agora42 2/2014 EUROPA

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Das philosophische Wirtschaftsmagazin

AUSGABE 02/2014

EUROPA

A G O R A 4 2 Ausgabe 02/2014 | Deutschland 8,90 EUR Österreich 8,90 EUR | Schweiz 13,90 CHF

Was ist Europa? Eine Wirtschaftsunion? Eine Festung? Verheißung oder Enttäuschung? Gehirn der Welt? Brutstätte für Vampire? Zum Fortschritt verdammt? Nichts für Feiglinge!


INHALT

agora 42

T

—3 EDITORIAL —4 INHALT

TERRAIN

T E R R A I N

Hier werden Begriffe, Theorien und Phänomene vorgestellt, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.

—8 DIE AUTOREN —9 Johannes Weiß

— 33 EXTRABLATT

— 14 Frank Augustin

— 34 Fredmund Malik

— 20 Dieter Schnaas

Fortschritt ohne Ende? — 25 Wolf Dieter Enkelmann

— 98 IMPRESSUM

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(K)ein Zutritt für Vampire

Rationalität

Ist Freiheit in Ordnung?

— 96 AUS DER REDAKTION

— 30 Pia Eberhardt

Europa – ein produktiver Habenichts?

Europas Große Transformation21 — 38 PORTRAIT

Platon von Barbara Zehnpfennig — 46 KLEINANZEIGEN


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Inhalt

I

INTERVIEW

H HORIZONT

— 64 Karl-Martin Hentschel

Die Kommunen zuerst! — 48 Europa … verzweifelt gesucht

Interview mit Richard David Precht

— 70 Srecko Horvat

»Good Bye, Lenin!« in der Ukraine — 74 WEITWINKEL

Dan Perjovschi

T E R R A I N

Auf zu neuen Ufern! Wie lässt sich eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen herbeiführen?

— 80 FRISCHLUFT

Freiheit und Verantwortlichkeit in der ManagerAusbildung — 88 LAND IN SICHT

Kunst & Gesellschaft Würmer & Geld Bank & Gemeinwohl — 94 GEDANKENSPIELE

von Kai Jannek

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T E R R A I N

Hier werden Begriffe, Theorien und Ph채nomene vorgestellt, die f체r unser gesellschaftliches Selbstverst채ndnis grundlegend sind.

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T T E R R A I N


DIE AUTOREN

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T E R R A I N

Johannes Weiß

Frank Augustin

Dieter Schnaas

Johannes Weiß ist emeritierter Professor für Soziologische Theorie und Philosophie der Sozialwissenschaften an der Universität Kassel, gegenwärtig auch assoziierter Gastforscher des Max-Weber-Kollegs für sozial- und kulturwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt.

Frank Augustin ist Chefredakteur der agora42.

Dieter Schnaas ist Chefreporter der WirtschaftsWoche.

— Seite 14

— Seite 20

Wolf Dieter Enkelmann

Pia Eberhardt

Fredmund Malik

Dr. Wolf Dieter Enkelmann ist Direktor für Forschung und Entwicklung am Institut für Wirtschaftsgestaltung (München), das sich der wirtschaftsphilosophischen Forschung widmet (www.ifw01.de).

Pia Eberhardt lebt in Köln und arbeitet bei der lobbykritischen Organisation Corporate Europe Observatory (CEO, www.corporateeurope.org). Dort beschäftigt sie sich vor allem mit der Frage, wie Konzerne und ihre Lobbygruppen die europäische Außenhandelspolitik beeinflussen.

Fredmund Malik ist habilitierter Professor em. für Unternehmensführung an der Universität St. Gallen, international ausgezeichneter Managementexperte sowie Gründer und Chairman von Malik St. Gallen. Im Februar 2014 ist sein neuestes Buch Wenn Grenzen keine sind: Management und Bergsteigen im Campus Verlag erschienen.

— Seite 9

— Seite 25

— Seite 30

— Seite 34 8


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Rationalität —

T E R R A I N

Europäische Herkunft, globale Geltung

Text: Johannes Weiß

Worin liegt die weltgeschichtliche Bedeutung Europas? Wenn man auf diese Frage eine Antwort sucht, kommt man um den Historiker, Ökonomen und Soziologen Max Weber (1864–1920) nicht herum. Eine seiner zentralen Fragen lautet: Wie erklärt es sich, dass bestimmte Kulturerscheinungen, die unter sehr besonderen Bedingungen in Europa aufgekommen waren, es nicht nur zu weltweiter Verbreitung, sondern auch zu (fast) allgemeiner Geltung gebracht haben? Flughäfen, Einkaufszentren oder Universitäten, aber auch Verwaltungsapparate, demokratisches Gedankengut, mediale Aufklärung und effiziente Arbeitsorganisation sind längst zu globalen Gegebenheiten geworden. Dies bloß mit der Durchsetzung ökonomischer und politisch-militärischer Interessen zu erklären, reicht nicht aus. 9


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T E R R A I N

Europa – ein produktiver Habenichts?

