AD 12/2017+01/2018

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DEZEMBER / JANUAR 2018 DEUTSCHLAND

8 €

DEUTSCHLAND ÖSTERREICH 13 SFR SCHWEIZ

20 Jahre AD

ARCHITECTURAL DIGEST. STIL, DESIGN, KUNST & ARCHITEKTUR Winterpracht zwischen Engadin und Rocky Mountains

Festlaune

100 Geschenkideen

+ 20 stilprägende Concept-Stores

Weihnachten unter Zebras Auf Farbsafari im Kruger Nationalpark

Von drauß’ vom Walde Stimmungsvoll dekorieren mit Zweigen und Blättern AD Design Award 2017 Das sind die Gewinner


Inhalt Dezember / Januar 90

Studio Alle Jahre wieder … kommt der schönste Schmuck fürs Fest aus den Wäldern. 96 Fokus

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100

Parrot & Co.

AD Award Wie wollen wir leben, fragten wir uns beim diesjährigen AD Design Award. Die Antwort geben fünf grundverschiedene Gewinner: elegant, freigeistig, individuell, naturverbunden – und slightly messy.

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Architektur 112 Projekt Gonzalez Haase AAS 118 Radar

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Kulthaus Häuser können Leben retten. Ainola, die Villa des Komponisten Jean Sibelius am See Tuusula, ist der Beweis.

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Panorama Cover: Paul Raeside, Styling: Gabby Deeming; Fotos: Nude Glass; Jean-Louis Feith; Staatsgalerie Stuttgart

23 Editorial 26 Impressum 31 Edition 32 Top 20 37 AD stellt vor

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Stil 44

Geschenke

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74 Projekt Loewe

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Porträt Die fabelhafte Welt der Leïla Menchari: In ihren Schaufenstern flogen Pferde zum Regenbogen. Eine Hommage an die „Magicienne en chef“ von Hermès. 80 Projekt Swarovski 82 Adresse Poltrona Frau 86 Porträt Löffelholz

Kunst Der Meister von Meßkirch malte die lieblichsten Christusknäblein. Nun zeigt die Stuttgarter Staatsgalerie sein Werk, der Maler bleibt ein Mysterium.

76 Chez Hermès

Morgen Kinder wird's was geben: Verner Pantons rollenden Barschrank, Chanels Raketen-Täschchen, Hays muntere Kaffeekännchen … Und noch viel mehr! 64 Interview Edra

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Adresse Zum 170. Jubiläum schenkt sich die Mayer’sche Hofkunstanstalt eine Edition ihrer 17 Lieblingskünstler.

138 Ausstellungen 140 Bücher 146 Reise Chalets 148 Reise Neuheiten

72 Adresse Parmentier

132 Sankt

Martin

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Inhalt Dezember / Januar 182

Glamore! Giorgio Dantone und sein grandios glamourisiertes Apartment in Mailand.

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Vermittlung, bitte! Wie ein Antiquitätenhändler in einem einstigen südafrikanischen Postamt ein neues Zuhause fand.

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Rocky Mountain High Ein Wahl-Australier und seine elegante Ferien-Festung mit Weitblick in Colorado.

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206 Summaries 208 Apropos 210 Gewinnspiel

Colorado cool

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Leben 152

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Luisa & Sole

Schau ins Land! Jeder Balken dieses alten Bauernhauses im Engadin erzählt eine ganz eigene Geschichte. Ihr Dramaturg: der Architekt Duri Vital.

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Malewitsch in Mailand Kommt Nachwuchs, kommt Ordnung: eine Grafikerin, ein Galerist und ihre Wohnung als Bühne der Moderne.

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Fotos: Tim Street-Porter; Helenio Barbetta / Living Inside; Cy Twombly / Sieveking Verlag 2017

Der Geist von Madame Claude In den Gärten des Château de La Ballue feiert der Surrealismus der 70er Jahre eine wildromantische Party mit der barocken Kunst des Pflanzenschnitts.

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Butterfly Effect Der Flügelschlag farbenfroher Insekten: auf Safari in der „Singita Sweni Lodge“ tief im Busch des Kruger Nationalparks in Südafrika.

