AD 06/2018

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ARCHITECTURAL DIGEST. Stil, Design, Kunst & Architektur

Kunstfell

Der Flokati-Palast von Hollywood-Legende Jayne Mansfield

New Rokoko Künstlerin und Kunstfigur Élisabeth Vigée Le Brun, It-Girl am Hof Marie-Antoinettes

Juni 2018 Deutschland 8 € Deutschland, Österreich / 13 SFr Schweiz

Leben in der Kunst Die knallbunte Wohn-Installation des Galeristen Jeffrey Deitch

Die Kunst der Trennung

Federleichte Raumstrukturen mit Paravents & Co.

Deutschland  Juni 2018 / 8 Euro


Inhalt Juni 80

Kulthaus

91 Bücher 92 Ausstellungen

Im Leben von Hollywood-Legende Jayne Mansfield war vieles larger than life, etwa ihr Pink Palace in Bel Air.

Reise

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Panorama 86

Kunst 80

We love you, Jayne!

Am Hof Marie-Antoinettes malte Élisabeth Vigée Le Brun umstürzlerische Porträts – und schuf ein hinreißendes Bildnis ihrer Zeit.

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Tanten, Katzen und Tapeten. Wir sprechen mit Kelly Wearstler über das von ihr gestaltete „Proper Hotel“ in San Francisco. 98 Reise Neuheiten

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Farm der Tiere

23 Editorial 24 Impressum 29 Entdeckung 30 Agenda 35 AD stellt vor

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Stil 38

Neuheiten Rock 'n' Rokoko: Straußenfeder-Leuchten, Recamièren und Friedrich Elias Meyer.

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Bau & Bild

46 Projekt Sé 48 Talent Sofía Véliz 49 Projekt Hemmerle 50 Thema Rokoko 52 Adresse Bottega Veneta

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Cover: Pablo Zamora; Fotos: Wiese / face to face; Artěl; Illustration: Juan Benavides

Studio Ob als Paravent oder offenes Regal – Raumteiler sind das Requisit der Stunde. 62 Praxis Bad 64 Porträt Flou 68 Guide Galerie Röbbig

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Architektur 72

Projekt Vom Bleistift zum Rechner und zurück: die Kunst der Architekturzeichnung. 78 Radar

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Inhalt Juni 101

Leben 102

Erkläre, Schimäre! Sein Showroom-Appartement an der Pariser Rue Royale hat Vincent Darré in eine magische Bühne verwandelt, auf der das französische Kunsthandwerk brilliert.

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Gesamtkunstwerk Leben und ausstellen: Das Zuhause von Jeffrey Deitch, dem legendären Galeristen und Ex-Direktor des MOCA in Los Angeles, ist mehr Installation denn Haus. Eine Kuratorenführung.

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Fotos: Pablo Zamora; Bcxsy; Matthieu Salvaing

„Ich bin fasziniert von der Energie der Jungen“ Nicoletta Fiorucci zeigt in ihrem monegassischen Retreat den schönsten Grund, Design und Kunst auf Augenhöhe zu kombinieren.

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Mehr ist mehr Im Rausch der Dinge: John Demsey verwandelt sein New Yorker Haus in einen pulsierenden Reigen aus Farben und Formen, Kunst und Kissen.

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Monaco leuchtet

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Der Ruiz de la Prada-Clan 132

Selbst ist die Frau! Im Norden von Amsterdam katapultierte die Designerin Tjimkje de Boer ein altes Lagerhaus in die Gegenwart.

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La vida colorida

156 AD bei … Salone del Mobile  158 Summaries 160 Apropos 162 Genie & Spleen

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ScreenQueen

Als wären Bibo und Tiffy bei Bridget Riley eingezogen: In Agatha Ruiz de la Pradas madrilenischer Maisonette gehen Farben auf Streife.

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Brâncuși on the Beach Handwerkskunst, Atelier-Atmosphäre und einen Adler als Nachbarn – in Miami mixt Jean-Louis Deniot einen leicht surrealen, doch unbedingt berauschenden Design-Cocktail.

