agora42 3/2015 Besitz und Eigentum

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Ausgabe 03/2015 | Deutschland 8,90 EUR Ă–sterreich 8,90 EUR | Schweiz 13,90 CHF


Inhalt

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— 3 Editorial — 4 Inhalt

Terrain Hier werden Begriffe, Theorien und Phänomene vorgestellt, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.

—8 Die Autoren —9 Gunnar Heinsohn

Besitz und Eigentum – Wirtschaftswissenschaft ist Eigentumswissenschaft — 17 Silke Helfrich — 90 MARKTPLATZ

Filmpremiere von The Forecaster. Interview mit Martin Armstrong — 98 Impressum

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Jenseits der Güterklassifikation – Gemeingüter sind nicht, sie werden gemacht — 22 Eduard Kaeser

Von der Technik besessen? – Blick in ein neues Menschenzeitalter

— 27 Ernst Lohoff Wenn Reichtum Reichtum vernichtet – Der inverse Kapitalismus und seine Grenzen — 33 Daniela Dahn Staatseigentum ist Privateigentum – Warum Staat und Eigentum getrennt werden müssen — 38 PORTRAIT

Pierre-Joseph Proudhon – Ist Eigentum Diebstahl? (von Werner Portmann) — 46 Extrablatt


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Inhalt

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IN T ER V IE W

H H orizo n t Auf zu neuen Ufern! Wie lässt sich eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen herbeiführen?

— 62 Claus Dierksmeier

— 48 Das gute Leben

Interview mit Thomas Gutknecht

Eigentum – im Namen der Freiheit — Reflexionen im Anschluss an Karl Christian Friedrich Krause

— 70 Wolfram Bernhardt

Abschalten – Das Ende des Teilens

Land in Sicht — 78

Pumpipumpe – Und was kann Ihr Briefkasten? — 80

Treuhandeigentum – Revolution des unternehmerischen Eigentumsverständnisses? — 86 gedankenspiele

von Kai Jannek

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Hier werden Begriffe, Theorien und Ph채nomene vorgestellt, die f체r unser gesellschaftliches Selbstverst채ndnis grundlegend sind.


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DIE AUTOREN

Quelle: Wikipedia

Foto: Jacques Paysan

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T E R R A I N

Gunnar Heinsohn

Silke Helfrich

Eduard Kaeser

ist pensionierter Professor der Universität Bremen. Er lebt zumeist in Danzig und lehrt Eigentumsökonomie am Institut für Finanzdienstleistungen Zug (IFZ) und am Management Zentrum St. Gallen (MZSG). Eine umfassende Theorie der Eigentumsökonomik legte er mit Otto Steiger in Eigentum, Zins und Geld: Ungelöste Rätsel der Wirtschaftswissenschaft (Rowohlt, 1996) vor.

ist Autorin und unabhängige Commons-Aktivistin. Sie ist Mitbegründerin des Commons-Institut e.V. sowie der Commons Strategies Group. Sie bloggt auf http://www. commonsblog.de. Gemeinsam mit der Heinrich-Böll-Stiftung hat sie das Buch Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat (transcript, 2012) herausgegeben.

hat theoretische Physik und Philosophie studiert und ist als freier Publizist tätig. Auf seinem Blog „Philosofaxen“ finden sich alle seine bisherigen Publikationen (kaeser-technotopia. blogspot.de).

— Seite 17

— Seite 9

Ernst Lohoff

Daniela Dahn

lebt als freier Autor in Nürnberg. Er ist seit 1986 Redakteur der gesellschaftskritischen Zeitschrift Krisis. Zum Thema von ihm erschienen: Die große Entwertung (zusammen mit Norbert Trenkle; Unrast Verlag, 2012).

ist freie Schriftstellerin und lebt in Berlin.

— Seite 27

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— Seite 33

— Seite 22


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Besitz und Eigentum – Wirtschaftswissenschaft ist Eigentumswissenschaft Text: Gunnar Heinsohn

Selbstverständlich können Menschen tauschen. Das aber schaffen sie seit dem Neandertaler. Gewirtschaftet wird jedoch vom Eigentum her. Dieses ist weder natürlich, schon gar nicht ewig und deshalb auch abschaffbar. Wirtschaftswissenschaft ist also Eigentumswissenschaft und nicht Menschenwissenschaft. Wiewohl es stimmt, dass nur Menschen über das bloße Produzieren hinausgelangen, das auch Bienen und Bieber beherrschen, so tun es doch nur solche Mitglieder der Gattung, die zusätzlich zum Besitz auch Eigentum haben. Es ist die Zweiteilung der Realität in die physische Welt des Besitzes sowie die nicht-physische Welt der Eigentumstitel, die nicht nur eine, sondern zwei Einkommensquellen zur Verfügung stellt. Dieses Duo sorgt für die massive Überlegenheit der Eigentumsgesellschaften über die Stammesgemeinschaften und die Befehlsysteme Feudalismus und Kommunismus, die mit bloßem Besitz auskommen müssen. 9


