I N H A LT agora42
Personen
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Editorial
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Prolog
Von MaiszĂŒnslern, EU-Subventionen
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Parallaxe dr. leistung
und der Revolution
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Ăkonomische Theorien money makes the world go round
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Philosophische Perspektive geld und glaube
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Grundannahmen der Ăkonomie der duft des geldes
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Marcel Tyrell geld und banken â eine unheilvolle liaison?
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Henner Löffler âich nehme vanille!â â geld und glĂŒck in entenhausen
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Birger P. Priddat kleingeld â der Ă€rgerliche rest
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Interview âą Stefan Hartmann
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Speakersâ Corner
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Portrait silvio gesell
Aldo Haesler geld verknotet die welt â erkundungen zur geldmoderne
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Gedankenspiele
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Zahlenspiele
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Auf dem Marktplatz
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Plutos Schatten
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Aus dem Leben
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Impressum
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Para l l a xe
DR . LEI STUNG
Dieser Artikel war eine schwere Kopfgeburt. Ich fĂŒhle mich jetzt mĂŒde und ausgebrannt. Wie greifbar ist das, was dabei herausgekommen ist? Habe ich Bleibendes geschaffen, so wie ein Bauarbeiter, wenn sein Werk vollbracht ist? In jedem Fall sind geistige Qualifikationen in meine Schreibleistung eingeflossen â aber macht sie das automatisch wertvoller als irgendeine andere Leistung?
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Roland Kochs RĂŒcktritt vom Amt des hessischen MinisterprĂ€sidenten im letzten Jahr kam fĂŒr viele völlig unerwartet, galt er doch als Vollblutpolitiker par excellence. Aber die VerblĂŒffung war schnell verpufft, als bekannt wurde, was ihm diesen Entschluss erheblich erleichtert haben dĂŒrfte: Der Wechsel zum Baukonzern Bilfinger Berger stellte ein Gehalt in Aussicht, von dem Otto Normalpolitiker nur trĂ€umen kann. Was sagt uns das ĂŒber den Stellenwert der Politik? Erbringt ein MinisterprĂ€sident (und auch eine Bundeskanzlerin) weniger wertvolle Leistung als ein Vorstandsvorsitzender? GemÀà der Logik unseres Leistungsprinzips lautet die Antwort ganz klar ja, denn Leistung wird heute vor allem danach bemessen, inwiefern sie sich auf dem Markt umsetzen lĂ€sst. Somit sind den Verdienstmöglichkeiten in der freien Wirtschaft nach oben hin keinerlei Grenzen gesetzt. Und auch nach unten bleibt, wie Deutschland immer wieder demonstriert, noch viel Spielraum. Wer die daraus resultierende Ăffnung der Lohnschere als ein Abbild tatsĂ€chlicher Leistungsun-
agora42 âą Parallaxe âą DR. LEISTUNG
terschiede darstellen will, dĂŒrfte einige Schwierigkeiten haben â es sei denn, man ist ernsthaft der Ăberzeugung, Kochs Leistung sei Tausend Mal so viel wert wie die des Bauarbeiters, der die AuftrĂ€ge von Bilfinger Berger realisiert. Den FĂŒhrungskrĂ€ften selbst stellt sich der Vergleich mit den Angestellten schon gar nicht mehr. Stattdessen orientiert man sich lieber an millionenschweren Stars aus Hollywood oder dem Profisport â was nahe liegt, schlieĂlich besteht die Rechtfertigung des horrenden Gehalts hier wie dort in der eigenen Einzigartigkeit. Dieses Streben nach Einzigartigkeit durchzieht indes die gesamte leistungsgetriebene Gesellschaft: Da ein hohes Gehalt mehr denn je Motivation fĂŒr Anstrengung darstellt, setzt man alles daran, so einzigartig (mit anderen Worten: so wenig austauschbar) wie möglich zu sein. WĂ€hrend die einen dabei auf ihr auĂergewöhnliches Talent setzen und hoffen, irgendwann fĂŒrs Entertainment entdeckt zu werden, versuchen es die anderen auf dem âordentlichenâ Weg. doch auch die akkumulation von bildungstiteln und zusĂ€tzlichen qua-
lifikationen trĂ€gt dazu bei, das leistungsprinzip endgĂŒltig auszuhöhlen. Wie das?