Text: Wolf Dieter Enkelmann

Die globale Verstaatlichung hat von Europa ihren Ausgang genommen. Sie manifestiert die Weltmacht einer europäischen Idee. Denn die Idee des „bios politikos“, des staatlichen Lebens, hatte ursprünglich weniger einen womöglich barbarischen Naturzustand zum Gegner als die übermächtigen, sich von Göttern ableitenden Weltreiche der orientalischen Hochkulturen des Altertums. Die Griechen stellten dem Reich den Staat entgegen, das heißt dem „oikos“ die „polis“, und schufen so eine Alternative, die seither mit zunehmender Intensität und wechselndem Glück Europa und die Weltgeschichte bestimmte. 25


Wolf Dieter Enkelmann

D

T E R R A I N

ieser Staatsgedanke ist von einiger Befremdlichkeit. Selbst die Europäer mutete er über lange Zeiten ihrer Geschichte widernatürlich, frivol und unrechtmäßig an. Europa unterscheidet er dennoch mehr und nachhaltiger von anderen Kulturen als vieles sonst. Als die Griechen, die Parvenüs im Umfeld der etablierten Kulturen Ägyptens, Mesopotamiens oder des Persischen Reiches, damit begannen, sich „politisch“ zu organisieren, ernteten sie rundum nur Kopfschütteln über diese Torheit. Trotz des umwerfenden Erfolgs, den sie damit zunächst hatten, haben sie dann ihr Staatswesen auch tatsächlich nicht allzu lange aufrechterhalten können. Erst während der Renaissance begann ausgehend von den Städten ein Prozess, der später mit den inneren Machtkämpfen Englands sowie der Französischen Revolution und dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg eine hinreichende Eigendynamik gewann, um Europa im 20. Jahrhundert wieder zurück zu seinen eigenen Ursprüngen zu führen – zurück in die „polis“, in den Staat. Die Polis

Die Polis war eine Revolution. Zuvor war Griechenland, Homer erzählt es, nicht anders organisiert als die dynastischen Palastökonomien der Hochkulturen des Vorderen Orients. Mit dem Unterschied, dass es im archaischen Griechenland niemals gelang, die einzelnen Dynastien unter das Dach einer übergeordneten Monarchie zu einem Reich zu vereinen. Dennoch, auch diese Welt war in familiären Haushalten organisiert. Über allem thronte Zeus’ Clan der olympischen Götterfamilie. Jenseits und außerhalb des von diesen Göttern besiegelten universal inzestuösen Familienlebens gab es keinen Lebensraum. Die gesamte Natur des olympischen Weltreichs der archaischen Zeit war eingebunden in die familiäre Produktion und Reproduktion des Lebens, wie es das auch heute in vielen Kulturen noch immer gibt. Das wirklich Merkwürdige und für die alten Hochkulturen wie für viele Ethnien auch der heutigen Zeit völlig Unbegreifliche an der europäischen Polis ist ihre Art, mit dem Reichtum umzugehen, und der Wert, den sie der Armut zumaß. In Per26

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sien war damals alles Eigentum unter den Großkönig subsumiert, so wie es auch im europäischen Mittelalter erst durch ausdrückliche Privilegierung von oben abgeleitet und ins Recht gesetzt war. Der jeweils Mächtigste ist in diesen Verhältnissen als Gesamteigentümer auch der Reichste. Und er allein ist der Inbegriff der Wirtschaftskunst. Der Reiche ist der Gute sowie nebenbei auch der Schönste beziehungsweise der Wunderbare, der Göttliche und, natürlich, der Wahre. Doch hängt sein Wert zugleich umgekehrt an seinem Besitz, weswegen die Griechen diese Verhältnisse insgesamt sklavisch nannten. Eine Polis hingegen entsteht, indem sich die existierenden Eigentümer in gewisser Weise ihres Eigentums enteignen. Sie müssen sich von dessen Macht über ihre Existenz entbinden, um „polites“ − Bürger − werden zu können. Die Polis reduziert den Menschen formell auf sein Selbstvertrauen und auf einen individuellen Eigenwert. Um diesen ist es aber zunächst naturgemäß nicht allzu gut bestellt. In der Polis hat der Mensch im Prinzip nur eine Stimme. Mehr hat er nicht in die Waagschale zu werfen. Nicht nichts, aber eben doch nur ein Versprechen. Stadtluft macht frei, diese Freiheit macht zuerst aber auch arm. Durch ihre Politisierung unterstellten die Eigentümer ihre Herrschaft über ihren privaten Reichtum der Polis, um über deren Institutionen und Gemeinwesen den Rechtsstand und die Handhabung ihres Eigentums sowie ihre Kooperation untereinander zu organisieren. Dadurch wurde die Polis aber weder ein Eigentümer über oder neben jenen, noch umgekehrt das Eigentum aller Eigentümer. Ihr gehörte nichts, und sie gehörte niemandem. Sie gehörte einzig sich selbst, soweit man das von einem Nichteigentümer vernünftigerweise überhaupt sagen kann. Sie war ein Habenichts. Als Bürger unterwarfen sich somit die Reichen der Armen; die Polis als solche hatte nur die Unterstützung, die ihr die Eigentümer zu deren Selbstverwirklichung gewährten. Sie hatte auch nicht die Macht, Steuern einzutreiben, es sei denn, die Bürger kamen untereinander überein, ihr – und dabei mittelbar wieder sich – diesen Tribut zu gewähren. Warum sich die Europäer auf dieses Vabanquespiel einließen, alles Eigentum einer Nichteigentümerinstanz