Gunnar Heinsohn

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or dem Sitzen (sedere) kommt das Inbesitznehmen (possidere). Erst nach Einnahme eines Platzes kann er als Besitz (possessio) fungieren. Das Platznehmen mit dem anschließenden Verteidigen einer Fläche Land- oder Wasserbesitzes durch Tiere und später auch Menschen ist uralt. Dieses Archaikum liefert der neoklassischen Wirtschaftslehre mit ihren vielen Dutzend Nobelpreisen bis heute den Kernstoff. Sie interessiert sich für eine bedürfnisgesteuerte Umwandlung der auf solchen Flächen vorgefundenen Güter – der „Erstausstattung“ ihrer Besitzer – in brauchbare Produkte. Bei deren Herstellung fehle dem einen dieses und dem anderen jenes, wobei gleichzeitig jeder auch für sein Produktionsziel überflüssige Teile besitze. Durch Hin- und Hertauschen der für die einzelnen Produktionspläne unpassenden Dinge hätten am Ende alle etwas Nützliches geschaffen und dadurch ein Gleichgewicht erreicht. Für das Erleichtern der Tauscherei hätten sich die Besitzer auf ein Gut geeinigt, das die meisten fürs Produzieren oder Konsumieren benötigen oder schlichtweg besonders gerne mögen. Das könne ein Brocken Salz, eine glänzende Muschel, ein Schnipsel Silber oder eine Achtkantmutter sein – oder eben Geld. Letzteres sei nun der neoklassischen Wirtschaftslehre zufolge das sogenannte Standardgut und das mit ihm erleichterte Tauschen der Markt. Zu ihm finde der Mensch, weil – wie Adam Smith (1723–1790) in seiner biologischen Theorie des Wirtschaftens verkündet – allein er 10

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von der Natur mit Tauschfreude gesegnet sei. Den Markt sieht er deshalb als „Folge einer Neigung in der menschlichen Natur zu tauschen und zu handeln und eine Sache gegen eine andere auszuwechseln. / Niemand hat je erlebt, dass ein Hund mit einem anderen einen Knochen redlich und mit Bedacht gegen einen anderen Knochen getauscht hätte.“ Jahrhunderte der Forschung haben, wie der Wirtschaftswissenschaftler George Dalton einem verstörten Publikum schon 1982 mitteilte, die Ideen von Smith und auch seinen ungezählten Verehrern in der Gegenwart als Schreibtischfantasien offenbart: „Reiner Gütertausch – im strengen Sinne eines geldlosen Markttausches – ist in Gesellschaften aus Vergangenheit und Gegenwart, über die wir zuverlässige Informationen besitzen, niemals ein quantitativ nennenswertes oder gar beherrschendes Muster für ökonomische Transaktionen gewesen. / Geldloser Markttausch stellte keine evolutionäre Stufe (…) vor dem Beginn eines geldvermittelten Markttausches dar.“ Geld und Eigentum

Aber woher kommt Geld? Die mutigen Tauschkritiker können seine Herkunft nicht erklären, weil auch sie nur physischen Besitz kennen, ihn irreführend sogar „property“ nennen, aber von der unphysischen Eigentumsseite des Vermögens nichts ahnen. Deshalb ist die Widerlegung von Adam Smith zwar korrekt, führt allein aber nicht weiter.


Illustration: Markus H. Walser

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Henrik Herklotz

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Jenseits der Güterklassifikation – Gemeingüter sind nicht, sie werden gemacht

Text: Silke Helfrich

Die neoklassische Wirtschaftswissenschaft teilt Güter gemeinhin in vier Gruppen: private und öffentliche Güter, Klubgüter und Gemeingüter. Wer versucht, die realen Dinge dieser Welt in dieser Weise zu ordnen, wird vor allem eines stiften: Verwirrung. 17


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Von der Technik besessen? — Blick in ein neues Menschenzeitalter

Text: Eduard Kaeser

Ein Großteil der Technikkritik orientiert sich an der Frage: Besitzen wir die Technik oder besitzt die Technik uns? Wir leben in einem zugleich technophilen und technophoben Zeitalter. Wir sind verschossen in all die kleinen digitalen Wunderwerke, die wir auf uns (bald wahrscheinlich auch in uns) herumtragen können und die immer mehr „für uns“ tun. Wenn sie aber immer mehr für uns tun, so stellt sich die Frage, ob die Automaten in dem Maße an Handlungsautonomie gewinnen, in dem wir Menschen diese Autonomie verlieren. Was aber, wenn es ganz anders wäre und die Technik uns ermöglicht, den Menschen neu zu entdecken? 22


