megafon Nr. 395, Mai 2015

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1 Nr. 395 | zu Mai 2015 Protest im Partyoutfit – Eröffnung Mediamarkt S. 1 | Warum es sich lohnt, während Krawallen auf einem Balkon neben Nause

käfelen – Erlebnisbericht Mediamarkt S. 2 | Swiss I Pass – Computertechnologie, Internet und Datenschutz S.4 | Mach Dir ein Volk

– Geld oder Leben S. 4 | Francis – Caféperspektiven S. 5 | Schnappschuss S. 5 | Von tanzenden Tieren – Kinderbuchtipp S.5 | Traditi-

onelles Trauerspiel – Kurzschluss I | Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? – megafon-StattBlick S.6 | C’est la merde – Comix S.7 | Exitorial S. 7 | Willkommen zur Retraite – Kurzschluss II S.7 | «Wir setzen Nadelstiche!» – Interview zum Farbanschlag S.8

Die Zeitschrift aus der Reitschule | Bern

megafon | N°395 | Mai 2015 | 6.–

Eröffnung Mediamarkt

Protest im Partyoutfit Nach langem Sehnen und Hoffen eröffnete Ende März – endlich – ein Mediamarkt in der alten Berner Markthalle. Gut 500 Menschen liessen es sich nicht nehmen, den neuen Konsumtempel mit einem Fest gebührend willkommen zu heissen. Während sich die Mainstreammedien im Nachhinein vor allem mit ein paar kaputten Scheiben beschäftigten, freuen wir uns lieber ob der (frühlingsbedingt?) aufkeimenden Fest- und Protestlaune Berns.

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Text: Al | Illustration: Tamara Fischer

uf dem Bahnhofplatz rennt ein Clown herum. Mit Seifenblasenpistole springt er glücklich wie ein junges Reh auf LSD der Polizei hinterher, und als die Reihe Polizist_innen sich nach ihm umdreht, hüpft er drei Meter zurück und tanzt dort weiter. Unter dem Baldachin ist der Boden bedeckt von Konfetti, Luftschlangen, Ballonen und farbigen Flyern. Bunt angezogene Menschen mischen sich mit Demogänger_innen, Partyvolk mit Abendverkaufshopper_innen, Feierabendbiertrinkende mit Polizist_innen. Der Verkehr hat – sagen wir mal – etwas Mühe, vom Bahnhofshauptgebäude bis zum Loebegge, von der Schwanengasse bis zum Baldachin, überall stehen Leute und stehen rum, gucken, rauchen, trinken, tanzen.

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Ein Fest für den Mediamarkt! Was ist passiert, an diesem ganz normalen Donnerstagabend? Oder vielleicht doch nicht ganz so normal, denn: Auf diesen Abend wartete Bern schon seit fast einem Jahr. Die Tränen um den Verlust der Markthalle waren kaum versiegt, da kündigte ein anderer Markt an, die Berner_innen zu trösten: Ein Mediamarkt, mitten in der Stadt, direkt am Bahnhof! Die undankbaren Berner_innen wollten sich darüber aber nicht so recht freuen, die Wutbürger_innen der Hauptstadt der Anarchie tobten sich in den sozialen Medien aus: Dieser Markt wird boykottiert! Und dann kam eine Veranstaltung, die für einen Moment viel zu reden gab: Das Bündnis inexistenter Partykapitalist_innen (BIP) rief zum Fest. «Mediamarkt leerfeiern» hiess die Party, die dem Mediamarkt in der alten Berner Markthalle einen gebührenden

Empfang bescheren sollte. Zuerst für Mai 2014 angekündigt, mussten die Partykapitalist_innen aber noch eine Weile auf den neuen Markt warten. Dieser beschäftigte sich lieber mit juristischem Geplänkel um Zufahrtswege und Poller, als den Berner_innen endlich ihr Trostpflaster aufzuzwingen. Anfang dieses Jahres war es dann soweit. Der Mediamarkt kündigte die Eröffnung für den 26. März an, die Fete konnte endlich steigen. Auch das Löschen der Facebook-Veranstaltung mit bereits über 1‘600 Zusagen (höhere Macht?) konnte die Vorfreude nicht trüben, innert ein paar Tagen sagten schnell wieder 700 zu. Obwohl niemand genau wusste, worum es hier eigentlich geht. Was passieren würde, an diesem Donnerstagabend. Wer das alles überhaupt organisiert hatte. Aber Party, das klingt immer gut. Wir feiern ein Fest – damit kann man – Tanz dich frei lässt grüssen – Berns Jugend offenbar mobilisieren. Vergnügte Masse, schönes Chaos Am 26. März um 17.30 ist die Stimmung auf dem Bahnhofsplatz ausgelassen, etwa 500 Personen sind da, angenehme Spannung liegt in der Luft. Viele haben Elektroschrott mitgebracht, zwei tragen sogar einen Kühlschrank, und einer zieht ein altes Bügeleisen wie einen Hund an der Leine hinter sich her. Konfetti, Luftschlangen, Trillerpfeifen und Strassenkreide werden verteilt, ebenso ein Flyer, auf dem mit einem Flussdiagramm

vermittelt wird, was jetzt eigentlich genau der Plan ist. Die klare Antwort: Party! Nur schade, fehlt die Musik weitgehend, aber vorerst lässt sich die Stimmung davon nicht trüben. Punkt 18.00: Die Masse läuft los, begleitet von ein paar (noch) netten Polizist_ innen. Vor dem Mediamarkt angelangt, ist dann aber trotz Flyer nicht so ganz klar: Was jetzt? Der Mediamarkt, im Vorfeld noch Sympathie bekundend, verschliesst seine Türen fast sofort. Wo, lieber Mediamarkt, sind jetzt diese versprochenen 10-FrankenGutscheine für alle, die ihren Elektroschrott am Eröffnungstag abgeben? Dann steht die Masse eben vor den Toren. Konfetti und Glitzer fliegen immer noch herum, irgendwann Eier in Richtung Mediamarkt, und dann, ja, irgendwann Flaschen. Und Elektroschrott. Als die ersten Scheiben klirren, wird die Polizei nervös, und die Masse ebenfalls. Einige laufen davon, andere grölen, wieder andere tanzen und seifenbläterlen einfach weiter. Viele stehen auch nur da und schauen zu, wie ein paar wenige us Tümmi die Scheiben des Mediamarkts kaputt schlagen. Danach das Übliche: Gummischrot, ein paar Festgenommene, Bullenshow auf dem Bahnhofsplatz, die Hälfte der Leute immer noch in Festlaune, schönes Chaos, Tanz-dich-frei-Style.