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(K)ein Zutritt für Vampire —

T E R R A I N

Oder: Nebensache Demokratie

Text: Pia Eberhardt

Während immer wieder beklagt wird, dass die Europäische Union (EU) demokratisch nicht ausreichend legitimiert sei (Stichwort: „Demokratiedefizit der EU“), verhandeln gerade hinter den Kulissen Delegierte der EU und der USA ein Freihandelsabkommen, das die Rechte der Menschen in Europa zugunsten ausländischer Konzerne und Investoren dramatisch einschränken könnte. Sollte dieses Abkommen (TTIP = Transatlantic Trade and Investment Partnership) verwirklicht werden, könnte man sich die Kritik am Demokratiedefizit sparen – sie wäre ungefähr so sinnvoll wie die Nörgelei an der Blaskapelle auf der Titanic, während diese bereits zu sinken begonnen hat. 30


W

eltweit garantieren schon heute über 3.000 internationale Investitionsabkommen Konzernen weitreichende Klagerechte. Sie ermöglichen es ausländischen Investoren, gegen geplante und bereits gültige Gesetze im Gaststaat zu klagen, die ihre Eigentumstitel und geplante Gewinne aus ihren Investitionen bedrohen – zum Beispiel wegen Gesundheits- und Umweltschutzauflagen. So verklagt Vattenfall derzeit Deutschland, weil dem Energiekonzern durch den Atomausstieg Geld entgeht. In Australien und Uruguay geht Philip Morris gegen Warnhinweise auf Zigarettenpackungen vor. Der kanadische Öl- und Gaskonzern Lone Pine verklagt über eine US-Niederlassung seine eigene Regierung, weil die Provinz Quebec aufgrund massiver Umweltrisiken ein Moratorium für die umstrittene Bohrtechnik Fracking erlassen hat. Bis Ende 2012 gab es über 500 solcher Klagen von Investoren gegen den Staat. Die Dunkelziffer dürfte höher liegen, die Tendenz ist steigend. Die Klagen werden vor internationalen Schiedsgerichten verhandelt, die meist aus drei Privatpersonen bestehen. Sie orientieren sich am Eigentumsschutz im Investitionsrecht – und nicht etwa an der Sozialpflichtigkeit des Eigentums oder dem Schutz des Gemeinwohls. Die EU und die USA wollen solche Klagen nun auch über ihr geplantes Handelsabkommen ermöglichen. Die Gefahren für öffentliche Haushalte und demokratische Politik liegen auf der Hand: Investor-StaatKlagen können Entschädigungszahlungen in Milliardenhöhe nach sich ziehen. So möchte Vattenfall mit über vier Milliarden Euro für den deutschen Atomausstieg entschädigt werden. Gewinneinbußen einzelner Unternehmen, die durch politische Reformen entstehen, werden auf diese Weise sozialisiert – selbst wenn die Regulierungen zum Schutz des Gemeinwohls notwendig sind.

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Zudem gibt es weltweit zahlreiche Beispiele von geplanten Regulierungen, die allein aufgrund der Androhung einer teuren Klage verwässert wurden oder ganz in der Schublade verschwanden. Fünf Jahre nach Inkrafttreten des Freihandelsabkommens zwischen Mexiko, Kanada und den USA (NAFTA) beschrieb ein kanadischer Regierungsbeamter dessen Auswirkungen wie folgt: „Bei beinahe jeder neuen umweltpolitischen Maßnahme gab es von Kanzleien aus New York und Washington Briefe an die kanadische Regierung. Da ging es um chemische Reinigung, Medikamente, Pestizide, Patentrecht. Nahezu jede neue Initiative wurde ins Visier genommen, und die meisten haben nie das Licht der Welt erblickt.“ Tatsächlich nutzen Unternehmen Investitionsrecht heute immer häufiger als Waffe in politischen Auseinandersetzungen, um strengere Regulierungen zu verhindern. Die beschränkte Demokratie

