NACHHALTIGKEIT – zwischen Zauberformel und Selbstbetrug
01/2012 • 7,90€ (D)
I N H A LT agora42
Personen
04
Editorial
66
06
Prolog
Interview • Andrea Herold und Tina Kammer
08
Parallaxe die dunkle seite der nachhaltigkeit
„Wir werden mit Nachhaltigkeit nicht die Welt retten“
12
Ökonomische Theorien nachhaltigkeit – begrenzung oder ausweitung der ökonomie?
18
Philosophische Perspektive kant ist tot oder: warum nachhaltigkeit heute nicht möglich ist
22
Peter Finke das nachhaltigkeitsgeschwätz die erstaunliche karriere eines begriffs
30
Hanne Tügel die englische revolution
38
Armin Grunwald nachhaltigkeit – too big to work?
44
Rolf D. Häßler kapitalanlagen – hebel für mehr nachhaltigkeit in der wirtschaft
52
Günter Horntrich nachhaltigkeit und design
60
Auf dem Marktplatz
64
Aus dem Leben
84
Speakers’ Corner
88
Portrait jeremy bentham
94
Gedankenspiele
96
Zahlenspiele
98
Impressum
3
E DI TOR I A L
Nachhaltigkeit – dass das nicht leicht wird, lässt schon das Wort erahnen. Mit „Halten“ alleine ist es nicht getan, nein, da kommt mehr auf einen zu … Und tatsächlich: Was muss nicht alles berücksichtigt werden, will man nachhaltige Perspektiven für die Gesellschaft entwickeln? Im Bereich der Ökologie geht es um Umweltschutz (Wasser, Luft, Erhalt von Landschaftsräumen und der Artenvielfalt etc.), in der Ökonomie um ein Wirtschaften, das auch kommenden Generationen Wohlstand ermöglicht, im Bereich des Sozialen darum, in Zukunft eine gerechte und lebenswerte Gesellschaft zu ermöglichen. Schon in jedem dieser Bereiche geht die Zahl der zu berücksichtigenden Faktoren gegen unendlich. Wollte man ein Rundum-Nachhaltigkeitspaket schnüren, müssten die Bereiche zudem miteinander gekoppelt und alle Einflussgrößen einander zugeordnet und entsprechend gewichtet werden. Letztlich müsste sich jedes Produkt in ein Nachhaltigkeitsschema einfügen lassen, in dem unter anderem Wasserverbrauch und CO2-Produktion bei Herstellung und Transport, Verwendung von Chemikalien, Langlebigkeit, Auswirkung des Produkts auf Konkurrenzprodukte beziehungsweise auf die bestehenden Produktionsketten sowie auf die Lebensweise der Produktnutzer mit allen Folgen für die anderen Mitglieder der Gesellschaft etc. pp. berücksichtigt werden. Da hätte selbst der Supercomputer aus Douglas Adams Roman Per Anhalter durch die Galaxis Probleme, den Durchblick zu behalten.
4
Dabei bedarf es keines Supercomputers, um augenblicklich für Klarheit zu sorgen, man müsste nur der ungeschminkten Wahrheit ins Gesicht sehen. Da in Anbetracht eines kollabierenden Wirtschaftssystems Zukunftsprognosen reine Kaffeesatzleserei sind und sich insofern keine sinnvollen ökonomischen Strategien ableiten lassen, kann man das Nachdenken über ökonomische Nachhaltigkeit getrost bleiben lassen. Und weil die kommende globale Wirtschaftskrise fatale Folgen für die Industrie haben wird, ist auch damit zu rechnen, dass das Nachdenken über ökologische Nachhaltigkeit, das heißt in erster Linie über die Reduzierung des CO2-Ausstoßes, existenziellen Problemen weichen und womöglich durch die massive Deindustrialisierung weitgehend gegenstandslos wird. Es bleibt das Soziale als jenes Terrain, auf dem man noch etwas bewirken kann. Hier gilt zweierlei. Erstens: Für eine künftige, verantwortungsvolle Katastrophenpolitik, welche die Lasten möglichst gerecht zu verteilen hat, wird es schwierig sein, Mehrheiten zu finden – dennoch muss man darauf vertrauen, dass die meisten Menschen die notwendigen Maßnahmen schließlich nachvollziehen und unterstützen werden. Zweitens: Wer gesellschaftliche Nachhaltigkeit ernsthaft will (und wer kann daran nicht interessiert sein?), muss diese unverzüglich und bedingungslos durchsetzen. Da gesellschaftliche Nachhaltigkeit ohne Gerechtigkeit undenkbar ist und der Gerechtigkeit heute vor allem betonierte Besitzverhältnisse und festgefahrene institutionelle Mechanismen entgegenstehen,
agora42 • Editorial
04/2011 – Fortschritt – wohin geht die Reise?