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BücherFest 13


AD Editorial

„Früher war mehr Lametta? Mag sein. Wir setzen diese Weihnachten auf Eukalyptus, Birken oder Misteln – der schönste Schmuck kommt immer noch aus dem Wald.“

Foto: Broste Copenhagen; Porträt: René Fietzek

R eden wir über Weihnachten. Das Fest der Liebe, der Leckereien und der Lieder, Sie wissen schon. Oder doch der Tobsuchtsanfälle, Spekulatius-Vergiftung und Fluchtfantasien? Wo das hinführen kann, hat Heinrich Böll (liest man ihn noch?) in seiner bitterbösen Erzählung „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ durchexerziert, die er Anfang November 1952 erstmals bei der Tagung der Gruppe 47 auf Schloss Berlepsch vorgetragen hat. Treffsichere Satire über die res­taurativen Tendenzen der Nachkriegszeit, handelt das Stück von einer Tante Milla aus der Verwandtschaft des Ich-Erzählers, die das Weihnachtsfest im ersten Nachkriegsjahr endlich wieder so feiern möchte wie vor dem Krieg. Leider verfällt sie daraufhin in den Wahn, fortan sei jeden Tag pünktlich um 18.30 Uhr Heiligabend, und hält daran über zwei Jahre fest, egal zu welcher Jah­ reszeit. Jeder Versuch, den Baum abzuschmücken, führt zu aber­ witzigen Schreiattacken der Tante, sodass die Familie sich dazu gezwungen sieht, täglich ein Schauspiel aufzuführen, das zur unabwendbaren Verfallsgeschichte wird. Der Kekse sind eh bald alle überdrüssig, die Spannungen nehmen drastisch zu, Onkel Franz geht fremd, es kommt zu Übertritten zum Kommunismus,

Auswanderung nach Afrika, ein Vetter des Erzählers, Boxer von Beruf, geht als Laienbruder in ein Kloster, irgendwann übernehmen arbeitslose Schauspieler die Rollen der Familienmitglieder – all dies stoisch kommentiert von einem Weihnachtsengel, der von seiner Christbaumspitze herab dank eines geheimen Mechanismus immer die Worte „Frieden, Frieden, Frieden“ flüstert. Tante Milla jedoch ist glücklich. Für einige erzkatholische Gemüter war diese überspitzte Vi­ sion des Heiligen Abends dann doch zu viel, nach Sendung einer Hörfunkfassung (von Heinz Rühmann gelesen) warf Pfarrer Hans-Werner von Meyenn, Leiter der Kirchlichen Rundfunkzen­ trale von Bethel, dem Autor gar die „Verunglimpfung des deutschen Gemüts“ vor. Die Fünfziger eben. Natürlich ist das Drama der weihnachtlichen Deko nicht jedermanns Geschmack und Schneespray an den Fenstern auch wirklich keine stimmungsrettende Sache bei 17 Grad plus am 24. Dezember. Bevor Sie sich aber über die Festtage von Schauspielern vertreten lassen oder in ein Kloster emigrieren, greifen Sie doch zu einer kleinen Kolonie der grafisch-feinen Papierbäumchen von Broste Copenhagen (o.) oder werfen einen Blick in unsere umfangreiche „Zweigkunde“ (S. 90 ff.). Früher war mehr Lametta? Mag sein. Wir setzen auf Eukalyptus, Birke und Maiglöckchen. Nicht nur zur Weihnachtszeit.

Oliver Jahn

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Stil

Geschenke, Interview, Adresse, Projekt, Porträt, Studio, Fokus und AD Award

Auf die Plätzchen …

Foto: Matthias Schönhofer / Studio Condé Nast; Styling: Inka Baron & Judith Pretsch

fertig, los! Schöner backen und einpacken mit: ­ rigamibögen (24 Stück) und Geschenkpapier (im O Zwölferset), illustriert von Gianpaolo Pagni aus der Serie „Bis Repetita“, je 60 Euro herme s.com. Brett „Cut“ (310 Euro) aus Bianco Carrara von Phi­ lipp Mainzer für e1 5 .com. Teigroller (10 Euro) aus ­grünem Stein und Buchenschneidebrett „Field“ (49 Euro) von h ay.dk . Fond: hochpigmentierte Innenfarben „Ivy League“ (Grün) und „Poona“ (Orange), ab 85 Euro / 2,5 Liter c aparol-icons.de.

Redak tion Simone Herrmann & Lilian Ingenkamp

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Stil Porträt

Tex t Simone Herrmann

Die fabelhafte Welt der Leïla Menchari

L ampenfieber?“ Leïla Menchari lächelt. „Bis heute. Und zwar so sehr, dass mir fast schwindlig wird.“ Nun, kurz vor ihrer Ausstellung im Grand Palais ist es wieder so weit. „Hermès auf Flügeln. Die Welten von Leïla Menchari“, so hat das Pariser Haus seine Hommage an jene Frau genannt, deren Fantasie ferne Galaxien, orientalische Märchen und Pariser Geschichten in die Schaufenster an der Rue du Faubourg Saint-Honoré Nummer 24 zauberte.

