alles würde erlaubt; zudem bekäme der NDB die Möglichkeit, «in einem Computersystem den Zugang zu Informationen zu stören, zu verhindern oder zu verlangsamen». Die genannten Massnahmen sind genehmigungspflichtig, d.h., dass der VBS-Vorstehende und das Bundesverwaltungsgericht zustimmen müssen. Springt man zu Artikel 30, trifft man aber auf die Hintertüre der sogenannten Genehmigungspflicht: bei Dringlichkeit kann der_die NDBLeiter_in «den sofortigen Einsatz von genehmigungspflichtigen Beschaffungsmassnahmen» anordnen. Einer der wichtigsten Punkte des neuen NDG ist die Kabelaufklärung: Hier erhielte der
NDB Zugang zu sämtlicher Kommunikation, die über das Schweizer Glasfasernetz ins Ausland fliesst. Praktischerweise für den NDB haben die meisten Anbieterinnen von elektronischer Kommunikation (z.B. GMX, Skype, Google usw.) ihre Server im Ausland, womit auch jede innerhalb der Schweiz verschickte Nachricht potenziell mitgelesen werden darf. Denn eine E-Mail muss zuerst den Hauptserver passieren, ehe sie beim/bei der Empfänger_in ankommt. Tun, was er nicht lassen kann Wenn wir über Geheimdienste und ihre Handlanger sprechen, ist Misstrauen das Wichtigste. Denn gerade auch in der Schweiz gibt es neben legaler Überwachung und Bespitzelung eine lange Tradition von unkontrolliertem und illegalem Datensammeln. Geheimdienste halten sich
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Die Revolution beginnt (auf und) im Kopf der Philosophen praktisch nie an die ihnen gesetzlich gesetzten Grenzen, sondern setzen sich eigenmächtig darüber hinweg. Der Fichenskandal Ende der 80er-Jahre ist in der Schweiz das bekannteste Beispiel. Hier flog das Anlegen von fast einer Million Fichen über Linke, Nicht-Schweizerinnen, Umwelt- und Sozialaktivisten, Journalistinnen, Politiker usw. durch die Geheimdienste auf. 2008 kam im «Fichenskandal 2.0»heraus, dass kurdischstämmige Politiker_innen in Basel und Journalist_innen der WOZ eigene Fichen besassen. Sie waren nur die Spitze des Eisbergs: Inoffizielle Quellen sprachen von einhundert- bis zweihunderttausend neu angelegten Geheimdienstfichen. Der anfangs erwähnte NSA-Skandal zeigte, dass unsere gesamte elektronische Kommunikation aufgezeichnet wird und Privatsphäre im Netz nicht mehr als ein schöner Traum ist. Erhalten der NDB und die Strafverfolgungsbehörden nun noch mehr Kompetenzen, wird die Überwachung, Ausspähung und Fichierung von Menschen durch den Staat ganz legal massiv erweitert. Zusätzlich wird sich der Geheimdienst weiterhin mit unseren Daten eindecken, die er eigentlich gar nicht sammeln dürfte. Widerstand 2015 droht zum Spitzeljahr zu werden, wenn BÜPF und NDG durchkommen: Auch die SP will mit den Bürgerlichen für das neue Gesetz stimmen. Nur die Grünen lehnen die Gesetze ab. Ausserhalb des Parlaments formiert sich aber eine Allianz von Menschenrechtsorganisationen, Privatsphäreschützer_innen, Jungparteien und anderen Gruppen dagegen. Referenden sind geplant; wie gross die Chancen auf einen Sieg an der Urne sind, ist allerdings fragwürdig. Kommen die Gesetze durch und sagt auch die Mehrheit der Stimmbevölkerung später Ja dazu, zieht sich das Überwachungsnetz noch enger zusammen. Wehren wir uns gegen den immer stärker werdenden Überwachungswahn? Oder lassen wir ihn zu? Dieses Jahr wird einige Antworten bringen.