Die verkopfte Gesellschaft Mit Blick auf die moderne Arbeitswelt zeichnet sich ein Langzeittrend deutlich ab: die Aufwertung der Arbeit âmit dem Kopfâ gegenĂŒber der Arbeit âmit den HĂ€ndenâ. Veranschaulichen lĂ€sst sich dies beispielsweise am positiv besetzten Begriff âKreativitĂ€tâ (von lateinisch creare = erschaffen, herstellen), der heute in erster Linie solchen Jobs zugeschrieben wird, die virtuelle statt materielle Dinge hervorbringen. Den Bauarbeiter als kreativ zu bezeichnen, klingt fĂŒr die meisten jedenfalls ziemlich absurd. In Deutschland hat dieser Trend zur Virtualisierung seit 2000 noch an Fahrt gewonnen. Damals verabschiedete die EU die sogenannte Lissabon-Strategie, in welcher das Hauptziel festgeschrieben wurde, die weltweite FĂŒhrung als wissensbasierte Wirtschaftsregion zu erlangen.
agora42 âą Parallaxe âą DR. LEISTUNG
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agora42 âą Ăkonomische Theorien âą MONEY MAKES THE WORLD GO ROUND
Ă ko n o m i s c h e T he o r ie n
MONEY M AKE S T HE WORLD GO ROUND Die Geldpolitik der Zentralbanken sorgt dafĂŒr, dass die Wirtschaft rund lĂ€uft â diese Ăberzeugung ist in der Wirtschaftstheorie als Monetarismus bekannt geworden und bestimmt seit 1980 maĂgeblich die Wirtschaftpolitik der groĂen westlichen Industriestaaten.
Von MilliardĂ€ren und Autofahrern Am 7. September 2011 ging die Nachricht um die Welt, dass sich die Zahl der Dollar-MilliardĂ€re in China in den vergangenen zwei Jahren auf 271 verdoppelt hat. Die Reaktionen auf diese Meldung schwankten zwischen blankem Entsetzen (âO je, bald kommt der Chinese und kauft hier alles aufâ) und ehrlicher Bewunderung (âDie machen gerade wirtschaftlich wirklich alles richtigâ). Bei aller Aufregung sollte man jedoch nicht vergessen, dass Deutschland in viel kĂŒrzerer Zeit eine viel beeindruckendere Erfolgsgeschichte vorweisen konnte; eine Erfolgsgeschichte, die auĂerdem weitaus besser mit kommunistischen Idealen harmoniert: SchlieĂlich wurden in Deutschland nicht bloĂ 271 Personen, sondern alle BĂŒrger zum MilliardĂ€r! Doch â einen kleinen Haken gibt es ja immer â handelte es sich dabei leider nicht um
Dollar-MilliardĂ€re. Die deutschen MilliardĂ€re mussten sich gar fragen, was ihnen die ganzen Milliarden bringen, wenn man bereits 100 Millionen Reichsmark dafĂŒr bezahlen muss, um einen Brief zu versenden. Richtig, ich spreche vom Jahr 1923, dem Höhepunkt der Hyperinflation. Nun wĂŒrde spontan wohl niemand annehmen, dass beide Situationen miteinander vergleichbar sind. Inflation: Als Inflation bezeichnet man die Steigerung des Preisniveaus einer Volkswirtschaft. Dieses Preisniveau bemisst sich an der durchschnittlichen Preisentwicklung aller Waren und Dienstleistungen, die fĂŒr Konsumzwecke gekauft werden.
