Nr. 396 | Juni 2015 1 im Trüben – Aftermath S. 1-3 | Die spinnen, die Griechen! – Krisenland S. 4 | Laudatio – Über den Becherrand S. 4 | Dynamitfischen
Ihr seid wie Aromat – Kurzschluss I S. 5 | Endlich wieder zelten – Kinderbuchtipp S. 5 | Leserkommentar I S. 5 | Argumentatives
Bullshit-Bingo – oder wie repressiven Unsinn legitimieren– Computertechnologie, Internet & Datenschutz S. 6 | Humanoide Kaffeemaschinen – Comix S. 6 | Leserkommentar II S. 6 | Manifest der radikalen Faulheit – Kurzschluss II S.7 | Exitorial S. 7 | «No DealArea» - dies ist die Lösung! – Alle Schaltjahre wieder S. 8
Die Zeitschrift aus der Reitschule | Bern
megafon | N°396 | Juni 2015 | 6.–
Aftermath
Wer glaubt, Staatsanwaltschaft und Polizei wären in der Causa «Farbattacke Waisenhausposten» untätig geblieben, irrt. Fieberhaft mutet die Suche der Behörden nach Täter*innen angesichts von Anzeigen, Razzien, Verhaftungen und Verhören an. Wir lassen Betroffene ausführlich zu Wort kommen.
D
Text: Fred Argon | Illustration: mfg
er Erste, der im Fall «Farbangriff Waisenhausposten» Besuch von der Polizei bekommt, ist der langjährige politische Aktivist Stefan. Anfang März durchsucht die Polizei seine Wohnung, beschlagnahmt diverse Gegenstände, hält ihn zeitweise fest und zwingt ihn zu Erkennungsdienstlichen Massnahmen (ED). Ihm wird eine Beteiligung am Farbangriff vorgeworfen. Beweise bekommt er keine zu sehen, die Polizei spricht von «internen Ermittlungen», die zu ihm geführt hätten. Gegenüber dem megafon macht Stefan klar, dass er den Angriff auf den Polizeiposten weder besonders zielführend findet, geschweige denn daran beteiligt war. Am 12. März werden zeitgleich drei teils minderjährige junge Männer von der Polizei zu Hause überrascht, durchsucht und in Untersuchungshaft genommen. Die Verhafteten, darunter Lukas und Robert, waren fast zwei Wochen zuvor gemeinsam in einem Auto unterwegs nach Zürich zu einer antirassistischen Demonstration gewesen. In der Lorraine in Bern wurde ihre Fahrt von der Polizei gestoppt. Damals beschlagnahmte die Polizei im Kofferraum des Autos u.a. ein politisches Transparent.
Lukas: «Es war 06:30 Uhr. Ich war schon wach, als es klingelte. Kaum hatte ich die Tür einen Spalt breit geöffnet, zündete mir eine Taschenlampe ins Gesicht und drei Polizisten in Zivil stürmten in meine Wohnung. Ich wurde gefesselt und an die Wand gedrückt. Zwanzig Minuten später kamen nochmal fünf oder sechs Polizist*innen. Zwei Stunden lang durchsuchten sie mein Zimmer. Während dessen sass ich im Flur meines Hauses am Boden und fror. Sie nahmen tonnenweise Kleider von mir mit –über zwanzig T-Shirts, rund zehn Pullover, drei Paar Hosen. Sie packten auch Stifte ein, meinen Laptop und meine Kameraausrüstung.» «Ich wurde dann abtransportiert und in einer Zelle festgehalten, wo ich mich zunächst nackt ausziehen musste. Im Amtshaus Bern musste ich mich den ED unterziehen; also DNA abgeben, fotografieren lassen usw. Danach kam ich zur Staatsanwältin. Die Begründungen für meine Festnahme fand ich nicht gerade stichhaltig. Daher hoffte ich darauf, gleich wieder frei zu kommen. Stattdessen sagte sie mir, dass sie Untersuchungshaft beantrage. Ich wurde in ein an-
deres Gefängnis im Kanton Bern überführt. Nachdem ich registriert worden war, begann meine dreizehntägige U-Haft.» «U-Haft ist eigentlich Isolationshaft, denn ich war 23 Stunden am Tag eingesperrt. Ich stand jeweils um halb 10 Uhr auf und konnte von 10 bis 11 Uhr auf Hofgang mit anderen U-Häftlingen. Dort spielten wir Ping-Pong, erzählten, drehten im Innenhof unsere Runden. Dann gabs Zmittag in der Zelle und danach wurden mir Briefe, die Leute von draussen für mich abgegeben hatten, ausgehändigt. Die ersten Briefe erhielt ich am Mittwoch, also schon fast eine Woche nach dem Beginn meiner Haft.» «Mittwochs und donnerstags konnten wir duschen, dienstags und donnerstag unsere Zellen putzen. An Duschtagen beeilte ich mich immer, um zu einem Insassen zu gehen, der einen Wasserkocher in der Zelle hatte. Dort redeten wir, tranken Tee – dieser menschliche Kontakt war wichtig für mich. Abends schaute ich meistens TV. Wenn der Fernseher das Einzige ist, was du in der Zelle hast, wird der schon ziemlich wichtig.» «Am Samstag nach meiner Verhaftung fuhr man mich nach Bern, wo der Haftrichter U-Haft für bis zu einen Monat aussprach. Das machte mir Angst. Eigentlich rechnete ich bis dahin immer mit meiner baldigen Entlassung. Meinen Anwalt traf ich das erste Mal am Mittwoch, also fast eine Woche nach der Verhaftung.» «Am schönsten war es, als ich Zigaretten, Bücher, Chips und Hygieneartikel ausgehändigt bekam. Damit wusste ich, dass es
draussen Leute gab, die um mein Schicksal wussten. Denn telefonieren durfte ich ja nicht. Mit Chips und Salzstangen konnte ich mir ein wenig Autonomie erkämpfen… Ich konnte fernsehen und Chips essen und mein teils fades Essen nachsalzen.» «Kurz vor meiner Entlassung wurde ich nochmal verlegt, mit der Begründung, dass für mich vor dem Gefängnis Transparente aufgehängt wurden. Das freute mich, trotz der negativen Konsequenzen». Lukas geht zur Schule und nimmt wegen seiner U-Haft fast zwei Wochen lang nicht am Unterricht teil. Seine Mutter wollte ihm Schulmaterial in die Zelle geben lassen. Jedes Buch wurde zunächst durchforstet, ob auch keine geheimen Botschaften darin waren. Bevor die Schulebücher ausgehändigt werden konnten, wurde Lukas entlassen. «Meiner Mutter ging es während dieser Zeit wohl schlechter als mir. Zum Glück hatte sie Kontakt mit meinen Freund*innen und konnte durchhalten. Man half sich draussen gegenseitig. Nachdem ich einige Tage nicht in der Schule erschienen war und mich nicht mehr meldete, kamen meine Klassenkamerad*innen bei mir zu Hause vorbei und riefen sämtliche Spitäler in der Umgebung an. Danach fragten sie die Polizei, die dann widerwillig zugab, dass ich ‹bei ihnen› sei.» «Ich musste nach meiner Entlassung direkt wieder in die Schule, was mich ziem-
» Fortsetzung S.4