AD 06/2020

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ARCHITECTURAL DIGEST. Stil, Design, Kunst & Architektur

Deutschland  Juni 2020 / 8 Euro

Kraftorte

Sechs Variationen über das, was wir Zuhause nennen

Starke Stimmen Begegnungen und Gespräche mit India Mahdavi, Pierre Yovanovitch, Jan Gehl und Christian Haas

Special

Bad & Spa Neuheiten 2020

Hier & Jetzt Wo stehen wir, wovon träumen wir, was inspiriert uns wirklich? Eine Momentaufnahme


13 Editorial 14 Impressum 17 AD stellt vor

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Stil 18

Neuheiten Der Zeit stets voraus: Die jüngste Kollektion von Muller Van Severen ist ein Balanceakt zwischen Kunst und Design – für das Interior von morgen. 20 Porträt Giancarlo Valle 22 Porträt Studio Besau-Marguerre 24 Thema Lila

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Interview N˚ 2 Axel Meise denkt Licht immer wieder neu. Ein Gespräch über 20 Jahre Occhio und Leuchten mit Lagerfeuer-Feeling.

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Attitude Was jetzt zählt: Wir haben Künstler und Unternehmerinnen, Designer und Sammlerinnen gefragt, was sie bewegt.

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Interview N˚ 3 Das Wichtigste ist jetzt Empathie. Sagt Christian Haas, Deutschlands leiser Designstar aus Porto.

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Interview N˚ 1

Garten

Was sich zwei der besten Interiordesigner der Welt, Pierre Yovanovitch und India Mahdavi, längst einmal sagen wollten …

In Marokko erschuf Umberto Pasti eine Landschaft, in der Rosen wachsen, Lilien – und etwas ganz Seltenes: Glück.

26 India Mahdavi + Pierre Yovanovitch

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Erfrischend!

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Bad Special 51 Armaturen 52 Duschen 53 Bette 54 Wannen 56 Material 58 Salvatori 60 Waschbecken 62 Stauraum

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Interview N˚ 4 Wie man ein zeitgemäßes Home-Spa gestaltet – wer könnte das besser wissen als Gesa Hansen und Otto Braun?

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Inhalt Juni 97

Leben 98

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Marokko erblüht!

L. A. Melange Studio KO verwandelten das einstige Anwesen eines Pornoproduzenten in eine paradiesische Fantasie.

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Der große Unsichtbare So wohnt Luis Laplace – der Designstar, der gern in seinem Werk verschwindet!

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Eintauchen, bitte! Hinter einem Treppenhaus mit Zacken und Kanten erwartet uns in Treviglio die submarine Welt des Daniele Daminelli.

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Ornament und Vergnügen Wie schenkt man einem kantigen Bau in Altadena Wärme? Etwa mit zitrusfrischen Tapeten, weiß Frances Merrill.

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Der Schamane In seinem Altstadthaus in Bayonne beschwört Christian Astuguevieille die Ausgeburten seiner Fantasie.

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Cover: Laure Joliet; Porträt: Matthieu Salvaing; Fotos: Ngoc Minh Ngo; Manufactum; Via; Stephen Kent Johnson

Der Duft der Frauen

Turmherren

Guerlain zählt zu Frankreichs Kulturerbe. Wegen der legendären Düfte, vor allem aber, weil das Haus die Schönheit feiert.

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Interview N˚ 5 Wohin geht das Leben in unseren Städten? Drängende Fragen an Dänemarks Stadtplaner-Legende Jan Gehl.

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Kunst Weil die Zeitgenossen noch nicht bereit waren, vermachte sie ihr Werk der Zukunft. Jetzt sind wir reif für Hilma af Klint! 90 Bücher

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Interview N˚ 6 Wie weiter? Die Reisebranche stellt sich derzeit viele Fragen. Ein Hotel auf Kreta hält bereits ein paar Antworten parat.

Ihr Designbüro heißt Commune, nun wurden Steven Johanknecht und Roman Alonso in L. A. tatsächlich Nachbarn. Auf dem Cover: Eine Zitrustapete und Stahlträger in Beerentönen – so nimmt Frances Merrill einem Sixties-Bungalow die allzu sperrige Note.

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Chez Commune

152 Summaries 156 Apropos 158 Genie & Spleen


AD Editorial

„Unter der Glasglocke des Augenblicks blühen und reifen längst schon unsere Pläne und Träume von übermorgen – wie Blumen, wild und schön.“

Foto: Ngoc Minh Ngo; Porträt: René Fietzek

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enn Umberto Pasti inmitten seiner Gladiolen steht und in die weiten Hügel von Rohuna (o.) blickt, erinnert ihn das an die gemalten Landschaften des Quattrocento. Seit über 35 Jahren lebt der gebürtige Italiener als Gärtner und Schriftsteller in Marokko, um dort die bedrohte Flora zu schützen. Im Norden des Landes hat er sich über zwei Jahrzehnte hinweg selbst einen riesigen Garten angelegt, den man wohl getrost als Paradies bezeichnen darf (siehe S. 44). Wo einst nur noch einige vertrocknete Feigenbäume im Wind ächzten, breitet sich heute zwischen Korkeichen, Steineichen, Mastixbäumen und blühenden Lichtungen ein Ort aus, wild und schön, mit Themengärten wie einem Italienischen Garten, in dem Pasti mit Olivenbäumen, Myrten und Agapanthus die Gewächse seiner Jugend versammelt hat, oder einem Ägyptischen Garten, dessen Palmen an die Luxors erinnern. Das Herzstück bildet der „Giardino della Consolazione“, der Garten des Trostes, dessen für die Gegend typischen Madonnenlilien und Feeniris unmittelbar deutlich machen, was Pasti meint, wenn er sagt: „Die Natur genießen heißt für mich zu lernen, keine Angst mehr zu haben.“ Der Satz geht mir seit Wochen nicht mehr aus dem Sinn, in dieser Zeit,

