AD 02/2019

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ARCHITECTURAL DIGEST. Stil, Design, Kunst & Architektur

Deutschland  Februar 2019 / 8 Euro

Botanisches Theater

Der zarte Minimalismus des Ikebana-Meisters Toshiro Kawase

11 Quadratmeter Paris

Weiße Wohnbox zum Aufklappen

Wochenende in der Jurte

Februar 2019 Deutschland 8 € Deutschland, Österreich / 13 SFr Schweiz

Nomadenarchitektur wird sesshaft

Raumwunder Kleine Wohnungen zeigen Größe


Inhalt Februar 81

Stars des Boudoirs 88

Projekt Architekt Peter Jurkovič machte aus einem kreisrunden Sommerhaus am See die aufregend schlichte Neuinterpretation der traditionellen Jurte. 92 Radar

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„Fou Fou“ Foujita

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Panorama 96

25 Editorial 32 Impressum 37 Entdeckung 38 Agenda 43 AD stellt vor

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Reise I

Das Leben als Performance: Foujita schuf Impressionismus mit japanischen Mitteln – Leinwände, so schön wie Porzellan.

Wo einst Apollo-Astronauten trainierten, steht jetzt Islands erstes Fünfsternehotel.

100 Ausstellungen

Stil

Racing Carpets

Cover: Stephan Julliard; Fotos: d’Ora / Ullstein Bild / Getty Images; Nendo Design for Minotti; Gucci; Benjamin Brinckmann / Studio Condé Nast

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58 Thema 63 Talent

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105 Bücher 106 Reise II 108 Reise Neuheiten

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Neuheiten Unsere Style-News: von rasend schönen Teppichen bis zum Miró-Tafelgeschirr.

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Kunst

Teppich „Asmara“ Federico Pepe für CC-Tapis Baumwolle, Wolle 4948 Euro cc-t ap is.com

Porträt Hermès-Carrés, Glasfenster, eine Tapisserie für Aubusson, eine eigene Galerie – willkommen in der Welt von Pierre Marie! 68 Interview Knoll 72 Porträt Mille 74 Studio 80 Praxis Küche

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Architektur 84

Garten Ein Gott in jedem Grashalm: Toshiro Kawase, einer der größten Ikebana-Meister der Zeit, erklärt seine Kunst.

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Inhalt Februar 111

Leben

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Marta Chrapka

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Grün! Reichlich Inspiration für ihr Londoner Pied-à-terre fand eine Interiordesignerin im Park direkt vor der Haustür.

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Beau Weekend

Fotos: Kasia Gatkowska; Schirmer / Mosel Verlag; Mattia Aquila

In ihrem Wochenendhaus in Honfleur setzen Christophe Delcourt und Jérôme Aumont ihre kunstvollen Designs in einen Rahmen aus Tannenholz.

128

Poetry-Glam So pariserisch ist Warschau: Wie Marta Chrapka die fad sanierte Altbauwohnung eines Schriftstellers wieder wachküsste.

138

Auf die inneren Werte kommt es an Architektur als Origami: In Paris schufen Rebecca Benichou und ihr Batiik Studio ein winziges Raumjuwel.

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Verschwende Deine Jugend

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Traum in Tuffstein

Eine junge Frau, die in Rom die Gegenwart sucht, und eine Designerin, die die Stadt immer wieder verlässt, um sie zu finden – das perfekte Team für dieses Pied-à-terre.

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Raumwunder Kann man sich auf 53 Quadratmetern verlaufen? Und ob! Das beweist dieses Ferienhaus bei Neapel.

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Puu der Baum Für Designerin Anna Salonen ging ein Traum in Erfüllung: ein Zuhause im Blockhaus, mitten in Helsinki.