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ie „Herrschaft der Maschine“ ist ein beliebter Science-Fiction-Topos, der heute – wenn man neuere Filme zum Thema anschaut – auch lauten könnte: die (erotische) Verführung durch die menschenähnliche Maschine (Blade Runner, Her, Ex Machina), durch den Roboter. Die Besitznahme althergebrachter Lebensformen durch Geräte ist subtiler geworden. Man achte nur darauf, dass heute die meisten sozialen Transaktionen über den Zugriff – den Access – auf das Internet laufen. Heißt das, dass wir vom Netz Besitz nehmen oder das Netz von uns? Ein kurzer Blick auf die Herkunft des Wortes „besitzen“ sagt in diesem Zusammenhang viel. Besitzen meint Verfügen- und Kontrollierenkönnen: ein „Sitzen“ auf Mensch (Frau), Tier, Sache. Das konnotiert auch der Ausdruck „benutzen“. Nun zeichnet bereits diese Asymmetrie von Benutzer und Benutztem ein buchstäblich schiefes Bild. Denn das Verhältnis von Mensch und Werkzeug (Maschine, Automat, Computersystem) ist niemals bloß ein einseitiges Benutzen. Das Werkzeug „benutzt“ mich ebenfalls. Es verlangt von mir eine Anpassungsleistung, die man in der Regel als Fertigkeit, Geschicklichkeit, Geübtheit bezeichnet. Das Werkzeug verändert meine Haltungen, Handlungen, mich selbst. Das ist nicht erst seit der Automatisierung so. Eher könnte man von einer Symbiose zwischen Mensch und Werkzeug sprechen, die mit dem Faustkeil begann. Ich halte es deshalb für ergiebiger, Technikentwicklung anthropologisch, das heißt als Entwicklung dieser Symbiose zu betrachten, und im Besonderen das Augenmerk auf Verschiebungen in der Beziehung zwischen Mensch und Gerät zu richten. Technik ist im Wesentlichen Auslagern: „Outsourcen“. Technik bedeutet an Artefakte delegiertes Können. Werkzeuge, Geräte, Maschinen, Maschinenkomplexe,

automatische Systeme übernehmen dieses Können, verstärken, verfeinern, verbessern, übertreffen es unter Umständen. Technik – so eine gängige anthropologische Sicht – entlastet den Menschen seit der Steinzeit von den Anforderungen des Lebens. Drei Phasen der Technisierung

Bei näherer Betrachtung gestaltete sich dieser Vorgang der Entlastung vielschichtiger, als man annehmen könnte: Der Einfachheit halber spreche ich von drei Phasen der Technisierung. Ganz offensichtlich erfolgt zunächst eine körperliche Entlastung. Das ist die erste Phase der Technisierung. Werkzeug und Maschine nehmen uns körperliche Arbeit und Anstrengung ab. Schon Werkzeug und Maschine weisen allerdings auf die verschiedenen Ausprägungen der Entlastung hin. Das herkömmliche Werkzeug nimmt den Körper immer noch in Anspruch. Es ist eine Erweiterung, Differenzierung, Verstärkung körperlicher Funktionen. Faustkeil, Axt, Speer, Pfeil und Bogen, Kurbel, Rad bleiben auf diese Weise dem Menschen buchstäblich „zu Handen“. Die Entlastung bleibt körperzentriert. In der Entwicklung zu immer komplexerer Maschinerie ist dagegen eine andere, eine körperflüchtige Art von Entlastung angelegt. Das ist die zweite Phase der Technisierung. Werkzeug will gehandhabt sein. Die Maschine will bedient sein. Je komplexer die Maschine wird, desto mehr Wissen braucht es, ihre Abläufe und Arbeitsgänge zu durchschauen und zu beherrschen, desto weniger ist sie „zu Handen“. Das zeigte sich schon bei einer mechanischthermodynamischen Technologie wie der Dampfmaschine und erst recht bei der elektromagnetischen und der nuklearen Technologie. Sie entlastet den Menschen nicht nur, sie entlässt ihn in die Position des wissenden und steuernden Kontrolleurs, des kybernetes. 23

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Von der Technik besessen?


Eduard Kaeser

Telekommunikation verdrängt nicht die Bedeutung des Gesprächs von Angesicht zu Angesicht. Weder ersetzt das GPS unseren eigenen Orientierungssinn, noch das CAD (Computer Aided Design) den taktilen Feinsinn unserer Hände. Das Internet und seine Online-Aktivitäten machen den handfesten Umgang mit realen Dingen nicht entbehrlich; ebensowenig wie die elektronische Information das vom eigenen Kopf und Körper Verarbeitete. Gerade weil uns Technik so viel ermöglicht, was unsere Physis übersteigt, ermöglicht sie uns auch, immer wieder neu zu entdecken, was wir eigentlich an dieser Physis haben. Wer sagt uns denn, dass sie schon vollständig entdeckt sei? Statt in Bewunderung zu erstarren vor all dem Können der Maschinen, sollte man sich eher fragen: Wissen wir überhaupt, was wir Menschen alles können? Der neue Mensch