Letzten Endes geht es beim Investorenschutz darum, die Demokratie in ihre Schranken zu verweisen. Zwei Mitarbeiter von Milbank, einer der führenden Kanzleien im internationalen Investitionsrecht, haben das jüngst in einem Artikel für eine Fachzeitschrift deutlich ausgesprochen: „Unerwünschte Maßnahmen von Regierungen gibt es nicht nur im Rahmen autokratischer Herrschaft. Der Populismus, den Demokratien mit sich bringen können, ist oft Katalysator für solche Aktionen.“ Kein Wunder, dass Länder wie Argentinien, Venezuela und Ecuador, die nach heftigen sozialen Kämpfen Privatisierungen zurückgenommen und Unternehmen verstaatlicht haben, zu den Ländern gehören, die am häufigsten vor Investitionsschiedsgerichte gezerrt werden. Globalisierungskritische WissenschaftlerInnen sehen internationale Investitionsabkommen daher als Instrument, transnationale Kapitalinteressen gegen Re31

T E R R A I N

(K)ein Zutritt für Vampire – Oder: Nebensache Demokratie


Platon – Ein europäischer Denker

T E R R A I N 38

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Portrait

Platon —

T E R R A I N

Ein europäischer Denker

Text: Barbara Zehnpfennig

Wie sieht eine gerechte Gesellschaft aus? Welches Verhalten ist richtig und welches falsch? Gibt es Erkenntnis und wie gelangt man zu ihr? Gibt es Wahrheit? Belüge ich mich selbst, ohne es zu merken? Dass wir uns solche Fragen überhaupt stellen, hat mit einem Mann zu tun, der vor fast 2500 Jahren in Griechenland lebte und das Denken revolutionierte – ein Mann, ohne den wir uns gar nicht als Europäer begreifen könnten. 39


Interview

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I N T E R V I E W

Europa … verzweifelt gesucht – Interview mit Richard David Precht

Fotos: Janusch Tschech Richard David Precht Richard David Precht, geboren 1964 in

erschien sein bisher erfolgreichstes Sach-

Solingen, studierte Philosophie, Germa-

buch Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?,

nistik und Kunstgeschichte an der Uni-

das bisher über 1,5 Millionen Mal verkauft

versität Köln und promovierte 1994 in

und in mehr als 30 Sprachen übersetzt

Germanistik. 1997 war Precht Fellow bei

wurde. Sein autobiografisches Buch Lenin

der Chicago Tribune, 1999 erhielt er das

kam nur bis Lüdenscheid. Meine kleine

Heinz-Kühn-Stipendium. In den folgen-

deutsche Revolution wurde 2008 ver-

den beiden Jahren war er Stipendiat am

filmt. Seit 2010 ist er Mitherausgeber des

Europäischen Journalistenkolleg der FU

Magazins agora42. Als Honorarprofessor

Berlin. Er hat für viele große deutsche

lehrt er seit 2011 Philosophie an der Leu-

Magazine, Zeitungen und Sendeanstalten

phana Universität Lüneburg und seit 2012

gearbeitet, unter anderem als Kolumnist

an der Musikhochschule Hanns Eisler in

des Magazins Literaturen (2002–2004) und

Berlin. Seit September 2012 moderiert er

von 2005 bis 2008 als freier Moderator

die Philosophiesendung Precht im ZDF.

der WDR-Sendung Tageszeichen. 2007

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agora 42

Von geografischen Definitionen abgesehen: Was bedeutet Ihnen Europa?

Ich habe kein starkes emotionales Verhältnis zu Europa. Ich halte es auch für zwecklos, Europa über einen besonderen Wesenszug definieren zu wollen. Ohne Zweifel wurde Europa durch die Aufklärung geprägt. Aber dieses Erbe ist für mich kein Grund, in Begeisterung auszubrechen, denn es ist genauso wunderbar wie fürchterlich. Europa hat so viel Unheil über sich selbst und die Welt gebracht, dass ich jeder Form von romantischer Verklärung skeptisch gegenüberstehe. Für mich ist Europa, ein geeintes Europa, ein sehr nützliches Werkzeug, um gewaltige Zukunftsprobleme zu lösen. Das ist mein Verhältnis zu Europa. Ein Werkzeug, das zuletzt eine lang anhaltende Periode des Friedens hervorgebracht hat. Ist das nicht ein Grund zur Freude? In der Tat wird die Geschichte, dass Europa letztlich im Frieden zueinander gefunden hat, gerne erzählt. Das ist die Geschichte eines Europas, das nach vielen Kriegen, und zuletzt durch die Erfahrung zweier blutiger Weltkriege, zu der Erkenntnis gelangte, dass es besser ist, in Frieden miteinander zu leben. Von dieser Erzählung halte ich nicht viel. Ich finde sie kitschig.