Warum aber nicht? Hatte man doch noch im Sommer 2010 befĂŒrchtet, dass auch in China die Inflation zur Hyperinflation mutieren könne. Inzwischen schreiben wir Herbst 2011 und von âhyperâ kann in China immer noch nicht die Rede sein. Wo mag der Unterschied zu Deutschland im Jahre 1923 liegen? Vielleicht darin, dass die Ăkonomen im Jahr 2010 bereits auf 90 Jahre intensive BeschĂ€ftigung mit dem Thema Inflation zurĂŒckblicken konnten. Eine BeschĂ€ftigung, die vor allem an amerikanischen UniversitĂ€ten stattgefunden hat und deren Erkenntnisse in die ganze Welt exportiert wurden â so auch nach China, das sie nutzte, um seine Inflation unter Kontrolle zu halten. Dass China dieses Exportgut ganz umsonst importieren konnte, muss aus Sicht der USA frustrierend sein, sind die USA bei China doch so hoch verschuldet wie bei keinem anderen Land der Welt. Um dieses Exportgut jedoch richtig wertschĂ€tzen zu können, wollen wir unseren Blick zuerst gen Schweden richten und eines anderen historischen Ereignisses gedenken, dessen Zeugen wir am 8. September 2011 wurden: So hieĂ es aus Kreisen der Unternehmensleitung des Automobilherstellers Saab, dass aller Wahrscheinlichkeit nach die Insolvenz angemeldet werden mĂŒsse. Umgangssprachlich könnte man auch sagen, dass dem Unternehmen der Treibstoff ausgegangen ist â beziehungsweise dass das Unternehmen an die Wand gefahren wurde. Was mag wohl der Grund fĂŒr diese tragische Entwicklung gewesen sein? Galt Saab doch
agora42 âą Ăkonomische Theorien âą MONEY MAKES THE WORLD GO ROUND
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P h i l o s o p h i s c h e Pe r s p e k t i v e
GELD UND GL AUBE ODER : VON BLĂHENDEN WIE SEN UND DROGEN SĂCHT IGEN K ANINCHEN
Ein Leben ohne Geld ist heute kaum mehr vorstellbar. Man gibt es aus, spart es, leiht es, legt es an, man arbeitet fĂŒr Geld und tötet gar dafĂŒr. âGeld regiert die Weltâ, sagt man. Sonderbar, denn eigentlich existiert es nicht; jedenfalls nicht auf die gleiche Weise wie andere Dinge von Wert. Was muss das fĂŒr eine Welt sein, in der Geld einen Wert darstellt?
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agora42 âą Philosophische Perspektive âą GELD UND GL AUBE
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B i rger P. Pr idd at
KLEINGELD â DE R Ă RG E R L IC H E R E S T
In Zeiten, in denen auf den FinanzmĂ€rkten Billionen zirkulieren und diese MĂ€rkte mit Billionen gesichert werden mĂŒssen, scheint Kleingeld das geringste Problem zu sein. Obwohl es selbst billionenfach zirkuliert, ist es aber das einzige Geld, dessen Herstellungskosten oft ĂŒber seinem Zahlungswert liegen. Kleingeld ist so gesehen
teuer. Allein schon aus diesem ökonomischen Gesichtspunkt heraus wĂŒrde es sich lohnen, es abzuschaffen. Nur Gewohnheit, Zahlungskulturen und der Umstand, dass die Armen dieser Welt kein Substitut hĂ€tten, sprechen dagegen.
agora42 âą Birger P. Priddat âą KLEINGELD â DER ĂRGERLICHE REST
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Kreditbearbeiter, 30
Student (VWL), 19
J E DE M W E I T E R E N M E N S C HE N AU F DE R W E LT E B E NFA L L S E I N E U N B E G R E N Z T E G E L D M E NG E Z U R V E R F Ă G U N G S T E L L E N . I M G RU N DE W Ă R DE S IC H WA H R S C HE I N L IC H N IC HT S Ă NDE R N , N U R DA S G E L D W Ă R DE W E RTL O S W E R DE N , U N D M A N W Ă R DE F Ă R E I N E N E R S AT Z TAU S C HW E RT W I E Z U M B E I SP I E L Z IG A R E T T E N A R B E I T E N M Ă S SE N . A L S O DOCH KEINE GUTE LĂSUNG?