muss folglich die Macht vieler Konzerne, Institutionen und Privatpersonen beschnitten werden – notfalls auch gewaltsam. Auf der anderen Seite werden auch weitere Einschnitte in den Bereichen Gesundheit und Soziales unumgänglich sein – und manch lieb gewonnene Gewohnheit (Stichwort: Konsum- und Freizeitverhalten), fälschlicherweise mit Freiheit verwechselt, muss sich ändern. Das ist hart. Verhängnisvoll aber wird es, wenn die notwendigen Veränderungen nicht konsequent umgesetzt, sondern durch feige Kompromisse verhindert werden. Dann wird es „Willkommen im globalen 30-jährigen Verteilungskrieg“ heißen. Und, liebe Zaudernde: Jede historische Situation ist einmalig. Nur weil einige Versuche, die Welt gerechter zu machen, gescheitert sind, heißt das nicht zwangsläufig, dass auch der nächste Versuch scheitern wird. Und erst recht nicht heißt es, dass man es gar nicht erst versuchen sollte.
05/2011 – Risiko bleibt riskant
06/2011 – Was kostet Geld – und wenn ja, wie viel?
Heft verpasst?
Frank Augustin Chefredakteur Foto: © Janusch Tschech
Kein Problem! Bestellen Sie die verpasste Ausgabe ganz einfach hier:
www.agora42.de oder telefonisch unter:
0711 - 933 248 46 agora42 • Editorial
8
agora42 • Parallaxe • DIE DUNKLE SEITE DER NACHHALTIGKEIT
Para l l a xe
DIE DUNKLE SEI T E DER NACHHALT IGKEI T Weniger ist mehr – so könnte das Motto nachhaltiger Strategien lauten. Heute bemüht man sich allerorten, diesem Motto gerecht zu werden. Dabei übersieht man gerne, dass es bereits einen Wirtschaftszweig gibt, der ganz ohne Ressourcenverbrauch riesige Gewinne generiert.
NACHHALTIGKEIT, Nachhaltigkeit, Nach-hal-tig-keit, oder wie es im Englischen heißt: sus-tain-a-bi-li-ty. Es wäre doch zu schade, einen solch facettenreichen Begriff, voller Anmutung und Ästhetik, der vor lauter Bedeutungsschwere kaum in den Mund passt und der, einmal dem Munde entsprungen, alles bedeuten kann, nur ein einziges Mal zu schreiben, zu lesen oder auszusprechen. Wer Nachhaltigkeit für sich beansprucht, wechselt quasi automatisch auf die Gewinnerseite. Nachhaltigkeit – ein Begriff, der als Accessoire jeder menschlichen Tätigkeit gut steht. Vom nachhaltigen Tourismus, Konsum, Unternehmenserfolg, Investment oder Wirtschaften können wir nicht genug haben – auch wenn keiner genau weiß, was damit gemeint ist. die nachfrage nach der nachhaltigkeit ist gross. Und die Wirtschaft bedient diese Nachfrage: Mit nachhaltigen Produkten für die Konsumenten und Nachhaltigkeitsberatung für Unternehmen, die noch nicht ganz verstanden haben, wie sie Nachhaltigkeit in bare Münze umwandeln können. Was also steckt hinter der Nachhaltigkeit und wie nachhaltig ist diese Nachhaltigkeit eigentlich?