Ich würde die Geschichte anders erzählen: Das friedliche Europa ist entstanden, weil sich Kriege innerhalb Europas nicht mehr lohnen. Und das aus drei Gründen: Erstens, weil es in Europa nichts mehr zu holen gibt. Es gibt keine relevanten Gasvorkommen, keine Ölvorkommen, keine Uranvorkommen, keine materiellen Ressourcen, für die es sich lohnen würde, einen Krieg zu führen. Als „gutes Geschäft“ ist Krieg also sinnlos geworden. Zweitens haben die beiden Weltkriege gezeigt, dass Kriege heute einen gewaltigen Blutzoll fordern, den keine Regierung auch nur ansatzweise mehr der Bevölkerung verkaufen kann. Der dritte Grund hat schließlich mit der Überalterung Europas zu tun. Kriege beziehungsweise kriegerische Auseinandersetzungen oder Rebellionen wie beispielsweise der Arabische Frühling ereignen sich nur in Ländern, in denen die Anzahl junger Menschen viel höher ist als die der älteren. Revolten ereignen sich, wenn es viele junge Menschen gibt, die nicht an die Fleischtöpfe kommen. Klassische Regime haben gerne die jungen Männer in den Krieg geschickt, bevor sie sich gegen das eigene Regime wenden konnten. In dem überalterten Europa, in dem wir heute leben, ist das völlig undenkbar. Zumal das Leben eines Kindes heute so unsagbar wertvoll ist wie noch nie zuvor. Bei all dem, was wir in unseren Nachwuchs investieren, wird man in Deutschland kaum noch jemanden finden, der bereit wäre, seine Kinder in den Krieg zu schicken. Es eint uns also ein großes gemeinsames Interesse, Krieg zu vermeiden. Dafür brauche ich keine romantische oder kitschige Verbrämung. Auch muss ich nicht dem Irrglauben anhängen, dass die europäischen Nationen aus der Geschichte gelernt haben. Solche Lernerfahrungen enden meistens mit der Generation, die sie gemacht hat – sonst würden sich nicht so viele Fehler in der Weltgeschichte wiederholen, wie zum Beispiel das Aufflackern des Kalten Krieges in der Rhetorik der USA und der EU gegenüber Russland in der Krim-Krise. Ein verstörendes Signal dafür, wie wenig wir in den letzten 25 Jahren dazugelernt haben.

Damit haben Sie ein Europa skizziert, das sich über die Vermeidung von Negativem definiert. Was hält Europa in positiver Hinsicht zusammen?

Die treibende Kraft der europäischen Einigung war das gemeinsame wirtschaftliche Interesse. Nicht umsonst hat die EU ihre Wurzeln in der Montanunion. Man hatte erkannt, dass man nur noch als Verbund gegen die USA oder die damalige Sowjetunion eine Chance hat. Das gilt für die Beschaffung von Rohstoffen wie auch für den Zugang zu Absatzmärkten. 51

I N T E R V I E W

Richard David Precht


Interview

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» Das ist so ähnlich wie beim Monopoly. Sobald einer die profitablen Straßen besetzt hat, macht das Spiel keinen Spaß mehr. «

I N T E R V I E W

Die Gründung der Montanunion erfolgte auch vor dem Hintergrund, dass die europäischen Staaten durch ihre Mitgliedschaft in der NATO bereits ihre militärische und außenpolitische Souveränität aufgegeben hatten und letztlich zu Vasallen von Amerika geworden waren. So wollte man sich zumindest wirtschaftlich noch eine gewisse Eigenständigkeit bewahren, was zu Beginn auch wunderbar funktionierte. Oft wird gerade die Tatsache kritisiert, dass bei der EU wirtschaftliche Faktoren im Vordergrund stehen und nicht kulturelle. Hat Europa überhaupt eine kulturelle Identität?