W I RT S C H A F T S U N T E R R IC H T I N S C H U L E N F I N A N Z I E R E N . E I N PA A R PRO - K A PI TA L I S M U S - K A MPAG N E N UN T E R S TĂ TZE N UND UN T E RNEH M E N G RĂ N DE N , DE R E N I DE E N W E LT W E I T DE N L EBE N S S TA N DA R D V E R BE S SE R N.
Fotograf, 28
A L L E M E I N E S AC HE N I R G E N D WO UN T E R S T E L L E N ODE R V E R S C HE NK E N , M E I N E N RUCK S ACK PACK E N UND S OF ORT E I N E R E I S E U M DIE W E LT BEG INNE N âŠ
Social Media Berater, 26
DEN EURO RETTEN!
KeksbÀcker, 27
A L L E MEINE V E RWA NDT E N BE S UC HE N!
Lehrerin, 26
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agora42 âą Marktplatz
Weiblich, unbekannt
E T WA S DAVON V E RB R E NNE N. DE R E R FA H RU N G W E G E N ⊠Student (VWL), 23
I M FA L L E E I N E R U N B E G R E N Z T E N G E L D M E N G E WĂ R E G E M Ă S S DE R T R A DI T ION E L L E N VOL K S W I RT S C H A F T L IC H E N L E H R E G E L D NIC HT S MEHR W E RT. IN DE M FA L L TUE IC H DA S , WA S MEINE URT R IEBE MIR VOR S C H R E IB E N : Ă B E R L EB E N , PA RT N E R S UC HE N , K I N DE R KRIEGEN.
G A NZ SPON TA N: MEINE BE S T E F R EUNDIN B E I I H R E M N E U E N F I L M PR O J E K T U N T E R S TĂ T Z E N . G E N E R E L L : G A N Z V I E L E G E S C HE NK E K AUF E N , UM A NDE R E ME N S C HE N A N DE R F R E U DE DE S U N B E G R E N Z T E N G E L D B E T R AGS T E ILHABE N ZU L A S S E N . OH! U N D IC H W ĂRDE N AT Ă R L IC H M E I N AU T O R EPA R IE R E N L A S SE N !
Entrepreneur, 27
Illustratorin, 22
KORRUPT WERDEN!
DIE S C HL AUE S T E N KĂPF E DE R W E LT V E R S A M M E L N U N D M I R DI E W E LT E R K L Ă R E N L A S SE N. Kulturforscherin, 25
DI E DEU T S C H E B A N K K AU F E N , ACK E R M A NN F E U E R N U N D J E DE M B Ă R G E R E I N E N 8 0 M I L L ION S T E L A N T E I L DE R B A N K Ă B E R S C HR E IBE N.
Musiker, 26
Verleger, 51
DA DA S G A N ZE DA NN WOHL NI X M E H R W E RT I S T, DE N â S C H E I N â N U T Z E N , S OL A N G E E R W E I LT U N D M I T E I N PA A R H E L L E N KĂP F E N DA S G A N Z E F R AG W Ă R DIG E S Y S T E M U M B AU E N . Doktorand, 32
E I N C O OL E S FA H R R A D K AUF E N , E IN S O C I A L B U S I N E S S G RĂ N DE N , E I N E DR E I S T Ă N DIG E M A S S AG E G E N I E S SE N. Entwicklungsforscherin, 30
DA S G E L D ABSCHAFFEN!