Text: Tom (frühpensionierter Reitschüler)
«Beim Barte der Philosophen», murmelte der Mitarbeiter von Entsorgung & Recycling (ERB), als er an einem sonnigen Donnerstag die blauen Müllsäcke vor dem Stadtberner Kleinkunsttheater «La Cappella» an der Allmendstrasse (Entsorgungs- und Recycling-Stadtkreis A5) begutachtete. Haare, überall Haare. Ganze Büschel. Und: Blutverkrustete Hautfetzen. «Da hat wohl einer das mit der ‹Entfernung des Überflüssigen› ziemlich wortwörtlich genommen», rief der Mitarbeiter seinem Arbeitskollegen zu. Stunden später bestätigte der Kriminaltechnische Dienst der Kantonspolizei Bern, was schon alle wussten: Sehr wahrscheinlich eine professionelle Skalpierung mit einem scharfen Gegenstand. Die Pinke Farbe der sichergestellten Haarsträhnen sowie der Fundort, das bekannte Kleinkunsttheater mitten im Breitenrain, liess darauf schliessen, dass es sich um die Überreste der besenförmigen Haarpracht (Irokese, in Szenekreisen auch Iro oder Mohawk genannt) des in der Schweiz und Indien wohnhaften und wegen seines Koran-Bashings berühmt-berüchtigten Berner Satirikers und Kolumnisten A.T. handeln musste. Doch wo war der Hauptskalp? Was war das Tatmotiv? Und vor allem: Wo war A.T.? +++«IS-Terror im Breitsch?»+++«Was weiss IZRS-Präsident Nicolas Blancho?»+++«Wurde der Skalp von A.T. nach Mekka gebracht?»+++«Schawinski: Ich war’s nicht!» schlagzeilenwetteiferten kurz darauf die Online-Redaktionen und die Kommentarspalten füllten sich mit immer abenteuerlicheren Thesen zum «Koran-Skalp-Fall».
Leserkommentar des Monats
Die SVP der Stadt Bern beschuldigte unterdessen die Reitschule: Deren Schwarzer Block habe A.T. entführt und würde ihn im Reitschule-Keller gefangen halten. Der Einwand eines Journalisten, es gebe weder Indizien dafür und schon gar keinen Keller in der Reitschule, konterte die SVPSektion Bümpliz mit der Besetzung des Hauses der Religionen auf dem Europaplatz (quasi zwei Fliegen mit einer Klappe) und verlangte vom rotgrünen Gemeinderat GratisWeltwoche-Abos für die Stadtberner Bevölkerung, öffentliche Koranverbrennungen und die Steinigung des IZRS. Während sich draussen auf dem Europaplatz die Journalist_innen um die besten Plätze stritten und sich drinnen die SVPler immer mehr verbarrikadierten, spielte sich von der Öffentlichkeit unbemerkt tief im Innern des Hauses der Religionen ein kosmisches Ereignis ab: A.T., bekanntermassen je nach Lust und Laune Christ, Zarathustrianer, Hindu und/oder Buddhist, wurde für sein jahrelanges Engagement von höheren Mächten – in Gestalt der für den Aufbau und die Verzierung des Hindutempels extra eingeflogenen indischen Tempelbauer – als Gottheit geweiht und bei lebendigem Leibe als Figur in die kunstvoll gefertigte Verzierung des Hindutempels hineingefügt. Mit einer letzten Träne – die ebenfalls Teil der Skulptur wurde – dankte A.T. dem Universum und verabschiedete sich in seine neue Daseinsform. Nach getaner Arbeit verliessen die indischen Tempelbauer das Haus der Religionen durch einen Hinterausgang, bauten zum Abschluss einen Schneemann – der Skalp von A.T. diente dabei als Besen – und stiegen in die S3. So geht das.
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Computertechnologie, Internet & Datenschutz
Crypto-Wars reloaded?
Seit dem Anschlag auf Charlie Hebdo anfangs Januar wird in vielen Staaten über Gesetzesverschärfungen diskutiert. Zumeist sollen dabei die Geheimdienste ausgebaut und die Hürden für Überwachungsmassnahmen gesenkt werden. Der britische Premier James Cameron äusserte in diesem Zusammenhang als erster eine Forderung, die anfangs viele für einen (schlechten) Witz hielten. Dabei ist die Forderung weder neu noch lustig: Verschlüsselung soll verboten werden, sofern sie vom Staat nicht geknackt werden kann.