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Diese Frage erscheint gerade in einem von den Ökonomen gehypten „zweiten Maschinenzeitalter“ von fundamentaler Wichtigkeit. Denn dieses Zeitalter sollte im Grunde als ein neues Menschenzeitalter betrachtet werden – also eine historische Situation, die dringend eine Neubestimmung des Menschen inmitten des ganzen, von ihm geschaffenen Geräteparks verlangt. Dazu gehört aber auch eine Neukonzeption der Technik. Der Philosoph Ivan Illich prägte vor genau 40 Jahren den Begriff der „konvivialen“ Technik. Ein Werkzeug ist konvivial, wenn es in einen Gebrauch integriert ist, den wir unter Kontrolle haben. Wir müssen unser Verhältnis zu den autonomen Artefakten konvivial gestalten, will heißen: Wir müssen sie

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als „gesellig und hilfreich“ in dem Sinne betrachten, dass sie uns in unserer Autonomie bestärken, unsere naturwüchsigen Vermögen ausbauen. Das kann nicht erfolgen, wenn wir uns nicht neu konzipieren, und zwar gerade als Akteure, die wissen, wann sie Automatismen delegieren und wann sie sie für die eigene Entwicklung brauchen. Der Computer ist nicht ein anonymer technischer Akteur. Die Automatismen, die er übernimmt, sind vielmehr Teile unserer selbst (inwieweit sie sich nun ihrerseits selbstständig machen, ist eine andere Frage). „Automatisierung verhindert oft die Entstehung von Automatismen“, schreibt der amerikanische Publizist Nicholas Carr in seinem neuen Buch Abgehängt. Das ist ein Satz, den man nicht ernst genug nehmen kann. Er enthält den Keim zu einer neuen, einer politischen Anthropologie der Conditio techno-humana (Conditio humana: Bedingung des Menschseins; Natur des Menschen). Er rückt den menschlichen Körper und seine Fähigkeiten, also das, was wir wesentlich sind, ins Zentrum. Man kann es als Zeichen der Zeit lesen, wenn ein Teil der Hackerszene nun den Körper wiederentdeckt. So sagt die italienische Hackerin Tatiana Bazzichelli jüngst in einem Interview (taz, 29. Mai 2015): „Wir müssen uns ernsthaft Gedanken darüber machen, wo die Cyborg-Identität beginnt und wie die Übergänge zwischen menschlichem und virtuell geleitetem Verhalten verlaufen. Der Körper steht zur Disposition. Und dennoch thematisieren wir den Körper kaum.“ – Es klingt paradox: Wir müssen die (körperlichen) Automatismen von den Automaten zurückerobern, um uns von ihnen zu emanzipieren. ■

Vom Autor empfohlen: SACH-/FACHBUCH

Nicholas Carr: Abgehängt. Wo bleibt der Mensch, wenn Computer entscheiden (Carl Hanser Verlag, 2014) Evgeny Morozov: Smarte neue Welt. Digitale Technik und die Freiheit des Menschen (Karl Blessing Verlag, 2013) ROMAN

Dave Eggers: Der Circle (Kiepenheuer & Witsch, 2014) FILM

I, Robot von Alex Proyas (2004) Ex Machina von Alex Garland (2015)


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Wenn Reichtum Reichtum vernichtet — T E R R A I N

Der inverse Kapitalismus und seine Grenzen

Text: Ernst Lohoff

In der sozialwissenschaftlichen Diskussion hat sich als Bezeichnung für die aktuelle Entwicklungsstufe unseres Wirtschaftssystems der Begriff des Finanzmarktkapitalismus eingebürgert. Bedeutete Kapitalakkumulation bis in die 1970er-Jahre hinein vor allem die Vermehrung des in der Güterproduktion eingesetzten Kapitals, so hat sie heute in allererster Linie die beschleunigte Anhäufung von Finanzpapieren zum Inhalt. Bereits Karl Marx unterschied zwischen fiktivem Kapital, das unseren finanziellen Reichtum abstrakt vermehrt, und fungierendem Kapital, das unseren sinnlich-stofflichen Reichtum konkret vergrößert. Mit dem Siegeszug des fiktiven Kapitals ist die Auslöschung des sinnlich-stofflichen Reichtums, mithin unserer Lebensgrundlagen, absehbar. 27


Ernst Lohoff

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Vom Autor empfohlen:

SACH-/FACHBUCH

Thomasz Koniczs: Krisenideologie. Wahn und Wirklichkeit spätkapitalistischer Krisenverarbeitung (Verlag Heinz Heise, 2013)