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AD Editorial

„Rokoko 2018 ist kein Kostümfilm, sondern ein Gewebe von Anspielungen quer durch die Stile und Jahrhunderte.“

Foto: Jérôme Galland; Porträt: René Fietzek

B ei Vincent Darré passt sogar die blaugrau schimmernde Haartolle zum Interieur. Und der blaugrau gestreifte Anzug. Was im Fall des französischen Interiordesigners – und er dürfte in dieser Konsequenz konkurrenzlos sein – nicht manieristisch, sondern schlicht als das einzig Mögliche erscheint. Seine Räume (S. 102) sind in höchstem Maße inszeniert, sie verbinden eine selten gesehene Spielfreude und Fantasie mit einer unglaublichen Kennerschaft. Zugleich fragt man sich hier mehr als sonst, ob man denn so wohnen könne in dieser feinst austarierten Wunderkammer (oben links) voller kostbarer Einzelstücke. Vielleicht ist das die falsche Frage, ist doch hier eher feinsinnig-vornehmer Rückzug ins Private das Thema als barockes Repräsentationsbedürfnis. Die Arrangements eines Vincent Darré sind derzeit die avancierteste Form einer Feier des Privaten. Gewissermaßen die Fort­setzung eines François Boucher-Gemäldes mit anderen Mitteln – Rokoko 2018. Darré ist ein Virtuose der Überfeinerung, ein Szenograf im Geiste der Surrealisten, der die entlegensten, schicksten, eigenwilligsten Schöpfungen des französischen Kunsthandwerks zu sprechenden Welten arrangiert. Farbige Strohmarketerien und Bilder fleischfressender Pflanzen, die in die Boiserien aus dem 19. Jahrhundert eingepasst sind. Marmortische, Murano-Lüster, eine selbst gestaltete Tapete im Stil Christian Bérards, Samtpoufs mit Reh­

beinen. Dabei ist die versammelte Fülle nicht Barock, sondern eher ein Einrichtung gewordener Tagtraum. Es war kein Zufall, dass die Rokoko-Maler nicht mehr mit dem Repräsentationsmodus ihrer Vorgänger prunkten, sondern Interieurs voller intimer Momente schilderten. So verschob sich das erzählerische Interesse des Künstlers vom Pomp des Königs auf den Pantoffel der Pompadour. Rokoko 2018 ist kein Kostümfilm. Es ist wie alles in der Postpostmoderne ein trick- und kenntnisreiches Gewebe von Anspielungen, historischen Bezügen quer durch die Stile und Jahr­ hunderte. Es ist angesichts einer immer konformistischer und ängstlicher werdenden Gegenwart der Aufruf, in den eigenen vier Wänden zum Regisseur zu werden, der in den übervollen Fundus der Epochen greift, um daraus ein Arrangement zu formen, das nicht nur Hintergrund des eigenen Lebens wird, sondern immer neuer Ausdruck seiner changierenden Träume. Warum sollte man nicht auch mal dem Wunsch nachgeben, sich zu Hause ein Petit Trianon zu bauen, das eben nicht zur albernen Kulisse wird, sondern mit jener lächelnden Schamlosigkeit, die um die Geschichte der Versatzstücke weiß, diese ganz nach eigenem Gusto arrangiert. Das sind keine Period Rooms und auch nicht der Vorschlag, es doch mal mit Farbe und Mustermix zu versuchen. Unsere Spielidee kreist um ein ganz im Heute ruhendes Rokoko, das mit galanter Leichtfüßigkeit jene Regeln übertritt, mit denen es am besten vertraut ist. Genau darin liegt der Reiz. Genau deswegen ist das Blaugrau einer Haarsträhne manchmal viel mehr als eine Farbe.

O liver Jahn

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Stil Neuheiten

Inhouse-Skater Auf roten Rollen verfolgen die kuriosen „Nakano Twins“ ­von Adam Nathaniel Furman (re. unten) ihre Mitbewohner: als Barwagen, Konsölchen oder Nachttisch, je 6000 Euro. FW adamnathanielfurman.com

Dunkler Charm(e) Nick Caves Lyrics gießen Annoushka x The Vampire’s Wife in Gold. Und zieren sie mit ­Diamanten (und Rubinen), ab 1200 Euro. MB

Liegestellen

Füße hoch!