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Text: peb & rif
in Blick in die Vergangenheit zeigt, dass die Geschichte moderner Kryptographie relativ jung ist. Der Zweite Weltkrieg, welcher teilweise auch als Krypto-Krieg in die Geschichtsbücher eingegangen ist, zeigte als Erstes in aller Deutlichkeit die Bedeutung moderner, verschlüsselter Kommunikation auf. Während des Kalten Krieges war – gerade im Westen – die Angst gross, dass Verschlüsselungsverfahren in die Hände des «Feindes» fallen könnten. Deshalb wurden in einigen Ländern – insbesondere den USA – kryptographische Verfahren als Waffen kategorisiert und unterlagen starken Exportbeschränkungen. Dabei beschränkte sich Kryptografie jedoch längst nicht mehr nur auf das Militär, sondern hielt zunehmend Einzug in die zivile Nutzung (zum Beispiel im Bankensektor). Diese strenge Exportpraxis wurde somit spätestens in den 1990erJahren zum Problem, als die ersten Heimcomputer hergestellt wurden und das Internet zu wachsen begann. Damit stieg auch das Bedürfnis nach funktionierender Verschlüsselung für den zivilen Gebrauch stark an. Zudem wurden auch ausserhalb der USA gute Verschlüsselungsverfahren entwickelt und verbreitet. Um auf dem wachsenden Markt mitzuhalten, lockerte die USA schliesslich im Jahr 2000 die Reglementierung drastisch. Spätestens dann hatte jede_r mehr oder weniger legalen Zugang zu Verschlüsselungssoftware, die zunehmend nicht nur von profitorientierten Unternehmen, sondern auch von Open-Source- Entwickler_innen hergestellt wurde. Hooray, we‘ve won the crypto-war! Damit schien der «Crypto-War», wie er schon damals genannt wurde, gewonnen. Alle konnten und durften verschlüsseln. Jedoch zeigten die Veröffentlichungen von Edward Snowden vor zwei Jahren, dass es wohl doch nicht so einfach ist: Ein Programm der NSA – genannt «Bullrun» – war eigens dafür geschaffen worden, um Verschlüsselungsverfahren heimlich so zu schwächen, damit sie für die Dienste einfacher zu knacken sind. Zudem wurde bekannt, dass einige Unternehmen gesetzlich dazu verpflichtet wurden, Hintertüren in ihrer Verschlüsselung einzubauen. Immerhin, so schien es, blieben noch die Open-Source-Lösungen: Eine Hintertür in offenen Code hineinzubasteln ist nicht so einfach. Tatsächlich gibt es Verschlüsselungssoftware, die von den Diensten bis heute anscheinend nicht zu knacken ist (PGP, OTR...). Einige Staaten schienen gar die Notwendigkeit guter Krypto für den Privatgebrauch begriffen zu haben. So beabsichtigte etwa Deutschland noch Ende letzten Jahres zum «Verschlüsselungsstandort Nr. 1» zu werden. Die Kehrtwende Dies änderte sich jedoch schlagartig nach den Anschlägen in Paris. Plötzlich wollen alle wieder zurück zu Vorratsdatenspeicherung (völlig ungeachtet der Tatsache, dass Frankreich diese seit 2006 exzessiv betreibt), mehr Überwachung (den Fakt ignorierend, dass die Attentäter von Paris durchaus überwacht wurden), und eben auch zur angestaubten Vorstellung, Verschlüsselung sei eine Waffe. Gerade auch in diesem Fall lässt sich beobachten, dass zum
einen hauptsächlich technisch völlig unsinnige Forderungen gestellt werden (bisher konnte keine Studie etwa einen realen Nutzen der Vorratsdatenspeicherung nachweisen – im Gegenteil). Zum anderen werden mehr Mittel und Kompetenzen für die Geheimdienste gefordert, anstatt sich mit deren offensichtlicher Unfähigkeit auseinanderzusetzen und Behörden, die offensichtlich nicht in der Lage sind, ihre Aufgabe sinnvoll umzusetzen, einfach zu schliessen. David Cameron machte den Anfang, indem er eine Gesetzesinitiative ankündigte, welche nicht nur die Vorratsdatenspeicherung beinhaltet, sondern eben auch festschreiben soll, dass per Beschluss auf jegliche Kommunikation zugegriffen werden muss. Dies ist faktisch ein Verbot funktionierender Verschlüsselungslösungen, bei denen der Zugriff von aussen eben technisch unmöglich ist, wenn man das Passwort nicht kennt. Kurze Zeit später sprang auch US-Präsident Obama auf den Zug auf, und meinte, Terrorist_innen dürfen keine Möglichkeit haben, vor Überwachung geschützt miteinander zu kommunizieren. Mittlerweile diskutiert sogar die EU eine Regelung zur «Schlüsselhinterlegung». Das würde bei einer allfälligen Umsetzung bedeuten, dass wir unsere privaten Schlüssel als Kopie direkt an die Dienste zu schicken hätten, die dann per Beschluss auf unsere verschlüsselten Daten zugreifen dürften. Bei Institutionen notabene, von denen bekannt ist, dass sie Bürger_innen im grossen Stil überwachen und unter Generalverdacht stellen (z.B. Fichenaffären in der Schweiz), Menschen teilweise aktiv gefährden (absichtliche Schwächung von Verschlüsselungssoftware, automatisierte No-Fly-Listen) und sich systematisch nicht an geltende gesetzliche Regelungen halten. Nicht mehr zum Lachen Spätestens jetzt wird uns – die wir bei den Aussagen Camerons noch ungläubig den Kopf schüttelten und uns über die Absurdität dieser Forderungen amüsierten – langsam klar, dass es sich dabei leider nicht um einen schlechten Scherz handelt. Nein, das ist bitterer Ernst. Auch wenn sich hier in der Schweiz die Politik vorläufig noch zu derartigem Unsinn ausschweigt, heisst das noch lange nicht, dass wir von solchen Entwicklungen unberührt bleiben werden. Wenn wir unsere Privatsphäre behalten wollen, müssen wir dagegen vorgehen, denn es betrifft uns alle: Journalist_innen, Ärzt_innen, Anwält_innen, Aktivist_innen und prinzipiell alle, die den Staat nicht in ihren privaten oder geschäftlichen Daten herumfuhrwerken lassen wollen. Wir können nur hoffen, dass die Debatte um Privatsphäre und Überwachung langsam in die Köpfe einsinkt und die Menschen begreifen, was sie zu verbergen und zu verlieren haben. Nur dann haben wir eine Chance. Ein zentraler Schritt in diesem Zusammenhang muss die Abschaffung der Geheimdienste sein, deren blosse Existenz (geschweige denn deren Arbeit) eine Gefahr für jede freiheitliche und (basis) demokratische Gesellschaft darstellt.