Weniger ist mehr Vereinfacht ausgedrückt kann Nachhaltigkeit als Maß unseres Verantwortungsgefühls gegenüber der Natur und unseren Mitmenschen verstanden werden. Ursprünglich resultiert Nachhaltigkeit aus unserer Erkenntnis, dass die Welt kein Schlaraffenland ist, in der alle unsere Wünsche und Bedürfnisse befriedigt werden. Vielmehr ist unsere Welt eine mit knappen und endlichen Ressourcen. Zudem ist sie, jedenfalls heute noch, alternativlos – nach derzeitigem technischen Stand können wir nicht auf einen anderen Planeten hinüberwechseln, wenn wir hier nicht mehr leben können. In dieser Welt handelt derjenige verantwortungslos, der die Konsequenzen seines Handelns für seine Umwelt nicht berücksichtigt und sich zum Beispiel schamlos und ohne Rücksicht auf die kommenden Generationen an den Ressourcen vergreift. Aber auch in dieser endlichen Welt mit ihren knappen Ressourcen wollen wir nicht auf Wirtschaftswachstum, Wohlstand und Luxus verzichten. Wird nun Nachhaltig-
agora42 • Parallaxe • DIE DUNKLE SEITE DER NACHHALTIGKEIT
9
Pe ter Finke
DAS NACHHALTIG KEITSGESCHWÄTZ DIE ERSTAUNLICHE KARRIERE EINES BEGRIFFS
Vor 50 Jahren noch kaum verwendet, ist der Begriff Nachhaltigkeit heute in aller Munde. Mittlerweile ist er zu einer Worthülse verkommen, die von allen für ihre Zwecke instrumentalisiert wird. Wir benötigen neue Lebensstile echter Nachhaltigkeit und deshalb auch eine neue Politik – aber mit dem Wachstum ist es dann vorbei.
22
agora42 • Peter Finke • DAS NACHHALTIGKEITSGESCHWÄTZ
agora42 • Peter Finke • DAS NACHHALTIGKEITSGESCHWÄTZ
23
Ha n n e Tü g e l
DIE ENGLISCHE REVOLUTION Transition-Initiativen proben den Kulturwandel. Ziel: eine Gesellschaft, unabhängig von fossiler Energie. Protagonisten: Aussteiger, die bleiben, wo sie sind, und beharrlich sich und ihre Umgebung verändern.
30
agora42 • Hanne Tügel • DIE ENGLISCHE REVOLUTION
D
er Revolutionär sieht aus wie ein netter Highschool-Lehrer. 43 Jahre, kurze dunkle Haare, Brille, das ungebügelte Hemd und die ausgebeulte Hose modisch außerhalb jeder Konkurrenz. Harmlos. Provinziell. Von dem Städtchen, von dem aus Rob Hopkins die globale Umwälzung anzettelt, haben die meisten Nicht-Engländer noch nie gehört. Kein Wunder, Totnes hat gerade mal 8.600 Einwohner, ein gemütliches Nest am River Dart in der südenglischen Provinz Devon mit einer trutzigen Kirche und einer Burgruine auf dem Berg. Es war ein Mittwoch im September 2006, an dem Hopkins und seine Mitstreiter die Neugeburt der Stadt als „Transition Town Totnes“ ausriefen. Seither planen sie in „TTT“ das fast Unvorstellbare: Die Gemeinde soll auf eigene Faust unabhängig werden von jenem Rohstoff, der die westliche Welt süchtig, reich und bequem gemacht hat – vom Erdöl. Geplant ist ein sanfter Entzug bis 2030. Lokale Wirtschaftskreisläufe sollen nach und nach die Abhängigkeit von Importen lindern. Benzin, Beton und Plastik werden Platz machen für alternative Treib-, Bau- und Werkstoffe. Sympathisch. Aber reichlich weltfremd, oder? Eingefädelt hat das Vorhaben nicht der gewählte Stadtrat, sondern Hopkins samt selbsternannter Avantgarde. Er hat auch in englischem Understatement den subversiven neuen Begriff für die Revolution gewählt: Transition (Wandel, Übergang). Das Ziel allerdings ist so hoch gesteckt wie für eine kommunistische Utopie, angereichert mit einem Schuss Ökologie: „eine bessere Welt mit weniger Stress, weniger Eile, weniger Angst, besserer Nahrung, besserer Gesundheit, mehr Gleichheit“. kronzeuge der bewegung ist aber nicht karl marx, sondern albert einstein. Der sagte: „Jeder intelligente Idiot kann Dinge größer, komplexer und gewalttätiger machen. Man braucht eine Menge Grips – und eine Menge Mut – um sich in die Gegenrichtung zu bewegen.“ Zehn Gruppen, die in Totnes als ehrenamtliche Garde arbeiten, üben sich darin – insgesamt etwa 200 Aktive. Dazu kommen ein paar Hauptamtliche zur Koordination im Büro.