Es gibt sicherlich so etwas wie eine christlich-abendländische Kultur, die in der Tradition des Christentums und der klassischen griechischen Philosophie steht; eine Kultur, welche so unterschiedliche Dinge wie die Demokratie und den Kapitalismus hervorbrachte, deren frühe Wurzeln beide im Athen des 6. Jahrhunderts v. Chr. liegen. Schließlich war es vor allem die Einführung des Münzgeldes und die neue Macht der Händler, die die alte aristokratische Herrschaftsform im alten Griechenland unterspülte und dabei zeitweise zur attischen Demokratie führte – und sei es auch nur als ein temporärer Unfall der Geschichte. Dieselben Turbulenzen von Markt und Moral, privaten Wirtschaftsinteressen (oikos) und Staatsinteressen (polis) motivierten auch die konservativen Philosophien von Platon und Aristoteles, die bis heute unserem geistigen Hausschatz in Europa die Begriffe lieferten. Man kann also sicherlich einiges finden, was die Länder Europas eint. Aber selbst wenn es gelänge, einen gemeinsamen Vorratsschatz zu identifizieren, den Europa der Welt voraushat, wäre ich skeptisch, ob uns das dabei hilft, Lösungen für die heutigen Probleme zu finden. Ich glaube ohnehin, dass Geschichte völlig überschätzt wird. Sie spielt im Alltagsdenken der meisten Menschen keine Rolle. Sie spielt auch dann kaum eine Rolle, wenn über den aktuellen Zustand der EU diskutiert wird. Interessanterweise soll der französische Unternehmer Jean Monnet, der das Zusammenwachsen der Wirtschaftsunion vorangetrieben hat, einmal gesagt haben: „Wenn ich noch einmal anfangen könnte, dann würde ich mit der Kultur beginnen.“ Aber selbst, wenn dies Konsens werden würde, wie soll man sich so etwas praktisch vorstellen? Und wie lange würde das dauern? Wie viele Hundert französische Theaterstücke und Filme müsste man in Deutschland anschauen, wie viele Musikgruppen müssten auf Tournee nach Deutschland kommen, wie viele Schulklassen müssten das jeweils andere Land besuchen? Und wir reden bis jetzt nur über Deutschland und Frankreich. Wir reden noch nicht von allen sechs Gründungsländern, geschweige denn von all den Ländern, die heute zur EU gehören. Über Kultur hätte man diese Einigung nicht hinbekommen und das wusste man damals auch. 52

Vogel: Rotschwanzbussard


Richard David Precht

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Und doch nähern sich die Lebensstile in Europa immer mehr an.

Ja, aber das hat nichts mit einem gemeinsamen kulturellen europäischen Erbe zu tun, sondern vielmehr mit der Globalisierung, die sich nicht um die europäischen Kulturen schert. Wenn heute die Italiener zu 95 Prozent dieselbe Musik wie die Deutschen, die Dänen, Niederländer oder die Slowenen hören, dann liegt das daran, dass die großen Musiklabels den globalen Markt beherrschen. Auch die Mode ist so einheitlich wie noch nie zuvor. Aber das ist kein Verdienst einer europäischen Kultur, sondern das Resultat der Konsumgüter-Globalisierung. Auf der anderen Seite beobachten wir gerade, dass die wirtschaftlichen Entwicklungen in Europa eher dazu beitragen, Europa wieder zu spalten. Ist die verbindende Kraft der Wirtschaft aufgebraucht?

I N T E R V I E W

Die Wirtschaft verbindet, solange es gut läuft. Sobald die Entwicklung kippt, wird es kompliziert, weil sehr viele Interessen berücksichtigt werden müssen. Interessen, die sich teils komplett widersprechen. Beispielsweise wies Deutschland jahrelang die niedrigsten Lohnstückkosten in Europa auf. Entsprechend konnten die deutschen Unternehmen ihre Waren sehr günstig an die anderen europäischen Länder verkaufen. Auf Dauer ist das problematisch. Denn wenn die anderen Länder ständig mehr Güter aus Deutschland importieren, als sie nach Deutschland exportieren, steigt ihre Verschuldung immer weiter an. Von dieser Situation haben wir jahrelang profitiert. Jetzt stehen wir vor den Schäden, die wir in anderen Ländern angerichtet haben, und sagen, ihr müsst eure Mentalität ändern oder was weiß ich. So ein Unsinn! Das ist so ähnlich wie beim Monopoly. Sobald einer die profitablen Straßen besetzt hat, macht das Spiel keinen Spaß mehr. Die Mitspieler verschulden sich immer weiter und irgendwann schmeißen sie ihre Sachen hin und sagen, mach deinen Mist doch alleine. Das Gleiche beobachten wir in der Fußballbundesliga, die der FC Bayern München gerade im Begriff ist abzuschaffen. Noch vor wenigen Jahren hatte Uli Hoeneß die Investoren kritisiert, die sich mit riesigen Summen in europäische Topvereine einkauften und sich die besten Spieler angelten. Er schlug damals konsequenterweise vor, die Spielergehälter zu begrenzen. Jetzt, wo die Bayern in der Lage sind, bei den ganz hohen Gehaltszahlungen mitzuhalten, ist er plötzlich dagegen. Es ist immer dasselbe: Du machst dir nur dann Gedanken über das ganze System, wenn du nicht davon profitierst. Sobald du zu den Profiteuren gehörst, ist dir das System egal. Dann machst du so lange mit, bis du das Ding gegen die Wand fährst. Das macht wenig Hoffnung auf ein Ende der europäischen Krise …