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Die Party als politische Form Aber eigentlich spielt das keine Rolle. Scheiben kaputt schlagen ist doof, ja, aber auch nicht weiter schlimm. Dem Mediamarkt macht der Schaden genau gar nichts, und abgesehen von den paar Scheiben ist ja nichts kaputt gegangen. Nur schade, dass sich die Medien nun wieder auf den «Krawall» – ein Begriff, der in diesem Zusammenhang nun wirklich kaum angemessen ist – konzentrieren anstatt auf Inhaltliches. Viel wichtigeres Fazit aus dieser Aktion ist aber das augenscheinliche Potential der Berner Jugend. Ausschliesslich über Facebook mobilisiert, ironisch aufgezogen, aber offensichtlich konsum- und grosskonzernkritisch, offensichtlich politisch, offensichtlich links, fand die Aktion überraschend viel Anklang. Klar waren die üblichen Verdächtigen an der Aktion, aber auch – und vor allem! – viele extrem junge Leute, die sonst nicht an jeder Demo auftauchen, und denen die Aktion sichtlich viel Freude gemacht hat. Vorhersehbarer als die Nause’sche Hyperreaktion («Ich hoffe, dass es zu Verzeigungen kommt») kommt der Vorwurf auf: Berns Jugend sei apolitisch, sie interessiere sich nur fürs Feiern und Saufen, und darum finde auch jede politische Aktion, ins Partyoutfit geworfen, gehörigen Anklang. Politisches Potential sei das nicht, sondern bloss Freude am Rausch, am Exzess, am Frust Rauslassen durch übermässigen Alkoholkonsum (und wenn die Flasche leer ist, macht sie sich gut als Wurfgeschoss). Blödsinn! Wieso sollte das kein politisches Potential sein? Oder sich nicht zumindest in politisches Potential übersetzen lassen? Denn hier geht es nicht um die Nachtleben-Debatte, nicht um Cluböffnungszeiten und versenkbare Pissoirs für Nachtschwärmer, sondern um den Protest gegen einen weiteren Grössthändler in Berns Innenstadt. Die Party ist hier Form, nicht Inhalt. Politik darf – muss – auch Spass machen können! Und nur weil die Form keine Demo ist, keine Petition oder sonst irgendein klassisches politisches Mittel, ist sie noch lange nicht zu verwerfen. Offensichtlich lassen sich so Leute abholen, die gewissen Themen vielleicht gar nicht abgeneigt wären, aber normalerweise auf Politik keine Lust haben. Vielleicht rührt die «Politikverdrossenheit» der Jugend nicht von eigentlichem Desinteresse, sondern vom verbreiteten Gefühl, Politik sei langweilig. Vielleicht müssen wir der Politik den Ernst nehmen, zeigen, dass man der allgemeinen Ernsthaftigkeit und den schweren Themen des Lebens Spass und Bass entgegensetzen kann. Eine klassische Kundgebung gegen Konsumwahn und Kapitalismus hätte wohl, obwohl inhaltlich dasselbe vermittelnd, kaum so viele Menschen zu mobilisieren vermocht. Und ganz abgesehen von politischen Inhalten und engagierter oder nicht engagierter Jugend: Chaos ist schön! Und Party, Protest und politische Aktion sind nicht dazu da, um bei allen gut anzukommen. Wo wäre da der Spass daran? Wir gehen nicht auf die Strasse, um den Medien, dem Gemeinderat, den Psycholog_innen und Expert_innen zu gefallen, das wäre ja langweilig! Sondern, weil wir es wichtig finden. Und weil wir Freude daran haben.

Der Clown torkelt. Er spielt nicht mehr mit der Polizei, die hat ihn verscheucht und ist anderweitig beschäftigt, aber der Clown ist nicht müde, er lacht noch immer. Die Konfetti und Luftschlangen werden vom Bahnhofplatz weggewischt, zurück bleiben ein paar Kreidezeichnungen und Kleber. Die Masse zerstreut sich langsam, die Afterparty steigt woanders. Die Sicherheitsleute vor dem Mediamarkt jedoch müssen bleiben – haha, haben wir euch echt Angst gemacht? Was ebenfalls bleibt, ist die Freude an der Aktion, ob jetzt Party oder Demo, und vielleicht auch eine neue Tradition: Der Elektroschrott wird neu vor den Mediamarkt in der alten Markthalle gelegt. Das macht man in Bern jetzt so.

Erlebnisbericht Mediamarkt

Warum es sich lohnt, während Krawallen auf einem Balkon neben Nause zu käfelen Während der Party zur Mediamarkteröffnung in der ehemaligen Markthalle habe ich ein neues Level an Bourgeoisität erreicht.

P

Text: nemo

erspektive eines Demonstranten: Konfetti, Schreie, harte Bässe und jede Menge Elektroschrott. Als durch eine leere Bierflasche die erste Scheibe zu Bruch ging, setzte sich in Gang, was kommen musste. Die Stimmung heizte sich schnell auf, als die Leute merkten, dass sie zu mehr als nur herumstehen imstande waren. Da ich mich an vergangene Gummischrothagelund Tränengasexzesse erinnerte und darauf an diesem Abend so gar keinen Bock hatte, entfernte ich mich vorsichtshalber aus der tobenden, euphorischen Masse. Perspektive eines Schaulustigen: Aus der Ferne hatte ich einen guten Überblick über die Gendarmen und die Pappnasen, die vergeblich versuchten, ernsthaften Schaden anzurichten. Wenn sich 200 oder 300 Menschen dazu entscheiden, auf den Putz zu hauen, könnten sie schon etwas effizienter vorgehen, als immer und immer wieder auf dieselben, bereits zerstörten Scheiben zu schlagen. Perspektive eines Bourgeoisen: Und plötzlich erblickte ich in luftiger Höhe, auf dem Balkon der Pizzeria Cavallo Star, ein bekanntes Gesicht, besser gesagt, eine verhasste Fratze – Reto Nause 1. Sofort wurde in mir der Drang wach, mich neben ihn zu stellen und ihm auf die Nerven zu gehen. «Zack, fertig, Schluss, durchgreifen, Herr Nause!» Also machte ich mich auf den Weg in die Nähe dieses Ex-Punks. Auf dem Balkon bestellte ich mir einen Kaffee, zündete mir eine Kippe an und lachte innerlich wie ein kleines Kind. Das wohl Schönste war seine

versteinerte, saure Miene, der man entnehmen konnte, dass er diese Party nicht ansatzweise so feierte, wie ich es tat. Hinter mir entdeckte ich zwei Zivilpolizisten in genialem Tarnkleid. Sie waren 30 bis 40 Jahre alt, männlich, trugen kurze Haare und Jack Wolfskin-Jacken und dann war da auch noch der immense Kabelsalat um ihre Ohren, ganz so, als ob sie sich mit ihrer Funkverbindung brüsten wollten. Mit Kameras in der Grösse der ersten ihrer Art versuchten sie, das Erlebnis einzufangen. Viele junge Schlümpfe genossen unterdessen ihr erstes Mal. Das erste Mal mit dem Schlagstock Frauen auf den Arsch zu schlagen oder Hinkenden auf die bereits vorhandenen Wunden zu dreschen. In diesem Moment schien den Zivis mit ihrer überdimensionierten Penisverlängerung die Dokumentationslust vergangen zu sein. Gekonnte Ignoranz. Die Blauhemden liessen sich in ihrer Performance nicht aufhalten. Von Nahkampfelementen zu ganz neuen Formationen konnte das Spektakel alles bieten. 1 Ein durchaus passender Name: Nausea