Ob Kunst, Gesundheit, Bauen und Wohnen, Energie, Erziehung, Öffentlichkeitsarbeit, Verkehr – jeder bringt seine Vorlieben ein. Die Aktivisten kombinieren englisch-hartnäckige Kauzigkeit mit Kreativität und Gemeinschaftsgefühl. Sie glauben: der für die zukunft notwendige wertewandel wird nicht durch öko-predigten gelingen. sondern durch experimente, vorbilder, begeisterung. Und so ringen sie dem Bauamt mit dem Pro-ErbsenSchlachtruf „Give peas a chance“ einen Teil der Schlosswiese für Kleingartenparzellen zur privaten Gemüseproduktion ab. Sie werben mit einem Janis-Joplin-Song für Kompost-Klos: „Oh Lord, won’t you buy me a composting loo?“ Sie drucken „Totnes Pounds“ als lokale Währung. Sie organisieren Workshops zum Lehmbau mit Strohballen. Sie bereichern den öffentlichen Nahverkehr mit zwei Motor-Rikschas, made in India. Treibstoff in Totnes: aufbereitetes Abfall-Öl aus den örtlichen Fishund Chips-Restaurants. Noch klingt das nicht nach allzu forciertem Umbau der Industriegesellschaft. Aber die Pioniere fahren zweigleisig. Das für Bauen und Wohnen zuständige Team besucht regelmäßig die Bauausschuss-Sitzungen und bringt Vorschläge für neue Planungen ein. Die Energie-Gruppe hat einen ersten „Energie-Abrüstungs-Plan“ vorgelegt. 26 Seiten voller Berechnungen und einem plausiblen Szenario: Ein regenerativer Mix könnte im Jahr 2030 mehr als 84 Prozent der dann benötigten 354 Gigawattstunden produzieren. Neben Wind und Sonne tragen Wärmepumpen, Biogas aus Küchenabfällen, Biodiesel aus Algen und Klein-Wasserkraft zur Kombination bei. 74 Solarpaneele werden bald das Rathaus zieren.
Dass ein Weiter-So in Wirtschaft … … und Gesellschaft keine gute Idee und eigentlich auch keine Wahl ist, weiß jeder, der Zeitung liest und Nachrichten hört. Finanzkrise, Klimakrise, Staatsverschuldung, Welthunger, Krieg – und all die Probleme ange-
agora42 • Hanne Tügel • DIE ENGLISCHE REVOLUTION
31
52
agora42 • Günter Horntrich • NACHHALTIGKEIT UND DESIGN
Günter Hor ntr ich
N AC H H A LT IG K E I T U N D DE S IG N
In den vergangenen Jahrzehnten lässt sich ein erheblicher Wandel der soziokulturellen Werte feststellen. Solche Veränderungen sowie Fortschritte im technologischen Bereich haben Auswirkungen nicht zuletzt auch auf die Produkte ihrer Zeit und deren Verpackung. In der Folge entsteht sukzessiv ein anderes Bewusstsein sowie
ein verändertes ästhetisches Empfinden gegenüber der Umwelt. Nachhaltige Produkte erfordern ein Umdenken – nicht nur bei den Kauf- und Nutzungsgewohnheiten, sondern auch bei Designern und vor allem bei Unternehmen, die sich von der Produktion immer neuer „Eintagsfliegen“ verabschieden müssen.