E I N E N F L OR I E R E NDE N V E R L AG G RĂ N DE N âŠ
VerlagsgrĂŒnderin, 30
E I N E S E G E LYAC H T OR DE R N , DIE BE S T E N F R EUNDE AU S IHR E N J OB S R AU S K AU F E N , Z U S A M M E N UM DIE W E LT S C HIPPE RN UND GU T E S SE N! Student, 28
DA S B U C H â E I N E BIL L ION D OL L A Râ K AUF E N & L E SE N.
Designstudent, 22
agora42 âą Marktplatz
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Projektmanager, 29
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agora42 Ăą€Ë Interview mit Stefan Hartmann
Von MaiszĂŒnslern, EU- Subventionen und der Revolution I nte r v i e w m i t S te fan Har tmann Fotos: Janusch Tschech
Stefan Hartmann ging in Niedernhall zur Realschule. Seine Ausbildung zum Landwirt absolvierte er in Ăhringen, Biberach und Buchen. Der Titel âLandwirtschaftsmeisterâ wurde ihm an der Akademie Kupferzell verliehen. Der Hof der Hartmanns, 100 Hektar groĂ, liegt auf einer Anhöhe im hohenloheschen Sindringen, direkt auf der Wasserscheide zwischen Kocher- und Jagsttal. Auf dem Hof befinden sich 90 MilchkĂŒhe, 80 Mastbullen sowie die weibliche Nachzucht fĂŒr die Rinder (pro Jahr werden etwa 110 KĂ€lber geboren). Damit ist der Hof etwa doppelt so groĂ wie im baden-wĂŒrttembergischen Durchschnitt. Die Bewirtschaftung der Felder dient praktisch ausschlieĂlich der Futtergewinnung fĂŒr die Tiere. FĂŒr eine Kuh wird etwa ein halber Hektar FutterflĂ€che benötigt, fĂŒr die Nachzucht beziehungsweise die Mastbullen noch einmal ein halber Hektar.
agora42 âą Interview mit Stefan Hartmann
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Der Eindruck verdichtet sich, dass wir geradewegs auf die nĂ€chste groĂe Finanzkrise, wohl auch die nĂ€chste Weltwirtschaftskrise zusteuern. Angenommen, diese Krise wĂŒrde auch den Handel zum Erliegen bringen, könnte die Bevölkerung in Deutschland ohne hollĂ€ndische Tomaten, ohne spanische Erdbeeren und ohne norwegischen Lachs ĂŒberhaupt ausreichend versorgt werden? Theoretisch ja, praktisch nein. Theoretisch könnte sie versorgt werden, weil in Deutschland bei den meisten wichtigen AgrargĂŒtern die Selbstversorgungsquote bei 100 Prozent liegt. So liegt beispielsweise beim Weizen die Quote bei circa 98 Prozent. Das wĂ€re also kein Problem â zumal dann nicht, wenn wir einfach ein bisschen weniger Brot wegwerfen wĂŒrden. Beim Schweinefleisch liegt die Quote bei 120 Prozent und auch bei Milch liegt sie deutlich ĂŒber 100 Prozent. Das Problem ist â und jetzt komme ich dazu, warum die Theorie in der Praxis nicht funktioniert â, dass zur Produktion der jeweiligen GĂŒter Rohstoffe notwendig sind, die wir aus dem Ausland zukaufen mĂŒssen. Zum Beispiel beim Weizen: Der wĂ€chst zwar von allein, aber dafĂŒr braucht er NĂ€hrstoffe. Und diese NĂ€hrstoffe, im Wesentlichen Phosphor, Kalium und Stickstoff, mĂŒssen wir importieren. Vor allem Kalium und Phosphor, da diese hauptsĂ€chlich in SĂŒdamerika abgebaut werden. Diese NĂ€hrstoffe werden ĂŒberall beim Weizenanbau verwendet? AuĂer im biologischen Anbau. DafĂŒr ist dort auch der Ertrag nur halb so hoch. Wenn also kein Phosphor, kein Kalium und kein Stickstoff mehr ins Land kĂ€men, wĂŒrde sich die Weizenproduktion ungefĂ€hr auf die HĂ€lfte reduzieren?
