agora42 05/2010 - Schulden und Sühne

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SCHULDEN UND SÜHNE

05/2010 • 7,90 € (D)


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Altgriechisch ĮȖȠȡĮ Im antiken Griechenland Versammlungsplatz oder Markt im Zentrum einer Stadt Politische, juristische und philosophische Versammlungsstätte freier Bürger Kultisches Zentrum der Polisgemeinschaft Bedeutender Schritt in der Entwicklungsgeschichte der attischen Demokratie

Im ersten Buch von Douglas Adams The Hitchhiker‘s Guide to the Galaxy wird folgende Geschichte erzählt: • Eine weit fortgeschrittene außerirdische Kultur sucht die Antwort auf die Frage aller Fragen, nämlich jene nach „life, the universe and everything“ • Dazu entwickelt und baut sie den Supercomputer Deep Thought • Nach einer Rechenzeit von 7,5 Millionen Jahren erbringt Deep Thought die Antwort „42“ • Auf die Ratlosigkeit der Erbauer hin entgegnet Deep Thought, dass die Frage nicht präzise gestellt worden sei und schlägt vor, einen von ihm erdachten, noch größeren Computer zu bauen, der fähig ist, die zur Antwort passende Frage zu finden • Dieser Computer wird gebaut und das Programm zur Suche der Frage auf die Antwort wird gestartet • Es stellt sich heraus, dass dieser noch größere Computer der Planet Erde ist


I N H A LT agora42

Personen

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Editorial

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Prolog

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Parallaxe inflation – eine nicht einsetzbare ökonomische massenvernichtungswaffe

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Ökonomische Theorien staatsverschuldung –kein problem! oder: auf lange sicht sind wir alle tot

Interview • Joachim Starbatty Die Verdrängung der Schulden

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Interview • Michael Heise This time is different!

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Portrait thorstein b. veblen

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Philosophische Perspektive die grösste schuld

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Grundannahmen der Ökonomie schulden als handelsgut

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Gedankenspiele

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Zahlenspiele

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Nicola Liebert wenn staaten nicht mehr können

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Plutos Schatten

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Thilo Spahl sind wir alle schuldig? industrialisierung als erbsünde

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Impressum

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Thomas Strobl inflation ist paradox

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Alicja Karkoszka der mensch im hamsterrad

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Karl-Heinz Brodbeck vom ablasshandel zur schuldsklaverei

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Dennis Bock straftäter in nadelstreifen?!

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Auf dem Marktplatz

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Auf dem linken/rechten Auge blind

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Ö ko n o m i s c h e T he o r ie n

STAAT S VER SCHULDUNG – KEIN PROBLEM! ODER : AUF L ANGE SICHT SIND WIR ALLE TOT

es soll an dieser stelle nicht die frage beantwortet werden, ob deutschland schon pleite ist oder noch nicht. es geht auch nicht darum zu bewerten, ob 20.000 euro – dies entspricht in etwa dem prokopf-anteil eines jeden bundesbürgers gemessen an der gesamtverschuldung – viel sind oder nicht. stattdessen wird hier erklärt, was die deutsche regierung am 19. märz 2010 dazu bewogen hat, guten mutes eine rekordneuverschuldung in höhe von 80,2 milliarden euro zu beschliessen.

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1929 – 2009: Angst vor der Wiederholung Als am 6. April 2009 die beiden US-amerikanischen Ökonomen Barry Eichengreen und Kevin O’Rourke ihren Vergleich der Weltwirtschaftskrise der 1930erJahre mit der globalen wirtschaftlichen Rezession ab April 2008 auf dem Volkswirtschaftler-Blog voxeu.org publizierten, sorgten sie damit für weltweites Aufsehen. Ihr Blog-Beitrag fand sogar Einzug in die Süddeutsche Zeitung und avancierte somit zum Superstar unter den sonst eher an Nichtbeachtung gewöhnten Kommentaren zu volkswirtschaftlichen Fragestellungen. Was war der Grund dafür, dass ihr Artikel plötzlich derart ins Rampenlicht des öffentlichen Interesses rückte? Eichengreen und O’Rourke zeigten anhand der wichtigsten ökonomischen Kennziffern, dass die ökonomische Entwicklung ab April 2008 dem Verlauf der großen Depression erschreckend ähnelte (siehe die Abb. 1–3).

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Welthandelsvolumen, jetzt vs damals

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Weltaktienmärkte, jetzt vs damals

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Welthandelsvolumen

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Weltaktienmärkte

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Monate seit Beginn der Krise

Monate seit Beginn der Krise Juni 1929 = 100 April 2008 = 100 Juni 2009 = upd.

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Weltindustrieproduktion, jetzt vs damals

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Weltindustrieproduktion

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Größer als die Große Depression.

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Monate seit Beginn der Krise

Und weil die Weltwirtschaftskrise der 30er-Jahre in den USA über 25 Prozent der Bevölkerung in die Arbeitslosigkeit gestürzt und über 9600 Banken hatte pleitegehen lassen, ließ die Entwicklung der Kennziffern das Schlimmste vermuten, zumal die aktuellen Zahlen die aus den 30er-Jahren an Dramatik teilweise noch übertrafen. Es wundert also nicht, dass selbst die Süddeutsche Zeitung diesen Blog-Beitrag aufgriff und einen längeren Artikel mit dem Titel „Größer als die Große Depression“ dazu schrieb. Die Angst scheint berechtigt zu sein, schließlich folgte in Deutschland auf die Weltwirtschaftskrise von 1929 ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das Wachstum und Aufschwung prophezeite, aber von den angekündigten tausend Jahren nicht mal 15 Jahre überdauerte und der Welt den Zweiten Weltkrieg bescherte. Ungefähr ein Jahr nach ihrem aufsehenerregenden Vergleich, nämlich am 8. März 2010, aktualisierten Eichen-

green und O’Rourke die Schaubilder (siehe die Abb. 4–6) mit der Bemerkung: „Die Erholung der weltweiten Industrieproduktion hält weiter an – ein Umstand, für den man der Politik großen Respekt aussprechen muss.“ Und tatsächlich, man liest schon wieder von sich füllenden Auftragsbüchern, von möglicher Vollbeschäftigung und von Firmen, die sogar neue Mitarbeiter einstellen. was ist passiert?