in der wir alle mit großen Sorgen in unsere Zukunft schauen. Für jeden von uns, für unsere ganze Gesellschaft ist dies der Moment, wo wir so grundlegend wie noch nie in unserem Leben unser Verhältnis zu der uns umgebenden Welt und dem, was wir aus ihr gemacht haben, infrage stellen. Unser Verhältnis zu den Strukturen der Wirtschaft, zu der fast zu Tode geschundenen Natur, zu unserem Begriff von Luxus, zu Reichtum und Armut, zu Demokratie und Macht. Wie fühlt es sich an, dieses Hier und Jetzt, wenn wir an Orte wie den Garten Umberto Pastis denken und die tiefe Sehnsucht spüren, die Bedingungen unseres Lebens neu abzustecken, voller Strenge und Sanftmut zugleich? Unsere aktuelle Ausgabe möchte vor allem eine Momentaufnahme sein und stellt einige starke Stimmen in den Mittelpunkt. Wovon träumen wir jetzt, was schenkt uns Kraft und was inspiriert uns gerade – das haben wir Gestalter wie India Mahdavi, Pierre Yovanovitch, Christian Haas, Axel Meise, Jan Gehl und viele andere gefragt. Schon lange nicht mehr haben wir alle wohl in diesen Wochen unser Zuhause so sehr als einen Ort der Geborgenheit erlebt – das wird bleiben und noch viel stärker werden, davon sind wir überzeugt. Auch wenn wir uns gerade noch wie unter einer Glasglocke fühlen, reifen und blühen darunter doch längst die Pläne und Träume von übermorgen. Wie die Gladiolen in Rohuna, wild und schön. ‹

O liver Jahn

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Porträts: Julian Wass; Clara Westhoff; Philipp Deines; Matthieu Salvaing

AD stellt vor

Ngoc Minh Ngo kam ins Paradies. Als sie 2015 das erste Mal Umberto Pastis Garten besuchte, ent­ deckte sie „einen geradezu biblischen Ort. Der Blick über die Hügel, die See dahinter! Dort habe ich die schönsten Momente mei­ nes Lebens verbracht.“ Weswegen die New Yorker Fotografin im Herbst ihr Buch „Eden Revisited: A Garden in Northern Morocco“ veröffentlichte. „Das wirklich Magische aber ist, wie dieser Ort Menschen zusam­ menbringt. Was an Umberto liegt, dem klügsten Menschen, den ich kenne.“ S. 44

Mailin Sophie Zieser ist unser Fels in der Brandung. Seit zwei Jahren unterstützt die Germanistik­studentin AD, aktualisiert unsere Website mit Bildern und Texten, schreibt auch selbst (gerade interviewte sie Ferm Living-Gründerin Trine Andersen), rettete schon das ein oder andere Event und brachte uns nun digital auf Zack. Indem sie die Printredaktion onlinetechnisch schulte: „Das war schon witzig: Gestandene Redakteure saßen wie Eleven im Zoommeeting!“ Logo, bei der Lehrerin. ad-magazin.de

Julia Voss ärgerte sich. Als sie vor zwölf Jahren vor Hilma af Klints Gemäldeserie „Der Schwan“ stand, „kam zu meinem Entdeckerglück Wut hinzu: Wie konnte es sein, dass kaum jemand von der Malerin gehört hatte!?“ Die Kunst­ kritikerin nahm sich vor, das zu än­ dern – und schrieb af Klints Biografie. „In den besten Momenten verliere ich jedes Proportionsverhältnis bei den Bildern. Dann fühle ich mich wie ein winziges Teilchen, das durch ein riesi­ ges Adersystem gepumpt wird.“ S. 84

Matthieu Salvaing ist stets auf der Suche nach Harmonie. Was die Bildsprache seiner elegant kom­ ponierten Interiorfotos betrifft, aber auch das Verhältnis von Mensch und Raum: „Bei meinen Porträts sollte immer eine echte Nähe zwischen den Protagonisten spürbar sein.“ Warm, vertraut, sensibel und zuversichtlich sind die Doppelporträts, die der Fotograf für AD von den Interiorstars India Mahdavi und Pierre Yovanovitch (vor Corona) in Paris aufgenommen hat. Für uns: Harmonie par excellence. S. 26

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Stil

Porträt, Thema, Interview, Attitude und Bad 2020

Von Skulpturen und Aluminiumrohren Muller Van Severen scheinen ihrer Zeit immer einen Schritt voraus. Die neuste Kollektion ist ein Balanceakt zwischen Kunst und Design fürs Interior von morgen.

Porträt: Mirjam Devriendt

Text: Friederike Weißbach / Fotos: Fien Muller

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Stil Neuheiten

E

s gab eine Zeit, da waren die Entwürfe von Fien Muller und Hannes Van Severen quasi omnipräsent. Das mag zwar nur für die kleine Welt des Möbel- und Interiordesigns gelten, aber die zu Dreidimensionalität erweckten Strichzeichnungen des Paares gehören zum Look der 2010er-Jahre einfach dazu. Kaum ein modern orientierter Decorator, der die Tisch-Sessel-Regal-Kombinationen in Form minimalistischer Gestänge nicht gerne als Prestigeobjekt in seine Arbeit integriert hätte. Das Künstlerpaar, das in Evergem bei Gent lebt und arbeitet, betreibt seit 2011 sein Designstudio. Von Anfang an haben sich Muller und Van Severen mit ihrer Arbeit an der Grenze zwischen Möbeldesign und Skulptur bewegt – immer experimentell, doch ohne Abstriche bei der Funktionalität. Auf der Designmesse Collectible in Brüssel stellte das Duo Anfang März seine neue Kollektion „Alltubes“ vor. Eine Serie mit Schränken, einer Bank und einem Stuhl aus runden Aluminiumrohren. Die Gemeinsamkeit der Stücke besteht in einer auffälligen Repetition: Ohne an- oder abzu-

setzen, legt sich Alurohr an Alurohr und schafft eine wellige, das Licht reflektierende Oberfläche. Aus einer kontinuierlichen Bewegung mit gelegentlichen Kurven oder Falten formen sich Beine, Lehne und Sitzfläche des Stuhls; ohne sichtbare Griffe, Scharniere oder Nieten werden die Schränke zu geometrischen Formen im Raum.