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Den silbernen Palast einer Maharani genauso wie eine Strandpromenade in Deauville, Neptuns grüne Grotte, afrikanische Dörfer, Rennpferde aus Luft, einen fliegenden Meteoriten … „Ach ja, den hatte mir Albert Féraud, der Bildhauer, aus einem Metallblock gemacht, der kreiste wirklich im Raum!“, erinnert sich Menchari. Chef-Dekorateurin und Direktorin der Hermès'schen Farben lauten ihre Titel, aber selbst das französische directrice de la palette klingt viel zu prosaisch für ihre atemberaubenden Kunstflüge in den luftigen Sphären der Fantasie. Sie selbst nennt sich „das irrationale Element“ bei Hermès. „Magicienne en chef“, schlägt Axel

Fotos: Edouard Boubat; Guillaume de Laubier; Jean-Louis Feith

Sie ließ magische Pilze und orientalische Paläste in ihren Schaufenstern wachsen. Mit sagenhaften 90 Jahren legt Leïla Menchari nun ihren Zauberstab zur Seite. Eine Hommage an die Grande Dame von Hermès.


„Leichten Fußes aufbrechen“ nannte Leïla Menchari (li. S., Porträt von Edouard Boubat, 1985) ihre Schaufensterinstallation (oben, Frühjahr 1995), für die Chris­tian Renonciat die Holzskulptur schuf, während sie mit dem Dekor von 1982 (u.) auf eines ihrer Lieblingsthemen zielte: Rot, Blau, Grün, Gelb! Ausstellung „Hermès à tire-d’aile. Les mondes de Leïla Menchari“, Grand Palais, Paris. Bis 3.12.2017, hermes.com

Dumas, Präsident des Hauses vor. „Als ich ein Kind war, glaubte ich, Leïlas Schaufenster seien lebendig“, erzählt er, „dieser Wirbel aus Duft, Farbe, Glitzer!“ Von ihr habe er gelernt, Formen und Farben genau anzusehen. „Über zwei Beigetöne sagte sie einmal: ,Das da ist feuchter Sand, die andere Nuance trockener Sand.‘ So wurde der Unterschied klar, erst das Wort rief die Vorstellung hervor, die Emotion.“ „Die Realität“, erklärt Menchari, „interessiert

mich zutiefst, man muss nur genau hinschauen.“ Aus der Betrachtung von Muscheln, Korallenfächern oder Spinnennetzen, selbst aus einer Taschennaht könnten sehr surreale Bilder entstehen. „Ihre Formen weisen mir den Weg zu meinen inneren Bildern.“ Überhaupt habe sie der Surrealismus sehr beeinflusst – als Dalí seine Uhren zerfließen ließ, studiert sie Kunst in Paris. Und so ist auch das wohl schönste Porträt von ihr, Edouard Boubats Fotografie aus den 80er Jahren, ein surreales Bild. Wie eine Torera, das dunkle Haar streng zum Chignon gebunden, mit Krawatte, weißer Bluse und dem Anflug eines Lächelns, sitzt sie im Her­mès-Schaufenster, ein Stück Stoff ist ihre Capa, während sich die Straßenszene am Faubourg 24 im Glas spiegelt: Ein glatzköpfiger Herr zückt den Fotoapparat, und ein Pferd aus Holz trabt über den Zebrastreifen … Nichts scheint unmöglich in der Welt jener Frau, die Schaufenstergestaltung in eine Kunstform verwandelt hat. „Ich bin zugleich Komponist, Dramaturg, Bühnenbildner, aber im Grunde“, sagt sie, „möchte ich einfach den Menschen etwas über Hermès erzählen, den Parisern, aber auch den Touristen, den Kindern und besonders den einfachen Leuten, die sich sonst nie über unsere


Tex t Uta Seeburg

Der schönste Schmuck fürs Fest kommt aus den Wäldern. Um Zweige ranken oft Legenden. Und sie befruchten jeden Stil.