Totgesagte leben länger Um diesen schnellen Aufschwung zu verstehen, drehen wir das Rad der Geschichte zunächst um 74 Jahre zurück, denn im Jahre 1936 veröffentlichte der britische Ökonom John Maynard Keynes (1883–1946) das inzwischen zum Klassiker der Wirtschaftslektüre gewordenen Werk The General Theory of Employment, Interest, and

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Money. Die Kernaussage dieses Buches fasste Paul Samuelson, Wirtschaftsnobelpreisträgers von 1970, wie folgt zusammen: „Keynes widerspricht entschieden der bis dahin gängigen Auffassung des Liberalismus, dass die egoistischen Bemühungen eines jeden Einzelnen in der Summe sich selbst regulieren (die unsichtbare Hand).“ Anstatt das langfristige Wachstum der freien Märkte zu feiern, verlagerte Keynes seinen Fokus auf die sich regelmäßig wiederholenden Rückschläge, die jedes Mal einen Anstieg der Arbeitslosigkeit, einen drastischen Rückgang der Produktion und zahlreiche Firmeninsolvenzen zur Folge hatten. die regelmässigkeit, mit der diese rückschläge auftraten, liess keynes an der fähigkeit der märkte, sich selbst zu regulieren, zweifeln. Das Ziel der Regierung müsse es nach Keynes sein, diesen Rückschlägen vorzubeugen. So schlug er eine staatliche Steuerung vor, die eine gesamtwirtschaftliche Aktivität und Produktion auf optimalem Niveau garantieren solle. Entgegen der Stimmen seiner Kritiker, die ihm sozialistisches Gedankengut vorwarfen, war Keynes davon überzeugt, dass nur durch staatliche Planung die Freiheit und Unabhängigkeit des Einzelnen gesichert werden könne. Zwei zentrale Beobachtungen liegen seiner Theorie zugrunde: 1. Wären Preise und Löhne tatsächlich vollkommen flexibel, müsste die Wirtschaft, gemäß dem sayschen Theorem, gerade in Zeiten des Abschwungs in Richtung Vollbeschäftigung tendieren. Tatsächlich verharrt die Gesellschaft dann jedoch über längere Zeit in Unterbeschäftigung. Saysches Theorem: Das Theorem geht auf den französischen Ökonom Jean-Baptiste Say (1767–1832) zurück und besagt, dass sich in einem System mit flexiblen Preisen das Angebot und die Nachfrage automatisch einpendeln. Die Befürworter sich selbst regulierender Märkte übertrugen dieses Argument später auf den Arbeitsmarkt und argumentierten, dass bei einem Rückgang der Nachfrage nach Arbeitskräften sich der Arbeitslohn automatisch verringert, so dass wieder verstärkt Arbeitskraft nachgefragt wird. Kritiker widersprechen diesem Theorem, da sich in der Wirklichkeit Löhne (und Preise) nicht beliebig weit senken lassen und insofern eben nicht vollständig flexibel sind.

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Weltindustrieproduktion, jetzt vs damals

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2. Die zweite Beobachtung ist, dass Optimierungen im kleinen Rahmen (zum Beispiel bei einem Unternehmen) für den Einzelnen oder das einzelne Unternehmen zwar sinnvoll sein können, aber auf die Gesamtwirtschaft angewendet, wie das Sparparadoxon zeigt, eine kontraproduktive Wirkung haben können. Sparparadoxon: Für den Einzelnen ist es durchaus sinnvoll zu sparen, da sein Einkommen durch Zinseinnahmen gesteigert wird. Auch für ein Unternehmen ist es sinnvoll zu sparen, etwa bei den Personalkosten. Fangen jedoch alle an zu sparen, bedeutet dies, dass die Gesamtnachfrage zurückgeht, sich die wirtschaftliche Situation insgesamt verschlechtert, schließlich auch das betroffene Unternehmen darunter leidet.

New Deal wird zum Green New Deal … Diese Unvollkommenheiten des „sich selbst regulierenden“ Marktes sah auch der US-amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt, der ganz im Sinne von Keynes die Defizite des Markts durch staatliche Interventionen auszubügeln suchte. Nachdem die amerikanische Wirtschaft nach 1929 nur mühsam aus der Krise kam, führte Roosevelt eine Reihe von Reformen durch, die unter dem Schlagwort „New Deal“ bekannt wurden und zum Ziel hatten, die Wirtschaft anzukurbeln und die gesell-

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Welthandelsvolumen, jetzt vs damals

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Internationale Aktienmärkte, jetzt vs damals

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schaftliche Not zu lindern. Seine Wirtschaftsreformen folgten damit der Erkenntnis von Keynes, demzufolge in Zeiten, in denen sowohl die Unternehmen als auch die Privatpersonen sich mit dem Konsum zurückhalten, der Staat die Nachfrage ankurbeln müsse. Die Logik ist so einfach wie bestechend: In Zeiten der Krise verschuldet sich der Staat und unterstützt somit die Nachfrage – so lange, bis die Wirtschaft und der private Konsum wieder anziehen. Kommt die Wirtschaft wieder auf dem Wachstumspfad, kann der Staat durch das erhöhte Steueraufkommen die Schulden zurückzahlen. Die Überzeugung, dass der Staat regulierend und intervenierend in die Wirtschaft einzugreifen habe, um damit das optimale Niveau der wirtschaftlichen Aktivität und Produktion zu garantieren, hielt sich bis Mitte der 1970er-Jahre. In diesem Jahrzehnt allerdings war die Wirtschaft trotz Staatsinterventionen nicht mehr vor einem Abschwung zu bewahren. Gleichzeitig war zu beobachten, dass die Staatsschulden, die Roosevelt für den „New Deal“ im Sinne der keynesianischen Interventionspolitik aufgenommen hatte, sich trotz des Aufschwungs in den 50er- und 60er-Jahren nicht reduziert hatten. Dieses Jahrzehnt markierte den Wendepunkt der makroökonomischen Politik – die Befürworter des freien Markts gewannen die Oberhand. Spätestens

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1989, als die vormals sozialistischen Systeme sich mehr und mehr der freien Marktwirtschaft öffneten, was ein Wirtschaftswachstum auf globaler Ebene zur Folge hatte, schienen sich die Befürworter eines sich selbst regulierenden Markts endgültig durchgesetzt zu haben. Doch just in dem Moment, als auf den Märkten grenzüberschreitend die maximale Freiheit gefeiert wurde und endloses Wachstum möglich schien, nämlich Anfang 2008, ging die globale Wirtschaft in die Knie und das Überleben des Systems schien allein davon abzuhängen, ob der Staat wieder einmal intervenierend eingreift. Wie von Eichengreen und O’Rourke gezeigt, deuteten alle Indikatoren darauf hin, dass die Weltwirtschaft noch dramatischer abstürzt als 1929. Dies vor Augen, die Theorie von Keynes im Hinterkopf und die ehemaligen Befürworter grenzenloser Freiheit am Rockzipfel, handelte die Politik: Hilfspakete im Gesamtvolumen von über zwei Billionen (2.000.000.000.000) Dollar wurden weltweit verabschiedet. Und da uns heute zahlreiche Motivationsgurus gelehrt haben, dass man in jeder Krise eine Chance sehen muss, wollte man die Hilfspakete nicht nur als Rettung der Weltwirtschaft im keynesianischen Sinn verstehen. Die Förderung der Ökotechnologien durch Investitionen – wenn auch nur zu einem verschwindend geringen Ausmaß im Verhältnis zum

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Gr und annahmen der Ökonomie

SCHULDEN AL S HANDEL SGU T

kredite sind so alt wie die menschheit. wussten sie aber, dass mit krediten reger handel betrieben wird? und dass mephisto dabei seine hände im spiel hat?