»Da Phosphor auch als âșFlaschenhals des Lebensâč bezeichnet wird, kann dies dazu fĂŒhren, dass irgendwann gar nichts mehr wĂ€chst.« Ja, aber auch nur mittelfristig. Wobei der Stickstoff das geringste Problem darstellt. SchlieĂlich kann man, sofern man Viehhaltung betreibt, die KĂŒhe auch mit Leguminose â das ist eine bestimmte Pflanzenart, die Stickstoff aus der Luft binden kann â fĂŒttern und die stickstoff haltige GĂŒlle als NaturdĂŒnger verwenden. Ohne Phosphor als DĂŒnger wĂŒrde die Produktion jedoch langfristig noch weiter absinken, da die Pflanzen dem Boden nach und nach den Phosphor entziehen. Da Phosphor auch als âFlaschenhals des Lebensâ bezeichnet wird und der am stĂ€rksten begrenzende Faktor ist, kann dies dazu fĂŒhren, dass irgendwann gar nichts mehr wĂ€chst.
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agora42 âą Interview mit Stefan Hartmann
Da wir auĂerdem circa 10.000 Liter Diesel im Jahr benötigen, um die Felder zu bewirtschaften, wĂŒrde ein Lieferstopp von Diesel dazu fĂŒhren, dass der Betrieb spĂ€testens nach acht Wochen zum Erliegen kommt â so lange hĂ€lt unser Dieselvorrat maximal. Auch wĂ€re es sehr problematisch, wenn die Stromversorgung zum Erliegen kĂ€me, weil man die 90 KĂŒhe nicht von Hand melken kann. Zwar haben wir ein Notstromaggregat, aber wenn der Diesel aufgebraucht ist, hilft uns das natĂŒrlich auch nicht weiter. Als AuĂenstehender hat man ohnehin das GefĂŒhl, dass die Landwirte nicht zu wenig, sondern eher zu viel produzieren. Sie sprachen bereits an, dass wir Unmengen an Brot wegwerfen, aber auch die âMilchseenâ und âButterbergeâ hat man noch in lebhafter Erinnerung. Als Laie wĂŒrde ich dies auf die EU-Subventionen zurĂŒckfĂŒhren. Es flieĂen 37 Milliarden Euro als direkte Subventionen in landwirtschaftliche Betriebe. Ist es gerechtfertigt, so viel Geld dorthin zu geben? Es ist nicht nur gerechtfertigt, sondern absolut notwendig. SchlieĂlich erwirtschaftet der durchschnittliche Betrieb in Baden-WĂŒrttemberg in etwa das an Gewinn, was er an EUAusgleichsleistungen erhĂ€lt. Wobei im landwirtschaftlichen Betrieb der Gewinn immer das Einkommen des Bewirtschaftenden darstellt. In Baden-WĂŒrttemberg sind das etwa 30.000 Euro pro Betrieb (2011), die sich im Schnitt 1,52 ArbeitskrĂ€fte teilen mĂŒssen. Ohne Subventionen hĂ€tten die BeschĂ€ftigten also gar kein Einkommen? Im Durchschnitt: ja. Die Ausgleichsleistungen sind einfach nötig, um bei den momentanen Preisen fĂŒr Agrarprodukte ĂŒberhaupt noch Landwirtschaft in Deutschland betreiben zu können. Das bedeutet gleichzeitig auch, dass die Preise fĂŒr Fleisch und andere landwirtschaftliche Produkte viel zu niedrig angesetzt sind, oder?
agora42 âą Interview mit Stefan Hartmann
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Speakers â Cor ner
Speakersâ Corner (âEcke der Rednerâ) ist ein Versammlungsplatz im Hyde Park in London. Durch einen Parlamentsbeschluss vom 27. Juni 1872 kann dort jeder ohne Anmeldung einen Vortrag zu einem beliebigen Thema halten, seine Meinung ĂŒber die gesellschaftlichen VerhĂ€ltnisse kundtun und auf diesem Weg die VorĂŒbergehenden um sich versammeln.