(deutsch Übelkeit, lat. nausea, spätgriechisch nautía «Seekrankheit», zu altgriechisch naus «Schiff»), ist eine Befindlichkeitsstörung, die

auch als «flaues» Gefühl in der Magengegend und Brechreiz bezeichnet wird

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unter diesem motto trafen sich menschen aus über 111 ländern zum 12ten forum social mondial, das zum zweiten mal in folge in tunis stattfand.   «Recht & Würde» war das oberthema der diesjährigen veranstaltung, wozu es zahlreiche workshops, ateliers und vorträge gab. insgesamt mehr als 2000. leider wurde das forum von einem islamistischen gewaltakt überschattet: eine woche vor beginn des forums wurden im bardomuseum 24 menschen ermordet – was wohl auch dazu beitrug, dass es nicht ganz so viele teilnehmer*innen am forum gab wie zwei jahre zuvor. zudem mussten ‹checkpoints› an den toren des universitätsgeländes eingerichtet werden, was in ‹stosszeiten› zu recht langen schlangen führte, aber – soweit ich es feststellen konnte – von den meisten mit humor genommen wurde.    generell empfand ich die stimmung als sehr gelöst, locker, lustig, rebellisch und sehr offen. hunderte von zelten verschiedenster organisationen luden zum austausch ein. das ganze campusgelände war ein riesiger ameisenhaufen, angefüllt mit froher hoffnung, tanz & musik, und vielen ‹erster hand›-informationen aus allen krisenherden der erde … schreibt sich schön. stimmt aber nicht ganz. selbstredend war der afrikanische kontinent sehr gut vertreten, asien, südamerika und europa eher mässig … (was m.e. kein wunder ist: nicht alle interessierten können sich zb. mit hilfe ~wohlhabender organisationen die reise finanzieren …).   auch überschattet wurde das forum vom konflikt zwischen teilnehmenden aus den maghreb-staaten … algerier und marokkaner liessen wohl keine möglichkeit aus, sich gegenseitig anzufeinden – doch davon erfuhr ich eher aus der presse.   stattdessen trank ich lieber einen tee mit Hama und tanzte mit ihm im zelt der sahraoui … dem vorgeschobenen grund der auseinandersetzungen zwischen den obengenannten. Hama sagte: «wir sind die letzte afrikanische kolonie», zeigte auf grossen infotafeln auf die geschichte, verwies auf die gegenwart – marokko behandelt die menschen in der west-sahara wie tiere. nimmt sie grundlos gefangen, zerstört ihre zelte, verteibt sie … und das seit über vierzig jahren, ohne dass ‹die welt› davon etwas erfährt. (an dieser stelle der filmtipp: «sons of the clouds» von Alvaro Longoria beschreibt das thema ausführlich.)   und trotz alledem beteiligten sich die sahraouis meines wissens nicht an den obengenannten auseinandersetzungen, sondern verbreiteten gute stimmung, wo immer ich sie antraf. ihr zelt – welches im gegensatz zu den anderen ~pavillonartigen bauten ein ‹richtiges zelt› war –, war immer gefüllt mit musik – mal laut, mal leise – mit tanz und gesprächen oder vorträgen.   und auch am letzten tag musste ich sehr lachen: während die menschen mit ihren pavillon-zelten, mit dem wind und dem abbau kämpften, dauerte es bei den sahraouis keine viertelstunde, und es war ‹wie vom erdboden verschwunden› … tja, profis halt (; etc#tt zu den bildern (v.l.o.n.r.u.): 01: «die revolution geht weiter». 02: titelgrafik des forums. 03: tunesien, algerien und república árabe saharaui democrática ‹vereint›. 04: die delegation der sahrouis vor ihrem zelt. 05: auch kunsthandwerk gab es an allen ecken. 06: Hama erklärt unermüdlich die situation. 07: tunesische studenten singen und tanzen zu liedern der revolution. 08: «march of children against violence at 15pm». 09: organisiertes chaos. überall!  (; weitere, detaillierte informationen zum thema findet ihr bei unserem lieblingsradio rabe unter www.is.gd/nwwxXb; mehr (farbige) bilder von mir unter www.is.gd/Y0HVR9 (;

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10: der tunesische (widerstands-)sänger Gadour.

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Computertechnologie, Internet und Datenschutz

Swiss I Pass Geld oder Leben

Mach Dir ein Volk Text: Alois Hinterfuhren | Illustration: mfg

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a war also dieser erfolgreiche Fussballer, der sich Ende März im Interview mit der Basler Zeitung Sorgen gemacht hat. Er sorgte sich, ob sich «das Volk weiterhin mit dem Nationalteam identifizieren kann.» Erst waren die Sportjournalist_innen nicht nur der BaZ, dann fast alle anderen Medienschaffenden begeistert. Endlich traute sich mal einer zu sagen, dass es in der «Nati» zu viele gut aussehende, unschweizerisch selbstbewusste, nie weinende, aufopfernd kämpfende Männer mit schwierig auszusprechenden Namen hat, die so gut sind, dass sie auch für ein anderes Land spielen könnten. Die weder Katholiken noch Protestanten sind, kein Bier trinken (welch Schande!) und auch die Nationalhymne nicht mal zum Schein mitgrölen. Doch wer ist das Volk, das sich da «identifizieren» soll? Sind die Leute, die sich gerne in einem Stadion versammeln, um dort Fähnchen mit Credit-Suisse-Logo zu schwenken, Bier zu trinken und sich Kuh-Kostüme anziehen, das Volk? Das kann nicht sein, denn dann würde «das Volk» gerade mal 0,625 Prozent der Gesamtbevölkerung vertreten. Oder ist «das Volk» einfach ein Fantasiegebilde der Sportredaktion der Blickzeitung? Auch das wäre ein relativ mickriges Volk, denn die (geschätzt) zehn Sportredaktor_innen der Zeitung haben zusammen (geschätzt) 3493 Fantasien, womit wir auf 0,043 der Bevölkerung kommen. Vielleicht sollten wir «das Volk» nach gut protestantischer Tradition besser einfach nach Wirtschaftsleistung definieren. «Volk» ist, wer schafft: Eisenbahnschienen legt, Software programmiert, Alte pflegt,

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Rockmusik spielt, Hochhäuser in Zürich und Zweitwohnungen in Schattenhalb hochzieht, an der Uni Physik unterrichtet, 14,86 Tonnen frisches Brot (pro Mitarbeitende und Jahr) in der Jowa-Bäckerei bäckt, Atommüll von Mühleberg an die französische Grenze karrt, in Stein am Rhein Reinraum-Automaten der Pillenfabrik von Novartis überwacht oder bei H&M den kaum jüngeren Kund_innen in Vietnam genähte Fähnchen andreht. Die Definition von «Volk» nach rein ökonomischen Kriterien hätte den Vorteil, dass sie gerecht und logisch ist, denn Sozialhilfebetrüger, Subventionsschnorrerinnen, Rentenabzocker, Aktienrechtbeugerinnen, Messerstecher, Beamtensesselfurzerinnen, Scheinflüchtlinge und ewige Studentinnen hätten keinen Platz mehr im «Volk». Sie hätte aber den Nachteil, dass man sich fragen müsste, ob das Volk sich mit dem Volk noch identizifieren könne. Denn ganz viele Leute, wenn nicht gar die Mehrheit des Volkes, würde aus den Müttern, Vätern, Brüdern und Schwestern der unschweizerisch nie weinenden, die Nationalhymne auch nicht zum Schein mitsingenden, gut aussehenden, kämpferischen jungen Männer bestehen. Wenn das Volk sich mit dem Volk nicht mehr identifizieren könnte: Das wäre ein Anfang.