Funktional und skulptural, keine Frage, die Designer bleiben sich mit „Alltubes“ treu. Und noch bevor die Kollektion Einzug hält in all die Interiors der 2020er, werden die Stücke hoffentlich ihren Ehrenplatz einnehmen in der großen Muller Van Severen-­ Ausstellung der Villa Cavrois bei Lille, der Welthauptstadt des Designs 2020. ‹

Künstlerpaar: Fien Muller und Hannes Van Severen (oben) haben Bildhauerei studiert. Jeder ihrer Entwürfe (li.) soll als Raumskulptur mit der Umgebung interagieren. Der Stuhl der neuen Serie „Alltubes“ (li. S., Preis auf An­ frage) scheint aus einem einzigen langen Stück Alumini­um­rohr gebogen zu sein.

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„Du bist ja ein Romantiker, wie süß!“ Was sich zwei der besten Interiordesigner der Welt, India Mahdavi und Pierre Yovanovitch, immer schon mal sagen wollten …

Interview: Simone Herrmann / Porträts: Matthieu Salvaing


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ie haben Sie sich eigentlich kennengelernt? India Mahdavi: Bei den AD Intérieurs vor zehn

„Die Rue las Cases in Paris ist meine Straße, mein Gedankenlaboratorium.“ Gerade hat India Mahdavi ihren Showroom o. dort neu gestaltet. Im Schaufenster thront ihr Alter Ego, der „Bishop“, und durch die Scheiben blitzt Seventies-Flair.

Jahren. Wir mochten uns sofort, haben uns zuvor auch in denselben Restaurants gesehen. Da war gleich großer gegenseitiger Respekt, oder? Pierre Yovanovitch: Ich war sehr eingeschüchtert von dir. Warum ich das sage? Weil ich mich als Franzose von Ikonen einschüchtern lasse. IM: Wie nett! Aber so sehe ich mich gar nicht. Welche Eigenschaft des anderen hätten Sie gern? Was bewundern Sie aneinander? IM: Pierre ist strukturiert, fluid und kohärent. Er

hat sich als Mensch und Designer in einer Art entwickelt, die außergewöhnlich folgerichtig ist. PY: India prägt alles mit ihrem Geist. Sie verkör­ pert eine Ästhetik, die die Menschen anspricht. Ähnlich wie eine große Modemarke. In allem, was sie tut, ist sie extrem wiedererkennbar. IM: Komisch, dass du das sagst, denn ich wollte anfangs gerade nicht wiedererkennbar sein, um mich nicht festzulegen. Ich wollte frei sein.

Fotos: Simone Bossi; Jérôme Galland

Was meinen Sie, welchem Charakterzug verdanken Sie Ihren Erfolg? IM: Ich glaube, meinem Humor. Ich bin anderen

Auf Schloss Fabrègues in der Provence (oben) lebt Pierre Yovanovitch mit Kunst und vielen Tieren (hier zwei seiner vier weißen Hütehunde). Auf den Zwiebeltürmchen schimmern farbig glasierte Fayencen.

Stil Interview fühlen kann. Im Interiordesign konnte ich mir eine Nische schaffen und die Kontrolle behalten. Wer war die Person, die Ihre Karriere am meisten beeinflusst hat, India? IM: Maja Hoffmann – seit über zehn Jahren ar­

beite ich für sie und ihre Kunststiftung in Arles. Alle Begegnungen und Gespräche mit ihr sind göttlich. Ich bin seither in Arles heimisch gewor­ den. Und jetzt habe ich mir dort ein Haus gekauft. PY: Wirklich, du hast dort ein Haus? Ich liebe Arles. Fabrègues ist ganz in der Nähe … IM: Dein Schloss. Jeder spricht darüber in der Gegend. Und es passt so gut zu dir: streng, histo­ risch, aber es liegt auch eine Sanftheit darin. Welche Rolle spielt Fabrègues für Sie, Pierre? PY: Es ist eher eine Art Gutshof als ein Schloss.

Na ja, die Domäne ist riesig. Fa­brègues ist mein Lebenswerk. Das Haus ist ein Gegenüber, eine Person für mich. Sonst sind Architekten wie der Slowene Jože Plečnik oder Jean-Michel Frank wichtig, auch die frühen 60er-Jahre in Südfrank­ reich. Die habe ich zwar nicht miterlebt, aber dieses Licht, diese Atmosphäre – Yves Montand, Simone Signoret, Picasso! – davon zehre ich. Welche Künstler inspirieren Sie aktuell? IM: Wen magst du, wen nicht? Das ist so ein In­