Jorge Arturo Ibarra beherrscht das Rollenspiel: Drei Minilehnen im Metallrahmen geben „Dorcia Daybed“ (in Samt oder Leder) Struktur, 11 950 Euro.

Auf dieser Chaiselongue liegt man nicht – man drapiert sich! Die vergoldete RokokoRécamière wurde mit einem Blütenprint von Oscar de la Renta bezogen, 8627 Euro.

Alain Gilles’ „X-Ray“–Familie ist nach Sofa und Sessel um zwei Daybeds gewachsen. La Chance führt die Liege mit Eichentisch­ chen oder Polsterlehne, ab 3963 Euro. SF

s tudiot went yseven.com

1 s tdib s.com

lachance.paris

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Fotos: Ruth Ward / Adam Nathaniel Furman Design; Annoushka (2); La Chance; 1stdibs; Studiotwentyseven; Porträt: Julian Furman

annoushka.com


Gewebte Geschichte Prelle et Cie reproduziert his­to­ rische Dessins, etwa „Lampas ­Pondichéry“, 649,50 Euro / m2. SF

Verspielt brutalistisch! Den Schwung aus seiner Kindheit in Russland nimmt Harry Nuriev in ­„Carousel“ wieder auf. Metall und Samt, 35 000 Dollar. MB crosby-s tudios.com

prelle.fr

Halbe Sache? Keineswegs! Die fast schon figürliche „Console D.8“ steht mit beiden Beinen fest an ­ihrem Platz. Wenn nicht ge­ rade einer der Designer des Pariser Duos Garnier &  Linker die fein ausgeklügelte Leichtbauweise aus Mes­ singblech demonstriert: ­allez hopp! Auf zwölf Stück limitiert, 19 200 Euro. FW

Fotos: Prelle et Cie; Clemens Kois; Artěl; Garnier & Linker

garniere tlinker.com

Farm der Tiere Věra Mauricová für Artěl „Barnyard Collection“ Gläser und Dekanter aus Kristall je 140 und 556 Euro ar tel glass.com

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Stil Studio

Mit Schirm, Charme und Sinn für Proportion Raumteiler sind das Wohnrequisit der Stunde – ob als Paravent, offenes Regal oder als Sichtblende. Merke: Geteilter Raum ist doppelter Raum!

Tex t Reinhard Krause

Transluzenter Regen­ bogen: In ihrem Ma­ drider 30er Jahre-­ Apartment haben die Architekten Belén Moneo und Jeff Brock den Essplatz durch ihre Stellwand „Plexijazz“ vom Entree abgeschirmt.


Fotos: Manolo Yllera, designed by Moneo Brock; Helenio Barbetta / Living Inside; Popham Design; Jérôme Galland

D er Mensch – wie beruhigend! – ist ein lernfähiges Wesen. Als nach dem Zweiten Weltkrieg der Wiederaufbau begann, wollte man vieles anders und vor allem: besser machen. Man strebte danach, die gefühlte und die tatsächliche Enge hinter sich zu lassen, und begann, größere Räume zu bauen, wenn auch zunächst bei ähnlicher Grundfläche. Die Wohnzimmer in den Neubauten wurden luftiger und hatten deutlich mehr Quadratmeter. Die neuen Bewohner allerdings stellten rasch zweierlei fest: Sie konnten (und mussten) auf dieser Fläche unterschiedliche Funktionen unterbringen, klassischerweise etwa Wohn- und Essbereich. Und sie realisierten, dass größere Räume auch höhere Anforderungen stellen, damit man sie als wohlproportioniert und angenehm erlebt. Konkret: Die Leere in der Mitte will gestaltet sein. Und so schlug die Stunde der Raumteiler, die ein Zimmer neu strukturieren, sei es in Form beidseitig attraktiver Möbel oder als optische Gliederungshilfen. Natürlich ist der Raumteiler keine Erfindung der Nachkriegszeit. Sein wichtigster Vorläufer war der Paravent im Boudoir. Während es am Hofe des Sonnenkönigs eine hohe Gunst war, dem Souverän bei der Morgentoilette zusehen zu dürfen (der König also keine Intimsphäre besaß), wurde im Boudoir sehr wohl zwischen einem (halb)öffentlichen Bereich und einer blickgeschützten Zone zum An-, Um- und Entkleiden unterschieden. Das Gebot der Schicklichkeit stand als mehr oder minder klappriger Faltschirm im Raum, das machte den Reiz dieser Erfindung aus. Wer sich heute auf dem Immobilienmarkt umsieht, versteht sofort, dass der Raumteiler gerade ein Revival erlebt. In Hamburg etwa gibt es in den neuen Quartieren der Hafencity und rund um den Altonaer Bahnhof kaum eine Wohnung ohne loftartigen „offenen“ Großraum, in dem Küche, Wohn- und Esszimmer unterzubringen sind. Dies und die offenbar unvermeidlichen bodentiefen Fenster erscheinen den Entwicklern als Nonplusultra der Käuferwünsche – mit der Folge, dass es in den so entstehenden Wohnungen kaum noch Wände für Schränke gibt. Zum Glück greift die