Ab August 2015 soll der neue «Swisspass» die GA- und Halbtax Karten der SBB ersetzen. Später sollen auch Verbundabos und die Nutzung von diversen SBB-Partnerdiensten, wie etwa Mobility Carsharing, hinzukommen. Was erstmal praktisch klingt, hat aber dennoch seine Tücken. Text: peb & rif

Der Verband öffentlicher Verkehr (VöV) und die SBB lancieren, gemeinsam mit einigen Partnerdiensten, den neuen Swisspass. Ab August werden insgesamt rund drei Millionen Menschen in den Genuss dieser neuen RFID-Karte kommen. Was ist also der Swisspass? Der Swisspass ist eine RFID-Chipkarte. Auf der Karte selbst befindet sich – wie auch jetzt auf dem Halbtax oder GA – ein Passfoto sowie Name und Geburtsdatum der Abonnent_in. Neu ist, dass in einer Karte jetzt mehrere Abos vereint werden können. Besitzt jemand also ein Halbtax und ein Gleis 7-Abo, wird diese Information auf dem RFID Chip gespeichert. Der/die Kontrolleur_in im Zug kann dann – indem die Karte ans Lesegerät gehalten wird – überprüfen, welche Abos die kontrollierte Person gelöst hat. RFID – was ist das eigentlich? Ein RFID-Chip («radio-frequency identification») beinhaltet einen Transponder, welcher auf Funksignale reagiert und die darauf gespeicherten Informationen sendet – in den meisten Fällen nur die Chipnummer. Der Chip selbst benötigt grundsätzlich keine Stromversorgung, sondern wird durch das Lesegerät aktiviert. RFID-Chips können auf kurze Distanzen ausgelesen werden, ein direkter Kontakt von Chip und Lesegerät ist nicht nötig (so basieren teilweise Diebstahlschutz-Chips und die dazugehörigen Schranken in Supermärkten auf RFID). Diese Technologie ist mittlerweile recht weit verbreitet: im Supermarkt, in Bürogebäuden (für Schlüsselkarten), in Freizeitparks und

Skigebieten, in der Uni etc. Zudem ist es auch möglich, RFID-Chips mit dem Smartphone auszulesen. Das ist bei allen RFID-Chips möglich, die nicht besonders geschützt sind und nur von bestimmten Lesegeräten ausgelesen werden können. In diesem Fall muss sich das Lesegerät zuvor gegenüber dem Chip mittels eines Sicherheitszertifikats authentifizieren. Dieser Schutz fehlt jedoch bei den meisten RFID-Karten, mit welchen wir im Alltag zu tun haben – auch beim Swisspass. Swisspass und der Datenschutz Die Lücken und Tücken beim Datenschutz sind allerdings noch einiges grösser, immerhin sendet der Swisspass «nur» die Kartennummer. Die eigentlichen Informationen befinden sich in einer Datenbank, die über das Lesegerät angesteuert wird. Wie es hier mit den Sicherheitsvorkehrungen aussieht, kommuniziert die SBB leider nicht – ausser argumentlosen Beteuerungen, dass «Unbefugte» keinen Zugang auf die Datenbank haben. Allerdings behauptet die SBB auch, dass mit dem Swisspass keine Bewegungsprofile erstellt werden können, was falsch ist. Es mag sein, dass die SBB den Swisspass aktuell nicht zur Erstellung von Bewegungsprofilen zu verwenden gedenkt, die Möglichkeit ist aber definitiv vorhanden. Nach Angaben der Berner Zeitung sollen bereits jetzt Kontrollen der Karten für 90 Tage vom System gespeichert werden. Die KartenID in Verbindung mit Zeit und Ort der Bahnkontrolle bietet jedoch alle Voraussetzungen die zur Erstellung eines Bewegungsprofiles notwendig sind. Weitere Probleme sind, dass die SBB die Daten auch an Dritte weitergibt, diese anonymisiert zu Marktforschungszwecken verwendet und vor allem, dass die personalisierten Daten zu Marketingzwecken verwendet werden, sofern die Kunden dies nicht explizit verbieten. Aufgrund der Monopolstellung der SBB im öffentlichen Bahnverkehr wird es für die meisten Menschen ausserdem unmöglich sein, sich dem Zwang zur Anschaffung eines Swisspasses zu entziehen, sofern sie weiterhin ein Bahnabonnement haben wollen – anders wird es diese in Zukunft nämlich nicht mehr geben.

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Caféperspektiven

Francis

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Text: Eva

ch sitze in meinem Pariser Lieblingscafé, dem Francis, Ecke Rue Custine/Caulainecourt. Das Publikum ist gut durchmischt, viele Gäste sind jung, sie lernen, lesen, küssen, diskutieren, oder tummeln sich im Internet. Nur selten verirren sich Touristen, obschon die Sacré Coeur nur ein paar Treppenstufen entfernt thront. Wie in fast allen Pariser Bars oder Brasserien gibt es einen halboffenen, geheizten Aussenraum, wo geraucht werden darf und Wärmestrahler Energie verbrauchen, um das rauchende Volk nicht frieren zu lassen. Das Francis ist immer voll. Am Vormittag nimmt man das Croissant aus der Boulangerie von nebenan, die Musik ist leise und genügend Zeitungen sind vorhanden. Den ganzen Tag servieren sie frisch gemachte, dicke Frites mit Schale. Sie schmecken wunderbar, sind goldgelb und knusprig. Zur Happy Hour gibt’s Bier und die eben genannten Frites zum halben Preis. Je später der Abend, desto lauter die Musik und dunkler das Licht. Nur durch die Scheibe getrennt beobachte ich vier junge Männer. Die Grossstadt – nein, die Weltstadt – ist nicht mehr zu übersehen. Da sie ausgiebig mit sich beschäftigt sind, entgehen ihnen zum Glück meine neugierigen Blicke. Ein Haarschnitt ähnelt dem eines Klosterabts, als hätte er sich einen Topf aufgesetzt, und das, was noch hervorschaute, abgeschnitten, aber im Unterschied zum Abt trägt er seine Haare grell, hellgrün, und im Nacken sind sie hochrasiert. Die Fingernägel sind lang und im selben Grün wie die Haare. Als er einmal zur Toilette geht, sehe ich seinen überdimensionalen grauen Wollpullover (garantiert selbst gestrickt), darunter eine hautenge Leggins, auch in grau, und grosse, schwarze Schnürstiefel mit hellgrünen Schnursenkeln. Sein Gang sexy und selbstbewusst. Der Mann ihm vis-à-vis, mit echt kastanienrotem Haar, ist still und scheint den andern nur zuzuhören. Er näht, oder besser, er stickt mit verschieden Farben ein Muster auf den Deckel seines Notizhefts, welches mit Sicherheit Modeskizzen enthält. Gekonnt wie das tapfere Schneiderlein hantiert er mit Nadel und Faden. Seine Utensilien hat er in einem kleinen orangen Täschchen, ein abgewetztes und unübersehbar viel geliebtes Teil. Das Heft, kein teures Moleskine, und die häufig, mit flinken Fingern gedrehten Zigaretten sind sehr dünn. Das Geld scheint knapp.