166 AD Design Summit  172 Apropos 173 Summaries 174 Genie & Spleen

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Neue Bücher


AD Editorial

„Ein Zweig mit einer Blüte ist eben mehr als eine Pflanze. Er ist der ­Anfang einer Geschichte, die man selbst vervollständigen muss.“

Foto: Kogei-seika / Shinchosha; Porträt: René Fietzek

S einer Kunst mit Ausrufen wie „Hach, wie schön!“ oder „Wie grazil!“ zu begegnen griffe völlig zu kurz. Hieße es doch, gänzlich die spirituelle Dimension der Arbeiten Toshiro Kawases zu unterschlagen. Der japanische Ikebana-Meister schafft mit seinen Gestecken nichts weniger als ganze Universen. Sich zum Auftakt des ­Jahres in diese so schlicht, so still und stupend inszenierten Naturwunder zu vertiefen bedeutet einen Andachtsraum besonderer Eindringlichkeit (Seite 84). Welcher Reichtum der Imagination sich hier auftut – als würde man geradewegs in ein uraltes Märchen eintreten –, deutet sich an, wenn man den epigrammartigen Erläuterungen des Meisters lauscht. Wir blicken etwa auf einen weiß blühenden Yabudemari-Zweig, einen japanischen Schneeball (schon der Name kitzelt die Vorstellungskraft), und hören gleichsam in die Gedankenknospe hinein, die im nächsten Moment zur Erzählung ausschlagen könnte: „Erschrocken und wehmütig blickt die Süßduftblüte zurück.“ Man muss sich einlassen auf diese vordergründig eben leicht als bloße Dekoration verkennbare Kunst des Pflanzenarrangements, diese Verbeugung vor der Natur, wie man sich auch lange in ein Haiku versenken kann, den klassischen japanischen Dreizeiler, der auf den ersten Blick nur ein Natur- oder Alltagsereignis zu be-

schreiben scheint – fallenden Regen, eine Vollmondnacht, die sich über eine Wiese legt, das Geräusch des Wassers, in das ein Frosch gesprungen ist. Der eigentliche Bedeutungshorizont, über den die konkret geschilderte Situation – oder eben das konkrete Arrangement – hinausweist, die beim Spaziergang aufgelesene morsche Rinde, das zerbrechliche Farnblatt oder wie oben das Armstück einer antiken Bodhisattwa-Skulptur oder der Zweig einer Konifere, dieser Horizont erschließt sich dem Leser, dem Beschauer, erst im eigenen Lebensmoment, man muss ihn selbst vervollständigen. Insofern möchte unsere Geschichte über Toshiro Kawase eben nicht nur bloße Freude über die pure Schönheit solcher Kunstund Vorstellungskraft sein, über die lange überlieferte Fähigkeit, Anmut und Würde im Alltag zum Ausdruck zu bringen, sondern auch leiser Aufruf, immer wieder aufs Neue und auch im neuen Jahr genau und genauer hinzuschauen und – jenseits allzu leicht löslicher Instant-Glücksversprechen – etwas aufzuspüren. Wenn es uns gelänge, bei Ihnen immer wieder einmal ein Gefühl dafür zu wecken, dass es sich mit der Welt, die wir Ihnen Monat für Monat nahebringen, mitunter ähnlich verhält, dann wäre einiges gewonnen: Hier verbergen sich Ansätze, Horizonte, Anfänge von etwas, ausgewählt und verdichtet, um am Ende erst von Ihnen vervollständigt, weitererzählt, in Bewegung gesetzt zu werden. Der japanische Schneeball darf, wenn man ihn denn lässt, eben mehr sein als eine Pflanze. Er ist eine Geschichte.

O liver Jahn

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Stil

Inspiration, Neuheiten, Thema, Talent, Porträt, Interview, Studio und Praxis

Foto: Benjamin Brinckmann / Studio Condé Nast

Boxen-Top Selbst im Parkmodus sind manche „Läufer“ Spitzenreiter: Jan Kath schickt seinen handgeknüpften Wollseiden­ mix „Mamluk Kensington Raved“ (ab 17 000 Euro) ins Rennen, Gufram setzt auf „Dance Floor“ (v., 5800 Euro), ei­ nen schnittigen 3D-Druck aus Polyamid.

Redak tion Simone Herrmann und Sally Fuls St yling Inka Baron und Judith Pretsch Fotos B enjamin Brinckmann

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Stil Inspiration

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Eduardo Chillida, 5377 Euro. Tief auf dem Asphalt liegt Laureline Galliots „Tufty“ für Nodus, ­ein handgetuftetes ­Woll­viskosemodell aus ­Indien, 3180 Euro. ­Auf der Zielgeraden daneben: „Oceanic“ von The Rug Company mit Bambus, Sei­ de und tibetanischer Wolle, handgeknüpft in Nepal, 6450 Euro.