Patricia Nitzsche kommt aus Frankenstein bei Finsterwalde und studiert Sozialwissenschaften an der Humboldt UniversitÀt in Berlin.
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agora42 âą Speakersâ Corner âą A LITTLE LESS CONFORMISM, A LITTLE MORE ACTION, PLEASE!
A LITTLE LESS CONFORMISM, A LITTLE MORE ACTION, PLEASE! PLĂDOYER FĂR EINE JUGENDKULTUR
Man muss kein Hegel-Experte sein, um zu erkennen, dass sich Geschichte dialektisch vollzieht: Der herrschenden These (dem Mainstream) muss eine Antithese entgegengesetzt werden, damit etwas Neues entstehen kann. Geschieht dies nicht, befindet man sich in geschichtlicher Stagnation. Doch wer soll heutzutage fĂŒr diese âAntitheseâ sorgen? Wer sonst als die Jugendkultur? Jugendkultur im eigentlichen Sinne entwickelt sich als Subkultur innerhalb der bestehenden Kultur der Erwachsenen â aus dem Bestreben, sich von eben dieser abzugrenzen. Die Erwachsenenkultur reprĂ€sentiert den konservativen Mainstream, die Bewahrung des Bestehenden. Man hat sich an die gesellschaftlichen Erfordernisse angepasst, sorgt fĂŒr ein geregeltes Einkommen, grĂŒndet eventuell eine Familie, akkumuliert Privateigentum. Eine Rebellion der Jugend gegen diesen konservativen Wertekonsens ist zwangslĂ€ufig auch immer eine politische Rebellion: Neue Wertesets und Vorstellungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens stehen zur Diskussion. Bestimmte Musikrichtungen, Lebensweisen und Kleidungsstile spielen dabei eine wichtige Identifikationsrolle. Das Problem am Begriff Jugendkultur besteht nun allerdings darin, dass er eine bestimmte AltersbeschrĂ€nkung suggeriert. Sicherlich sind viele AnhĂ€nger der HippieBewegung spĂ€ter zum âSpieĂertumâ konvertiert â von
den Punks ganz zu schweigen â, jedoch sollte dies nicht darĂŒber hinwegtĂ€uschen, dass Jugendkultur mehr bedeutet als eine Ăbergangsphase in die Erwachsenenkultur. Was sie markiert, ist lediglich der Ausgangspunkt fĂŒr Widerstand, nicht aber sein Endpunkt. Jugendkultur, verstanden als die Nadel im Fleisch der bĂŒrgerlichen SelbstgefĂ€lligkeit, hat es heute schwerer denn je, sich zu behaupten. DafĂŒr gibt es mehrere GrĂŒnde: Erstens: Toleranz vernichtet den Reiz der Rebellion. Die negativen Erfahrungen mit den eigenen Eltern sind ausschlaggebend fĂŒr das Entstehen einer Jugendkultur. In einer Generation aber, in der die Eltern keine Nazis, Faschisten oder reaktionĂ€re Puritaner sind und den repressiven Erziehungsmethoden gröĂtenteils abgeschworen haben, wird das Verlangen nach Widerstand und Ausbruch sozusagen im Keim erstickt. Zweitens: Es gibt nichts Offensichtliches mehr, wogegen man rebellieren kann. Abgesehen von der (bewussten) Erziehung der Eltern spielt die viel breiter gefasste Sozialisation eine entscheidende Rolle. Von klein auf ist man mit der âevidentenâ Tatsache konfrontiert, wir seien gewissermaĂen am Ende der Geschichte angelangt. Das System, in dem wir leben, lĂ€sst sich nicht mehr ĂŒberwinden. Und wer sollte das auch wollen? SchlieĂlich beschert es uns âFreiheitâ und âWohlstandâ fĂŒr âalleâ. Drittens: Alles ist schon da gewesen. Will eine Jugendkultur auf Dauer existieren, ist sie darauf angewiesen, herrschende Tabus zu brechen. Allerdings bleibt da nicht mehr viel Auswahl: Frauen dĂŒrfen Kinder abtreiben, metrosexuelle Ehepartner dĂŒrfen Kinder adoptieren und Migrantenkinder dĂŒrfen mit anderen Kindern dasselbe Klassenzimmer auseinandernehmen. Und falls sich doch noch ein gesellschaftliches Tabu irgendwo im Dunkeln versteckt hĂ€lt â das Fernsehen wird es aufspĂŒren, ganz sicher.