Schnappschuss

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Für diese Zeitung und zur Ergänzung unseres Redaktionsteams bietet sich ab 1. Juni oder nach Vereinbarung die Möglichkeit einer unentgeltlichen Anstellung als

Auf dem Tisch herrscht ein kreatives Durcheinander, ihnen gehört die Welt. Der Dritte, ich sehe ihn nur von hinten, verdreht seine schlaksigen Arme und spielt erotisch mit seinem schwarzen krausen Haar am Hinterkopf. Beim Reden, er tut dies viel, verzieht er theatralisch seine Schultern in alle Richtungen und wirft die Arme in die Höhe. Noch nie habe ich so lange und bewegliche Arme gesehen. Der Vierte im Bunde lacht vor allem und ist mit dem Feilen seiner Fingernägel beschäftigt. Er ist sehr jung und trägt ein wunderschönes Baseballkäppi mit roten Rosen. Sie sind Paradiesvögel, jung, interessant, in Paris und haben ein ganzes Leben vor sich. Ein bisschen bin ich neidisch – nur ein bisschen, auf den Mut, die Jugend und die Selbstverständlichkeit. Was wohl aus ihnen werden wird? Der neue Yves Saint Laurent oder François Ozon von übermorgen? Ich wünsche ihnen von ganzem Herzen viel Glück. Nur wenige Strassen entfernt, im kleinen Viertel, wo ich immer wohne, da, wo sich die ersten Einwanderer aus dem Maghreb niederliessen, da, wo der nette Metzger Halal und in dritter Generation die grossen Fleischstücke an Restaurants in ganz Paris liefert und immer Zeit hat für einen kurzen Schwatz auf der Strasse, da dominiert Testosteron das Strassenbild. Jobs sind Mangelware und Zeit ist im Überfluss vorhanden. Schwarz und grau zu tragen ist Ehrensache, die wenigen Farbtupfer sind die Markenlabels auf den Turnschuhen oder das Rot-Weiss der illegal importierten Marlboroschachteln. Schwul oder Modestundent zu sein, ist hier in weite Ferne gerückt. Wie es denen wohl geht, die es gerne wären? Der arabische Frühling ist da nie Sommer geworden. Eine ganze Generation scheint beim Verteilen des Glückskuchens übergangen worden zu sein und Privilege liegen einige Strassen weiter in der anderen Welt. Vier Tage später im Francis sehe ich den Grünen wieder, der mit der Abtfrisur, grün scheint passé, der Kopf ist kahl, die Ohrringe gross und die Nägel in schrillem Rosa. Er sitzt alleine und liest, leider kann ich den Titel nicht erkennen und all zu neugierig mag ich nicht sein. Ich bin froh, dass er liest. Ich war im Jeu de Paume und vermute zu wissen, wo der junge Mann die Inspiration für die Frisur her hatte – die Frisur, wie die der wunderbaren Florence Henri... Googeln lohnt sich.

Journalist_in (20 %)

Aufgaben Neben der Teilnahme an drei Sitzungen im Monat und der Übernahme kleinerer administrativer Tätigkeiten unterstützt du unser Redaktionsteam durch das Schreiben oder Organisieren von journalistischen Inhalten für unsere monatlich erscheinende Zeitung. Anforderungen Du bist selbständig, selbstbewusst und trotzdem lernfähig. Du arbeitest gerne im Kollektiv. Du bist kritisch gegenüber managerialem und banal-revolutionärem Aktivismus. Du kannst widersprechen. Du hasst den Konsens, suchst ihn aus pragmatischen Gründen manchmal trotzdem. Dein Blick auf die Welt fällt durch das parteipolitische Raster und grenzt sich radikal von esoterischem Gedankengut ab. Du weisst wo Oben und wo Unten ist. Du bist bereit, ab und an auch administrative, geisttötende Arbeiten zu verrichten. Ab und zu hast du eine gute Idee. Wir bieten: Free food, free drinks, free press.

Kinderbuchtipp

Von tanzenden Tieren Text: Ruth Baeriswyl

Auf dem Baum wird der Ast im vierten Stockwerk frei. Familie Specht ist hocherfreut über dieses Angebot, denn gestern wurde Ihre Bleibe gefällt. Der Ast ist komfortabel – vier Meter lang, Holzboden, Südseite und bester Landeplatz. Erich Eichhorn, der Vermieter, versichert sich nur noch, ob die Spechts wirklich keine Haustiere haben und dann zieht die Familie ein. Nur eben, niemand hat mit der Klopferei der Spechts gerechnet. Die Maus ganz unten am Baum fordert die Lösung mit der Katze. Die WG links oben unterm Dach ist ebenfalls entsetzt. Erich Eichhorn nun nimmt die Sache in die Hand: «Morgen um halb drei Baumversammlung für alle!!!» Die Bewohner machen ihrem Ärger Luft und Herr Specht ist erstaunt ob deren Empfindlichkeit, jedoch willig, eine Lösung zu finden: Er organisiert Tanzstunden und klopft mit seiner Familie im Walzertakt. Bald wirbeln Federn, Felle und Füsse. Ein Bilderbuch über Toleranz und unkomplizierte Lösungen. Und auch die Illustrationen lassen Raum zum Staunen und Schmunzeln. Engel, Peter | Riesenkrach unterm Blätterdach | Lappan Verlag Foto: Sabine Hunziker

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Kurzschluss I

Traditionelles Trauerspiel Text: bass

Illustration: nor

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Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Text: Tom (frühpensionierter Reitschüler)

Staatsanwältin Cornelia Spicher war mit den Nerven am Ende. Soeben hatte sie die Meldung erreicht, dass knapp 2 Stunden zuvor auch der letzte der 62 Polizeiposten des Kantons Bern¹ angegriffen und von unten bis oben schwarzrot eingefärbt worden war. Ebenso wie schon zuvor die Büros der Generalstaatsanwaltschaft, der fünf Staatsanwaltschaften, der fünf Jugendanwaltschafts-Dienststellen, der Kantonalen Staatsanwaltschaften für Wirtschaftsdelikte und für Besondere Aufgaben² sowie der Gerichtsbehörden³ in den Regionen Bern-Mittelland, Berner JuraSeeland, Emmental-Oberaargau und Oberland. Selbst die Wohn- und Ferienhäuser sowie die Schrebergarten- und Hundehäuschen aller Staatsanwält_innen, Jugendanwält_innen, juristischen Sekretär_innen, Assistent_innen, Kanzlei- und Sozialdienstmitarbeiter_innen, Richter_innen, Gerichtsschreiber_innen und –mitarbeiter_innen leuchteten in einem fröhlichen Schwarzrot. Cornelia Spicher verfluchte den Tag, als sie das Dossier «Farbanschlag Waisenhaus-Polizeiposten» übernommen hatte. Zwar hatten Medien, Sicherheits- und Polizei(gewerkschafts)kreise mit dem Zauberwort «Linksterrorismus» Tür und Tor für kreative Fahndungsaktionen und lustvolle Hausdurchsuchungen geöffnet, doch die juristisch eher gewagten Verdachtsmomente und Anschuldigungen hatten ihr schon zu Beginn leichtes Bauchweh verschafft. Mit abenteuerlichen Konstrukten alleine war eben kein Fall zu gewinnen, da mussten schon Beweise und im Idealfall Geständnisse her. Dass die Sondereinheit «Enzian» gleich zwei besetzte Häuser als Razzia-Spielwiese nutzen konnte – quasi eine Zwischennutzung von oben – war zwar Balsam für die farbwaidwunden Polizist_innen-Seelen,