agora42 • Günter Horntrich • NACHHALTIGKEIT UND DESIGN
53
66
agora42 •agora42 Interview • Interview mit Andrea mitHerold Stefanund Hartmann Tina Kammer
„Wir werden mit Nachhaltigkeit nicht die Welt retten“ Inter v ie w mit Andrea Herold und T ina K ammer Fotos: Janusch Tschech
agora42 • Interview mit Andrea Herold und Tina Kammer
67
untitled projects GmbH
Die untitled projects GmbH wurde 2010 von dem Frauen-Duo Tina Kammer und Andrea Herold gegründet und bietet ein fachübergreifendes Leistungsspektrum zum Thema Nachhaltigkeit in den Bereichen Architektur, Innenarchitektur und Kommunikation. Tina Kammer hat als Architektin jahrelange Erfahrung mit internationalen Bauprojekten und Markenkommunikation. Andrea Herold bringt ein umfassendes Know-How aus ihren Tätigkeiten in den Führungsetagen global agierender Unternehmen mit. Die untitled projects GmbH besteht aus der Agentur untitled projects sowie dem Online-Shop InteriorPark. Die Agentur bietet Unternehmen individuelle Beratung und Konzepte für eine zukunftsorientierte Positionierung im Markt. Durch die intensive Auseinandersetzung mit den Entwicklungen nachhaltiger Lifestyle-Produkte wurde ein europaweites Netzwerk an Designern aufgebaut. Im Online-Shop InteriorPark. präsentieren die renommiertesten Designer der ökologischen Szene ausgefallene Produkte und alternative Materialien, hergestellt auf der Basis von natürlichen, nachhaltigen oder recycelten Ressourcen.
Der Begriff Nachhaltigkeit birgt einige Schwierigkeiten: Der Laie kann sich nichts Konkretes darunter vorstellen und auch der inflationäre Gebrauch des Begriffs trägt dazu bei, die Verwirrung zu vergrößern. Was halten Sie davon, den Begriff aus unserem Sprachgebrauch zu streichen? Würden wir dadurch gewinnen oder verlieren? Weder noch. Der Begriff als solcher ist ja nicht schuld daran, dass er inflationär gebraucht und teilweise falsch beziehungsweise in einem falschen Kontext wiedergegeben wird. Vielmehr ist er Ausdruck für viele Probleme, die dadurch, dass man ihn aus dem Sprachgebrauch streicht, auch nicht gelöst wären. Vermutlich würden wir „Nachhaltigkeit“ in die Themenbereiche unterteilen, die dieser Begriff umfasst und entsprechend von Ökologie, Recycling und sozialer Verantwortung sprechen. Wir würden ganz einfach die einzelnen Komponenten der Nachhaltigkeit aufzählen. Letztendlich hätte der Inhalt des Begriffs aber nach wie vor Bestand. In welche Themenbereiche lässt sich Nachhaltigkeit unterteilen? Seit den 90er-Jahren ist es gängig, Nachhaltigkeit in die drei Säulen Ökologie, Ökonomie und Soziales zu unterteilen. Sie verbinden mit Ihrem Unternehmen InteriorPark den Anspruch, nur Produkte zu verkaufen, die aus nachhaltiger Herstellung stammen. Wie kann man das garantieren? Natürlich kommt es darauf an, wie man „nachhaltige Herstellung“ definiert. Um die größtmögliche Transparenz zu gewährleisten, haben wir eigene Eco Icons entwickelt. Sie sind in sechs Themen aufgeteilt und spiegeln die Hintergründe, Herstellungsprozesse und verwendeten Materialien eines Produkts wider. Es ist aber auch so, dass mit den meisten Designern schon eine jahrelange Zusammenarbeit besteht und wir die Pro-
68
agora42 • Interview mit Andrea Herold und Tina Kammer
»Wir möchten Designern, die für kleine Unternehmen arbeiten oder selbstständig sind, eine Plattform bieten.«