Foto: Benjamin Brinckmann / Studio Condé Nast

Auf die Plätze, fertig, los! Von links oben: Die Außenposition belegt die handgewirkte Tapisserie „Perroquet 02 03“ von Galerie Diurne aus Wolle und Seide, 8500 Euro. In Schräg­lage davor: Nani­ marquinas „Chillida Mano 1993“ aus neuseeländischer Wol­ le, handgewebt nach ­einem Dessin von

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Tex t Simone Herrmann

Ornament und Vergnügen Hermès-Carrés, Glasfenster, eine Tapisserie für Aubusson und jetzt auch eine eigene Galerie – willkommen in der Zauberwelt von Pierre Marie!

D ie Leuchtreklame malt einen absinthgrü­ nen Schnörkel aufs Trottoir. Ein verschlun­ genes Band. Von Weitem sieht der kleine Laden in der Rue Victor Massé 21 aus wie eine Bar aus den 40er Jahren, schummrig und poetisch. Durch die farbigen Glasschei­ ben dringt gelbes Licht. Was sich dahinter verbirgt, scheint an diesem fliederblauen Abend halb Paris zu interessieren: die Ga­ lerie von Pierre Marie! Journalisten, Mo­ deleute und Designstudenten drängen sich vor der Tür, Interior-Star Pierre Yovano­ vitch ist mit seinem Team gekommen, der Künstler bittet auch Nachbarskinder he­ rein, seine Eltern sind da, Handwerker und Freunde. Spät in der Nacht, Pierre Marie will eben den Rollladen an der Tür he­ runterlassen, stoppt eine Limousine am Straßenrand – der Premierminister. Pierre Marie lächelt, als er die vergange­ ne Nacht Revue passieren lässt. Den Trubel, den Erfolg, das Glück. Denn darum geht es ihm. „Etwas Schönes sehen, das ist Glück.“ Ein Objekt, ein Möbel, ein Teppich wirke wie ein Ideogramm, sagt er. „Es sind die


Stil Porträt Und sie sprießen doch! Schaut man lange ­genug in diesen psy­ chedelischen Kräu­ tergarten, scheinen die Pflanzen im Zeit­raffer zu wachsen. In Zusam­ menarbeit mit Robert Four Aubusson entstand 2018 in der berühmten Manufaktur Pierre Maries Ta­pis­ serie „Ras el Hanout“ (links). Limitiert auf drei Ex­emplare, Preis auf Anfrage pier

Fotos: Tadzio; Ambroise Tézenas (2)

remarie galerie.c om

ästhetischen Qualitäten, durch die es im Gedächtnis bleibt, nicht die Funktion oder irgendein Konzept. Das Ornament – sorry, Adolf Loos! – macht den Menschen seit Jahrtausenden Vergnügen, das habe ich als Junge zwischen den Friesen und Vasenma­ lereien im Archäologischen Museum von Athen begriffen. Schönheit ist das, was bleibt. Und das Ornament ist ihre Chiffre.“ In diesem Zwischenreich von Design und Kunst hat sich Pierre Marie mit seiner Wunderkammer eingerichtet und zugleich eine Bühne für das französische Kunst­ handwerk geschaffen. Für die Glasmaler der Ateliers Duchemin, für die Emailleure aus Longwy – für die Bildwirker der Ma­ nufaktur Robert Four Aubusson. Denn hier, wo schon Jean Lurçats Tapisserien entstan­ den, hat er seinen vier Meter langen Karton „Ras el Hanout“ mit der Fliete in Wolle und Seide malen lassen. Die 25 Kräuter der ma­ rokkanischen Gewürzmischung sind da­ rauf. „Chef des Ladens“, erklärt Pierre Ma­ rie, bedeute „Ras el Hanout“ übersetzt, „jeder Gewürzhändler in den Souks hat seinen eigenen Mix. Ich auch!“ Nämlich Safran-Krokus und Lakritz, die weißen Dolden der Engelwurz, leicht und schwe­ bend wie Seifenblasen, Ingwer, Kurku­ ma und Kreuzkümmel, himmelblaue Senf-­ Blütchen, Sternanis, die reizende Vanille, feurige Chili-Schötchen, Kardamomkap­ seln ... Stilisiert sind sie, all diese Pflanzen, und doch so genau beobachtet in ihrer Ei­ genart, dass man das Chlorophyll in ihren Blattadern pulsieren sieht, milchige Sten­ gel und flaumsilbrige Blätter spürt. Leben­ dig scheinen sie, wachsen aus dunklem Grund empor, nehmen Fühlung mit den Serigrafien an den Wänden, Blüten in mun­ terem Seventies-Orange, die mit gepunkte­ ten Bändern verschlungen sind. „Le ruban“, das Band, sei sein Markenzei­ chen, sagt Pierre Marie und zeigt auf das Glasfenster, wo es quer im Medaillon sitzt. Innen gelb, außen blau, ohne Anfang und Ende, ein Kontinuum. Wie der Raum selbst, der den Betrachter verschluckt, ihn von der Zwei- in die Dreidimensionalität beamt und von dort ins Surreale. Im gelben Nicht weit vom Moulin Rouge hat Pierre Marie seine Wunderkammer (li.) eröffnet. Ein Ornament-Feuerwerk, das er in sei­ nem Glasfenster (Ateliers Duchemin), in den ­Serigrafien an der Wand und im Teppich für Nilufar entfacht, alles miteinander verschlungen durch sein Emblem: das Band.