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 K A I S E R : IC H A H N E F R E V E L , U N G E H E U R E N T RU G ! W E R FÄ L S C HT E HIE R DE S K A I S E R S NA ME N SZUG? I S T S OLC H V E RB R E C HE N UN G E S T R A F T G E BLIEB E N ? Joh a n n Wol f g a n g von G o e th e, Fa u s t I I

So der entsetzte Ausruf des Kaisers in Goethes Drama Faust II, als Mephisto durch eine findige Idee die Finanzprobleme des Staates auf einen Schlag behob. Er erscheint verwunderlich angesichts der vormaligen, hoffnungslosen Überschuldung des Staates und einer verarmten Bevölkerung, der es am Nötigsten mangelte. Wie kam es, dass der Kaiser sich derart erzürnte, anstatt Mephisto dafür zu danken, dass das Land – „sonst halb im Tod verschimmelt“ – nun plötzlich „lebt und lustgenießend wimmelt“?

gibt als Geldersatz Schuldscheine aus, deren Sicherheit die ungehobenen Bodenschätze des kaiserlichen Landes sind. Wobei Sicherheit vielleicht das falsche Wort ist; denn wie kann etwas, von dem man nicht weiß, ob es überhaupt existiert – ähnlich wie die verbrieften amerikanischen Hypothekenanleihen –, als Sicherheit dienen? Aber diese Frage stellte man sich damals ebenso wenig wie heute, schließlich zählt das unmittelbare Ergebnis, und das war in beiden Fällen – ein Fest: „Bei ‚Hoch dem Kaiser!‘ sprudelt’s in den Kellern, Dort kocht’s und brät’s und klappert mit den Tellern.“

Geld aus der Zukunft In der vorangegangenen Nacht hatte Mephisto den angetrunkenen Kaiser daran erinnert, dass ihm ein Teil aller Bodenschätze sowie die Steuern aus landwirtschaftlichen und anderen Gütern zustehen. Das war dem Kaiser aber durchaus bewusst; er hatte ja seinen Anteil an den Bodenschätzen und die Steuern stets eingezogen. Er konnte ja kaum Bodenschätze einfordern, die noch keiner gefunden hat, ja von denen man nicht einmal weiß, ob sie überhaupt existieren. Oder Steuern, die erst in der Zukunft bezahlt werden. Doch Mephistos Idee bestand ebendarin, diese künftigen Reichtümer schon heute für den Kaiser nutzbar zu machen. So wundersam dies klingen mag, so einfach nimmt sich Mephistos Trick aus: Er

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Der Einzige am Hof, der das Spiel durchschaut, ist der Narr, der kurzerhand seinen Lohn – ebenfalls Schuldscheine – in Grundbesitz umtauscht.

Der Kredit Die von Goethe geschilderte Situation haben wir im Prinzip auch heute: Der Kaiser (Staat) ist pleite und braucht Geld. Da er das Monopol auf zukünftige Steuereinnahmen hat, kann er diese als Sicherheiten an die Geldgeber verpfänden. Weil alle an die Sicherheit der Sicherheiten glauben, akzeptieren sie die vom Kaiser (Staat) ausgestellten Schuldscheine. Je mehr er davon unters

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Volk bringt, desto mehr Geld ist für alle vorhanden. Die Wirtschaft floriert – offenbar reicht es, wenn die Visionen größer als die Fakten sind (ähnlich wie während der Immobilienblase in den USA, als die Häuserpreise auch nicht mehr den tatsächlichen Wert der Immobilie repräsentierten), damit es zu mehr Wachstum kommen kann. Halten wir an dieser Stelle kurz inne und werden uns der Definition der ökonomischen Schuld bewusst, die im Fachjargon der Kredit ist. Der Begriff Kredit leitet sich vom lateinischen credere (glauben) und creditum (das auf Treu und Glauben Anvertraute) ab und ist ein Schuldverhältnis, das auf Vertrauen basiert. Was kann es außer Vertrauen auch anderes sein, das diesem Verhältnis zugrunde liegt, schließlich liegt die Erfüllung des eingegangenen Schuldverhältnisses in der Zukunft, und keine der beiden Parteien kann mit absoluter Sicherheit sagen, dass die Verpflichtungen in Zukunft auch in vollem Maße eingehalten werden (können). Der Kreditgeber wird in diesem Zusammenhang als Kreditor und der Kreditnehmer als Debitor bezeichnet. der „kredit“ ist bestimmt schon so alt wie die menschheit. Und das hat seinen guten Grund. Schließlich ist es doch äußerst selten, dass jemand beispielsweise ein Eigenheim mit Barmitteln bezahlen kann. Ökonomisch gesprochen, ermöglicht ein Kredit ein Leben gemäß den individuellen Präferenzen: Wer heute konsumieren will, dafür aber kein Geld hat, leiht sich Geld von dem, der erst später konsumieren will (oder einfach sein Vermögen vergrößern will). Der Kredit für ein Eigenheim kann mit dem Geld, welches sonst für die Mietzahlungen anfallen würde, zurückgezahlt werden. Was passiert aber, wenn der Debitor zum Beispiel seinen Arbeitsplatz verliert und den Kreditverpflichtungen (Zins- und Tilgungszahlungen) nicht mehr nachkommen kann? Dass dieser Fall nicht eintritt, darauf hoffen verständlicherweise beide Parteien. Nichtsdestoweniger besteht eine solche Unsicherheit immer zum Zeitpunkt der Kreditvergabe. Was bleibt aber, wenn die verschuldete Person kein Geld mehr hat, um ihren Verpflichtungen nachzukommen? Sie kann anfangen, Wertgegenstände aus ihrem Besitz,

zum Beispiel die Briefmarkensammlung des Großvaters, zu verkaufen. In der Regel hat die Bank so eine Situation bereits bei der Kreditvergabe bedacht und sich das Recht zusichern lassen, dass die Briefmarkensammlung beim Eintritt einer Zahlungsunfähigkeit in ihren Besitz übergeht. Somit dient die Briefmarkensammlung der

Offenbar reicht es, wenn die Visionen größer als die Fakten sind, damit es zu mehr Wachstum kommen kann.

Bank während der gesamten Kreditlaufzeit als Sicherheit – vergleichbar den kaiserlichen Bodenschätzen, die als Sicherheit für die Schuldscheine galten. Jedoch mit einem Unterschied: Die Bank wird sich vergewissern, dass die Briefmarkensammlung auch tatsächlich vorhanden ist. Ob die Bodenschätze des Kaisers tatsächlich vorhanden sind, wurde hingegen nicht überprüft. Es kann jedoch auch passieren, dass der Kreditnehmer keine oder keine den Verpflichtungen adäquaten Wertgegenstände hat. In einem solchen Fall bleibt als letzter Schritt die Privatinsolvenz. Für die Bank, die den Kredit für das Eigenheim zur Verfügung gestellt hat, bedeutet die Privatinsolvenz des Kreditnehmers einen Verlust. Denn abgesehen vom nicht vollständig zurückbezahlten und nicht durch Sicherheiten gedeckten Kredit verliert sie die Zinseinnahmen, die während der Laufzeit des Kredites angefallen wären.