Kinderbuchtipp
Maulwurfstadt
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Text: Ruth Baeriswyl
icht zum ersten Mal überrascht uns Torben Kuhlmann mit einem künstlerisch wie inhaltlich genialen Bilderbuch. Bereits letztes Jahr erschien «Lindbergh», die Geschichte über das Fliegen, ebenfalls bei NordSüd. Und jetzt «Maulwurfstadt». Kuhlmann erzählt uns die Geschichte eines Maulwurfs, der sich, selbstverständlich unterirdisch, ein wunderbar gemütliches Zuhause einrichtet. Sein Leben ist bescheiden, aber völlig in Ordnung. Doch schon bald siedeln sich andere Maulwürfe unter der grünen Wiese an. Sie vermehren sich und bauen immer komplexere Höhlen und Gänge, sodass mit der Zeit eine gigantische Maulwurfstadt entsteht. Das einst ruhige und schlichte Leben weicht zunehmend Hektik und Konsum. Die Industrialisierung setzt sich durch und die grüne Wiese ist zur braunen Einöde geworden. Es ist die Siedlungsgeschichte der «Menschheit», die uns da auf maulwurfisch gezeichnet und erzählt wird. Sie lädt zum Schauen, Schmunzeln, Staunen und Nachdenken ein. Die unverwechselbare Art der Illustration, der fotorealistische Stil kombiniert mit schnellen Skizzen und einfachen Farbflächen sowie die eher düstere Farbpalette sind Kuhlmanns Markenzeichen. Dieser junge Zeichner ist eine grosse Entdeckung im Bereich der Illustration – wir werden hoffentlich noch einiges von ihm zu sehen bekommen. Torben Kuhlmann | Maulwurfstadt |
Nord-Süd-Verlag | CHF 22.90 im Chinderbuechlade Bern
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Facies hippocratica
Moralische Zerrissenheit
Duzis S
Text: Eva
ie trug kein Käppi, kein Batik-Kopftuch und schon gar keine 08/15-Morgenthaler-Perücke. Sie trug, passend zu unserer Bettwäsche, eine hellblaue turbanähnliche Kopfbedeckung aus feinem Frottee. Ihren Stolz trug sie bis zum Schluss auch in der Horizontalen. Durch ein Missverständnis wurden wir duzis. Ich bot ihr meinen Vornamen an, da sie sich all die Nachnamen nicht mehr merken konnte. Ein einfaches «Hallo», wie heute oft üblich, wäre für sie, die gebildete Frau von Welt, nie in Frage gekommen. Als ich ihr also meinen Namen nannte, streckte sie mir erfreut ihre Hand entgegen. «Herta, fröit mi». Herta, oh wie schön, wie die von mir so verehrte Herta Müller. Ob sie je etwas von ihr gelesen hatte? Am nächsten Morgen, mir war es etwas peinlich, begrüsste ich sie mit ihrem Nachnamen. Ich wusste nicht, was der in ihrem Hirn sitzende Tumor ihr für Streiche spielte. Erneut streckte sie mir die Hand entgegen, diesmal zum Gruss. «Tschou Eva, Herta, mir si doch duzis» «Tschou Herta». Jetzt war es klar, wir waren per Du. Herta machte uns wie vor ihr keine während ihres letzten Lebensabschnitts zu ihrem sozialen Umfeld. Sie erzählte gern und viel von ihren unzähligen Reisen und den Begegnungen mit spannenden Menschen. Sie blickte gern und mit Stolz zurück. Täglich wurde sie schwächer und war kom-
Comix: Nicolophonius Fuhrimann
plett auf unsere Hilfe angewiesen. Der zarte, zerbrechliche Körper schien immer kleiner im grösser werdenden Bett. Die Abendsonne hatte sie schon seit Tagen nicht mehr gesehen, ich schaute für sie. Unser tägliches Ritual, sie mit Guerlain «La petite Robe» zu parfümieren, blieb mir für lange Zeit unvergesslich. Der Duft haftete an meinen Händen und begleitete mich durch die Tage. Worte kamen nur noch selten, Angst schlich sich ein und sie wünschte, die Türe Tag und Nacht offen stehen zu lassen. Besuch aus dem alten, lebenden Leben wollte sie nicht mehr, sie war jetzt am Sterben, das wollte sie mit uns tun und dies sehr dezidiert. Die dunkelgrauen Augenbrauen, welche sie sich nach dem ersten Chemozyklus tätowieren liess, nahmen unverschämt viel Platz ein im mageren, von der Krankheit gezeichneten Gesicht. Eine von uns war immer zur Stelle, um den verrutschten Turban zurechtzurücken. Am Tage ihres Todes erzählte mir die Nachtpflege, manchmal habe sie in der Nacht nach mir gerufen. Ein kaum hörbares « Eeeeeva» habe leise durch den Korridor geklungen. Ich war gerührt und etwas traurig. Rosa und weisse Rosensträusse in ihrem Zimmer dienten mir dazu, das Totenbett üppig mit den Blüten zu schmücken. Ein letztes Mal rückte ich ihre Kopfbedeckung zurecht und besprühte sie mit Guerlain. «Gute Reise Herta.»