duktentwicklung beobachten. Dadurch können wir sichergehen, dass das Produkt wirklich den Kriterien genügt, die wir aufgestellt haben und das Wort Nachhaltigkeit nicht nur zu Werbezwecken benutzt wird. Im Gegensatz zu Konzernen haben viele Designer weder die Strukturen noch die finanziellen Mittel, um ihre Produkte zertifizieren zu lassen. Wir möchten Designern, die für kleine Unternehmen arbeiten oder selbstständig sind, eine Plattform bieten; Designern, die teilweise die Produktionsstätten selbst mit aufbauen, sich intensiv mit der Materie auseinandersetzen und deren Produkte nach Nachhaltigkeitskriterien sehr, sehr hoch einzuschätzen sind, allerdings ohne ein Zertifikat zu haben – das ist eben oft eine Budgetfrage. Sind Großbetriebe überhaupt in der Lage, den Ansprüchen an Nachhaltigkeit in der gleichen Weise gerecht zu werden wie kleinere Unternehmen? Schwarz-weiß lässt sich dieses Bild nie malen. Genauso wenig, wie man davon ausgehen kann, dass alle Produkte, die das gleiche Zertifikat haben, den gleichen Ansprüchen genügen. Schließlich unterscheiden sie sich alle in ihrer Produktionsart, den verwendeten Materialien und so weiter. Es gibt Produkte, die aus den natürlichsten Materialien hergestellt sind, aber hinsichtlich der Arbeits- und Herstellungsprozesse zu wünschen übrig lassen. Dann gibt es andere, die in FairTrade-Projekten produziert werden, vielleicht aber nicht aus den natürlichsten Materialien bestehen. Wie bewertet man
agora42 • Interview mit Andrea Herold und Tina Kammer
76
agora42 • Interview mit Andrea Herold und Tina Kammer
agora42 • Interview mit Andrea Herold und Tina Kammer
77
Speakers ’ Cor ner
Speakers’ Corner („Ecke der Redner“) ist ein Versammlungsplatz im Hyde Park in London. Durch einen Parlamentsbeschluss vom 27. Juni 1872 kann dort jeder ohne Anmeldung einen Vortrag zu einem beliebigen Thema halten, seine Meinung über die gesellschaftlichen Verhältnisse kundtun und auf diesem Weg die Vorübergehenden um sich versammeln.
John Perkins, Jahrgang 1946, wurde bekannt durch seinen Bestseller Bekenntnisse eines Economic Hitman. In diesem Buch beschreibt er seine führende Tätigkeit für die große US-amerikanische Beratungsfirma Chas T. Main, wo er unter anderem mit dem IWF, der Weltbank, Großkonzernen sowie Regierungen von Ländern in Lateinamerika, Asien und Afrika in Kontakt trat. Von 1970 bis 1982 beriet er im Auftrag von Chas T. Main zahlreiche Entwicklungsländer und veranlasste sie durch übertrieben optimistische Prognosen zu überdimensionierten Technikprojekten. Dabei ging es vorrangig um die Durchsetzung US-amerikanischer Interessen beziehungsweise jener von US-amerikanischen Firmen und Konglomeraten. Er verließ Chas T. Main aufgrund von Gewissenskonflikten und gründete die Firma IPS (Independent Power Systems), die sich auf die Entwicklung nachhaltiger Energiesysteme spezialisierte. 1992 verkaufte er IPS. Sein Schweigen über seine berufliche Vergangenheit als Economic Hitman brach er erst nach den Ereignissen des 11. September 2001. Heute leitet John Perkins die Organisation „Dream Change Coalition“, die zusammen mit den indigenen Völkern Südamerikas deren Umwelt und Kulturen schützt. Seine Website findet man unter www.johnperkins.org.