stagram-Ding, alles wird zur Visitenkarte heute. Auch so private Dinge wie Kunst. Aber weil wir Menschen sympathisch, aber auch mir selbst. hier ja unter uns sind (lacht): Iranische Kunst be­ PY: Meiner Unruhe. Ich dränge immer vorwärts. rührt mich. Und Adel Abdessemed, ein Freund. Fangen wir ganz am Anfang an. Erinnern Sie PY: Georg Baselitz und Claire Tabouret, eine sich noch, wie Ihre Kinderzimmer aussahen? Freundin. Aber verehren wir nicht beide unsere IM: Ich bin in Teheran, Boston, Heidelberg auf­ arti­sans? Sie arbeiten in diesem Zwischenreich gewachsen, war immer das „Mädchen von wo­ von Kunst und Handwerk. Erst durch ihr Kön­ anders“. Aber überall teilte ich das Zimmer mit nen bekommen unsere Gedanken Gestalt. meiner jüngsten Schwester. Sie war Fan von El­ Haben Sie eigentlich ein Porträt von sich? vis Presley – alles war voller Poster. Ästhetik hat PY: Claire Tabouret hat mich fünfmal gemalt. mich damals nicht interessiert. Kino, das war's! IM: Ich habe in New York eine 3D-Figur von mir PY: Ich hatte ein klassisches Jungszimmer zu machen lassen. Ansonsten hätte ich Andy War­ Hause in Nizza. Alles lag herum: Papiere, Kram, hol gefragt. Wo ich doch eine Ikone bin (lacht). eine Tafel, farbige Kreiden … Ich war ein Messie, Gibt es Designer, von denen Sie lernen? heute schüttelt es mich, wenn ich daran denke. IM: Ettore Sottsass. Weil er so frei war. In der Wann waren Sie sich sicher: Design, das Materialauswahl, in seiner Experimentierlust. könnte mein Metier für immer sein? Wie er das Leben umarmte! Er hat auch Interieurs IM: Ich denke nie, irgendetwas könnte für immer gestaltet, war Künstler, Fotograf. Und außerdem sein. Man wächst. Design ist für mich eine Art hypercharmant, das sieht man seinen Designs an. zu denken. Mit offenem Ende. Am Anfang woll­ PY: Eine Ästhetik, die ich liebe, die aber nicht te ich Filme machen, dann Sets für Filme, daraus meine ist: Carlo Mollino. Dieser Sinn für Form! sind Orte geworden, Häuser. Aus Ungeduld habe IM: Alle Italiener dieser Epoche hatten eine Art ich begonnen, Möbel zu entwerfen. Wie in der von Verrücktheit. Sie waren viel spielerischer als Philosophie stelle ich mir unentwegt Fragen – die Franzosen mit ihrer ewigen Arroganz des wie produziere ich Möbel, warum, für wen? Geschmacks – Symmetrie, Linie, gna, gna, gna … PY: Ich komme aus der Mode, habe für Pierre Welches Möbel spiegelt Ihr eigenes Wesen? Cardin gearbeitet, dann aber gemerkt, dass ich in IM: Alle meine Möbel sind wie Cousins, gehören dieser Industrie nicht glücklich werde. Ich bin zu meiner Designfamilie, sind also irgendwie mit sehr introvertiert. Ich brauche mein Team, Hand­ mir verwandt. Aber das Möbel, das mir am ähn­ werker, Menschen, bei denen ich mich zu Hause lichsten ist, ist ein Hockertischchen aus Keramik:

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AD Attitude

Was jetzt zählt!

Das Leben liegt wie unter einer Glasglocke, darunter reifen aber Pläne und Träume. Wir haben Designer und Sammlerinnen, Künstler und Unternehmerinnen gefragt, was sie gerade bewegt.

Julia Stoschek hat eine der weltweit wichtigsten Sammlungen zeitbasierter Kunst. Seit ihre Räume in Düsseldorf und Berlin geschlossen sind, zeigt sie Videoarbeiten online auf jsc.ar t

„Wir erleben eine Revolution des Wohnens, in der Design aus Italien eine Hauptrolle spielt: das Haus als neuer Ort des Geborgenseins.“ Giulia Molteni führt mit ihrer Familie das gleichnamige Möbelunternehmen. molteni.it

„Ich würde gern ein Krankenhaus gestalten, weil ich glaube, dass ein gutes Interior zur Steigerung des Wohlbefindens beitragen kann.“ Laura Gonzalez ist eine der renommiertesten Designerinnen Frankreichs (o. ihr Beitrag zu AD Intérieurs 2019). Jüngst erneuerte sie das „Lapérouse“ in Paris. lauragonzalez.fr

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etzt ist der Moment, um über Korrekturen nachzudenken, auch wenn ich die Antworten auf viele Fragen noch nicht kenne. Schon durch das Infragestellen kommen wir auf neue Erkenntnisse: Wie kann es sein, dass lebensnotwendige Medikamente und Masken kaum mehr in Europa oder Deutschland produziert werden? Haben wir zu viel Globalisierung? Bei Betrachtung der Dinge wird immer klarer, wie verletzlich unsere feinnervig-hochentwickelte Zivilisation doch ist. Und ganz konkret denke ich da­ rüber nach, mein kleines Biobeet im Garten wieder anzulegen, damit mein Sohn auch diesen Sommer Himbeeren pflücken kann. Ein kleiner Beitrag zu mehr autonomem Handeln.“

Fotos: Molteni & C; Jérôme Galland; Andrew Montgomery; Pierre Even; Porträts: Peter Rigaud; Silvia Rivoltella; Perrier-Jouët

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„Ich sehe mich eher als Bildhauer denn als Erfinder. Trotzdem ist mir bewusst, dass wir unser Leben neu denken müssen.“ Christophe Delcourt zählt zu den einflussreichsten Designern Frankreichs. christophedelcour t.com