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Thilo Spahl

S I N D W I R A L L E S C H U L DIG ? I N D U S T R I A L I S I E R U N G A L S E R B S Ü N DE

immer im herbst ist es so weit. die presse wird von der umweltorganisation global footprint network informiert, dass ab sofort auf pump gelebt werde, da die ökologischen ressourcen auf der erde für das laufende jahr bereits verbraucht seien. 2009 war der „tag der ökologischen überschuldung“ der 25. september. bereits 1986, so mathis wackernagel, erfinder des „ökologischen fussabdrucks“, habe die überschuldung der menschheit begonnen. seitdem verbrauchten wir mehr ressourcen, als die erde hergebe. schlimmer noch: der ressourcenverbrauch habe in den letzten jahren noch zugenommen, sodass heute die nachfrage der menschheit nach den ressourcen des planeten die regenerativen kapazitäten um rund 30 prozent übersteige.

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Wir schulden der Natur nichts Mathis Wackernagel spricht von „ökologischen Dienstleistungen“, die die Natur für uns verrichte. Das ist einerseits eine erfreulich anthropozentrische Sichtweise. Es offenbart andererseits ein unerfreulich anthropomorphistisches Naturbild.

Anthropozentrisch: von griechisch anthropos = Mensch: Der Mensch steht im Mittelpunkt. Anthropomorphistisch: von anthropos = Mensch; morphe = Gestalt: Bezeichnung dafür, dass menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen auf außermenschliche Gegenstände und Verhältnisse übertragen werden. Hier: Die Natur wird zum handelnden Subjekt vermenschlicht.

Die Natur ist und bleibt indes Objekt. Sie leistet uns keine Dienste. Wir nutzen sie als Mittel zum Zweck. Und weil wir sie nutzen, indem wir sie gestalten, sind wir auch keine Konsumenten. Außer der Luft, die wir atmen, und ein paar Wildkräutern und Wildkaninchen, die wir essen, gibt es nicht allzu viel, was die Natur unmittelbar zu unserer Bedürfnisbefriedigung beiträgt. Der Baumstamm ruft uns nicht zu: „Bau ein Schiff aus mir!“ Ob ein Stück Natur von uns als Ressource genutzt wird, hängt nicht von der Natur ab, sondern von uns. Und weil unser Wissen und unsere Fähigkeiten permanent wachsen, schaffen wir es, aus immer weniger Natur immer mehr Wohlstand zu machen. Das ist die historische Wahrheit, die in der omnipräsenten Wachstumskritik mitunter ins Gegenteil verdreht wird. die industrialisierung ist nicht der anfang der ausbeutung der natur, sondern der anfang vom ende der ausbeutung der natur. Die größte Errungenschaft des Naturschutzes ist die heute gerne als Sündenfall dargestellte Nutzung fossiler Energieträger. Wir haben es geschafft, eine Zivilisation auf Kohle, Öl, Gas, Stickstoff und diversen Metallen aufzubauen, also Rohstoffen, die vor der Industrialisierung als solche unbekannt waren und unter allen Lebewesen (abgesehen von ein paar exotischen Mikroben)

ausschließlich vom Menschen genutzt werden. Das Jahr 1882 markiert einen wichtigen Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit. In diesem Jahr wurde in den USA erstmals mehr Kohle als Holz verbrannt. Ständig entdecken wir weitere Rohstoffquellen, die ebenfalls ohne den menschlichen Geist komplett nutzlos wären. Der Grundstoff für Computer und Solarzellen ist Silizium, ein Stoff, der 25,8 Prozent der Erdkruste ausmacht (Sand besteht vorwiegend aus Siliziumdioxid). Das beste Beispiel, wie heute Wachstum aus menschlicher Kreativität und nicht aus Naturausbeutung generiert wird, bietet das Silicon Valley, das bekanntlich nicht so heißt, weil dort Silizium gewonnen würde.

Silicon Valley: Silicon Valley (englisch: Siliziumtal) ist die umgangssprachliche Bezeichnung für ein Tal in Nordkalifornien, zwischen San Francisco und San José gelegen. Der Name rührt daher, dass in diesem Tal und den umgebenden Gebieten extrem viele Computer-, Halbleiter- und Softwareunternehmen angesiedelt sind. Das Halbmetall Silizium stellt das Grundmaterial der meisten Produkte der Halbleiterindustrie dar und wird zum Beispiel dafür benötigt, Mikroprozessoren für Computer herzustellen.

Heute sind wir dabei, Technologien zur Marktreife zu bringen, die CO2 als Rohstoff nutzen, um daraus biotechnologisch oder chemisch Treibstoff oder Kunststoff zu gewinnen. Hier konkurrieren wir zwar mit der Pflanzenwelt, können dies aber wohl guten Gewissens tun, da wir bekanntlich ordentliche Überschüsse des Gases selbst freigesetzt haben, so dass mehr, als uns lieb ist, zur Verfügung steht. Auch was die Ernährung betrifft, unterscheiden wir uns vom Rest der Lebewesen dadurch, dass wir in ständig wachsendem Ausmaß das konsumieren, was wir selbst erzeugt haben. Je intensiver wir Ackerbau und Viehzucht, einschließlich Aquakultur, betreiben, desto mehr Raum bleibt für sich selbst überlassene – oder auch vom Menschen gestaltete – Ökosysteme. Und der Anteil der unmittelbar der Natur entnommenen Nahrung geht asymptotisch gegen null.

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Ablasshandel

Menschenvermeidung und Öko-Sex

So richtig populär bei den Eliten konnte das Fußabdruckkonzept durch den modernen Ablasshandel werden, der es erlaubt, sich von der „Sünde“ des CO2-Ausstoßes freizukaufen. Das beste Beispiel liefert hier wahrscheinlich Al Gore, dessen Fußstapfen dank Privatjet, Fuhrpark, Riesenvilla etc. 100 Chinesen nicht ausfüllen können. Er kann dennoch einen vorbildlichen Lebensstil für sich in Anspruch nehmen. Dies wird ihm auf der Interneteinkaufsplattform Utopia.de bescheinigt. Aus Sicht

Der ultimative Beitrag zur Rettung des Planeten durch Fußabdruckvermeidung ist die hohe Kunst der Menschenvermeidung. Die Autorin Stefanie Iris Weiss, die sich schon mit Anleitungen für Yoga und veganes Leben für Teenager um die Menschheit verdient gemacht hat, will uns mit ihrem Öko-Sex-Ratgeber Eco-Sex: Go Green Between the Sheets and Make Your Love Life Sustainable zeigen, dass man gleichzeitig Spaß haben und ökologisch Gas geben kann. Die Ratschläge sind gähnend interessant: Blumen für den Liebsten im Garten pflücken, statt aus Kolumbien einfliegen zu lassen, Kondome aus biologisch abbaubarem Latex und handbetriebenes Sexspielzeug (ohne Batterien). Regel Nummer eins für „Ökosexuelle“ ist laut Weiss aber natürlich, „weniger oder gar keine Kinder zu bekommen“. So sieht es auch die gemeinnützige Stiftung Optimum Population Trust (OPT), die daher einen speziellen Ablasshandel anbietet. Auf der Website www.popoffsets. com kann man seinen sündigen Konsum wiedergutmachen, indem man Geld gibt, das zur Vermeidung von Menschen eingesetzt wird – laut PopOffset die effektivste Form des Sündenerlasses. OPT behauptet, für 7 Dollar durch Geburtenvermeidung eine Tonne CO2 einsparen zu können. Dagegen sehen Windkraft (24 Dollar), Solarenergie (51 Dollar), CO2-Sequestrierung (57– 58 Dollar), Hybridautos (92 Dollar) und Elektroautos (131 Dollar) alt aus. Diese Art von Rechenübung bringt schnell auch Tierfreunde, die gleichzeitig den Planeten retten wollen, in arge Bedrängnis. In ihrem Buch Time to Eat the Dog?: The Real Guide to Sustainable Living berechnen die neuseeländischen Umweltschützer Robert und Brenda Vale den ökologischen Pfotenabdruck unserer tierischen Lieblinge. Das Ergebnis ist für den ökologisch korrekten Tierhalter ein harter Schlag: Ein mittelgroßer Hund hat einen mehr als doppelt so großen Ressourcenverbrauch wie ein Toyota Land Cruiser (Herstellung und 10.000 km/Jahr). eine katze kommt knapp an einen vw golf heran.