Fotos: Our Food Stories; Kira Brandt / House of Pictures, Styling: Trine Nørgaard / House of Pictures; Paul Raeside und Gabby Deeming

Wie treu sind deine Blätter

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Stil Studio

A

ge Wolke über einer Tafel schweben ließ. sen schneidet man traditionell am 4. De„Die klassischen Zweige für die Adventszeit zember, dem Todestag der gleichnamigen sind natürlich die immergrünen: Tanne, Märtyrerin: Auf ihrem Weg in den Kerker lle Jahre wieder: Während manche eine Kiefer, Lorbeer, Olive, Eibe“, erklärt Florist verfing sich der Legende nach ein Kirschwohlige Gänsehaut bekommen, wenn sie Andreas Pilz von Flor & Decor. „Sie stehen zweig in ihrem Kleid. Barbara tränkte den nur das Knistern von Geschenkpapier für ewiges Leben.“ Zweig während ihrer Gefangenschaft, und ­hören, fürchten andere nichts mehr als er erblühte am Tag ihrer Hinrichtung. Heudas Bling-­Bling in den Kaufhäusern und Was ist wo entsprungen? te sollen die Blüten an Heiligabend aufgePunsch­abende in Wohnzimmern, in denen Es gibt wohl kaum ein anderes Fest, das hen; es kann helfen, die Zweige ein paar offenbar eine Schlittenladung künstlicher mehr Überkreuzungen aus religiösen Tra- Tage in den Tiefkühler zu legen, um Frost Eiszapfen explodiert ist. Von wegen „drauß’ ditionen und säkularen Bräuchen zu bieten vorzutäuschen. Ähnlich schön entwickelt vom Walde“ … Aber gerade dort ist der Ort, hat als Weihnachten. Wie man schmückt, sich übrigens der Duftschneeball, der wähan dem der schönste Schmuck zum Fest hängt oft damit zusammen, was man seit rend der Adventszeit kleine rosafarbene wächst: Zweige für Kränze, Gestecke – oder seiner Kindheit mit dieser Zeit verbindet – Blüten treibt, die betörend duften. Installationen wie jener wuchtige Weiß­ in der sich vermutlich auch schon im Urdorn­­ast, den das Floristen-Team von Mary sprung heidnische Symbole (Weihnachts- Ein Strauß an Möglichkeiten Lennox für ein weihnachtliches Event des baum!) mit solch christlichen Attributen „Neben den klassischen grünen Zweigen ist Blogs „Our Food Stories“ wie eine knorri- wie dem Barbarazweig vermischten. Die- alles schön, was Beeren trägt“, sagt Pilz.

Oho, Tannenbaum! Der muss sich warm anziehen bei all den festlichen Beeren und Zweigen. Zu den Nikolausstrümpfen, Sternen und Girlanden bringen Olivenzweige (li.) silbriges Grün an den Kamin – sie sind außerdem ein uraltes Friedenssymbol. Stilwechsel: Für Puristen empfehlen sich ein paar Lärchenzweige in der Vase und Eukalyptusblätter, um einen schlichten Metallkranz gewunden (o.). Für ein adventliches Event (linke Seite) des Berliner Blogs „Our Food Stories“ ließ Floristin Ruby Barber von Mary Lennox einen Weißdornast als urwüchsige Wolke über der Tafel schweben.

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Panorama Kunst

Genie ohne Namen Tex t Hans- Joachim Müller

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Der Meister von Meßkirch malte Madonnen, Heilige und die allerlieblichsten Christusbüblein. Nun zeigt die Stuttgarter Staatsgalerie sein Werk, der Maler selbst bleibt ein Mysterium.


M an möchte so gern erzählen. Von diesem Maler. Wie er aussah. Wie er so drauf war. Wie er hieß. Nicht einmal das weiß man. „Meister von Meßkirch“. Im Lexikon findet man ihn unter „Notnamen“. Fangen so große Kunstgeschichten an? Dabei hat niemand so drollige Jesuskinder gemalt. Sehr klein. Sehr speckig, sehr vergnügt. Ganz anders als die frommen Er­ wachsenen um sie herum. Die alle so dastehen, als seien sie bei der Prüfung durchgefallen. Vor allem die Männer. Es krümmt ihnen die Lebensschwere die Rücken und beugt ihnen die Knie. Und Bär­ te haben sie, unglaublich lang, spitz, zweigeteilt, man könnte ge­ radezu von der Meßkirchner Matte reden. Und wie dem umhaar­ ten heiligen Christophorus das Christusknäblein den rotgoldenen Bart krault, das hat so keiner seiner Zeitgenossen gemalt. Kein Dürer, kein Cranach, kein Holbein, kein Hans Baldung.