„Ich kümmere mich mit gleicher Hingabe um die Menschen, mit denen ich arbeite, wie um die Orte, die ich gestalte. Das ist Fürsorge.“ Luciano Giubbilei vereint formale Strenge und unbändiges Grün: Gerade hat er im Val d’Orcia (o.) den ersten Garten in seiner Heimat Italien gestaltet. lucianogiubbilei.com

„Unser aller Zuhause b   ewährt sich gerade als e  in Nest, in dem wir all d   ie Dinge versammeln, d   ie ein Teil unseres L   ebens geworden sind.“

„Es ist klar, dass der unersättliche Massenkonsum keine Zukunft hat. Aber Menschen haben das tiefe Bedürfnis, neue Dinge zu schaffen. Ganze Kulturen bauen auf dieser Grundlage auf.“ Bethan Laura Wood hat im letzten Jahr eine „Epidemic Jukebox“ entworfen, die ausschließlich Lieder mit Bezug zu Epidemien spielt – von HIV bis Ebola. bethanlaurawood.com

Dimore Studio laden mit märchenhaften Interiors zum Träumen ein: etwa im jüngst wiedereröffneten „Grand Hotel et de Milan“, das von Emiliano Salci (re.) und Britt Moran neu eingekleidet wurde. dimorestudio.eu

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Das innere Gut

Aus Steinen und Staub hat Umberto Pasti in Marokko einen Garten gebaut, in dem Rosen, Lilien wachsen – und etwas ganz Seltenes: Glück. Interview: Simone Herrmann / Fotos: Ngoc Minh Ngo

Lilien, Steppenkerzen und Tagetes blühen in Rohuna, dem Garten des Schriftstellers Umberto Pasti (li., in einer Wiese mit Gladiolen). Sein Geheimnis? „Vor dem Sommer mulchen wir die Erde mit zerkleinerten Adlerfarnblättern“, verrät Pasti. „Das hält die Feuchtigkeit im Boden, und Mikrofauna lüftet ihn.“

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as passiert gerade in Ihrem Garten, Signor Pasti?

Die orangefarbenen Clivien, Gelbe Trompetenblumen und rubin­ rote Malven blühen. Verschiedene Jasminarten und chinesische Kletterrosen verströmen einen wunderbaren Duft. Und dann gibt es noch Mohn, die zarten Fritillarien, Blauen Natternkopf, Milch­ sterne, wilde Gladiolen … Ach, es ist ein Fest aus Farben und Duft! Sie sind Italiener, Schriftsteller und Botaniker. Wie sind Sie eigentlich hierher, in den Norden Marokkos, gekommen?


Architektur Garten

Den Ort habe ich vor 21 Jahren entdeckt. Nach einem Spaziergang in praller Hitze bin ich unter einem Feigenbaum eingeschlafen. Der Boden war unfruchtbar, es wuchsen dort nur fünf alte Bäume. Aber der Blick auf das Tal und den Ozean war so eindrucksvoll, die Stimmung so feierlich wie bei der Erscheinung eines Gottes. Ich träumte, ich sei selbst ein Garten, und als ich aufwachte, begann ich zu pflanzen, obwohl es keine Zugänge, kein elektrisches Licht, kein Wasser gab. Heute wachsen hier Zehntausende von Pflanzen. Das klingt sehr romantisch. Aber in Marokko ein Stück Land zu kaufen und zum Blühen zu bringen ist nicht gerade einfach, oder? Es handelt sich ja schließlich um ein ganzes Tal …

Ich musste mit 20 Eigentümern verhandeln, es gab große bürokra-

tische Schwierigkeiten, bis ich das Land kaufen konnte. Ich wollte Ginster, Zistrosen, Erdbeerbäume, Viburnum, Rosmarin, Heiligenkraut, Mastixbäume und Wolfsmilch pflanzen, da war steiniger, drainierter Boden ideal. Viele der Steine landeten in den Mauern, die die guten Böden begrenzen, und in den Häusern, in denen wir leben. Auf dem Rücken von Maultieren haben wir Tonnen Pflanzenerde hergeschafft und kilometerlange Trockenmauern gebaut, um Erosionen zu verhindern. Mit einer Sonde gelang es uns schließlich, in 120 Meter Tiefe Wasser zu finden: ein Wunder! Wie sind Sie aufgewachsen, woher kommt diese Naturliebe?

Ich hatte Glück. Meine Eltern haben mich in Mailand mit viel Verständnis für Kunst und Natur erzogen. Und ich habe immer viel

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Bad—2020

Bad-Neuheiten

Großes Kino: Das trompetenförmige Waschbassin „Kalos“ (ab 1920 Euro) wird durch einen kreis­runden Spiegel mit integrierten Auslässen für die Armatur komplettiert (1815 Euro). Hollywood-Eleganz im Badezimmer! devon-devon.com

Von Grandezza bis Miniatur: Moderne Bäder glänzen in ­allen Formen und Größen. Und sind vor allem: individuell! Te x t— M o n a B e r g e r s , K a r i n J a e g e r u n d Friederike Weißbach

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Fotos: Devon & Devon; THG Paris; Santi Caleca (2); Zazzeri; Hansgrohe (2); Alex Wilson Photography; Fir Italia

Bad—2020

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Schönheit zum Aufdrehen Armaturen zeigen Statur und Struktur – in Kupfer, Messing, Chrom, Rosé oder Mattweiß.