Schnappschuss
Europaplatz Bern, in Gedenken an die unzähligen Menschen, die anden Grenzen Europas wegen der repressiven Aussenpolitik sterben mussten. (Foto: sabine hunziker)
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Kurzschluss I
Über SwissLeaks und andere Lappalien
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Text: ffg
s leakt! Es leakt! Es leakt schon wieder! Nach Wikileaks, Offshoreleaks, Luxemburg-Leaks, Afghan War Diary und NSA-Skandal gibt’s seit Mitte Februar neu «SwissLeaks». Aufgedeckt von Le Monde, Guardian, Süddeutsche und Co.; basierend auf den Daten des Ex-HSBC-Mitarbeiters Hervé Falciani. SwissLeaks - Die Schweiz leckt. Aber, aber, doch nicht «lecken» im Sinn von Speichel oder so ähnlich. Würde die Schweiz ja nie tun. Nein; «leckt» im Sinne von: Das Boot ist voll, und jetzt gibt’s ein Rissli ins Böötli. Wie das vor Lampedusas Küste Standard ist. Oder wie im Zweiten Weltkrieg, als die Schweiz das Boot war, das leckte. Deswegen musste man die Risse schnell zukitten, auf das nix mehr rein und raus komme. Ausser Nazigold, oder so. Ist ja heute noch so, wenn ich‘s mir so überleg, Boot ist ja längst wieder voll. Boot ist voll. Seh ich auch so. Voll mit Dummheit und Verlogenheit, Dummheit und Bequemlichkeit auf und unter Deck. Verlogenheit und Heuchelei beim Steuer, auf den Masten, dem Ausguck. Wenn wieder mal ein Sturm aufzieht, dann breitet sich Panik aus bei der Mannschaft. Kommen wir durch? Wie viele Verluste müssen wir in Kauf nehmen? Wer ist eigentlich schuld daran, wenn wir kentern? Und wer am schlechten Wetter? Immerhin: Die Mannschaft, vom Schiffsjungen bis zum Maat, kann ihre Steuermänner (und -frauen) wählen. Können also bestimmen, wer sie herumkom-
mandiert. Leutnant und Kapitän können sie nicht wählen. Übernehmen andere, direkt von Gott eingesetzt oder so ähnlich. «Werden‘s schon wissen, wohin wir segeln», hört man die Matros_innen untereinander reden. Und warum sie überhaupt segeln, das wissen sie wohl auch ganz alleine. Das sichere Land wäre nahe, mal mehr, mal weniger weit entfernt. Aber immer in Reichweite. Man könnte anlegen, ausladen, ankommen, sein. Statt unaufhörlich weiterzufahren in stürmischer See. Beherrscht von einem herrischen und willkürlichen, jähzornigen und doch eiskalten Kapitän. Und einem im Verborgenen wirkenden Leutnant, der immer lächelt – bis du einmal nicht hinschaust und sein Messer in den Rippen hast. Wenn man so auf See ist, kommt man irgendwann zwangsläufig bei den Griechen vorbei. Was ist eigentlich mit denen los? Mucken neuerdings auf, ja! Sie sagen: «Nix da mit blindem Gehorsam gegenüber Troika!» Und nicht nur das, sie gehen einen Schritt weiter, oder besser gesagt: zurück. «Deutschland, als du noch Reich warst, da nahmst du uns Milliarden weg! Gib sie uns zurück – dann reden wir noch mal auf Augenhöhe!» Viel Glück wünsch ich Alexis Sorbas mit seinen Utopien. Und allen einfachen Matros_innen mehr politische Bildung! Auf das sie das Boot zum Lecken bringen. Und die Richtigen über Bord werfen!