Was braucht es eigentlich dazu, ein guter Egoist zu sein?

der utopischen Konsumstrategen sieht die Sache so aus: „Al Gore hat einen Privatjet, der Stromverbrauch seiner Villa ist gigantisch, er lebt auf großem Fuß, hinterlässt aber trotzdem keinen CO2-Fußabdruck, weil er als Ausgleich in den Tropen neue Bäume pflanzen lässt und nur Ökostrom nutzt. Gore predigt nicht Konsumverzicht, sondern will mit seinem eigenen Lebensstil zeigen, dass es Spaß machen kann, die Welt zu retten.“ Der moderne Ablasshandel ist inzwischen eine gut laufende Öko-Bauernfängerei geworden. Allerdings sollte der nicht nur ökologisch bewusste, sondern auch preisbewusste Konsument genau schauen, wo er sich Absolution erkauft. Die Preise der Anbieter – inzwischen Hunderte – variieren erheblich. Ich habe das anhand eines Flugs von Berlin nach Sydney überprüft. Der amerikanische Anbieter Carbon Clear berechnet mir 30 Euro, der britische Carbon Care 54 Euro und der deutsche Atmosfair (Schirmherr Klaus Töpfer) sage und schreibe 280 Euro. Da bleibe ich doch lieber zu Hause.

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agora42 • Thilo Spahl • SIND WIR ALLE SCHULDIG?


Kommende Generationen Wer sich als zahlungswilliger Ökosünder an den Ablasshändler seines Vertrauens wendet, sollte auch die Sünden seiner Vorfahren nicht vergessen, wenn es darum geht, das richtige Maß an nicht zu gebärenden Kindern, neu zu pflanzenden Bäumen oder Schwerstarbeit verrichtenden Frauen in Drittweltländern, die dafür bezahlt werden, dass sie keine Maschinen einsetzen, zu bestimmen. Der amerikanische Klima-Alarmist James Hansen hat darauf hingewiesen, dass es die Briten seien, die pro Kopf das meiste CO2 in der Atmosphäre zu verantworten haben. Denn Großbritannien sei das Geburtsland der industriellen Revolution und damit schon länger Emittent des sich akkumulierenden Gases als andere Länder, etwa die USA. Wo es Sünde gibt, gibt es auch Erbsünde. Noch mehr als an die vergangenen Generationen sollen wir freilich an die kommenden denken. Die Leidtragen-

den seien am Ende unsere Kinder und Kindeskinder, wenn wir nicht aufhörten, den Planeten zu plündern. Während man dem Fußabdruckkonzept für die Gegenwart noch einen gewissen buchhalterischen Wert zubilligen kann, zeigt sich die wirkliche Schwäche darin, dass die Zukunft im Grunde ausgeblendet wird. das denken in natürlichen grenzen ist selbst begrenzt, da es den fortschritt nicht berücksichtigt. Aus technologischer Sicht ist es unmittelbar einsichtig, dass wir in der Lage sind, auf Verknappung zu reagieren, wo sie tatsächlich eintritt. Wir haben Effizienz von Landwirtschaft und Industrie im vergangenen Jahrhundert gewaltig gesteigert. Obwohl sich die Menschheit in den letzten 50 Jahren mehr als verdoppelt hat und der Wohlstand enorm gestiegen ist, ist der ökologische Fußabdruck – wenn man von der CO2-Komponente absieht – ungefähr gleich geblieben.

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A l ic j a K a rkos zk a

DE R ME N S C H IM HAMSTERRAD »UNSCHULD HEISST WILLENLOS SEIN, O H N E B Ö S E U N D E B E N DA M I T O H N E G U T Z U S E I N . « G eo r g W i l h e l m Fr iedr ich He g el

ob finanzkrise oder ölkatastrophe – politiker und bürger rennen hinterher. sie können lediglich reagieren und hektisch die schlimmsten brandherde löschen. wir bekommen vor augen geführt, wie schnell die scheinbare stabilität unserer (um-)welt kippen kann. das ständige streben nach mehr hat uns zu getriebenen gemacht. die kontrolle haben wir längst verloren. können wir noch an dem schuld sein, was wir gar nicht mehr beeinflussen können?

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agora42 • Alicja Karkoszka • DER MENSCH IM HAMSTERRAD


agora42 • Alicja Karkoszka • DER MENSCH IM HAMSTERRAD

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Gemäß dem deutschen Strafrecht kann jemand nur dann strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, wenn er bewusst eine schadhafte Handlung vornimmt. Die Schuldfähigkeit steht für ein Mindestmaß an Selbstbestimmung. Für schuldunfähig kann erklärt werden, wer im Moment der Tat nicht das Schuldhafte seines Handelns erkennt oder nicht in der Lage ist, sich zu steuern – beispielsweise aufgrund einer schweren Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns. Gehen wir einmal davon aus, dass die Chefs von BP oder die Vorstände deutscher Landesbanken, um Letztere beispielhaft als an der Finanzkrise beteiligte Akteure herauszugreifen, nicht an Schwachsinn oder an einer schweren Bewusstseinsstörung leiden. Warum haben die Oberen des britischen Ölkonzerns trotzdem solche Sicherheitsrisiken in Kauf genommen? Warum haben sich hiesige Landesbanken auf den internationalen Kapitalmarkt geworfen, obwohl sie dort weder ihrer Bestimmung nach etwas zu suchen hatten noch die nötige Kompetenz vorhanden war. Wer ist verantwortlich für die getroffenen Entscheidungen? Wer trägt die Schuld?