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aber langsam gingen selbst der mit allen Ausredenwassern gewaschenen Polizeimedienstelle die schönfärberischen Ausflüchte aus, mit denen die brachialen Enzian-Einsätze – notabene im staatsanwaltlichen Namen von Cornelia Spicher – gegenüber der immer skeptischer werdenden Öffentlichkeit gerechtfertigt wurden. Es war wie verhext: Bei keiner der Farbaktionen – notabene über 100 – gab es Zeug_innen, Videoaufnahmen, verwertbare Spuren, DNA oder Fingerabdrücke. Und angesichts der rasant sinkenden Beliebtheit von Polizei und Justizbehörden schnellten die Verdächtigenzahlen immer mehr in die Höhe – quasi die ganze Kantonsbevölkerung war jetzt tatverdächtig. Cornelia Spicher wurde angesichts der Vorstellung, über 1 Million Bürger_innen befragen und deren Alibis überprüfen zu müssen, schwindlig. Sie brauchte ein Glas Wasser. Als sie sich im Spiegel ihres Büro-Lavabos betrachtete, traute sie ihren Augen kaum: Ihr Gesicht leuchtete schwarzrot. «Wie ein Sith aus Star Wars», dachte sie, bevor sie das Bewusstsein verlor. Draussen an der eingefärbten Fassade des Amtshauses materialisierte sich derweil wie von Geisterhand ein riesiger Schriftzug: «Einfärben die Sith wir müssen.» So geht das. 1 police.be.ch/police/de/index/ueber-uns/kantonspolizei/polizeiwachen.html

2 justice.be.ch/justice/de/index/justiz/organisation/staatsanwaltschaft/kontakt.html

3 http://www.justice.be.ch/justice/de/index/

justiz/organisation/obergericht/kontakt.html

Der erste Mai ist Arbeiter_innenkampftag. Der erste Mai ist Tag der Arbeit. Der erste Mai – in Bern – ist ein Trauerspiel. Da versammeln sich Jahr für Jahr Linke jeglicher Schattierung in der Berner Altstadt, um 10 Minuten lang umherzulatschen und nennen das dann Demonstration. Dann beten ein paar Ausgewählte ihre – je nach Wahljahr unterschiedlich ausfallenden – Reden von der Bundesplatzbühne, während die «Basis» sich sichtlich bemüht, an ihren

Risotto zu kommen und dem sowieso unverständlichen Gerede nicht zu viel Beachtung zu schenken. Und was tut man als junger linker Mensch in Anbetracht dieses Selbstbefriedigungsrituals, das alle 12 Monate noch mehr an politischer Sprengkraft zu verlieren scheint? Man holt sich seine Alkoholreserven im Denner, weil an der einzigen Bierquelle der Maifeier die Insignie des bierbrauenden Grosskapitals prangt: «Feldschlösschen». Man kann von Traditionen halten was man will. Der erste Mai mag aus historischer Sicht von enormer Bedeutung sein, für die Arbeitendenbewegung aller Länder. Doch wenn die einzige Kraft, die aus diesem Brauch noch zu ziehen ist, jene Versammlung mit der politischen Ausstrahlung eines «Schweizer Fleisch»-Grillfests ist, dann sollte sich Berns Linke vielleicht einmal überlegen, ob es nicht an der Zeit wäre, den ersten Mai den heutigen Umständen anzupassen. Zumindest ist die Carlsberg-Tochter heuer wieder weg vom Bundesplatz.

Für diese Zeitung und zur Ergänzung unseres Redaktionsteams bietet sich ab 1. Juni oder nach Vereinbarung die Möglichkeit einer unentgeltlichen Anstellung als

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C’est la merde Comix: Nicolophonius Fuhrimann

Kurzschluss II

Willkommen zur Retraite Text: ffg

Ein gutes Jahr ist es her, als das megafon eingestellt wurde. Danach diskutierten und planten alte und neue Redaktionsmitglieder die Zukunft unserer Lieblingszeitung. Im Oktober erschien das neue megafon zum ersten Mal – dieses Heft ist die siebte derartige Ausgabe. Am letzten Märzwochenende dieses Jahres zog es uns deshalb ins (definitiv ruhige) Hinterland Grindelwald, um das intensive Jahr zu besprechen. Retraite nennt man diese der Reflexion gewidmeten Ausflüge allgemein. Für die_den dieses Heft finanzierende_n Lesende_n hier eine Zusammenfassung der Ereignisse. Die ersten Bierchen wurden um elf Uhr vormittags geöffnet; und das in praller Sonne. Weitere folgten in regelmässigen Abständen. Auch Tabakmangel gab es nicht, es wurde eifrig gestopft, gedreht und geschleckt. Kopfschmerzen tauchten bei vielen Retraiter_innen auf, wohl durch die Einflüsse: Sonne, Alkohol, wahnsinniger Höhenunterschied (ungefähr 500 Meter) zur Stadt mit Reitschule und Bundeshaus. Sonnenbrand in Gesicht und Dekolleté kamen auch noch dazu. Zur Entspannung leistete man sich einige Partien Mario Kart, mit der Nintendo 64 (vergessen, im neuen Mediamarkt abzugeben. Glück gehabt!).

Gebirg der Sprache Text: sak

Aufhören, solange es noch gut ist. Man soll aufhören, solange es noch gut ist Doch was heisst das schon – Sollen Wohl, dass man müsste Dass man wohl müsste Und trotzdem nicht kann Zwischen zwei Bergen liegt Immer ein Tal Das ist mal was für immer Zwischen dem Können und dem Müssen liegt Immer ein Sollen Ein abgrundtiefes Tal Ein abgrundtiefes Sollen Man kann nicht aufhören, solange es noch gut ist Und vorher sollte man es zumindest versucht haben Man, Man, Man All diese starken Verben Man, Man, Man Bei solch starken Verben Schwächelt das Subjekt substantiell Starke Verben, diese Gebärdensprache der Weisheit Dieser allgemeinen, dieser dezidierten, dieser himmelhohen Weisheit Keine Ahnung von den Dingen, von den Menschen Aber gut informiert über die Zusammenhänge und Verbindungen Die Züge nach Grindelwald Sie fahren immer zur vollen Stunde Ob das wohl noch reicht Warten auf die Nacht Und das Gestirn Warten auf die Dunkelheit Die das Gebirg ins Nichts taucht Sich selber in Frage stellen Dazu braucht es das Gestirn Um sich zu behaupten aber Das Gebirg