Syn|aes|these Text: sak:
All the words that I let her know Still could not say How much I need you so In every way
I hope you will guide me As only you can do Hold my hands down beside me I‘m counting on you
I‘m counting on you dear From the dawn of each day To always come through dear In your kind lovin‘ way
If you knew just how deeply I feel things you do Then you know how completely I‘m counting on you
I‘m counting on you dear Around the dawn of each day To always come true, dear In your kind lovin‘ way
If you knew just how deeply I feel things you do Then you know how completely I‘m counting on you
– Elvis Presley –
Kurzschluss II
‹Was ist ein Jude mit Gasmaske? Spielverderber.› Fuck, ein Holocaust-Witz! «Das hohe Gericht befindet Sie für SCHULDIG des Tatbestands moralischer Verworfenheit! Erheben Sie sich und schwören Sie dem niederträchtigen Humor ab!» «Ich sage mich los. Holocaust-Witze sind nicht lustig.» Nicht lustig also. Verdammt, dabei mach’ ich die so gerne. Nun gut, das hohe Gericht hat entschieden. Ich leide an kanzerösem Humor. «Wir haben eine Biopsie durchgeführt, der Humor in ihrem Kopf ist bösartig. Nächste Woche beginnen wir die Chemotherapie. Aber keine Angst. Schlechter Humor ist heutzutage heilbar. Das heisst, nicht heilbar – aber die Wahrscheinlichkeit, vorher an etwas anderem zu sterben, ist enorm!» Diagnose moralischer Zerfall. Das muss man erst mal verdauen. Dabei wollte ich noch so viele Witze machen! Nicht nur über den Holocaust. Sogar die Nazis werden irgendwann langweilig. Aber über Türken, Frauen, Behinderte, Schwarze, kinderliebende Katholiken, Aidskranke – Mohammed ist noch nicht mal auf der Liste! Aber über den dürfte man dann herziehen. Auch wenn manche gar nicht lachen können darüber.
Lorenzo und Rosa heiraten. Über ihre Liebe wissen sie nur, es ist Liebe. Über ihre zukünftigen Kinder wissen sie nur, es werden Kinder sein. Wenn es heiter und unschuldig ist, hat das Leben kein Mitleid. Zwei Menschen heiraten. Und an diesem, ihrem Tag scheint alles vorherige Gute und Böse sich für sie aufzulösen wie die Erinnerung an den Sturm in der Ruhe danach. Jedes Recht ist grausam. Sie üben ihr Recht aus zu sein, was ihre Väter und Mütter waren. Sie bestätigen nur – lieb und teuer wie sie dem Leben sind – dessen Heiterkeit und Unschuld. So steht das Wissen um Gut und Böse, und die Geschichte, die weniger heiter und unschuldig ist, immer vor der erbarmungslosen Vergesslichkeit derer, die sich ihr souverän unterwerfen. Lorenzo und Rosa heiraten. Und wer wissend ist, schweigt vor ihrer Grazie, die nicht wissen will. Aber das Schweigen ist sträflich. Der Wunsch für Lorenzo und Rosa soll sein: Möge zu eurer Liebe hinzukommen das Bewusstsein eurer Liebe. – Pier Paolo Pasolini –
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Diagnose Humor Text: bass
Nr. 393 | März 2015
Medienfreiheit nennt sich das! Satirefreiheit! Man muss auch über Religionen lachen dürfen, sonst sind unsere Werte in Gefahr! Aber worin zur Hölle unterscheidet sich Mohammed vom diskriminierten Protagonisten eines Behindertenwitzes? Ist er böse genug, um es zu verdienen? Ist das behinderte Kind zu weit unten in der Nahrungskette, als dass man darüber lachen dürfte? Sind Ausländer zu sehr Randgruppe, als dass man auf ihnen rumtrampeln dürfte? Oder ist es die gesellschaftliche Opferrolle, die den moralischen Welpengeruch verleiht? «Euer Ehren, ich verstehe das Urteil nicht! Ich verlange eine Liste der Dinge, über die ich nicht lachen darf!» «Nicht nötig Herr Angeklagter. Wir werden Ihnen in einem simplen Verfahren die entsprechenden Neuronen kappen. Dann befindet sich ihr Humor im Nu wieder innerhalb des umzäunten Bereiches.» «Ach so! Sehr zuvorkommend, Herr Blockwart! Danke, Herr Blockwart!»
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Nr. 393 | März 2015
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Interview mit RaAupe
«Wir sind nicht dogmatisch» A
entstehen kann. Es geht darum eine Kultur zu entwickeln, die es uns erlaubt offen über die eigenen Bedürfnisse, Ängsten, Unsicherheiten und Erwartungen an andere zu sprechen. Das ist aber nur möglich wenn es keine Hierarchien gibt. Man muss sich auch von der Schwachen Seite zeigen können und den anderen wohlwollend gegenüber stehen.