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abstrakten Reichtumsproduktion einen doppelten Gewinn dar. Zum einen macht es ein „wertloses“ freies Gut zu Kapital, zum anderen wird dieses Kapital wiederum zum Bezugspunkt der Schöpfung fiktiven Kapitals, sobald Bio-Tec-Unternehmen Aktien ausgeben oder Kredite aufnehmen. Was den sinnlich stofflichen Reichtum angeht, sieht die Bilanz dagegen verheerend aus. Die in jahrhundertelanger Züchtung entstandene Artenvielfalt der Nutzpflanzen und -tiere fällt der Privatisierung des Genpools zum Opfer. Sie macht die Agrarproduzenten tributpflichtig. Überall, wo der inverse Kapitalismus die Naturressource neu für sich entdeckt und daraus seinen (letzten) Honig zieht, bietet sich das gleiche Bild. Die vorläufige Rettung des Systems abstrakter Reichtumsproduktion geht mit der Zerstörung sinnlich-stofflichen Reichtums und menschlicher Lebensgrundlagen einher. Eine extreme Zuspitzung erlebt diese irre Logik in Phänomenen wie der Rohstoffspekulation und dem Landgrabbing. Die drohende Verknappung von Schlüsselressourcen verwandelt bisher fast wertloses Land in begehrtes Zukunftskapital. Und weil abzusehen ist, dass der Amoklauf gegen die natürlichen Lebensgrundlagen die Preise für die Reste in die Höhe schießen lassen wird, erzeugt, wer sich vorab die Verfügungsgewalt sichert, kapitalistischen Reichtum. Hinzu kommt noch die Generierung zusätzlichen kapitalistischen Reichtums durch neu eingeführte Methoden der Naturzerstörung. Zumindest was die USA angeht, war das nach dem Crash von 2008 ein ganz zentraler Faktor für das Wiederanspringen der Konjunktur. Der Boom, den die US-Börsen in den letzten Jahren erlebt haben, verdient den Namen Fracking-Boom. Der plötzliche Aufstieg der USA zum Erdölexporteur und die riesigen 32

Investitionen in diese Nach-uns-die-Sintflut-Technologie haben für jene Gewinnperspektiven gesorgt, die nötig waren, um die Geldfluten der Zentralbanken der USA in fiktives Kapital zu verwandeln. Fiktives Kapital, das wiederum die US-Ökonomie zurück in die Wachstumsspur brachte. Hierzulande macht sich vor allem in einem Bereich direkt bemerkbar, wie die intensivierte Kapitalisierung von Naturgrundlagen auf die Lebensverhältnisse der breiten Bevölkerung zurückschlägt. Angesichts der Niedrigzinspolitik und auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten für das finanzindustriell erzeugte Kapital flossen seit dem Crash von 2008 gigantische Mittel in den Immobiliensektor. Weil dieser aber von der nicht vermehrbaren Naturressource Grund und Boden abhängig ist, schlägt sich das vor allem in den Großstädten in steil ansteigenden Immobilienpreisen nieder. Für das System des abstrakten Reichtums stellt diese Entwicklung selbstverständlich einen Gewinn dar. Das Vermögen, das der Gebäudebestand repräsentiert, ist sprunghaft gewachsen. Für die Menschen, die ein Dach über dem Kopf suchen, sieht die Sache anders aus. Gemessen an anderen Boomländern wie der Türkei oder Brasilien ist die deutsche Entwicklung übrigens noch moderat. Für deren Konjunktur spielt das Explodieren der Immobilienpreise noch eine viel wichtigere Rolle und deshalb werden dort die aufflammenden Proteste gegen diese Landnahme mit aller Härte niedergeschlagen. Wie im Brennglas zeigt sich hieran, dass vom Standpunkt des sinnlich-stofflichen Reichtums und der existenziellen Bedürfnisse der Menschen nicht erst der Zusammenbruch des inversen Kapitalismus eine Katastrophe darstellt, sondern auch sein Weiterfunktionieren bereits desaströs ist. ■


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Staatseigentum ist Privateigentum — Warum Staat und Eigentum getrennt werden müssen Text: Daniela Dahn

Seit den alten Römern gilt: Das Heiligste von allem ist das Eigentum. Die Machthaber müssen es unter allen Umständen schützen, weit mehr als Talent und Kreativität, weit mehr als soziale Besitzstände wie Löhne, Renten oder Mieten. Die alten Griechen hatten einen gerechteren Eigentumsbegriff. Die neuen Griechen versuchen, daran zu erinnern. Ganz im Sinne von Proudhon fragen sie wieder, ob bestimmtes, in diesem Fall spekulatives Finanz-Eigentum, nicht eigentlich Diebstahl ist, der nicht verdient, anerkannt zu werden. In Zeiten, in denen sich immer mehr Eigentum auf den Konten weniger Superreicher und Oligarchen sammelt, stellt sich die Frage, ob die vielbeklagte Kluft zwischen Arm und Reich nicht kleiner würde, wenn der Staat über mehr Eigentum verfügen würde. Die Antwort lautet: Nein. 33


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Portrait

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PierreJoseph Proudhon —

Ist Eigentum Diebstahl?