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Die Aussicht von unserer Unterkunft, einem klassischen Chalet, liess uns (und vor allem den Schreibenden) vor Ehrfurcht erstarren: Des Eigers Nordwand und andere, von uns leider namentlich nicht definierbare Erhebungen standen da, und Wolken tanzten in den wildesten Formen um ihre Gipfel, während an den Bergflanken Lawinen mit Donnergetöse niedergingen. Unsere Gespräche kreisten um den beim megafon schon fast chronischen Personalmangel («Wo sind die jungen Politos?!»), Artikel über Drogen und deren mögliche Titel wie «LSD und Grossstadtschamanismus», unüblich üble Vornamen, die man oft in Hipsterquartieren wie der Lorraine hört, Lichternährung und die Charakterisierung der Betriebsgruppe-Mitglieder als «Reitschul-Gurus». Taktiken zur Abonnent_innen-Gewinnung wurden diskutiert und man war sich uneins, ob man dazu eher die Boulevard- oder die Qualitätsschiene fahren sollte (oder beides? Geht das überhaupt? Oder gibt’s gar noch andere Wege?). In vielen Punkten war man sich einig: Zum Beispiel darin, dass bald eine gross angelegte megafon-Promo-Aktion anrollen wird. Oder, dass das allmonatliche Zeitungsfalten im Infoladen offen für alle sein soll – einerseits zum Unterstützen der meist schon angeheiterten Redaktion, andererseits als Möglichkeit, uns persönlich kennenzulernen und Fragen sowie Anregungen einzubringen. In anderen Punkten herrschten tiefe Gräben in unserer sonst so einträchtigen Crew: Veganismus – ja oder nein? Und ob man sich in Schulen als Schüler_innen gegen Lehrer_innen verbünden soll? Fleischessende Lehrende hatten da eine andere Haltung als die (ehemals) lernenden Vegis… Es blieb aber alles friedlich. Mario Kart kanalisierte aufkeimende Aggressionen und unterbewusstes Konkurrenzdenken; Kochkünste, Laphroaig und Amarone besänftigten Mägen und Köpfe. Du willst nicht den ganzen Retraitenrückblick lesen? Alles in einem Satz: Mit dem Bier in der Hand diskutierend Sonnenbrand kriegen, während man staunend der Lawine zusieht, die den Eiger runterrollt und aus dem Hintergrund BingbingGeräusche vom Fernseher hört.

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Interview zum Farbanschlag

«Wir setzen Nadelstiche!» In der Nacht vom 20. auf den 21. Februar attackierten rund zwei Dutzend Vermummte den Polizeiposten am Waisenhausplatz. Es entstand Sachschaden, ein Polizist wurde leicht verletzt. Heftige Reaktionen vonseiten der Medien, der Stadt und der Polizeiführung folgten. Die «Berner Zeitung» brachte die Anwendung des Terrorismusparagrafen für die Verantwortlichen ins Spiel. Ende März gab es Hausdurchsuch­ ungen in zwei besetzten Häusern wegen des Vorfalls.

Z

wei am Angriff beteiligte Personen erklärten sich bereit für ein Interview mit dem megafon. Den beiden Interviewten war es zu Beginn des Gesprächs wichtig festzuhalten, dass wir mit ihnen als Individuen und nicht etwa als Delegierte einer Gruppe sprechen. megafon: Unsere erste Frage: Was wolltet ihr mit eurer Aktion erreichen? Jürg*: Die Aktion soll zeigen, dass es möglich ist, gegen dieses Bollwerk der Macht mit einfachsten Mitteln anzugehen. Die Aktion sollte zum Nachdenken anregen. Das hat sie auch.

Nehmt ihr dabei das Verletzen von Menschen bewusst in Kauf? Oder anders gefragt: Ist das zu Schaden Kommen von Menschen erklärtes Ziel oder ungeplanter Nebeneffekt der Aktion? Unsere Aktion war auf Sachbeschädigung an einigen Amtsgebäuden ausgelegt. Das Bild eines blutrünstigen Mobs, der Polizist_innen töten will, ist eine Erfindung der Medien. Ruedi*: Wenn der Staat Menschen illegalisiert, einsperrt, ihnen jegliche Selbstbestimmung entzieht und nicht selten dadurch Menschen zur Selbsttötung treibt, ist das für die gleichen Medien, die gegen uns hetzen, ein «tragischer Vorfall», mehr nicht.

Interessant – wo zieht ihr dann die rote Linie, wessen Gefährdung ihr in Kauf nehmt? Den Feuerwehrleuten soll nichts passieren, den Polizist_innen hingegen schon? R: Moment: Es war ein Angriff auf das Haupt-

gebäude der Institution Polizei in Bern. Auf die Polizei als Stellvertreterin für das System, für den Staat. Denn sie schützt das System, sie führt die Gewalt des Systems direkt und physisch aus! Als der eine Polizist verletzt worden ist, verteidigten wir uns lediglich gegen eine drohende Verhaftung. J: Der Polizist hat sich durch sein «Ja» zur Polizei entschieden, auf welcher Seite er steht. Von daher darf man ihn ruhig angreifen, das ist okay. Er übernimmt freiwillig die Funktion der Polizei, also vertritt er dieses Herrschaftssystem. Er hätte sich auch für einen anderen Job entscheiden können, wie es die allermeisten Menschen getan haben. Du würdest also eine_n Polizist_in auch in seiner Freizeit, wenn er_sie nicht im Dienst ist, angreifen?

Jürg:

An geparkten Polizeiautos gab es Sachschaden, Scheiben wurden eingeschlagen. Wenn es euer Ziel ist, möglichst viel Sachschaden zu verursachen und ihr schon mit so vielen Personen vor Ort seid: Wieso kehrt ihr die Karre nicht aufs Dach oder zündet sie sogar an? Es geht weniger um die genaue Summe des Sachschadens, sondern um das Zeichen. Symbolisch ist der Ort wichtig. Es sind Nadelstiche, die wir setzen. Wir können natürlich nicht den ganzen Polizeiverkehr lahmlegen oder alles kurz und klein hacken. J: Wenn wir die Karre angezündet hätten, hätte auch eine erhebliche Fremdgefährdungsgefahr bestanden. Wenn die Karre plötzlich hochgeht und dabei löschende Feuerwehrleute verletzt werden, ist das überhaupt nicht das, was wir erreichen wollen. R:

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Würde ich einem Polizisten privat begegnen, mit seiner Tochter an der Hand, ich würde ihn niemals attackieren... Sobald er aber eine Waffe und die Uniform trägt, ist er klar in der Position des Staatsschützers. P1: Und die Polizei kam bei diesem Vorfall ja auch, um uns anzugreifen. Auch wir sind keine Hausfassade... Wir sind Menschen, die es nicht mögen, wenn man sie anfasst und gewalttätig angeht. Die Polizei sollte sich mal fragen, weshalb sie ihre Gewalt als normal ansieht, uns aber gleichzeitig als Terroristen bezeichnet, nur weil wir eine Hausfassade eingefärbt haben. J: Es ging bei der Aktion nie darum, konkret Menschen anzugreifen, sondern es ging um das Gebäude. R: Noch vor zehn Jahren hätte es deswegen kaum einen derartigen Medienkrawall zur Folge gehabt. J: Lächerlich – Flaschenwürfe gegen ein Gebäude oder die gepanzerte Polizei sind ein nicht aushaltbarer Terrorakt? Und die Gewalt, die tagtäglich an den Grenzen Menschen umbringt, die Gewalt, die Tag für Tag 100’000 Menschen und mehr an Hunger sterben lässt, ist nur ein tragischer Zwischenfall? J:

Ihr habt euch in eurem Communiqué kurz nach der Aktion auf den Tod eines 24-Jährigen im Berner Amtshaus bezogen. Tut ihr denn auch etwas für bessere Haftbedingungen, organisiert ihr Gefangene, oder schmeisst ihr nur Farbflaschen? R: Ich kämpfe nicht wirklich gerne für besse-

onetten kommen, um uns anzuhalten, verjagen wir sie, wenn wir können. Wie reagiert ihr auf allfällige Repression? Seid ihr vorbereitet? (deutlich, halb lachend) Da scheiss ich drauf! J: Auf Repression muss man immer eingestellt sein. Wir haben bisher den geeigneten Umgang mit den Ermittlungsbehörden gefunden: Auf keiner Ebene mit ihnen zu kooperieren. Und wenn es passiert, dass ich verhaftet werde, dann gehört das dazu zum Risiko des Engagements. R:

re Haftbedingungen, denn das Knastsystem ist das Problem. Einige wenige schicken sich an, über andere zu richten und sie einzusperren – ein enormer Gewaltakt! Es stimmt sicher, dass wir diesen konkreten Menschen nicht gekannt haben. Sein Tod zeigte aber, dass die Haftbedingungen im Regionalknast in Bern enorm schlecht sind – 23 Stunden eingesperrt sein, nur eine Stunde an der frischen Luft... Man muss Horror-Knäste nicht im Ausland suchen! Den Menschen wird jedes Mass an Selbstbestimmung weggenommen. J: Zudem gab es x weitere Todesfälle in Knästen in der Schweiz in letzter Zeit. Diese Menschen hielten es dort drin nicht mehr aus. Und wegen der Schwere des Delikts des 24-Jährigen: Er sass wegen Vermögensdelikten! Auch deswegen griffen wir in dieser Nacht den Knast an. Die Aktion hätte aber auch ohne den Todesfall stattgefunden. Wir wollen das ganze System überwinden. Deswegen machen wir solche Aktionen. Zugegeben: Es ist sicher auch unsere Ohnmacht, so vorzugehen, da die Veränderung, die wir uns wünschen, schlicht noch nicht in greifbarer Nähe ist. R: Reformen bringen in diesen Gewaltinstitutionen nun mal nichts! Wenn es bei den Haftbedingungen Verbesserungen gibt, ist das sicher zu begrüssen, aber schlussendlich muss das ganze Konstrukt zerstört werden.

J: Das stimmt nicht, dass diese Aktionen immer von der Reitschule aus stattfinden. Wenn wir so etwas planen, schauen wir immer, von einem Ort aus zu agieren, an dem wir am besten untertauchen können. In dieser Umgebung ist die Reitschule sicher besser als z.B. das Kapitel. Und ich denke, die Reitschule muss auch damit leben können, dass um sie herum solche Aktionen stattfinden. Die Reitschule wurde erkämpft! Da ging es immer um eine radikale Ablehnung der herrschenden Strukturen! Und wenn die Reitschule nicht mehr ein Ort des Kampfes ist, dann macht sie keinen Sinn mehr. R: Ausserdem: Wenn es um Angriffe gegen die Polizei geht, dann muss man sich vergegenwärtigen, wo überall solche Angriffe stattgefunden haben innerhalb der letzten Monate: Bümpliz, Ittigen, Lorraine, Wohlen... Da kann wohl kaum die Reitschule verantwortlich gemacht werden. Unseres Wissens gab es bei diesen Angriffen nie verletzte Polizist_innen, und die Polizei schritt nie ein bzw. sie bekam es nicht mit.

Denkt ihr denn tatsächlich, dass sich die Verhältnisse durch solche Aktionen positiv verändern lassen?

Habt ihr eigentlich noch andere Formen, euch politisch auszudrücken oder schmeisst ihr nur Farbbeutel?

R: Ja, man schafft eine gewisse Öffentlichkeit

durch solche Aktionen...

… aber die Medien reagierten ja vernichtend auf diese Attacke! R: Es geht ja nicht nur um die Medienbericht-

erstattung, sondern auch um die generelle Wahrnehmung der Aktion. Man soll sehen, dass es eben auch Leute gibt, die diesen Weg gewählt haben, um ihre Ablehnung auszudrücken. J: Wir greifen das System symbolisch an. Da rechnen wir realistischerweise nicht mit positiven Medienberichten. Aber das schert uns auch nicht gross. Vielleicht bekommen wir, wenn wir nächstes Mal das Steueramt attackieren, mehr positive Rückmeldungen (grinst)... Die Leute im Knast haben uns gehört, haben Lärm gemacht, sich gefreut über die Aktion. «Aufgrund rassistischer Vorurteile verhaften und erniedrigen die Marionetten der Staatsgewalt Tag für Tag People of Color.» So steht es im Communiqué. Wäre es nicht passender, die Institutionen und nicht die Marionetten anzugreifen?

J: Wir haben die Institution angegriffen, den Polizeiposten. Klar, es ist primär die ausführende Gewalt. Das Gefängnis gehört sicher auch dazu. Wir können nächstes Mal gerne das Bundeshaus angreifen (lacht). Die Polizist_innen sind diejenigen, die präsent sind, die die Gewalt direkt ausführen.Deswegen sind sie auch legitime Ziele. Wenn die Mari-

Warum startet und beendet ihr solche Aktionen bei der Reitschule?

Der Kampf findet immer auf verschiedenen Ebenen statt. Militante Aktionen wie diese schliessen andere Aktionen keineswegs aus. Wir bauen darauf, dass viele Leute mit ganz unterschiedlichen Aktionstypen arbeiten, um ihre Kritik anzubringen. Unsere war eine davon. J: Im Parlamentarismus sehen wir keinen legitimen Weg. Denn durch die Teilnahme am Parlamentsbetrieb anerkennt man de facto die Regeln, die der Staat setzt. R:

Was haltet ihr vom gewaltfreien Widerstand? Martin Luther King? Mahatma Gandhi? R: Ob Gewalt benutzt wird, hängt von der Si-

tuation ab, und ist die Entscheidung des_der Einzelnen. Ich störe mich aber keinesfalls an gewaltfreiem Widerstand! J: Dummerweise kommt dieser sehr, sehr schnell an seine Grenzen. Denn in dem Moment, in dem der friedliche Widerstand Systemfragen zu stellen beginnt, schlägt der Staatsapparat mit voller Härte zu. Und dann kann der Widerstand kaum mehr friedlich bleiben, ohne vollends zerschlagen zu werden. *  Namen geändert

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