Wohl ist er nicht weit herumgekommen. Und die von Alters her obligate Dienstreise über die Alpen könnte man ihm schwerlich nachweisen. Jedenfalls finden sich keinerlei italienische oder gar niederländische Anleihen im überkommenen Werk. Und für Standorttreue wird schon der Dienstherr gesorgt haben. Gottfried Werner von Zimmern, Freiherr und bald auch Graf, der mit seiner verzweigten Familie im oberschwäbischen Meßkirch residierte, wo man noch heute das krustige Weißbrot „Seele“ nennt und Ku­ chen aus dem Ofen kommen, die nur leicht gekippt durch die Tür getragen werden können. Opulent ging es dort schon immer zu. Kaum einer, der damals bei den Stadtgrafen nicht in Arbeit stand. Die Investitionen wa­ ren gewaltig. Das neue Schloss, die neue Stiftskirche St. Martin, die Burg Falkenstein, die Burg Wildenstein, und überall war der Meister von Meßkirch für die Retabel in Kirchen und Kapellen zuständig. Er muss zur angestellten Handwerkerschaft wie die Hofschneider und Gutsverwalter gehört haben und galt den Her­

Fotos: Staatsgalerie Stuttgart (2)

Auch heute noch rätseln die Forscher, wer dieser Maler wohl gewesen sein mag. Bei einem seiner Hauptwerke, dem Wildensteiner ­Altar von 1536 (o.), glaubt man nun, dass er gar nicht für die namensgebende Burg Wildenstein geschaffen worden ist, sondern für das Schloss Meßkirch. Auf der linken Tafel kniet der Auftraggeber Graf Gottfried Werner von Zimmern, der rechte Flügel zeigt Stifterin Gräfin Apollonia von Henneberg in Nonnentracht. Der heilige Sankt Martin (Detail auf der li. Seite) steckt dem Bettler eine Münze zu.

Aber was heißt schon Zeitgenossen? Nicht einmal die sind ja be­ zeugt. Dass der Maler mit dem verlorenen Namen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts gewirkt hat, das legt sein Stil schon nahe. Seine Landschaftshintergründe, die das bizarr Verwachsene der Donauschule haben, wie man es von Albrecht Altdorfer oder Wolf Huber kennt. Die Fantasie-Renaissance seiner Architekturen. Die Gewänder der ehrenwerten und gemeineren Leute, die der Kleiderordnung des Reformations- und Bauernkriegszeitalters entsprechen – aus all dem lässt sich mit Fug schließen, dass unser Meister tätig gewesen sein muss, als die gelehrte Kunst des huma­ nistisch geprägten Jahrhundertbeginns in die munter versponne­ nen Erzählformen des Frühmanierismus überging.

ren nicht mehr als das ganze spezialisierte Gefolge. In der Zimmern’­schen Chronik, einer der raren Urkunden mit ausführ­ lichen Lebensbeschreibungen des 16. Jahrhunderts, ist kein Maler verzeichnet. Für uns fast unvorstellbar, dass einer, der offensicht­ lich zu höchster Zufriedenheit die gräflichen Anforderungen er­ füllt, sich mit dem auskömmlichen Titel eines Dienstleisters be­ gnügt und auf das Markenprädikat Künstler so wenig Wert legt, dass er der Nachwelt tatsächlich nur noch als Meister von Meß­ kirch erhalten geblieben ist. Gut möglich, dass es auch an den strikten Vorgaben lag und zur freien Werkentfaltung gar keine Möglichkeit bestand. Denn Gott­ fried Werner von Zimmern ließ sich in der Familienchronik als

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Schau ins Land! Jeder Balken dieses alten Bauernhauses im Engadin erzählt eine ganz eigene ­Geschichte. Ihr Dramaturg: der Architekt Duri Vital.

Tex t Gesine Borcherdt Fotos Christoph Theurer


Guarda

Die Familie, die sich hier im Esszimmer auf den ungarischen Thonet-Stühlen (über Barokoko) zusammenfindet, pendelt zwischen Hongkong und London. Hinein führt die alte Heurampe. Die antike Tür im Hintergrund ist weit gereist. Sie stammt aus Af­ ghanistan. Linke S.: Hölzerne Läden verschließen die Panoramasicht ins Unterengadin – wenn man mag.

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Bazouges-la-PĂŠrouse

Der Geist von Madame Claude Tex t Simone Herrmann Fotos Yann Monel


In den Gärten des Château de La Ballue feiert der Surrealismus der 70er Jahre ­eine wildromantische Party mit der barocken Kunst des Pflanzenschnitts. Das liegt am Geist einer Pariser Verlegerin, deren Erbe noch heute – grünt!

Ein Stück Himmel (li. S.), gesäumt von Erlen und Birken, auf denen sich im Winter ­Krähen versammeln, während im jardin maniériste von La Ballue Rasen­flächen, Buchskugeln, Eibenskulpturen und die Wellenhecke im Takt des Architekten Hébert-­ Stevens ihr sphärisch-kubistisches Ballett tanzen.

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Cover: Paul Raeside

Das Beste aus Interior, Stil, Design, Kunst und Architektur.


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