Statt auf Wände schwört Andrea Marcante von UdA auf „leichte Lösungen“ wie das Regal mit Sichtblende o. Im Pariser Apartment u. li. ersetzten Dimore Studio die Vorhänge durch einen Paravent. Unten re. ein Raum-im-Raum-Bad mit Fliesen von Popham Design.

Möbelindustrie helfend ein – mit Regalsystemen, die von beiden Seiten schön sind, und mit mobilen Stellwänden, die den Schall wie den Blick absorbieren. Decorators wie Dimore Studio haben den Zug der Zeit erkannt und setzen Paravents zunehmend auch als Vorhang-Ersatz ein. Obwohl direkt am Fenster aufgestellt, bleibt ihre Funktion als Raumteiler erhalten – dort der öffentliche Außenraum, hier der blickgeschützte, aber zugleich vom Ruf des Spießigen befreite, ja möglichst mondäne Privatbereich. Ein Hauch von cache-cache bleibt dabei durchaus im Spiel.

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Küche des Monats Redak tion Karin Jaeger

Tex t Andreas Kühnlein und Mona B erger s

Küche:

Custom-made in Sweden St ylin g: Anna Furbacken O r t: Göteborg, Schweden

Das macht sie b e sonder s:

Wohlklang lässt sich auch aus einfachen Harmonien komponieren – geschickt gesetzte Kontraste vorausgesetzt: Hier tönen Schwarz und Pastell, Marmor neben unbehandeltem Holz, Wiener Kaffeehaus-Chic mit nordisch-rustikaler Note.

Materialien:

∙A rbeitsplatte aus Marmo rosso di Verona ∙U nterschränke von Ikea mit Fronten von Picky Living in Matt­schwarz (NCS S 900-N) ∙Ä hnliche Wandfarben bei Little Greene, etwa „James“ und „Pale Wedgwood“

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Fotos: Anders Bergstedt: Thomas Skroch; Artek; Olivier Giroud; Andreas Valbuena; Northern; Ariane Prin; Bloc Studios; Ferm Living; Alessandro Paderni; Anya Hindmarch

Aus s tat tung:

∙ Herdkombination von Bosch ∙ Leuchte „Semi Pendant“ von Gubi in Anthrazit, glänzend ∙A rmatur „Linus-S“ mit Schlauchbrause von Blanco ∙K erzenleuchter von Josef Frank für Svenskt Tenn ∙S tühle aus der Serie „233“ von Thonet, hier in Esche