oder Banken ist die Sache klar: Der Rahmen des Systems bestimmt ihre Zielvorgaben und damit ihre Handlungen. Ein Manager trifft seine Entscheidungen im Sinne der Zielvorgaben, die sich mittlerweile in jedem weltweit operierenden Konzern etabliert haben: Effizienz, Kosten sparen und den Gewinn beständig höher schrauben. Insofern war für die Manager von BP am eigenen Handeln zunächst nichts auszusetzen: Sparen für den Gewinn. Jeder Dollar zählt! Und der Vorstand einer Landesbank? Die Verlagerung der Geschäftstätigkeit einer Bank kann nicht ohne Weiteres vorgenommen werden. Als Aktiengesellschaft ist sie verpflichtet, gemäß ihrer Satzung zu handeln. Wenn also eine Landesbank sich beispielsweise auf risikoreichen Handel mit Verbriefungspaketen einlässt, dann kann dies nur mit Wissen aller Beteiligten geschehen. Die Handlungen des Vorstands – als eingesetzter Agent – orientieren sich an den Vorgaben und Beschlüssen der Eigentümer und Kontrolleure. Alles im Rahmen. Man ist sich wohl bewusst, dass die eigenen Handlungen Konsequenzen nach sich ziehen in Gestalt von Erfolg oder Misserfolg, Ruhm oder Schande. Man führt aber ins Feld, dass das System die Regeln vorgibt und die Entscheidungen damit schon im Vorfeld festgelegt sind. Als Agent des Systems trifft der Vorstand Entscheidungen, die Auswirkungen auf eine absehbare Zukunft haben. Bei einem Unternehmen beispielsweise, das die Form einer Aktiengesellschaft angenommen hat, ist die absehbare Zukunft die nächste Hauptversammlung, auf der die Aktionäre wissen wollen, wie hoch die Dividende ist, die sie ausgezahlt bekommen; eine absehbare Zukunft sind

Man ist sich wohl bewusst,

dass die eigenen Handlungen

Konsequenzen nach sich ziehen in Gestalt von Erfolg oder

Misserfolg, Ruhm oder Schande.

Frei oder vorherbestimmt? Kann der Mensch überhaupt frei entscheiden – hat er einen „freien Willen“ –, oder ist er in seinem Handeln vorherbestimmt (determiniert)? Und wenn er tatsächlich in seinen Entscheidungen determiniert ist, kann er dann überhaupt für seine Handlungen verantwortlich gemacht werden? Für viele Vorstände von Unternehmen

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agora42 • Alicja Karkoszka • DER MENSCH IM HAMSTERRAD


die Quartals- und Jahresberichte, an denen die Erfolge des Managements gemessen werden. im inneren des systems ist schuld schwerlich zu finden.

Zu wichtig, um schuld zu sein Die Umweltkatastrophe im Golf von Mexiko ist der sprichwörtliche Funke, der alles zur Explosion brachte und Fragen nach Sicherheit, Umweltschutz sowie unserer Verantwortung wieder an die Oberfläche beförderte. Ob schlussendlich die Grundmauern eines wirtschaftlichen Machtsystems eingerissen werden, wird die Zukunft noch zeigen müssen. Weltweit verbrauchen wir gegenwärtig etwa 85 Millionen Barrel Öl täglich. In Anbetracht der wachsenden Nachfrage aufstrebender Nationen wie China und Indien wird dieser Verbrauch im nächsten Jahrzehnt voraussichtlich auf ungefähr 100 Millionen Barrel steigen. Gleichzeitig gehen die leicht zugänglichen Ressourcen zur Neige. Außerdem liegen die größten Ölreserven (im staatlichen Besitz) in Russland, im Iran, in Saudi-Arabien, Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten, im Irak und in Venezuela – das heißt die westlichen (privatwirtschaftlichen) Konzerne kommen hier in der Regel nicht zum Zuge. Um profitabel arbeiten zu können, haben sich die westlichen Ölfirmen auf eine technisch sehr anspruchvolle und zugleich risikoreiche Methode spezialisiert: Tiefseebohrungen. Den Kontrollbehörden wiederum fehlen das technische Wissen und die finanziellen Mittel, die Firmen effektiv zu kontrollieren. Und bisher profitierten ja auch die Regierungen von dem einträglichen Geschäft und heizten den Wettbewerb um die Ölförderung sogar weiter an. Seit Jahren verpachtet beispielsweise die USRegierung Meeresabschnitte an BP, Shell und weitere Ölkonzerne. Allein 2010 hat die US-Regierung 7.000 Abschnitte, davon 4.000 im Tiefseebereich, zur Pacht angeboten. Nach Angaben des US-Innenministeriums pumpten die Energiekonzerne 2008 mehr als 5,7 Milliarden US-Dollar in die Staatskasse. Die Regulierungsbehörde Mineral Management Service, die immerhin

dem amerikanischen Innenministerium untersteht, verteilte bisher unbehelligt Lizenzen für Ölbohrungen. Hier wusch die eine Hand die andere. Schließlich galt es, ein System zu erhalten, das die Abhängigkeit vom Öl aus dem Nahen Osten möglichst gering hält. ölkonzerne sind einfach viel zu wichtig, um schuld sein zu können. Solange der Hunger nach Öl so groß bleibt und die Forderungen nach günstigem Sprit und Strom nicht nachlassen, wird das auch so bleiben.

Ich will mehr! Als öffentliche Institutionen sollten die Landesbanken grundsätzlich als Hausbanken der jeweiligen Länder fungieren. Das heißt sie sollten regionale Investitionsvorhaben sichern, die Finanzierung der Landeshaushalte über die Ausgabe entsprechender Wertpapiere gewährleisten und darüber hinaus die Aufgaben, die in ihrer Funktion als Sparkassen-Zentralbank und Girozentrale anfallen, übernehmen. Das war offensichtlich irgendwann nicht mehr genug. Das große Geld lockte. Die Geschäftsaktivitäten von Privatbanken – unter anderem Unternehmensfinanzierung, Immobiliengeschäft, Engagement auf internationalen Kapitalmärkten – versprachen enorme Renditesteigerungen. Damit konnte die eigene Bank in einer ganz anderen Liga spielen. Das gefiel Vorstand wie Aufsichtsrat und offensichtlich auch der jeweiligen Landesregierung. hier überstieg das politische interesse, sich einen standortvorteil zu verschaffen, das wirtschaftliche kalkül. Wie konnte die Zuspitzung der Situation auf den Finanzmärkten den jeweiligen Aufsichtsgremien entgehen? Man fragt sich, ob die Aufsichtsräte tatsächlich so blind waren, ob sie es bloß nicht sehen wollten. Oder wurde es sogar zugunsten der erhofften Renditesteigerung billigend in Kauf genommen? Tatsache ist, dass in den Aufsichträten der Landesbanken auch Politiker der jeweiligen Landesregierung sitzen. Hier vermischen sich gegenläufige Interessen: Standortvorteil versus Kontrollorgan. Zu häufig werden diese Organe zudem für

agora42 • Alicja Karkoszka • DER MENSCH IM HAMSTERRAD

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Dennis B o ck

S T R A F TÄT E R I N N A DE L S T R E IF E N?!

die wirtschaftlichen schäden, die durch die finanzkrise entstanden sind, werfen die frage nach bestrafung der verursacher auf. bevor ein strafrechtler jedoch ein urteil über diesen sachverhalt abgeben kann, bedarf es eines genauen studiums der akten. anknüpfungspunkt kriminalstrafrechtlicher verantwortlichkeit kann nur ein eindeutig nachgewiesenes verhalten eines menschen (nicht einer aktiengesellschaft etc.) sein. gleichzeitig muss man sich auch bewusst sein, dass ein schaden nicht automatisch einen rückschluss auf ein fehlverhalten zulässt; nicht überall, wo rauch ist, ist – strafjuristisch gesehen – auch feuer.

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agora42 • Dennis Bock • STRAFTÄTER IN NADELSTREIFEN?!