Interview: res | Illustration: mal
nstatt träge auf die Revolution zu warten und dabei höchstens zynisch zu werden haben sich in Bern eine Handvoll Leute zusammengetan, um den Alltag im Hier und Jetzt zu revolutionieren. Entstanden ist dabei das Kollektiv RaAupe. Zwischennutzend am Warmbächliweg 8, bei der ehemaligen Müllverbrennungsanlage, stellen sich diese ambitionierten Leute vor allem zwei Fragen: Was braucht es um angenehm überleben zu können? Und welche Zeitvertreibe tragen dazu bei, mit der Dynamik des Kapitalismus zu brechen? Anknüpfend an verschiedene linke Bewegungen und Theorien ist es ihr Ziel, Zeit bewusster zu verausgaben und kollektiv zu gestalten um so einen Beitrag zu einer nicht-kapitalistischen, solidarischen Gesellschaft zu leisten.
Aber wollt ihr gar keine Kontrolle? Beispielsweise wer wie viel Geld pro Monat ausgibt? Das ist eine praktische Frage wie man das dann konkret umsetzt. Wir sind uns da noch nicht einig. Das muss man zuerst klären und dann austesten. Aber natürlich können wir auch «Kindersicherungen» einbauen. Beispielsweise indem man nur 200,- pro Tag abheben kann oder so. Damm muss man halt alles diskutieren. Es ist halt so: Bonzen müssen nie über Geld reden, Menschen mit wenig Geld umso mehr.
Ihr habt viel nachgedacht und so etwas wie einen Leitfaden für einen revolutionären Alltag entwickelt. Warum gründet ihr keine Partei? Das Programm habt ihr ja schon... Ich glaub das ist von niemandem von uns das Ziel. Wir wollen grundsätzlich keine Macht delegieren. Der Staat ist für uns zu einem grossen Teil eine repressive Instanz, der dafür sorgt, dass der Kapitalismus reibungslos läuft. Ich glaube nicht, dass wir ihn für unsere Ziele nutzbar machen können. Ich denke auch, dass das Beispiel des realexistierenden Sozialismus gezeigt hat, dass das nicht der richtige Weg ist. In eurem Zeitmodell habt ihr einen Tag für «antikapitalistische Produk tion» vorgesehen. Als Beispiele nennt ihr das Gärtnern oder selber Brot backen. Aber das kratzt doch den Kapitalismus nicht, wenn ihr nicht mehr ins Migros Brot kaufen geht. Selber Gemüse anbauen oder Brot backen sind zunächst mal einen Anfang, eine Zwischenstufe auf dem Weg zu etwas grösserem. Klar stört das den Kapitalismus materiell nicht gross, aber wenn Menschen lernen selber Güter herzustellen gewinnen sie dadurch auch Autonomie und haben so grössere Möglichkeiten sich in Arbeitskämpfen zu exponieren. Darüber hinaus verweist die antikapitalistische Produktion auch auf die Tatsache, dass der Kapitalismus immer auf einem Tausch basiert. Naja, aber die allermeisten Güter kann man doch unmöglich selber herstellen. Handys, Öl, Strom… Unser Ziel ist nicht die Selbstversorgung, wir wollen uns nicht abkapseln. Es geht uns zunächst einmal darum sich überhaupt ein Wissen anzueignen. Wie organisieren wir eine Produktion? Was sind unsere Bedürfnisse? Welche Produktionsmittel können wir uns anschaffen? Wenn wir beispielsweise selber Brot backen ist es für manche Leute schon ein Gewinn mal mit den eigenen Händen etwas herzustellen. Ihr kritisiert, dass Care-Arbeit im Kapitalismus vor allem von Frauen
Gibt es nicht eine kritische Grösse, ab der das Vertrauen schlichtweg nicht mehr möglich ist?