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Mehr als eine Randerscheinung! Lesen, Schlafen, Kochen, Essen, Träumen, Arbeiten: Nischen bieten ein Plätzchen für vieles – und sind Joker in kleinen Wohnungen.

Tex t Karin Jaeger

In einem Pariser Apart­ment fügte das Interiorstudio Double G eine runde Platte in eine bestehende Konche ein und strich alles in Sikkens’ „LN.02.77“. Dazu ein beschwingter Vintage-Stuhl (der bei Bedarf umgestellt wird) – und fertig ist das smarte Mikrobüro!


Stil Studio

Fotos: Nicolas Mathéus / Laurence Dougier / Basset Images – Interiordesign by Double G; Sharyn Cairns; José Hevia

D ie Grundfläche ist klein, doch ihr Potenzial für die Raumgestaltung kann riesig sein. Die Rede ist von Nischen. Sie finden sich in praktisch jeder Wohnung: als eigens angelegte Grundriss-Kapriolen (Erker, Kon­ chen) oder aber als „Rücksprünge“, die sich neben Kaminen oder zwischen wandnahen Regalen, Schränken und Kommoden ergeben. Sie schenken Räumen Individualität, sind aber oft eine Herausforderung für die Einrichter. Denn Nischen haben zwei Gesichter: Was man hineinstellt, verschwindet – oder kommt erst rich­tig zur Geltung. Man kann sie hervorheben oder „überschminken“, als Stauraum, Rückzugsort oder kleine Bühne nutzen. Das Einzige, was man nicht damit tun sollte, ist: nichts. Dann werden sie nämlich zu „toten Ecken“. Und die haben in kleinen Wohnungen nichts verloren! Schließlich muss man dort den Raum optimal nutzen; so zumindest das Mantra der Einrichtungsratgeber. Wie es Sir Terence Conran 2003 im Klassiker „The Ultimate House Book“ zusammenfasste: Mit „glatten Flächen und geraden Linien“ sollte man Miniräume schlicht halten

Lockerungsübungen So wirkt der Nischen-Klassiker luftiger: Hinter dem Spiegel des Apartments in Barcelona oben verbirgt sich Stauraum, doch Designerin Miriam Barrio lockerte die breite Schrankwand durch offene Schubladen und Regale auf. Oben links: Fiona Lynch fand in einem Haus in Melbourne einen schicken Kompromiss zwischen Einbau- und frei ste­ henden Möbeln. Zu beiden Seiten des Kamins platzierte sie spie­gel­ symmetrisch gestaltete Schränke; ihre breiten Marmorsockel schließen die Nische, die durchlaufende Materialität beruhigt die Wand.