Der Reihe nach: Erfährt die Staatsanwaltschaft von einem Sachverhalt, der Anhaltspunkte für eine Straftat enthält, nimmt sie die Ermittlungen auf und prüft, ob sie Anklage erheben soll. Nimmt man zum Beispiel, grob vereinfacht, einen Vorstandsvorsitzenden einer deutschen Bank, der – wieder grob vereinfacht: allein – entscheidet, ein bestimmtes risikobehaftetes Wertpapier zu erwerben, aus dem der Bank ein Verlust entsteht, so kommt eine Untreue nach § 266 des Strafgesetzbuchs in Betracht. Insofern ist der Ruf nach einem Strafverfahren – der seitens der Öffentlichkeit gegenüber vielen „Bankern“ laut wird – durchaus berechtigt. Der Teufel steckt jedoch, wie so oft, im Detail: Strafbar ist nicht jedes irgendwie anstößige oder schadenträchtige Verhalten, sondern nur solches, welches die engen gesetzlichen Strafvoraussetzungen erfüllt. Wenn wir beim Beispiel der Untreue bleiben, müssen zwei zentrale

Fragen positiv beantwortet werden. Erstens: Hat unser Beschuldigter (man denke auch an die Unschuldsvermutung und den Grundsatz „in dubio pro reo“) durch das Wertpapiergeschäft eine Pflicht gegenüber der Bank verletzt? Hier gilt es zu bedenken, dass riskante Geschäfte seit Anbeginn des Bankwesens zum Kerngeschäft der Banken gehören. Investitionen können verloren gehen. Die Frage ist also, wann man das Verlustrisiko – und zwar zum Zeitpunkt, als das Geschäft abgeschlossen wurde – als zu hoch definieren kann. Im Strafgesetz steht dazu nichts. Zweitens gilt es zu klären, ob unser Beschuldigter den Vermögensverlust beabsichtigt hat, also vorsätzlich handelte. Auch hier kann man einwenden, dass beim Abschluss des Geschäfts doch alle darauf hoffen, dass das Geschäft gut gehen werde. So bleibt oftmals nur der Tatbestand einer fahrlässigen Untreue. Die Wiedergut-

agora42 • Dennis Bock • STRAFTÄTER IN NADELSTREIFEN?!

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DIE VERDR ÄNGUNG DER SCHULDEN Inter v ie w mit Joachim S tarbatty

Fotos: Wolfram Bernhardt

Herr Starbatty, angesichts wachsender Staatsschulden droht auch in europäischen Ländern die Gefahr von Staatspleiten. Was kann ein Staat tun? Bereits Adam Smith hat zwei Möglichkeiten beschrieben, wie ein Staat sich seiner Schulden entledigen kann. Die eine heißt Inflation. Das bedeutet, der Staat entschuldet sich auf Kosten der Bürger. Smith zufolge ist dies eine ungerechte Methode, da bei diesem Vorgehen auch diejenigen zu den Leidtragenden gehören, die dem Staat kein Geld zur weiteren Verschuldung gegeben haben. Die andere Möglichkeit ist die Insolvenz. Für Smith ist das der ehrlichere Weg, denn hier tragen nur diejenigen die Konsequenzen ihres Engagements, die so leichtfertig waren, dem Staat Geld zu geben. Dem stimme ich zu.

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agora42 • Interview mit Joachim Starbatty • DIE VERDRÄNGUNG DER SCHULDEN


Joachim Starbatty wurde 1940 in Düsseldorf geboren. Er studierte an den Universitäten Freiburg und Köln. 1967 erfolgte die Promotion, 1975 die Habilitation. Professuren an der Ruhr-Universität Bochum (Wirtschaftpolitik) und an der Eberhard Karls Universität Tübingen (Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftspolitik) folgten. 1985/1986 war Starbatty Dekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen. Von 1990 bis 1992 war er Gründungsdekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät und Mitglied des Gründungssenats an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Er hatte mehrere Gastprofessuren an der University of Washington und an der Doshisha-Universität inne. 2006 wurde er emeritiert. Seit 1990 ist Starbatty Vorsitzender des Vorstands und des Wissenschaftlichen Beirats der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft. Gemeinsam mit Wilhelm Hankel, Wilhelm Nölling und Karl A. Schachtschneider reichte er 1998 eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gegen die Einführung des Euro ein. 2010 reichte er eine Verfassungsbeschwerde gegen das Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetz vom 7. Mai 2010 (Hilfe für Griechenland) und gegen das Euro-Stabilisierungsmechanismus-Gesetz vom 21. Mai 2010 (der Rettungsschirm von 750 Mrd. €) ein. Die Beschwerde aus dem Jahr 1998 wurde mit einer ausführlichen Begründung abgelehnt, die zweite Verfassungsbeschwerde ist noch anhängig.

agora42 • Interview mit Joachim Starbatty • DIE VERDRÄNGUNG DER SCHULDEN

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T HI S T IME IS DIFFEREN T! I nte r v i e w m i t Mi ch ael He i s e

Fotos: Wolfram Bernhardt

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agora42 • Interview mit Michael Heise • THIS TIME IS DIFFERENT!


Herr Heise, die Staatsschulden sind erdrückend. Niemand glaubt ernsthaft daran, dass sie jemals zurückgezahlt werden können. Ist Inflation eine Möglichkeit, die Schulden loszuwerden? Diese Möglichkeit besteht natürlich immer. Aber wenn man genau hinsieht, bringt Inflation riesige Probleme mit sich. Sie vernichtet angespartes Vermögen, sie reduziert die Kaufkraft, und am Ende treibt sie die Kapitalkosten und somit auch die Refinanzierungskosten des Staates hoch. Ich hoffe, dass die mit einer Inflation verbundenen Konsequenzen die Politik von vornherein davon abhalten, auf diese Möglichkeit zu setzen. Welche Alternativen gibt es? Sparen und wachsen. Das sind die einzigen Möglichkeiten, die man hat. Ziel der Politik muss es sein, in einem Haushalt einen sogenannten Primärüberschuss zu erzeugen. Das heißt: Die laufenden Einnahmen müssen ausreichen, um die Kernausgaben und darüber hinaus noch einen Teil der Zinsausgaben zu finanzieren. Wenn man das schafft, was im Übrigen vielen Schwellenländern gelungen ist, und zugleich die Wirtschaft wieder ins Laufen bringt, also über die Zeit einen Zuwachs des nominalen Inlandsprodukts erzeugen kann, dann kann man recht schnell Fortschritte machen. Aber das würde viel politische Kraft erfordern, und die sehe ich momentan nicht. Michael Heise ist Chefvolkswirt und Leiter der Unternehmensentwicklung der Allianz Gruppe. Er berät die Vorstände der Allianz Gruppe in gesamtwirtschaftlichen und strategischen Fragen. Dazu gehören Analysen und Prognosen im Bereich der deutschen und internationalen Wirtschafts- und Finanzmarktentwicklung sowie Risikoanalysen. Heise studierte und promovierte an der Universität zu Köln und hatte Lehraufträge an der European Business School Oestrich-Winkel und der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt. Er ist Honorarprofessor der Johann Wolfgang Goethe-Universität. Vor seinem Eintritt in die Allianz Gruppe war Heise unter anderem Generalsekretär des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

Deuten die Zeichen nicht darauf hin, dass das Wachstum zu gering sein wird, um die Staatsverschuldung merklich abbauen zu können? Wie wird sich das Wachstum langfristig entwickeln?