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1 Retro: Einhandmischer „JK21“ aus dunklem Stahl in drei Größen, ab 680 Euro zaz zeri.it 2 Klassiker, neu umhüllt: „AF / 21“ (um 1145 Euro) aus Edelstahl in mattem „Gun Metal“-, Kupfer- und Goldfinish f ant ini.it 3 Schwanenhals: „Nihal“ mit facettierten Porzellangriffen, 4260 Euro thg paris.com 4 + 5 Kubismus: „Axor Edge“ als Hahn in „Polished Black ­Chrome“ (2500 Euro) und als Griff in geriffelter „Polished Gold“-Optik axor - de sign. de 6 Arne Jacobsens bewährtes Design „590H“, jetzt neu in Weiß (1040 Euro) vola.de 7 Extra seidig: Fir Italia hat eine Palette besonde­rer Finishes entwickelt, hier „Silky Rose“ auf der Armatur „Cora 35“, 830 Euro f ir italia.it 8 Facettenreich! „Venezia“ mit Chromgriffen (1035 Euro) f antini.it

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Bad—2020

Der Klang des Wassers Interview—Karin Jaeger Po r t r ä t s — A x e l B a u r, Nathalie Mohadjer

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ie beide haben Moodboards für uns kreiert. Welche Ideen stecken darin? Gesa Hansen: Ein dunkles Bad ist unty-

pisch für Skandinavier wie mich. Aber die Isolation zu Hause fördert gerade so eine Kokon-Stim­ mung. Ich merke, dass ich nicht viel brauche und auch keine Lust auf Konsum habe. Deshalb führt mein Moodboard zurück zum Wesentlichen: zu dem, was dem Körper guttut, und zu den Elementen Feuer und Wasser. Im Spa geht es ja immer um den Wechsel zwischen heiß und kalt. Kälteschocks sind das ursprünglichste Schönheitsritual, für die Haut gibt es nichts Besseres – es wäre genial, wenn ich es endlich schaffen würde, kalt zu duschen! Deshalb kontrastiere ich warme und kalte Materialien, etwa Kupfer, das übrigens Viren tötet, und verkohltes Yakisugi-Holz. Erst durch den Wechsel entstehen ein Gleichgewicht und eine Stimmung.

Wie man ein zeitgemäßes Home-Spa gestaltet – wer wüsste das besser als Gesa Hansen und Otto Braun? Ein Gespräch mit zwei Bad-Koryphäen. Otto Braun: Kontraste spielen auch bei

meinem Moodboard eine Rolle. Das an­ gedeutete Industrial Design der Armatur schafft etwa in der Verbindung mit Tra­ vertin eine elegante, moderne Spannung. Denn reiner Minimalismus ist nicht nur meinen Kunden inzwischen zu kühl. Zum Glück gibt es viele neue Oberflächen aus Naturstein oder Feinsteinzeug, die ihn aufbrechen: Varianz in der Struktur und Haptik, Farbschattierungen, nicht mehr alles plan und künstlich. Oder auch Spiegelfliesen mit angelaufener Oberfläche; die bringen noch mal ein ganz anderes Finish rein. GH: Mit solchen Mercury-Spiegeln arbeite ich auch gern – da fühlt man sich nicht so unter der Lupe! Gerade in Deutschland mag man es ja oft klinisch sauber, dazu beleuchtete Spiegel, in denen man sich ganz genau sieht. Diesen Perfektionismus finde ich ein bisschen anstrengend. Deswegen ist mir der Wabi Sabi-Gedanke so wichtig: An Orten wie dem Bad, wo man oft nackt ist, wirkt es beruhigend, Materialien zu haben, die Patina ansetzen – so wie wir. Also grauen Stein, Kork, Holz statt shiny Hightech-Materialien – das strahlt eine Naturverbundenheit aus, die an sich schon entspannend und heilend ist. Im „Shibui Spa“ des „Greenwich Hotel“ in Tribeca fühle ich mich jedenfalls weitaus wohler als in Philippe Starcks weißem Spiegel-Spa im „Royal Monceau“ in Paris. Welche Rolle spielt Technik in Ihren Traum-Spas? GH: Ein Dusch-WC scheint mir ökologisch

Otto Braun Seit 2005 entwickelt der Gründer des Studios Braun Fehrentz in der Berliner Friedrichstraße individuelle Bad- und Spa-Konzepte. Er schätzt besonders die innovative Eleganz italienischen Bad-Designs.

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sinnvoll, zumal man das schwer umkämpfte Toilettenpapier spart. Ansonsten kann ich auf industrialisierte Gimmicks gut ver­ zichten. Eine schlichte Massageliege kann ich mir hingegen gut vor­stellen. Als ich in der Therme in Vals war, hat jemand einfach einen Eimer über mich gegossen; das fühlte sich toll an! Oder der Klang von Wasser – es gibt nichts Schö­neres als leises Plätschern. Das braucht man nicht mit künstlichem Sound zu überdecken – außer

Gesa Hansen Die Möbel- und Interiordesignerin stammt aus einer deutsch-dänischen Familie und lebt in Paris. Sie arbeitet unter anderem als Art Director für Villeroy & Boch und entwickelt gerade eine Sauna für Klafs.

man singt in der Dusche. Und Kerzenschein ist tausendmal besser, als alles in blaues LED-Licht zu tauchen. OB: Wobei, so wahnsinnig technisch sind Home-Spas heute ohnehin selten, zumindest optisch. Natürlich sieht eine Dusche mit Licht-Effekten etwas anders aus als eine einfache Regendusche, aber die technische Komponente muss gar nicht offensichtlich sein. Und eine Dusche mit Sitzbank kann auf Knopfdruck einfach in ein Dampfbad verwandelt werden, ohne dass man eine separate Dampfbadbox hinstellen muss. In so einer Dusche lassen sich sogar die gleichen Materialien verwenden wie im restlichen Bad – also Marmor, Mosaik oder was auch immer man aussucht. Sie sehen also keinen Widerspruch zwischen Hightech und Spa-Atmosphäre? OB: Spa-Atmosphäre entsteht vor allem

dadurch, dass ich einen Ort schaffe, wo ich mich nach dem Duschen oder der Sauna hinlegen und ausruhen kann, wo ich mich also gern etwas länger aufhalte. Wenn man sowieso Wert darauf legt, mit schönen Ma-