und optisch beruhigen; durch „reichlich schützenden Rahmen für vertraute GeStauraum“ zusätzlich für Ordnung sorgen. spräche oder das Nachmittagsnickerchen. Also Nischen zu Einbauschränken? Das Wandnischen sind übrigens auch der mag sinnvoll sein, es lassen sich aber oft ideale Ort, um effektvoll auf das Platzsparindividuellere und zeitgemäßere Lösungen gebot zu pfeifen. „Insbesondere halb­runde finden. „Die Wandnische wird gerade wie- Nischen können sehr sinnlich und dekoraderentdeckt, die im gradlinigen Minimalis- tiv im Raum wirken“, sagt Flachsbarth. mus als störend empfunden und schnell mit „Gerade wenn in ihnen nur eine kleine Einbaumöbeln geschlossen wurde“, sagt Grünpflanze, ein Stapel Bücher oder eine Stefan Flachsbarth, Mitgründer des Ber- Skulptur steht.“ Wer es sich irgendwie leisliner Architektur- und Interiorbüros Bfs ten kann, verzichtet also auf einen Quadrat­ Design. Denn eine Nische, die nicht ka- meter Stauraum – und gewinnt Platz für schiert, sondern eventuell sogar durch ei- Nonchalance und Großzügigkeit. nen Spiegel oder eine dunklere WandfarWie man das Schönste aus dem begrenz­ be betont wird, kann Räumen Tiefe geben. ten Platz macht und was man dabei im Sie kann Geborgenheit vermitteln, einen Blick haben sollte, haben wir auf den folin­timen Rückzugsbereich schaffen, einen genden Seiten zusammengestellt.

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Architektur Garten

Ein Gott in jedem Grashalm Die Grazie des Unperfekten. Toshiro Kawase, einer der größten Ikebana-Meister der Zeit, erklärt seine Kunst. Tex t Roland Hagenberg

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ast könnte man glauben, Toshiro Kawase sei kein Japaner. Laut lacht er, schnell geht’s zur Sache, listig stellt der 70-Jährige Gegenfragen: „Jetzt sagen Sie mir bitte, warum diese traditionelle Vase flach ist! Damit sie nicht umfällt? Falsch! Damit Blumenmeister wie ich leichter Gewächswasser abschlürfen können, um den Reinheitsgrad zu schmecken.“ Kawase, der heute zu den einflussreichsten Meistern der Kunst des Pflanzenarrangements zählt, stammt aus Kyoto, wo die älteste Ikebana-Schule Ikenobo ihren Sitz hat. Drei Linien, die Himmel, Erde und Menschheit symbolisieren, geben Orientierung: shin, soe und tai. Dabei verfolgt Kawase einen freien Stil, der sich nicht strikt an die zwei Hauptströmungen hält: Tatehana, mit betont strengen, aufrecht stehenden Arrangements, und Nageire, mit lose ins Wasser gelegten oder gestellten Blumen. In den 70er Jahren studierten Sie Kunst und Film in Paris, wollten nie wieder zurück nach Japan. Warum kam es anders? Ich war überwältigt von der individuellen Freiheit des Westens. Plötzlich hatte ich ein Zimmer für mich allein und dachte, wie haben die Japaner das nur ausgehalten: keine Privatsphäre, kein Rückzugsort außer vielleicht ein Zimmer für ­Teezeremonien und Blumenarrangements. Aber nach ein paar Jahren erkannte ich, diesem Individualismus fehlt der spirituelle Nährboden für Ikebana, dem ich mein Leben verschrieben hatte. Woraus besteht dieser Nährboden? Im Westen füllt ein Gott, ein einziger, das spirituelle Vakuum, beansprucht alles. Auch Altarblumen. Bunt, aufrecht und prachtvoll müssen sie ihm entgegenstrahlen. Und welken sie, dann haben sie ausgedient, landen im Müll. Dagegen beseelen unzählige Götter das japanische Leben. Jeden Wasserfall, Berg, Baum, jedes Grundstück und Auto bewohnt ein himmlisches Wesen. Der Westen hat seinem Gott ein menschliches Aussehen verpasst. Wir dagegen abstrahieren Spiritualität, versuchen, sie mit Anmut und Schönheit im Alltag zum Ausdruck zu bringen. Und damit auch das Vergängliche, wie etwa Jahreszeiten. Deshalb unsere Faszination für Kirschblüten. Das Blumengesteck landet bei Ihnen nicht auf dem Kompost? Nähert sich das Kunstwerk dem Ende, trage ich es von außen ab, Schicht für Schicht, und verteile die Reste in der Natur. Nicht nur welke Blüten und Blätter, auch Gräser und Äste, die schon verdorrt waren, als sie mir zum ersten Mal begegneten. Als Letztes dann den Stamm, die tragende Achse, die Verbindung zwischen dem Göttlichen und der Erde. Dieses Auflösungsritual erinnert