Foto: © Darrow Bernick
84
agora42 • Speakers’ Corner • WIR WURDEN ALLE GE-HOODWINKED
WIR WURDEN ALLE GEHOOD WINKED
Menschen überall auf der Welt beginnen zu verstehen, dass wir in einem kaputten System leben, einem zutiefst betrügerischen System. Wir wurden getäuscht und hintergangen – hoodwinked. Überall auf dem Planeten wurden die Reichen noch reicher und der Rest von uns ärmer. Wir wurden und werden extrem ausgebeutet. Das fühlen die Menschen in Griechenland genauso wie die Menschen in den Vereinigten Staaten oder in Nahost. Der Terminus „Raubtier-Kapitalismus“ beschreibt dieses System ganz passend. Es ist ein System, das darauf ausgelegt ist, die Reichen reicher und mächtiger zu machen, während alle anderen zu Sklaven werden. Wir haben in der Weltgeschichte nun einen Punkt erreicht, der stark an das Mittelalter erinnert. Damals gab es, grob gesagt, eine Burg mit einem Burgherrn und vielleicht noch ein paar Rittern – alle anderen lebten außerhalb der Burg, sogar das Bürgertum (auch wenn das Wort „Bürger“ anderes vermuten lässt). Jedenfalls waren es die Bürger, die für die wirtschaftlichen Belange der Burg aufkommen mussten – sie stellten alles her. Ein Großteil der Produktion – Nahrungsmittel, Werkzeuge, Waffen – ging direkt an die Burg. Die Bürger wurden im Glauben gehalten, dass, wenn sie nicht alles ihrem Herrn
zur Verfügung stellten, die Soldaten einer benachbarten Burg einmarschieren, sie alle töten, ausrauben und vergewaltigen würden. Wir hingegen werden im Glauben gehalten, die großen Konzerne (und damit die Reichen, die dahinter stehen) unterstützen zu müssen. Und wir tun es – bewusst oder unbewusst. Täten wir es nicht, würde uns etwas Schreckliches widerfahren; zum Beispiel, dass ein Verrückter mit einem Walkie-Talkie von einer Höhle in Zentralasien aus das Leben, wie wir es kennen, auslöscht. dabei ist die grösste bedrohung für unser leben das system selbst. Es ist ein modernes Feudalsystem. Auf der einen Seite müssen die Leute – in Griechenland merken sie das gerade besonders – gravierende Einschnitte hinnehmen, auf der anderen Seite werden diejenigen verschont, die für all die Probleme verantwortlich sind. Denen geht es wunderbar. Sie stehen in keinerlei Verantwortung. Dabei ist Griechenland nur ein Fall von vielen. Wir haben das auch in Island, in Irland, Italien oder den Vereinigten Staaten erlebt. Die ganze Welt wurde von Räuberbaronen beklaut. Gerade diese Räuberbarone aber inszenieren sich als Gutmenschen, Philanthropen, Vorbilder. Wir glauben, dass jeder Reichtum gerechtfertigt sei, da man eben nur entsprechend hart dafür arbeiten müsse. Die meisten Reichen, die ich so kenne, arbeiten kein bisschen hart. Im Grunde haben sie alle Diener, die die Arbeit für sie machen. Wir sind Teil einer gigantischen Lüge und langsam beginnen wir, dies zu erkennen – Stichwort Occupy! Occupy Wall Street, Occupy Seattle, Occupy San Francisco und viele mehr. Es ist wirklich erstaunlich, wie die Leute sich in Bewegung setzen. Die Wirtschaftskrise hat ihren Teil dazu beigetragen, dass viele erkennen, wie sehr wir ausgenutzt werden. Natürlich sind das, was wir momentan sehen, die Auswüchse des Systems. Aber das System selbst ist ein Schwindel. Es treibt Menschen in die Verschuldung. Ganze Länder bewusst in die Schulden zu treiben – dies war genau mein Job als Economic Hitman (frei übersetzt: „Ökonomischer Auftragskiller“, Anm. d. Red.).