Italien in Berlin Otto Brauns Wahl: dunkle Becken- und Duscharmaturen „Fontane Bianche“ und Regenbrause „Aquafit“ von Fantini, Effegibis Sauna „Yoku“ aus Thermoholz, Wandfliesen und Blätter-Tapete (für die Liegezone) von 41zero42, Falpers Wanne „Homey“ vor Travertin „Blue Etrus­can“ (über Vaselli), „Vanity“-Spiegel von Decor Walther.

terialien zu arbeiten, gibt es dabei eigent­ lich auch keinen so großen Unterschied zum normalen Bad. Außer dass ein Spa un­ ter Umständen etwas mehr Raum benötigt. Was braucht denn ein Badezimmer, damit man sich dort gern aufhält? OB: Sowohl ein Bad als auch ein Wellness­

bereich sollten immer auch als Wohnraum zählen. Deshalb arbeiten wir dort gern mit Naturstein, aber auch mit Holzböden, mit Tapeten, mineralischen Farben – und ange­ nehmer Beleuchtung. Nicht unbedingt mit Kerzen, aber mit Leuchten, die man dim­ men kann, um Atmosphäre zu schaffen. Auf jeden Fall, da würde ich Gesa völlig recht geben, stehen die Materialien im Vor­ 66

dergrund und nicht die Effektivität oder irgendwelche Gimmicks. Sie plädieren also beide dafür, nicht nur das Home-Spa, sondern auch das normale Bad als Interior ernst zu nehmen? GH: Ja, unbedingt! Das Bad ist mein abso­

luter Lieblingsplatz. Dort kann man ganz bei sich sein – und sich mal zurückziehen von der Familie. Eigentlich sollte man je­ des Bad als so einen intimen Ort behan­ deln und nicht nur als Waschstation. Selbst wenn man wenig Platz hat. OB: Man sollte sich dabei nur nicht zu sehr an öffentlichen Spas orientieren! Deshalb verwende ich in Privatsaunen dunkle Höl­ zer und nicht das typische helle Saunaholz.

Oder die Armaturen: Aus großen Spas kennt man diese Touchpanels, die in die Wand eingelassen sind. Davon rate ich meistens ab – ich finde, ein Privatbad darf ruhig Hebel haben! Das sieht weniger tech­ noid aus, und es schafft mehr Bezug zu dem, was passiert. Wenn ich einen Hebel greife und mehr oder weniger Wasser auf­ drehe, mache ich eine körperliche Erfah­ rung, es entsteht eine Ver­bindung. Das ist vielleicht etwas altmodisch gedacht, aber ich finde die Idee des Zusammenspiels von Mechanik und Genuss sehr spannend im Wellnessbereich. Zudem kommen schöne Oberflächen wie Kupfer erst auf Kreuzoder Radgriffen richtig zur Geltung.

Fotos: Walter Zerla; Kasia Gatkowska; Effe; 41zero42; Santi Caleca; Vaselli Marmi; Casarini Gian Luca; Falper; Decor Walther

Bad—2020


Im Zentrum das Auto: Moderne Städte sind in ihren Abmessungen stark auf dessen Platzbedarf und Geschwindigkeiten ausgerichtet. Das ist ungerecht, findet der Stadtforscher Jan Gehl (rechte Seite), der die Straße Fußgängern und Radfahrern zurückgeben will. 2007 untersuchte er im Auftrag der Stadt New York den Verkehrsfluss am Times Square.


Architektur Interview

Das Maß aller Dinge Wohin geht das Leben in unseren Städten? Fragen an Dänemarks Stadtplaner-Legende Jan Gehl. Interview: Andreas Kühnlein

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an Gehl hat sein Leben in den Dienst humanerer Städte gestellt. Der dänische Architekt legte den Grundstein für den Umbau Kopenhagens in einen der lebens­ wertesten Orte der Welt; als Sozialforscher und Berater arbeitete er in Moskau, Sydney und New York. Wir treffen ihn virtuell zu einem Gespräch über Autos, Hygiene und den menschlichen Maßstab. Wir durchleben gerade seltsame Tage – wie geht es Ihnen, Herr Gehl?

Ich sitze zu Hause – in meinem Alter gehö­ re ich ja zur Hochrisikogruppe. Aber meine Frau und ich machen jeden Tag einen lan­ gen Spaziergang in ein anderes Viertel von Kopenhagen, wo wir uns die Architektur ansehen. Wohnprojekte, die Flaggschiffe der Siebziger, Achtziger und Neunziger. Da schauen wir, wie gut die unterschiedlichen Herangehensweisen heute funktionieren. Und ehrlich gesagt: Gerade die letzten zehn Jahre begeistern mich nicht gerade.

Stück für Stück wieder geöffnet, aber ich werde wohl den Rest des Jahres hier sitzen (lacht). In der Stadt hat das seine Vorzüge, es ist auf einmal so ruhig, man hört wieder die Vögel. Wer hätte gedacht, dass man die Welt so effizient stillstellen kann? Hier waren die Autowerkstätten weiter geöffnet, Fahrradläden dagegen mussten erst einmal schließen. Das bringt das Problem auf den Punkt, oder?