Fotos: Kogei-seika / Shinchosha

F


Kawase erklärt seine Pflanzeninstallationen wie Epigramme. „Die Beeren des Symplocos-­ Strauchs: das Wasser nahrhaft und unklar wie das Leben. Dem Wirrwarr entkommen wie ­die windenartige Ebi­ zuru-­Ranke.“ Linke Seite: Japa­nischer Rouba mit Kamelienknospe in einer traditionell ­flachen Vase zum „Abschmecken“ des Wassers.


Warum immer in rech­ ten Winkeln leben? Die Idee für ihr Haus ohne Ecken am slo­ wakischen Vojka-See brachten Jurkovičs Auftraggeber vom Bur­ ning Man-Festival mit; der Architekt packte die Wohnvision in eine praktische Kiste – und holte aus beidem das Beste (und ein Maxi­ mum an Platz) heraus.


Architektur Projekt

E

Die Quadratur des Kreises Ein kreisrundes Sommerhaus am See wollten die Besitzer einer Agentur in Bratislava. Architekt Peter Jurkovič machte daraus die aufregend schlichte Neuinterpretation einer traditionellen Jurte. Tex t Andreas Kühnlein

Fotos Peter Jurkovič

s ist so etwas wie das Urmodell allen gemeinschaftlichen Wohnens: Menschen versammeln sich um eine Feuerstelle in der Mitte. Hocken sie dabei im Quadrat? Wohl kaum. Warum also sitzen, stehen, liegen wir bloß immerzu in rechteckigen Boxen? „Ein runder Raum hat eine besondere Qualität“, meint Peter Jurkovič. „Man nutzt ihn anders, und man richtet ihn anders ein.“ Im Idealfall gar nicht, fügt er lachend hinzu – man könne ja nirgends etwas an die Wände hängen oder stellen, was dem Architekten mit Hang zum Minimalismus sehr entgegenkommt. Vielleicht auch deshalb erlebt die Jurte, jahrhundertealte Behausung zentralasiatischer Steppenbewohner, gerade ein kleines Revival, meist als schlichtes Alternativkonzept für konsummüde Aussteiger. Jurkovičs Jurte am Vojka-See bei Bratislava ist freilich keine solche Behelfsunterkunft und auch kein Nomadenzelt, obwohl seine Auftraggeber die Idee dafür passenderweise vom Burning Man-Festival in der Wüste von Nevada mitgebracht haben. Ihr Programm ist durchaus bürgerlich, ein kleines Häuschen am Wasser, nicht weit von der Hauptstadt; einerseits Ferienunterkunft und Retreat für die Hausherren, andererseits ein „Fokusort“ für Workshops und informelle Meetings ihres Teams – die beiden leiten eine Kreativagentur in Bratislava. Dazu passt die gleichrangige, automatische Fokussierung des runden Raums auf sein Zentrum, über dem Jurkovič anstelle des Rauchabzugs ein rundes Dachfenster einsetzte. Es erfüllt den Raum mit Licht und lässt sich im Sommer zur passiven Kühlung mit Schornsteineffekt öffnen. „AnuAzu“ – so nannten die Hausherren ihre Jurte – leiht sich vom zeltähnlichen Original, das Mongolen und Kirgisen wohl vor über 2500 Jahren erfunden haben, vor allem die Grundform. Zum blitzschnellen Abbauen und Transportieren ist Jurkovičs Version freilich nicht gedacht. Trotzdem achtete der Architekt auf den effizienten und ökologisch sinnvollen Einsatz von Materialien: Das Grundgerüst bildet ein Rahmen aus einfachem, lokalem Fichtenholz, als Isolierung dienen Holzfasern, die Außenhülle ist aus schwarzer Baufolie, die passend zum Zeltvorbild unverhüllt blieb. Das offene Gitter aus schmalen Holzlatten,

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Grün!