Text: Werner Portmann

Was verbindet die Deutsche Bank mit der Freiwirtschaft, was den „libertären“ Teil der US-amerikanischen TeaParty-Bewegung mit der Selbstverwaltungsbewegung und was Ludwig Erhard mit Michael Bakunin oder John Maynard Keynes mit Leo Tolstoi? Es ist das Werk von Pierre-Joseph Proudhon! 38


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Das gute Leben I N T E R V I E W

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Interview mit Thomas Gutknecht

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Thomas Gutknecht

Thomas Gutknecht Thomas Gutknecht wurde 1953 in Stuttgart geboren. Er hat in München, Salzburg und Tübingen Philosophie, Katholische Theologie, Germanistik und Pastoralpsychologie studiert und unterrichtet unter anderem als Dozent am Kolping-Bildungszentrum Stuttgart, als Lehrbeauftragter an Hochschulen und in verschiedenen Einrichtungen der Erwachsenenbildung. 1991 gründete er das Logos-Institut, in dem er philosophisch „praktiziert“ und wirksam ist. Seit 2003 ist er Präsident der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis, Vorstand im Berufsverband für Philosophische Praxis, Gründer und Vorstand des Philosophischen Vereins Logosclub e. V. und Gründungsmitglied von philopraxis.ch. Wissenschaftlich arbeitete Gutknecht unter anderem über Karl Rahner, Martin Buber und Max Scheler. Themenschwerpunkte seiner Arbeit sind Aspekte der Lebenskunst, Fragen nach Sinn und Glück, Philosophie der Zeit, der Gesundheit, der Religion sowie philosophische Grundlagen der Kommunikation und der Kommunikationspsychologie sowie Theoriefragen der Philosophischen Praxis. Ein Motto: In Dankbarkeit dienen.

Viel zu besitzen, wird heute überwiegend als etwas Positives angesehen. Für den Philosophen Diogenes von Sinope bestand die richtige Lebensweise hingegen darin, allem Materiellen zu entsagen. Er soll in einem Fass gewohnt und selbst noch seinen Becher weggeworfen haben, als er ein Kind aus den Händen trinken sah. War er ein Spinner?

Reduktion kann sehr sinnvoll sein, vor allem wenn sie einen frei macht. Wenn der Besitz uns besitzt, dann ist das kontraproduktiv. Dann ist es unter Umständen befreiend, jemandem wie Diogenes zu folgen. Es gibt die Anekdote, dass Diogenes auf eine Bank Honig schmierte und Aristoteles aufforderte, Platz zu nehmen. Aristoteles war souverän genug, sich auf diesen Honig zu setzen, worauf Diogenes sagte: „Respekt, ich sehe, du besitzt dein Gewand und nicht dein Gewand dich.“ Das ist meine favorisierte Haltung: Besitzen, als besäße man nicht. In unserer materialistischen Zeit haben all die materiellen Güter einen großen Stellenwert eingenommen. Das könnte auch damit zu tun haben, dass es so etwas wie eine innere Leere gibt, eine Unfähigkeit zur Muße, die kompensiert werden muss.

Das Konzept „Besitzen, als besäße man nicht“ ist aus den biblischen Erzählungen über Jesus und seine Jünger bekannt. Auf der anderen Seite hat es gerade die Kirche zu erstaunlichen Reichtümern gebracht. Kann uns das Christentum einen alternativen Umgang mit Eigentum lehren?

Das Christentum war mit Sicherheit von derselben Idee beseelt, die auch den Kommunismus leitet: dass allen alles gemeinsam ist. Einzelne wie die Anachoreten oder die Bettelmönche gingen sogar noch über diese Auffassung hinaus und entsagten allen materiellen Dingen. Die Benediktiner haben versucht, autark zu wirtschaften und dabei großartige Wirtschaftsformen entwickelt. Gleichzeitig muss man gewisse christliche Institutionen auch kritisch beleuchten. Wo in die eigene Tasche gewirtschaftet wird, hat das mit Dienst am Menschen nichts mehr zu tun, denken wir etwa an den Ablasshandel – kurz vor dem Lutherjahr 1517/2017. Ich muss gestehen, dass ich immer skeptisch bin, wenn alle Güter sozialisiert und dann verteilt werden sollen, weil damit immer Verteilungskämpfe verbunden sind. Eine reifere Variante wäre doch, wenn man jedem das Seine überlässt, verbunden mit der Erwartung, dass jeder es dort ins Spiel bringt, wo Not am Mann ist. Dass dies keine Utopie ist, bewies der Philosoph Epikur vor über 2200 Jahren. Epikur hat von den Personen, die seiner Schule beigetreten sind, nicht etwa erwartet, dass sie ihr Eigentum an die Gemeinschaftskasse abgeben. Vielmehr sollte jeder es behalten und damit angemessen wirtschaften – unter der Voraussetzung, dass Solidarität geübt wird. 51

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Fotos: Janusch Tschech


Auf zu neuen Ufern! Wie l채sst sich eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Ver채nderungen herbeif체hren?