Die Krise hat viele Facetten, das macht es schwer, eine Lösung zu finden. Nehmen Sie die seltsame Rolle, welche die Deutschen darin einnehmen: Einerseits sind wir nach wie vor die Profiteure der Krise. Dennoch wünschen wir uns andererseits, dass die Krise behoben wird – auch damit die Länder, in denen es wirtschaftlich nicht so gut läuft wie bei uns, wieder mehr deutsche Produkte kaufen. Aber gleichzeitig sind wir nicht bereit, unser Verhalten zu ändern oder eine Lösung zu akzeptieren, durch die wir ernsthaft in die Pflicht genommen werden. Zu dieser merkwürdigen Situation kommt noch unser gespaltenes Verhältnis zu Europa. Auf der einen Seite lernen wir bereits in der Schule das großartige europäische Erbe zu schätzen: die alten Griechen, die Aufklärung, die Gründung der Montanunion oder die Maastrichter Verträge. Uns wird erzählt, wie toll das alles ist und dass wir alle Europäer sind. Auf der anderen Seite fordert der bayerische Ministerpräsident, kaum steht eine Wahl an, eine PKW-Maut für „Ausländer“. Gemeint sind auch in diesem Fall wieder Europäer, nur sind das dann plötzlich ausländische Europäer. Diesem Muster folgen zahlreiche Politiker in Europa. Sie versuchen, nationale Interessen gegen die der EU durchzusetzen – und lassen sich feiern, wenn das gelingt. Erfolge werden nationalisiert, bei Misserfolgen die EU vorgeschoben. Da darf man sich nicht wundern, dass sich kein europäisches Bewusstsein entwickelt und schon gar keine Solidarität. 53


Auf zu neuen Ufern! Wie l채sst sich eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Ver채nderungen herbeif체hren?


H HORIZONT


Karl-Martin Hentschel

agora 42

Die Kommunen zuerst!

H O R I Z O N T

Dezentrale Demokratie und ein starkes Europa – ein Widerspruch?

Text: Karl-Martin Hentschel

Die deutsche Demokratie ist kopflastig. 64 Prozent der Staatsausgaben werden durch den Bund getätigt, nur 20 Prozent durch die Länder und jämmerliche 16 Prozent durch die Kommunen. Und diese Mittel sind auch noch weitestgehend durch Bundes- und Landesgesetze festgelegt. In unseren Nachbarstaaten Schweiz und Dänemark ist das umgekehrt – dort verfügen die Kommunen und Regionen über 65 beziehungsweise 58 Prozent aller staatlichen Mittel. Dagegen leben die Kommunen in Deutschland im Armenhaus. Dabei kommen Umfragen immer wieder zum gleichen Ergebnis: Kommunalpolitiker und kommunale Institutionen wie Sparkassen und Stadtwerke genießen erheblich mehr Vertrauen bei den Menschen als Bundespolitiker, Großbanken und Konzerne. 64


Die wahren Könige und Königinnen in Dänemark sitzen nicht in Kopenhagen, sondern in den Rathäusern. Die Bürgermeister und Gemeinderäte gestalten das gesamte soziale Leben des Staates: Kitas, Altenpflege, Schulen, Arbeitsverwaltung, Gesundheitsversorgung, öffentlicher Verkehr – all das liegt in der Hand der Kommunen und Regionen, die obendrein über ihre Steuereinnahmen selbst entscheiden können. In Deutschland dagegen sind die Kommunen die ungeliebten Anhängsel des Zentralstaates preußischer Tradition. Viele Gemeinderäte sind frustriert – sie dürfen seit Jahren nur noch den Mangel verwalten und über Einsparungen entscheiden. Natürlich sollte man keine Idylle malen. Auch dezentrale Staaten sind kein Paradies. Auch in Skandinavien und der Schweiz gibt es Rechtsradikalismus, Drogenprobleme und andere Schwierigkeiten. Aber unter dem Strich ist die Zufriedenheit mit der Politik in unseren Nachbarländern, die dezentral organisiert sind, deutlich größer. Deshalb spricht vieles dafür: Wenn wir mehr Demokratie, mehr Bürgerbeteiligung und mehr Akzeptanz von Politik erreichen wollen, müssen wir den Staatsaufbau vom Kopf auf die Füße stellen und die Kommunen ins Zentrum der Demokratie rücken. Kommunen müssen mehr Kompetenzen und mehr Geld bekommen; und sie brauchen eine eigene Steuerhoheit, wenn sie eine starke, eigenständige Rolle spielen sollen.

agora 42

H O R I Z O N T

Die Kommunen zuerst!

In Deutschland sind die Kommunen die ungeliebten Anhängsel des Zentralstaates preußischer Tradition.