Lokalkolorit beim Wort genommen: Reichlich Inspiration für ihr entspanntes Pied-à-terre fand eine Interiordesignerin im Park direkt vor der Haustür.

London / 80 m2

Tex t Ian Phillips Fotos Stephan Julliard

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Blätterrauschen und Vogel­ zwitschern hört ­Natalia Maslova, wenn sie an ihrem Schreibtisch von De La Espada sitzt. Linke Seite ein Detail im Wohnzimmer: Der Kamin ist in Farrow  & Balls „Studio Green“ ge­strichen, die Wände in „Apple Smiles II“ von Paint ­ & Paper Library. Wolken­ gemälde von JR Goodwin.


Sonderheft Februar 2019

Streetart


Streetart Editorial

Oliver Jahn

„Flüchtiges und Zeitloses liegen auf der Straße oft direkt nebeneinander – manchmal gleich hinter der ­n ä c h s t e n K u r v e . “

Porträt: René Fietzek

on der Faszination für das Fahren auf zwei oder mehr Rädern bis hin zu den asphaltierten Adern unserer Städte – unser neues Sonderheft widmet sich der Streetart und ihrem Austragungsort im weitesten Sinn: jener Kunst, die auf der Straße stattfindet. Das können auch motorisierte Kunstwerke sein, die das Herz jedes Autoliebhabers höherschlagen lassen; Bilder im Vorbeigehen am Straßenrand; Visionen für das Fahren von morgen. Die Straße, werden Sie jetzt vielleicht sagen, ist ja nun nicht gerade das übliche Terrain einer Wohnzeitschrift. Und doch gehört sie zu unserem Lebensraum – und hat jede Menge zu tun mit allerlei Gestaltungsfragen. Höchste Zeit also, dass AD sich ihr zuwendet und die Schön- und Fremdheiten entdeckt, die tatsächlich einfach auf der Straße (oder direkt daneben) liegen. Man muss nur einen Moment anhalten und sie aufnehmen. Was uns reizt, ist, wie so oft, ein scheinbarer Widerspruch: flüchtige Bilder, die sich mit ewigen Formen treffen. Wenige han-

O liver Jahn

V

tieren damit so virtuos und prägnant wie ein irischer Streetart-­ Künstler namens Conor Harrington, der in Galerie und Atelier ebenso zu Hause ist wie auf der Straße und die Welt mit kämpferischer Geste nicht in Gut und Böse, sondern in Blutrot und Wasserblau einteilt. Von dort gehen, pardon, fahren wir über Solarzellen statt Asphalt, übernachten in einem winzigen Wolkenschloss auf Rädern und entdecken die Zukunft der Straße, von gestern aus gesehen, neu. Wussten Sie, dass die Erfolgsgeschichte des amerikanischen Highways, der ein ganzes Filmgenre prägen sollte und so etwas wie den Archetyp der modernen Verkehrsader darstellt, auf ein elaboriertes „Fahrgeschäft“ von 1939 zurückgeht? Die Rede ist vom „Futurama“, mit dem Norman Bel Geddes auf der Weltausstellung in New York einen kühnen, gleichermaßen weitsichtigen und naiven Blick in eine strahlende automobile Zukunft warf. Bei uns manifestiert sich diese in einer echten Sportwagen­ ikone, die wir, inspiriert von den übermalten Kontaktabzügen des street photographers William Klein, in Szene setzten (und uns in Gedanken hinein). Willkommen also an Bord! Genießen Sie unseren kleinen Roadtrip in die mobile Stilgeschichte, den Blick mal zurück, mal weit nach vorn, aber stets auf die Straße gerichtet.

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Streetart Kunst

Ausweitung der Kunstzone Seine Protagonisten sind in obskure historische Händel vers trick t – doch die Streetar t-Szene weiß Conor Harrington genauso hinter sich wie den Kunstmark t.