geleistet wird, welche diese unbezahlte oder schlecht bezahlte Arbeit leisten. Was wollt ihr dagegen tun? Care-Arbeit ist in jeder Gesellschaft notwendig und sollte dementsprechend auch von allen geleistet werden. Ein weiterer Aspekt von Care-Arbeit ist ja auch, dass sie häufig nicht gesehen wird. Indem wir gemeinsam Care-Arbeit organisieren und leisten werten wir sie auf und machen sie sichtbar. Gerade Alleinerziehende könnten von unserem Konzept enorm profitieren indem wir beispielsweise die Kinderbetreuung kollektiv organisieren. Dann seid ihr also gegen eine professi onelle Kinderbetreuung? Keine Kitas? Wir sind nicht gegen Kitas und wir sind nicht dogmatisch. Aber es gibt gute Gründe die Kinderbetreuung kollektiv zu organisieren. Im Kollektiv wird mehr Wert auf eine emanzipative Wertehaltung gelegt oder antiautoritär erzogen. Die gemeinsame Betreuung ist ja für viele eine grosse Bereicherung. Das ganze hat ja auch einen finanziellen Aspekt: Wenn du 600.– für zwei Tage Kita bezahlst kannst du dieses Geld dann sinnvoller ausgeben. Zur Professionalisierung: Um Vater oder Mutter zu sein braucht man ja auch keine Ausbildung. Ihr orientiert euch an der bürgerlichen Kleinfamilie? Eben gerade nicht. denn in diesem Modell ist es ja hauptsächlich die Frau, die diese Arbeit leistet. Bei ins sind es verschiedene Menschen die sich einfach gegenseitig unterstützen. Ein weiteres Ziel von RaAupe ist es eine gemeinsame Ökonomie aufzu bauen. Was heisst das konkret? Alles Geld wird geteilt, das heisst es gibt nur noch ein Konto auf welches alle zugreifen
können. Solange das Geld reicht respektieren wir die Bedürfnisse aller. Grössere Ausgaben werden gemeinsam diskutiert. Und was erhofft ihr euch dabei?
Die einzelnen Mitglieder sind nicht mehr so stark von der eigenen Lohnarbeit abhängig. Arbeitslosigkeit wird beispielsweise kollektiv aufgefangen und Arbeitskämpfe können so im Betrieb offener angegangen werden. Es ist eine Art Solidarität praktisch zu leben und dieses Geben-Nehmen-Muster zu überwinden. Der Homo Oeconomicus ist für viele fast zur zweiten Natur geworden. Es ist aber kein Gen-Code und wir wollen dieses Modell herausfordern. Ein weiterer Aspekt von Gemeinsamer Ökonomie ist auch, dass Hierarchien untereinander abgebaut werden. Ein Studi mit reichen Eltern hat beispielsweise viel mehr Zeit sich politisch zu engagieren als andere. In unserem Modell stellen wir die Einkommensfrage und reflektieren gerade auch solche Machtgefälle. Ist denn die gemeinsame Ökonomie bei euch Praxis? Im jetzigen Zeitpunkt ist es nicht vollendet so wie wir’s haben möchten. Also das alle Einkommen und Vermögen kollektiviert sind und gemeinsam verwaltet werden. Es braucht viel Abklärungen und Kennenlernen um ein Vertrauen zu schaffen. Wie wollt ihr dieses Vertrauen schaf fen? Bestehende Modelle funktionieren bis jetzt ja vor allem als Wohnprojekte. Ihr wollt aber explizit keine Kommune sein. Wir versuchen herauszufinden was ausschlaggebend ist damit du jemandem vertraust. Die Hoffnung wäre natürlich, dass die gemeinsame politische Perspektive einen Raum schafft, wo dieses Vertrauen
Die Richtlinien kannst du auch mit 100 Leuten besprechen. Natürlich ist Missbrauch immer möglich. Bis jetzt mussten wir uns aber noch nicht damit beschäftigen. Die Leute die zu uns kommen wollen ja daran teilnehmen, da ist ein Grundvertrauen schon da. Ausserdem: Je mehr Leute dabei sind, desto weniger fallen einzelne Missbräuche ins Gewicht. Welche Rolle spielt für euch den Raum? Raum spielt schon eine Rolle, der Ort hier ist für uns ideal. Er ist zentrumsnah aber auch ein Rückzugsort. Das Problem bei den Kommunen ist häufig so, dass wenn du dort wegziehst du quasi automatisch auch mit dem Projekt brichst. Wir wollen unsere Idee einer Revolution als Alltag nicht abhängig davon machen ob man das Zahnbürstli am gleichen Ort lagert. Fast hätte ich’s vergessen, was heisst eigentlich RaAupe? Es ist ein Wortspiel. Der erste Teil steht für Revolution als Alltag. Als wir über Zeitverhältnisse diskutiert haben kamen wir auch auf die 3-1-1-1 Idee, was aussieht wie eine Raupe. Aus einer Raupe entsteht ein Schmetterling und bekanntlich reicht ein Flügelschlag um einen Sturm auszulösen Der Rest ist aber noch nicht definiert, was ich noch schön finde. Mehr RaAupe: www.raaupe.ch
Die 3-1-1-1-1-Idee Um Zeit bewusster zu verausgaben und kollektiv zu organisieren, hat RaAupe fünf zentrale Lebensbereich in ein beispielhaftes Verähltnis gesetzt: 3 Arbeitstage Lohnarbeit (entspricht einem 60% Pensum) und jeweils einen Arbeitstag feministisch organisierte Care-Arbeit, antikapitalistische Produktion, politische Intervention und kritische Bildung.