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Eigentum – im Namen der Freiheit — Reflexionen im Anschluss an Karl Christian Friedrich Krause Text: Claus Dierksmeier

Hausbesetzungen, Enteignungen, Steuern, Patentrechte: Die Frage nach dem Verhältnis von Eigentum und Gemeinwohl, nach der Freiheit der Einzelnen und ihrer Verantwortung fürs Ganze, treibt uns ständig um – und sie ist keineswegs einfach zu lösen. Leicht haben es nur kommunistische und libertäre Polarisierer. Erstere negieren schlicht die private Eigentumsfreiheit, wo immer sie zu Lasten allgemeiner Interessen geht. Letztere verfahren genau umgekehrt. Für die Ordnung offener Gesellschaften sind beide Extreme nutzlos. Es gilt, einen gesunden Mittelweg zu finden – aber wie? Ich werde mich dieser Frage im Rückblick auf die Eigentumsphilosophie des Philosophen Karl Christian Friedrich Krause (1781–1832) nähern. Denn Krause verlangte schon zu Anfang des 19. Jahrhunderts, dass der individuelle wie institutionelle Freiheitsgebrauch moralisch, sozial und ökologisch nachhaltig sei und in globaler wie intertemporaler Verantwortung vor der gesamten Menschheit erfolge.

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Abschalten — Das Ende des Teilens

H O R I Z O N T Text: Wolfram Bernhardt

Prolog „Der Kommunismus ist tot, lang lebe der Kommunismus!“ Erstaunlicherweise hört man diese Parole nicht aus den Reihen der Kapitalismusgegner, sondern aus der Hochburg des Kapitalismus selbst: Aus einem staubigen Tal am Ende der Welt, das zu Winnetous Zeiten vielleicht den poetischen Namen „Tal des Todes“ erhalten hätte, wenn es für den Häuptling nicht jenseits des Endes seiner Welt gelegen hätte. Aufgrund dieser Tatsache beginnt die Geschichte – wie der Kapitalismus sich selbst besiegte – leider an einem Ort, dessen Name nicht recht zu dem Abenteuerroman passen will, den man bei diesem Plot erwarten würde: dem Siliziumtal.

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Land in Sicht

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T re u ha n d eige n t u m —

Revolution des unternehmerischen Eigentumsverständnisses? Entkopplung von Unternehmens- und Profitinteresse „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ So heißt es in Artikel 14 des deutschen Grundgesetzes. Trotzdem scheint dieser Artikel heute in dem Denken und Handeln vieler Unternehmenseigentümer und -lenker nicht mehr verankert zu sein: Firmen werden wie Waren gehandelt, ihre Eigentümer sind anonym, leben weltweit zerstreut und fühlen sich nicht verantwortlich für die Handlungen ihres Unternehmens. Sie sehen Firmeneigentum nur als Anlageobjekt, bei dem die maximale Rendite im Vordergrund steht. Geschäftsführung und oberes Management entscheiden heute über die Belange des Unternehmens. Damit sie im Sinne der Eigentümer handeln, wurden ihre Arbeitsverträge und Vergütungsregelungen entsprechend angepasst: Auch sie richten ihre Arbeit an der Aussicht auf einzustreichende Gewinne aus. Um dem entgegenzuwirken, machen sich die Initiatoren der GTREU – Gesellschaft treuhändischer Unternehmen und der Purpose AG grundsätzliche Gedanken zu den Rechten und Pflichten, die mit Eigentum verbunden sind. Sie wollen den Unternehmen durch die Kopplung von Eigentümer- und Unternehmerschaft eine Orientierung geben, die sich an Langfristigkeit und Nachhaltigkeit ausrichtet – auch dann, wenn beispielsweise der Unternehmensgründer seine Unternehmensanteile verkaufen will oder das Unternehmen auf Finanzierung durch Investoren angewiesen ist. Diese Kopplung soll außerdem sicherstellen, dass der Unternehmenszweck die Mitarbeiter motiviert und nicht der Profitdruck ihre Arbeit antreibt.

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6 entscheidende Aspekte treuhändischer Unternehmen

1.

3.

Langfristiger Erhalt der Selbstständigkeit des Unternehmens als strategisches Ziel

Treuhändisches Eigentum als solches berechtigt nicht zu Gewinnbezügen

Hohe Gewinnthesaurierung

5.

D ie G T R E U —

Mögliche private Gewinnbezüge werden konsequent auf leistungs-­ und haftungsbezogene Angemessenheit hinterfragt

Die Weitergabe der unternehmerischen Verantwortung wird weder durch Familienzugehörigkeit noch Vermögen beschränkt. Allein die unternehmerische Qualifikation ist entscheidend

6. Erlöse aus betriebswirtschaftlich notwendigen Unternehmensverkäufen können nicht privatisiert werden

H O R I Z O N T

4.

2.

Gesellschaft treuhändischer Unternehmen Die Gesellschaft treuhändischer Unternehmen ist ein Zusammenschluss von Unternehmen, welche die Verbreitung und Professionalisierung der Idee des „Treuhandeigentums“ zum Ziel haben. Der GTREU geht es darum, einen sozialen Raum zu schaffen, in welchem das treuhändische Unternehmensverständnis kultiviert werden kann durch den Austausch, die Bündelung sowie die Reflexion praktischer Erfahrungen. Zudem hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, die wissenschaftliche Erforschung des Treuhandeigentums auf den Weg zu bringen.