Te x t O l i v e r K o e r n e r v o n G u s t o r f


Flagge zeigen – doch wofür, wogegen? Die Kunstwelt des Iren Conor Harrington ­(linke Seite: in seinem Londoner Atelier) ist bevölkert von wütenden Haudegen und blinden Bannerträgern. Malgrund kann eine Leinwand sein, aber auch eine Hauswand in Miami oder ein Tor u. in Grottaglie, Italien.

Porträt: Owen Richards; Fotos: MK Bruix; Angelo Milano

D ie Leinwand ist die Arena des Künstlers“, postulierte der amerikanische Kunstkritiker Harold Rosenberg 1952. Und schickte die Machohelden des abstrakten Expressionismus in den Ring: Pollock und de Kooning. Er zementierte damit die Vorstellung, dass Malerei nichts für Weicheier sei. An Rosenberg könnte man denken, wenn man Conor Harringtons Gemäldeserie „The Story of Us and Them“ betrachtet, die er im Herbst in London ausstellte. Denn der Maler und Streetart-Künstler verwandelt seine Leinwände und gigantischen Wandgemälde tatsächlich in Schlacht­ felder und fight clubs. Seine Helden tragen Uniformen aus dem 18. Jahrhundert. Es sind Offiziere und Generäle, die sich prügeln, ringen und raufen, was das Zeug hält. Mit jedem Hieb fließt aber nicht Blut, sondern Farbe. Rot und Blau spritzen über Harringtons jüngste Bilder, stäuben wie feiner Nebel über Flaggen und Körper. „Das scheinen die beiden einander entgegengesetzten Farben im Leben zu sein“, sagt der in London lebende Künstler. „Ich stehe absolut auf Hip-Hop-Kultur. Die Gangs der Bloods und Crips trugen Rot und Blau, im Boxring gibt es die rote und blaue Ecke.“ Und natürlich bezieht er sich auch auf Republikaner und Demokraten, auf Labour und die Tories: „All die dominanten Flaggen der Welt scheinen rot und blau zu sein.“ Das Paradoxe an Harringtons „Wir gegen euch“-Welt ist, dass die Patrioten in der Schlacht verwischen, sich im Malprozess auflösen. Und mit ihnen die verhärteten Fronten, das männliche Machtgebaren, das Heroische. Er habe sich bewusst für Kostüme aus der Kolonialzeit entschieden, sagt Harrington. In Irland geboren, wisse er, was es bedeute, auf der „falschen Seite der Kolonial-

herrschaft“ aufzuwachsen. „Deshalb entwickelte ich dieses Inte­ resse an politischen Machtstrukturen und Männlichkeit. Wenn diese großen Männer auf meinen Bildern zerfließen, ist es so, als würde ihnen diese Macht entzogen.“ Als „plakativ-schlagkräftig dekonstruierten Klassizismus“ bezeichnet er seine Malweise. Die Szenen auf seinen Bildern inszeniert er zunächst mit kostümierten Schauspielern, fotografiert sie ab, um sie dann auf die Leinwand oder eine Hauswand zu bringen. Seine Ölgemälde bearbeitet er mit Sprühfarbe und Lösungsmitteln, Bürsten und Rakeln, um beides zu erzeugen: den Eindruck altmeisterlicher Virtuosität, eine fast grafische Klarheit – und abstrahierende malerische Gesten, die an Gerhard Richter, James Rosenquist oder Francis Bacon denken lassen.

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Die Kunst bei der Gestaltung eines neuen Elfers liegt darin, aus unzähligen Details ­eine Einheit zu formen, die frisch wirkt, aber auch ihre Herkunft ­erkennen lässt. Ein Vergleich des aktuellen Modells mit dem Ur-911 von 1963 zeigt: Diese familiären Ähnlichkeiten gibt es bei keinem anderen Auto.

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Streetart Mobil

Piece of Art Ein Kunstwerk – aber nicht für die Galerie, sondern für die Straße: Porsche Chefdesigner Michael Mauer u n d s e i n Te a m e n t h ü l l e n e i n e n a u f r e g e n d n e u e n 9 1 1 e r. Te x t C a r l L e o n h a r d P r o d u k t i o n S a m a n t h a Ta r u v i n g a Fotos Stefan Milev Illustration Jan Steins



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