agora42 âą Speakersâ Corner âą A LITTLE LESS CONFORMISM, A LITTLE MORE ACTION, PLEASE!
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agora42 âą Portrait âą SILVIO GESELL
Wer ner On k e n
DIE E N T T H R O N U NG DE S G E L DE S DE R S O Z I A L R E F OR M E R S I LV IO G E S E L L
Por t ra i t
âDas herkömmliche Geld kann mit einer schadhaften Leiter verglichen werden: je höher wir steigen, umso tiefer stĂŒrzen wir, wenn sie bricht. Und sie wird brechen. Unser Geld bedingt den Kapitalismus, den Zins, die Massenarmut, die Revolte und schlieĂlich den BĂŒrgerkrieg, der erfahrungsgemÀà mit unheimlicher Schnelligkeit zur Barbarei zurĂŒckfĂŒhrt. (âŠ) Wer es aber vorzieht, seinen eigenen Kopf etwas anzustrengen statt fremde Köpfe einzuschlagen, der studiere das Geldwesen, der trachte danach, die âunbegrenzten Möglichkeitenâ, die in der Arbeitsteilung liegen, dadurch der Menschheit und der Friedensidee dienstbar zu machen, dass er fĂŒr diese Arbeitsteilung ein zweckentsprechendes Geldwesen schafft.â Mit diesen Worten warnte Silvio Gesell 1912 davor, dass ein groĂer Krieg am Horizont aufziehen werde, sollten nicht bald die sozialökonomischen Ursachen der gesellschaftlichen MissstĂ€nde behoben werden. Am 17. MĂ€rz 2012 jĂ€hrt sich zum 150. Mal der Geburtstag des Mannes, ĂŒber den der weltberĂŒhmte britische Ăkonom John Maynard Keynes sagte, dass die Zukunft mehr von ihm als von Karl Marx lernen werde.
Die EigenmĂ€chtigkeit des Geldes Silvio Gesell wird 1862 in St. Vith (im heutigen Ostbelgien) geboren â einer Gegend, in der sich deutsche und französische Kulturkreise berĂŒhren. Seine Mutter ist eine wallonische Lehrerin, sein Vater ein preuĂischer Steuerbeamter; im Elternhaus spricht man beide Sprachen. Der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 weckt in der Familie schon frĂŒhzeitig den Wunsch nach einer Aussöhnung der beiden LĂ€nder. Glaubensunterschiede zwischen der katholischen Mutter und dem protestantischen Vater fĂŒhren dazu, dass sich Gesell von den Konfessionen löst und sich fĂŒr andere geistige Strömungen öffnet: fĂŒr die französische AufklĂ€rung, fĂŒr die philosophischen Gedanken von Max Stirner und Friedrich Nietzsche und auch fĂŒr die Evolutionslehre von Charles Darwin. ZunĂ€chst lĂ€sst sich Gesell in Berlin im GeschĂ€ft seiner BrĂŒder zum Kaufmann ausbilden. Nach mehreren Stationen in Malaga/Spanien und Deutschland zieht es ihn schlieĂlich nach Buenos Aires, wo er 1887 ein eigenes ImportgeschĂ€ft fĂŒr zahnĂ€rztliche und andere medizi-
agora42 âą Portrait âą SILVIO GESELL
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