Eigentumsverständnis Die Gesellschaft treuhändischer Unternehmen geht davon aus, dass Unternehmen einen maßgeblichen Anteil an der Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der natürlichen Umwelt besitzen. Insofern ist der treuhändische Unternehmer nie allein sich selbst

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Marktplatz

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Beginnt die Krise am 1. Oktober 2015?

Filmpremiere von The Forecaster 90


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Der SWR schrieb über den neuen Film The Forecaster des Tübinger Dokumentarfilmers Marcus Vetter: „Wunderbarer Paranoia Film – mit dem Unterschied, dass die Verschwörung wahr sein könnte.“ Damit wird ein Gefühl zum Ausdruck gebracht, dem man sich selbst als kritischer und reflektierter Zuschauer schwer entziehen kann, ein Gefühl der Beunruhigung, weil man sich zwangsläufig fragt: Was ist wahr an der Geschichte? Auch wenn der Film vorwiegend die Zeit in den Blick nimmt, in der die USamerikanischen Geheimdienste in das Leben des Protagonisten Martin Armstrong traten und somit das bereits außergewöhnliche Leben eines Zahlengenies in einen Krimi verwandelten, den sich kein Buchautor besser hätte ausdenken können, lohnt es sich, einen kurzen Blick auf die Biografie Armstrongs zu werfen: So soll er im zarten Alter von vier Jahren seine Leidenschaft für seltene und dadurch wertvolle Münzen entdeckt haben. Zugegeben, es ist eher untypisch für Kinder, dass sie sich mit wertvollen Münzen auseinandersetzen, aber Kinder können – wie jeder weiß – schnell zu einem echten Experten werden, wenn sie sich für etwas interessieren. Da Armstrong seiner Leidenschaft für Münzen treu blieb, ist es schon fast nicht mehr verwunderlich, dass er knapp zehn Jahre später seine bis dahin gewonnenen Erfahrungen für sich zu nutzen wusste und seine erste Million verdiente, indem er seltene Münzen günstig kaufte und teuer verkaufte. Doch wie man es von einem Zahlengenie erwarten würde, wandte er sich bald abstrakteren Dingen zu. In seinem Fall waren das die Preisentwicklungen von Rohstoffen und anderen Handelsgütern, die er ab Mitte zwanzig genauer unter die Lupe nahm. War

die Veröffentlichung dieser Analysen anfangs noch ein reines Hobby, bildete es bald die Grundlage für einen kostenpflichten Newsletter, den er parallel zu seinen Studienjahren an mehreren Universitäten herausgab. Einen akademischen Abschluss erlangte er übrigens nicht. Stattdessen entwickelte er seine Analysen weiter und überführte sie in ein Computermodell. Mit diesem Modell konnte Armstrong große Börsencrashs und Währungskrisen vorhersagen. So prophezeite er etwa den Black Monday im Herbst 1987, den ersten Börsenkrach nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals erlitt der Dow-Jones-Index mit 22 Prozent den größten Tagesverlust seiner Geschichte. Auch den historischen Nikkei-Abstieg im Jahr 1989 und die Russland-Krise in den Jahren 1998/1999 hat Armstrong zielsicher angekündigt. All dies ist jedoch noch nichts gegen das, was am 29. September 1999 seinen Anfang nahm. An diesem Tag wurde er festgenommen, weil man ihn beschuldigte, ein Schneeballsystem im Umfang von drei Milliarden US-Dollar aufgebaut zu haben. Zahlreiche Unregelmäßigkeiten während des Verfahrens, sieben Jahre Beugehaft – ohne Prozess oder richterliches Urteil – und danach weitere fünf Jahre in einem Hochsicherheitsgefängnis (ohne Anrechnung seiner bereits verbüßten Zeit) sowie die Tatsache, dass der Vorwurf, ein Schneeballsystems aufgebaut zu haben, nie bewiesen werden konnte, bieten Spielraum für Spekulationen über die Rechtmäßigkeit der Anschuldigungen. Für Armstrong indes ist der Fall klar: Mit seinem Computerprogramm und seinen Vorhersagen war er einigen Menschen zu mächtig geworden. Schließlich bietet ein Programm, mit dem man die Preisentwicklungen von Aktien, Rohstoffen oder Währungen vorhersagen kann, gewissermaßen die Möglichkeit, Geld zu drucken – was alle anderen Geldverwalter, allen voran die mächtigen Häuser der Wall Street, zu potenziellen Feinden macht. Außerdem hat dieses Wissen auch eine politische Sprengkraft. Wer den Aufstieg und Fall ganzer Volkswirtschaften vorhersagen kann, hat geopolitisch den anderen Nationen eini-

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