Stil Praxis 2 1

#picobello

D uftkerzen sind Idyllen für die Nase, man könnte auch sagen: Nasentäu­ scher. Während wir im Wohnzimmer sitzen oder über den Flur gehen, gau­ keln sie uns vor, wir wären an einem anderen, verlockenden Ort. Eukalyp­ tus und Rosmarin etwa sollen uns in den „Hamam“ entführen (rituals.com) . Vorfreude, heißt es, sei die schönste Freude. Dann gibt es Kompositionen, die sind wie Inszenierungen von Robert Wilson. Legendär wurde „Ré­ volution“ (trudon.com) mit Aromen, die Pulverdampf und frisches Brot heraufbeschwören – „Les Misérables“ für daheim. Mit „Anya Smells“ be­ schreitet Modedesignerin Anya Hindmarch einen neuen Weg. Die Düfte ihrer Kerzen (je 55 Euro, über Loden­ frey, a nya h in dm a r c h .c o m) sind so über­raschend wie profan. Sie riechen nach Waschpulver, Sonnenöl, Baby­ puder oder Zahnpasta (unten) . Letzte­ res ist eine Mixtur aus Pfefferminz, Menthol, Grapefruit und Rhabarber. Zähneputzen als Erlebnis – was will uns die Designerin damit sagen? Dass unser tägliches Leben mehr comic relief braucht. Und dass die banals­ten Rituale sich als erstaunlich nuancen­ reich erweisen können. Ach! Alltag, du riechst so gut … RK

Pflanzgefäße

Herr Lavendel zieht um

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Hier lässt sich schick Wurzeln schlagen: 1 „Riihitie“ stand einst auf der Terras­se der Aaltos. Reedition, ab 88 Euro ar tek.f i 2 Pierre Yovanovitchs Wahl: Ton-Unikate aus der Nähe von Lyon, 215 bzw. 430 Euro l o r an g e rie.fr 3 + 8 Stahlrohr mit Plastik­ geflecht: Sebastian Herkners sonnengelber Pflanzenständer „Circo“, 68 cm hoch, 459 Euro (ame sliving.de) und der bunte „Jardin Suspendu“, je ab 762 Euro moroso.it 4 „Oasis“ aus Terrakotta mit Wasserspeicher, 65 Eu­ro nor thern.no 5 Gips, Acryl und Metallpartikel gießt Ariane Prin zur Serie „Rust“; 57 cm breite Planters, ab 1400 Pfund (Töpfe ab 50 Pfund) p rin .in 6 Arabescato-Schale „Rebecca“, ab 700 Euro bloc-studios.com 7 „Bau“ in galvanisiertem Stahl, 38 cm hoch, 69 Euro fermliving.de

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Architektur Projekt

Ohne Zeichnung ist Architektur undenkbar, im Wortsinn: Im Bild nimmt das (noch) nicht Gebaute erstmals Form an. Vom Eigenwert einer Gattung, die erst im Verweis zu ihrem Recht kommt und – beinahe – Kunst ist. Eine Wiederent­deckung des Schönen jenseits digitaler Renderings.

Tex t Andreas Kühnlein

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Jenseits des Uncanny Valley Wo Computer Lichteinfall und Reflexionen, Schattenwurf und Textur berechnen, mag das Ergebnis noch so verführerisch echt an­muten – es bleibt meist ein spürbar unwirkliches Halbwesen. Die Architekten von Diagrama haben sich von der glatten Kühle computergenerierter Weltmodelle deshalb ganz verabschiedet und beleben ihre Entwurfscollagen, in denen sich ­Monet bestens verträgt mit Toulouse-­Lautrec, mit ­allerlei ­Zitaten aus der Kunstgeschichte. Grö­ßen­vergleich oder atmos­phäri­sche Verortung? Die illustre Besetzung liefert beides und markiert zugleich den Status der Szenerie: nicht bloßes Abbild, sondern eher künstlerischer Ausdruck. diagramaarquite c tos.com

Illustrationen: Diagrama; Office Kersten Geers David Van Severen (2); Emily Seden-Fowler

Vom Bleistift zum Rechner und zurück


Eine Frage der Perspektive Ein Bild soll eine Idee, die äußere Anmutung und die Raumerfahrung transportieren, am besten gleichzeitig. Das erprobt Office Kersten Geers David Van Severen gern in Doppelbildern (rechts das Centre for Traditional Music in Bahrain). Die belgischen Architekten entwickelten dabei ihren eigenen Realismus, freilich nicht im fotografischen Sinn: so viele Schichten und Effekte wie nötig, so direkt und unverstellt wie möglich. Was übrigens übers Entwurfsstadium hinaus funktioniert: Die fotografische Antwort vor dem fertigen Bau gibt oft Bas Princen, mit dem die Architekten eng zusammenarbeiten. Seine Aufnahmen testen den Blick der Skizze am realen Objekt. of f icekgdvs.c om