agora42 • Speakers’ Corner • WIR WURDEN ALLE GE-HOODWINKED
85
Pe ter N iesen
G L E IC H E S R E C H T AU F S G R Ö S S T E G L Ü C K ? J E R E M Y B E N T H A M U N D DI E F R A N Z Ö S I S C HE R EVOLU T ION Por t ra i t Vielen Europäern gilt Jeremy Bentham seit Marx als „rein englisches Phänomen“. Wenn dies nur heißen soll, dass es kaum ein kontinentaler Denker an Exzentrizität mit Bentham aufnehmen kann, so lässt sich das nicht bestreiten und ist auch einer vertieften Rezeption nicht hinderlich. Benthams Londoner Zeitgenossen schüttelten den Kopf über den Eremiten vom Queen’s Square Place, der kaum das Haus verließ und permanent schrieb, der kaum publizierte und wenig las, und noch seine heutigen Leser, die Benthams angekleidetes, mit einem Wachskopf versehenes Skelett im University College London aufsuchen, fühlen sich merkwürdig berührt. Wenn Marx allerdings mit seinem Hinweis den Vorwurf verbindet, Benthams Denken zeuge von einer provinziellen Geisteshaltung, so wiederholt er nur die traditionelle Anglophobie der deutschen Philosophen und trägt zu ihrer Selbstprovinzialisierung bei. Benthams Wirken erstreckt sich von Beginn an auf den gesamten Globus, und sein Ruhm steigt, zumindest zu seinen Lebzeiten, mit zunehmender Entfernung von seinem Wohnort London kontinuierlich an. Er unterstützt die Befreiungskämpfe der nordamerikanischen Kolonisten gegen die englische Krone und verschickt seit 1788, noch bevor sich die Anzeichen für eine Revolution in Frankreich verdichten, verfassungstheoretische und ökonomische Schriften an die Pariser Intellektuellen, die sich an der Neueinrichtung
88
der Generalstände, der französischen Ständeversammlung, versuchen. Ohne sich davon irritieren zu lassen, dass seine Manuskriptsendungen kaum jemals in den Verfassungsberatungen herangezogen werden, versorgt er die spätere Nationalversammlung mit immer neuen Überlegungen zum Wahlrecht, zur parlamentarischen Geschäftsordnung, zur Einrichtung der Verfassung, zur Freigabe der Kolonien, zur Steuer- und Erbschaftsgesetzgebung – und zwar sowohl auf Englisch als auch in einem eigentümlichen „dog French“. Diese unermüdliche Unterstützung trägt ihm 1792 das französische Bürgerrecht ehrenhalber ein, und noch nachdem Bentham sich längst, abgeschreckt von den revolutionären Gewaltexzessen, von seinen französischen Gesprächspartnern abgewandt hat, widmet sich eine seiner berühmtesten Schriften, die 1795 verfasste Polemik Unsinn auf Stelzen (Nonsense Upon Stilts), den Menschen- und Bürgerrechtserklärungen der Revolutionsverfassungen. Als Verfassungsberater wendet er sich später Griechenland und Spanien, Nordafrika und Lateinamerika zu. Er experimentiert auch mit Vorschlägen für einen kosmopolitischen Kodex. In den europäischen Staaten sollten seine Werke erst in der Zeit der Restauration nach dem Wiener Kongress (1814–1815) wieder Aufnahme finden. Der erste Versuch Benthams, einen Beitrag zur europäischen Verfassungsgeschichte zu leisten, war auf ganzer Linie gescheitert.
agora42 • Portrait • JEREMY BENTHAM
agora42 • Portrait • JEREMY BENTHAM
89