Das ist hier anders! In Kopenhagen arbeite­ ten die Fahrradwerkstätten die ganze Zeit, alle fahren weiter mit dem Rad. Das sind tatsächlich unterschiedliche Kulturen. In Kopenhagen begann das bereits 1962, als man erste Straßen für den Autoverkehr sperrte. Aber es gibt auch hier Spannungen, der Wohlstand wächst, und die Leute kau­ fen wieder mehr Autos. Darüber müssen wir uns ernsthaft Gedanken machen. Wie geht man damit um? Sobald man in Deutschland ein paar Parkplätze

streicht, hagelt es gleich heftige Beschwerden aufgebrachter Bürger …

Es gibt eine ganze Reihe von Methoden, den Stadtverkehr zu verringern. Man kann das Benzin zehnmal so teuer machen. Oder die Hälfte der Parkplätze wegnehmen. Man kann Parkgebühren erhöhen, Straßen schmaler machen oder ganz sperren. Das ist die Klaviatur, derer man sich bedienen kann – nur machen das die wenigsten, um die Wähler nicht zu verschrecken. Aber man kann Straßen durchaus schöner und sicherer gestalten, ohne dabei Verkehrska­ pazität einzubüßen. Kleine Schritte, die nicht sehr wehtun, die Lebensqualität aber entscheidend verbessern können. Welche Rolle spielt dabei Technologie?

Ach, es heißt viel zu schnell, dass autonome Autos oder die Smart City all unsere Pro­ bleme lösen werden – wozu sich also über­ haupt die Mühe machen? Aber das allein reicht nicht, wir brauchen immer noch po­

Foto: New York City Department of Transportation; Porträt: Ashley Bristowe

Warum nicht?

Ich denke, das liegt vor allem an dem Wan­ del weg vom sozialen Wohnungsbau, des­ sen Ziel es war, guten Wohnraum zu schaf­ fen für ein ganzes Leben. Heute haben private Entwickler das Ruder übernom­ men, die sich über das Leben an einem Ort nicht mehr viele Gedanken machen, sondern Apartments bauen zum Drin­ schlafen und Rausgucken. Ihr Ziel ist der Profit, und die Architekten spielen das Spiel nur zu gern mit. Gibt uns die aktuelle Lage, der Mix aus social distancing und dem Bedürfnis nach Gemeinschaft, einen neuen Blick?

Ich denke schon, ja. Hier in Dänemark ­ erden gerade Schulen und Kindergärten w

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Panorama Kunst

20 Jahre über ihren Tod hinaus sollte das Werk verschlossen bleiben, das verfügte Hilma af Klint, die das Foto auf der re. Seite wohl ­Mitte der 1890er-Jahre in ihrem Atelier zeigt. Bis die Menschheit bereit war für ihre monumentalen Abstraktionen wie o. „The Ten Largest, No. 9, Old Age“ von 1907 hat es aber fast ein Dreivierteljahrhundert gebraucht. Ab 2013 tourte eine Ausstellung durch E ­ uropa, von Amerika wurde ihre Kunst 2018 entdeckt, und im September nun erscheint der Kinofilm „Jenseits des Sichtbaren“ auf DVD.

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Zwischen den Zeiten

Weil ihre Zeitgenossen noch nicht bereit waren, vermachte Hilma af Klint ihr Werk der Zukunft. Und tatsächlich: Erst jetzt sind wir in der Lage, ihre Kunst zu schätzen. Text: Julia Voss

Fotos: Albin Dahlström / Moderna Museet, Stockholm, © Stiftelsen Hilma af Klints Verk

A

m Abend, als die große Ausstellung über die schwedische Malerin Hilma af Klint im Guggenheim Museum in New York eröffnete, stellte sich für einen kurzen Moment Panik ein. Wo um Himmels willen blieben die Besucher? Warum war kein Betrieb an der Bar? Am Tresen, der bei Vernissagen in der Halle aufgebaut wird, unterhielten sich die Kellner, statt den Wein auszuschenken, so wenige Gäste hatten sich eingefunden. Nur ein verloren wirkendes Grüppchen hielt Gläser in den Händen, und niemand konnte sich erinnern, die Museumsrotunde derart verwaist gesehen zu haben. Die Mitarbeiter tauschten entsetzte Blicke. Dann aber hob jemand den Kopf und schaute hinauf zu den Ausstellungsflächen, die sich entlang der spiralförmigen Rampe Stockwerk für Stockwerk Richtung Himmel schrauben. Dort waren sie gelandet! Die Eröffnungsgäste drängelten sich vor den Gemälden, den Begrüßungswein hatten sie übersprungen und waren direkt zu den Bildern gestürmt. Mit den Werken von Hilma af Klint waren die Vernissage-Rituale zweitrangig geworden. Alle Augen richteten sich auf die Kunst. Die Schau „Hilma af Klint: Paintings for the Future“ brach sämtliche Rekorde. Mehr als 600 000 Besucher machten sie zur erfolgreichsten Ausstellung in der Geschichte des Museums, der Katalog wurde ein Bestseller. Zu den erstaunlichen Phänomenen in Hilma af Klints Leben gehört, dass sie den verspäteten Zuspruch, der erst lange nach ihrem Tod im Jahr 1944 einsetzen sollte,

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Ornament und Vergnügen

Wie schenkt man einem kantigen Midcentury-Bungalow feminine Wärme? Mit einem fröhlichen Aufstand an leuchtenden Farben, Stoffen und zitrusfrischen Tapeten.

Text: Mayer Rus / Porträt: Ye Rin Mok / Fotos: Laure Joliet

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Altadena

Bei allem Übermut an Far­ ben und Formen: Interior­ designerin Frances Merrill setzte bei der Verwand­ lung dieses eher strengen ­Bungalows alles in einen ­harmonisierenden beeren­ farbenen Rahmen, wie man von der Terrasse (linke S.) aus gut erkennen kann. Die Orangentapete von Jenni­ fer Shorto im Ess­zimmer ist nicht nur appetit-, sondern auch fantasieanregend.

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Cover: Laure Joliet

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