Mehr als die Summe seiner Teile Es gibt Visualisierungen, die jedes Detail erfassen – und denen doch das Ganze entgeht. Wer hingegen zeichnet, der interpretiert. Emily Seden-Fowler ist Architektin und Illustratorin; zwei Bega­ bungen, die genuin zusammengehören, weil man „seinen Entwurf während des Zeichnens fortwährend in neuem Licht sieht“. Virtuos

wechselt sie vom Analogen ins Digitale und zurück: Bleistift auf Papier; 3D-Modellierung am Rechner, die im Ausdruck übermalt wird; Rückübertragung in den Computer; Kolorierung und Tiefenwirkung. Ihre Studie über eine Bibliothek o. mit vier Jahreszeiten in einem Bild wurde jüngst auf dem World Architecture Festival gewürdigt. scot tbrownrigg.com

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Das It-Girl des Rokoko 86

Tex t Simone Herrmann


Panorama Kunst

Es lebe die Persönlichkeit! Am Hof von Marie-Antoinette malte Élisabeth Vigée Le Brun ihre umstürzlerischen Porträts – und ein hinreißendes Bild des Ancien Régime.

Fotos: The National Gallery, London / CC BY-NC-ND 4.0; Scala / BPK

S ommerluft spielt in ihrem Haar und kräuselt die Feder auf ihrem Strohhut – so steht sie da, 27 Jahre alt, etwas erhitzt von der Sonne, Pinsel und Palette in der Hand: Élisabeth Vigée Le Brun. Ihr Selbstbildnis von 1782 ist Meisterwerk und malerisches Manifest zugleich. Unmittelbar tritt sie dem Betrachter gegenüber, als wollte sie sprechen. Atmet sie? Fast ist es, als ob ihre Brust sich leise hebt und senkt, ein Lächeln spielt um ihren Mund, aber ihre Augen im Schatten des Huts blicken aufmerksam, prüfend. Es ist der Blick einer Künstlerin, die am Hof Marie-An­ toinettes und später an allen großen Fürstenhöfen Europas ge­feiert wird, die im Laufe ihres 87-jährigen Lebens über 600 Porträts malt „und nur mit vier oder fünf davon“ zufrieden ist. Mit diesem Selbstbildnis, das sie unter dem Eindruck eines Gemäldes von Rubens malt, dem Bildnis seiner Schwägerin mit Strohhut, löst sie ihren künstlerischen Anspruch ein. Bei Rubens entdeckt sie die „wundervolle Wirkung“ zweier Lichteffekte für ihr Bild: „Die Glanzpunkte kommen von der Sonne, während das Tageslicht das wiedergibt, was ich in Ermangelung eines anderen Wortes ,die Schatten‘ nennen muss. Vielleicht muss man Maler sein“, notiert sie in ihren Memoiren, „um die Kunstleistung von Rubens voll würdigen zu können.“ In der Tat. Farbige Schatten, Valeurs! – 100 Jahre nach ihr werden die Impressionisten mit dieser Beobachtung die Kunstgeschichte revolutionieren. Aber auch Élisabeth Vigée Le Brun traut ihrem Auge, das sie an Rubens, van Dyck, Rembrandt und Raffael geschult hat, und bringt für die Epoche Unerhörtes auf die Leinwand. Sie malt den Moment, in dem sich ihr eigenes Menschsein und das ihres Gegenübers begegnen, Psychogramme. Ihre Modelle schauen uns an – schelmisch, maliziös, amüsiert, abgeklärt, keck. Ein Dialog entspinnt sich, wird zu Interesse, Sympathie – zum Flirt über die Jahrhunderte hinweg. Vive l'individu! Nieder mit Standesdünkel, Reifrock, Puder und Perücke! Es lebe die Persönlichkeit! Die Lehren der Aufklärung, Rousseaus Ruf „Zurück zur Natur“ klingen in ihren Bildern. Aber es ist eine kunstvoll insze-