Es ist in der Tat wahrscheinlich, dass das Wachstum in Deutschland langfristig gesehen niedriger sein wird, als wir es gewohnt waren. Ein einfacher Grund hierfür ist, dass die Bevölkerung, und vor allen Dingen die Erwerbsbevölkerung, rückläufig ist. Damit verbunden ist ein Rückgang des Arbeitsangebots. Folglich bräuchten wir enorme Produktivitätssteigerungen, um starkes Wachstum zu erzeugen. Wenn viel investiert wird und diese Investitionen eine große Rendite hervorbringen, kann das klappen. Aber wenn man davon ausgeht, dass die heute beobachtbaren Trends andauern, stimme ich jenen zu, die ein reales langfristiges Wachstum von einem Prozent prognostizieren.

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Nor b e r t R e u te r

SABOTEURE AM WERK T HOR S T E I N B. V E B L E N – E I N F RÜ H E R K R I T I K E R DE S F INA N ZK A PI TA L I SMUS Por t ra i t

Ökonomen lassen sich grob in zwei Klassen einteilen: Für die einen gedeihen Wachstum und Wohlstand am besten unter den Bedingungen einer möglichst freien und unregulierten Wirtschaft. Für die anderen sind staatliche Regulierung und Intervention unabdingbar für eine krisenfreie und sozialverträgliche Wirtschaftsentwicklung. In Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs erhalten die Kritiker der unregulierten Marktwirtschaft regelmäßig kaum Gehör. Wer will sich schon auf einer feucht-fröhlichen Party über sozial unverträgliche Nebenwirkungen, gar einen schweren Kater Gedanken machen? Oberhand haben in diesen Zeiten diejenigen Ökonomen, die die Botschaft verkünden, die Party könne immer so weiter gehen und letztlich würden alle profitieren – langfristig auch die Arbeitslosen und sozial Schwachen. Ökonomen, die für mehr Regulierung plädieren, werden manchmal sogar zur eigentlichen Gefahr für Wachstum, Wohlstand und Freiheit erklärt. Und folgt auf die Party dann doch wieder ein böses Erwachen, besinnt man sich kritischer Stimmen und Theorien, die bis dato als veraltet und wissenschaftlich überholt hingestellt worden waren. Dies ist auch in der jüngsten Weltwirtschaftskrise nicht anders. Plötzlich ist etwa der Name des englischen Ökonomen John Maynard Keynes (1883–1946) wieder in aller Munde. keynesianer, die in den letzten deka-

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den allenfalls im ökonomischen untergrund überleben konnten, sind nun wieder gefragte diskussionspartner und ratgeber. Ähnliches war vor der letzten Weltwirtschaftskrise Ende der 1920erJahre den Theorien des amerikanischen Ökonomen und Soziologen Thorstein B. Veblen widerfahren. Mit der ersten Weltwirtschaftskrise erlebten seine Theorien und die durch ihn mitbegründete ökonomische Schule des amerikanischen Institutionalismus einen Aufschwung. Institutionalismus: Ende des 19. Jahrhunderts in den USA entstandene wirtschaftswissenschaftliche Lehre, als deren Begründer Thorstein B. Veblen, John R. Commons und Wesley C. Mitchell angesehen werden. Im Institutionalismus werden zur Erklärung der Wirtschaft nicht nur abstrakte Faktoren wie zum Beispiel Angebot und Nachfrage untersucht, sondern es werden auch die zugrunde liegenden sozialen und rechtlichen Verhältnisse, das durch die Umwelt geprägte menschliche Verhalten sowie die Institutionen der Gesellschaft berücksichtigt. Unter Institutionen werden vorherrschende Denkgewohnheiten verstanden, die sich in gesellschaftlichen Einrichtungen wie in der spezifischen Form des Eigentums, der Technologie, des Rechtssystems niederschlagen. (Zur Vertiefung siehe: Norbert Reuter: Der Institutionalismus. Geschichte und Theorie der evolutionären Ökonomie, 2. Auflage, Marburg 1996.)

Zwischenzeitlich wieder weitgehend in Vergessenheit geraten, ist die zweite Weltwirtschaftskrise Anlass genug, sich erneut Veblen und seiner theoretischen Ana-

agora42 • Portrait • THORSTEIN B. VEBLEN – SABOTEURE AM WERK


agora42 • Portrait • THORSTEIN B. VEBLEN – SABOTEURE AM WERK

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Z a h len spiel e

„Die Wirtschaft ist wieder in Partylaune“ Die Stimmung in der deutschen Wirtschaft ist so gut wie seit 1990 nicht mehr. „Die Wirtschaft ist wieder in Partylaune“, liest man allerorten. Und die Konjunkturdaten untermauern diese Stimmung. Wen interessiert da eine Staatsverschuldung von € 1,7 Billionen –

1.700.000.000.000 – und eine jährliche Zinslast von € 63 Milliarden –

63.000.000.000? Immerhin sind die deutschen Autobauer nicht mehr weit von früheren Exportrekorden entfernt. Ob Daimler, BMW oder Audi – alle haben sie glänzende Zahlen präsentiert, ihre Prognosen angehoben und selbst optimistische Erwartungen übertroffen.

Der Dank hierfür gebührt China.

Bei Wachstumsraten von fast 11% verkaufen sich deutsche Luxuskarossen wie heiße Wan-Tan-Suppen. China wird es richten. Unsere Autobauer werden es richten. Blieben dem Staat pro verkaufter Luxuskarosse € 1.000 an Steuereinnahmen, müssten lediglich

63.000.000

in die weite Welt verkauft werden, um die Zinsen zu bedienen – das heißt es müssten 15-mal mehr Autos als bisher exportiert werden. Auch an folgenden Zahlen wird das ungemeine Potenzial deutlich, das in China steckt: Am erfolgreichsten ist in der Volksrepublik weiterhin Audi. Das Unternehmen hat dort im Juni 2010 erstmals über 20.000 Wagen in einem Monat verkauft.

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agora42 • Zahlenspiele


240.000

Kann dieses Niveau gehalten werden, würde das einem Jahreswert von

Wagen entsprechen. Wahnsinn! Da sind die Abermillionen Wagen, die wir verkaufen müssen, blitzschnell unter die Leute gebracht. Kein Wunder, bei

1.300.000.000

Chinesen – wenn nicht, ja wenn nicht das Pro-KopfEinkommen (kaufkraftbereinigt) in China gerade mal bei € 5.000 im Jahr läge. Damit kann sich der Durchschnitts-Chinese zumindest einen Kotflügel einer deutschen Luxuslimousine leisten. Wir sollten aber dennoch nicht die Flinte ins Korn werfen.

China müsste nur die nächsten Jahre mit läppischen 10% wachsen, um ein Pro-Kopf-Einkommen, wie wir es haben, zu erwirtschaften – dann wären all unsere Probleme gelöst. Nur werden sich leider zu diesem Zeitpunkt, laut EU-Kommission, unsere Schulden auf

152,1%

des Bruttoinlandsprodukts belaufen.

agora42 • Zahlenspiele

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