nierte Natürlichkeit, un désordre savant wie ihre wilden Locken, wie das „zufällig“ von der Schulter gleitende Negligé, die gelöste Schleife … Und sie wäre nicht das Kind ihrer Zeit, malte sie nicht flüsternde Seide, die Glätte von Atlas, knistrige Spitze, Pelz, Federn und nackte Haut, so fein wie der Samt auf Schmetterlingsflügeln. Malerei als Flirt. Sie lässt Fuchsrot mit kühlem Blau und Violett kokettieren, schlägt samtrote Akkorde und immer wieder perlmuttzarte, lichtblau-ätherische Töne an. „Du wirst einmal eine große Malerin werden, wer, wenn nicht du!“ Élisabeth Vigée ist sieben Jahre alt, als ihr Vater sich über eine ihrer Zeichnungen beugt und ihr das sagt. Denn das Kind malt, seit es ein Kreidestück halten kann, Landschaften, Figuren, Gesichter, wie es gerade kommt. Doch Louis Vigée, Pastellmaler und charmanter Hallodri, stirbt, als sie zwölf Jahre alt ist. In diesem Satz bleibt er bei ihr. Und sein Glaube an ihr Talent. Der Satz tröstet sie, denn die Mutter zieht ihr den kleinen Bruder vor. Für das blasse, zu schnell in die Höhe geschossene Mädchen hat die Coiffeuse nicht viel Interesse, der Junge soll Literat werden, das Mädchen heiraten. Was sonst? Das ändert sich bald, denn schon mit 15 verdient Élisabeth Geld mit ihrer Malerei, viel mehr Geld, als ihre Mutter es sich je für ihren Sohn hätte erträumen können. Und sie ist hübsch geworden, ein pfirsichzartes Persönchen mit kitzelndem Lachen. Auf der Straße sehen ihr die Leute hinterher, so bezaubernd ist sie. Ihre Looks à la grecque – leichte weiße Mus­selinkleider und malerisch im Haar drapierte Schals – kommen in Mode. Künstler, Dichter, Musiker, Herzoginnen und Schauspielerinnen lassen sich von ihr porträtieren, die Brüder des Königs und die jeunesse dorée von Versailles, schließlich die Königin selbst. Nach der Arbeit (oft bis zur völligen Erschöpfung) gibt sie illustre Partys. Manche ihrer Modelle treiben das Tête-à-Tête im Atelier etwas zu weit. „Ich bin gerade bei den Augen“, sagt sie dann. Und malt die allzu Rubens’ Lichtregie in­spirierte Élisabeth Aufdringlichen „mit verlorenem Blick“. Vi­gée Le Brun zum So jedenfalls steht es in ihren Memoi„Selbstbildnis mit Stroh­­ren, die sie, 80-jährig, in den 1830er Jahhut“ (li. S., London, ren schreibt. Sie muss sich rechtfertiNational Gallery). gen, denn ihre grandiose Karriere, ihre Nach der Flucht aus Paris bekennt sie sich Unabhängigkeit als Frau und Künstlerin 1790 in ihrem ­Por­schüren Neid, bei Frauen, aber vor allem trät (oben, Florenz, bei Männern. 1776 heiratet sie den Ma­Uffizien) als Royalis­tin, ler und Kunsthändler Jean Baptiste Le auf ihrer Staffelei: Brun. Er verschleudert ihr Geld mit das Bild der Königin!

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Madrid

La vida colorida Als wären Bibo und Tiffy bei Bridget Riley eingezogen: In Agatha Ruiz de la Pradas Maisonette gehen Farben auf Streife – und Streifen aufs Ganze.

Tex t L arissa B eham

St yling Pete B ermejo

Fotos Pablo Zamora


Ein ganz schön bunter Vogel: Exzentrik hört für die Hausherrin nicht beim Fe­ derkleid auf. Der spanische Maler Wen­ ceslao García bemalte Böden und ­Wände ihres 450 Quadratmeter großen Apartments. Das Lackgemälde an der Wand stammt von Markus Weggenmann, die „Sitzskulptur“ von Franz West.

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