Probleme der Dezentralisierung Gegen eine Steuerhoheit der Kommunen wird häufig das Argument vorgebracht, sie könne zum Steuerdumpingwettbewerb führen. Für Skandinavien gilt das jedoch nicht! Im Gegenteil: In Schweden und 65


Srecko Horvat

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»Good Bye, Lenin!« in der Ukraine — Gibt es ein Europa ohne Lenin? H O R I Z O N T

Text: Srecko Horvat

Das deutlichste Vorzeichen für die aktuelle politische Krise in der Ukraine war die Zerstörung der Leninstatue auf dem ehemaligen Platz der Oktoberrevolution in Kiew am 8. Dezember 2013 – heute besser bekannt als der Maidanplatz. Diese erste Statue war nur der Auftakt zu weiteren Zerstörungen. So zerstörten Demonstranten seitdem rund 100 der insgesamt 1.500 Lenindenkmäler in der Ukraine, von Poltava bis Chernihiv, von Zhytomyr bis Khmelnytskyi. Diese groß angelegte Zerstörung kommunistischer und antifaschistischerer Denkmäler ist indes nichts Neues. Ich erinnere mich noch genau, wie bei der Auflösung von Jugoslawien in den 90ern eine der ersten Handlungen der Nationalisten darin bestand, solche Monumente als Zeichen der Befreiung vom Kommunismus niederzureißen – im Glauben, dass die Demokratie nun endlich angekommen sei. Zwischen 1990 und 2000 wurden alleine in Kroatien mindestens 3.000 Denkmäler abgerissen, die zum Gedächtnis an Antifaschisten, an gefallene Partisanen und an unschuldige Opfer des faschistischen Regimes errichtet worden waren. 70

Auch als in Polen 1989 das kommunistische Regime durch ein demokratisches ersetzt wurde, machte man sich erbarmungslos an die Zerstörung kommunistischer Denkmäler. Und im Jahre 2007 diskutierte man sogar über ein neues Gesetz, welches die Entfernung aller Denkmäler aus der kommunistischen Ära legitimieren sollte. In Ungarn verbannte man die Denkmäler aus dem öffentlichen Raum in einen Gedenkpark, wo sie nun wie in einer Freak Show versammelt sind. So darf es niemanden wundern, wenn sich in der Ukraine die Geschichte wiederholt …

Lenins Vermächtnis Bei der Auseinandersetzung, die wir gerade in der Ukraine beobachten, dreht es sich nicht nur um die Frage, ob man eher auf engere Beziehungen mit Russland oder der Europäischen Union setzen soll. Es ist auch ein Kampf um Lenins Vermächtnis. Natürlich steht Lenin für einen Teil der ukrainischen Bevölkerung bloß noch für das postsozialistische Russland – und wird insofern mit dem Kommunismus nicht mehr in Verbindung gebracht. Dass man das aber auch ganz anders sehen kann, wird ausgerechnet


von der Abteilung für Presse und Information im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Russischen Föderation bestätigt. So forderte diese Abteilung in einer öffentlichen Erklärung, die Zerstörung der Denkmäler zu stoppen, denn: „Russland ist angesichts der in der Ukraine laufenden Denkmal-AbrissKampagne empört.“ Diese Empörung erstaunt, schließlich hat das postsozialistische Russland nicht mehr das Geringste mit dem Kommunismus – und schon gar nicht mehr mit jenem Leninscher Prägung – zu tun. Warum also ist Lenin solch eine Schlüsselfigur? Um zu verdeutlichen, was die Statuen von Lenin so symbolträchtig macht, möchte ich gerne zwei Filme anführen, in denen eine Statue von Lenin eine wichtige Rolle spielt. Der erste Film ist das Meisterwerk Ulysses’ Gaze (Der Blick des Odysseus) vom griechischen Regisseur Theo Angelopoulos aus dem Jahr 1995. In einer Szene des Films ist eine Statue Lenins mit einem zerbrochenen Kopf auf einem Kahn zu sehen, der die Donau hinuntertreibt. Am Ufer stehen Bauern und bekreuzigen sich angesichts dieser Inkarnation einer ehemaligen Gottheit. Diese Szene spielt zu einer Zeit, als der Eiserne Vorhang gerade erst gefallen und so

H O R I Z O N T

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»Good Bye, Lenin!« in der Ukraine

für viele Menschen aus dem Balkan das Ende des Kommunismus gekommen war. So erschließt sich die Bedeutung dieses Bildes: Der enthauptete Lenin steht für den Fall des Kommunismus. Gleichzeitig ist jedoch auf ein weiteres Detail dieses Bildes hinzuweisen: Auch wenn die Statue zertrümmert ist, so hat Lenin doch noch seinen Finger gebieterisch erhoben und es scheint, als weise er in eine unbekannte Zukunft. Der zweite Film ist natürlich die deutsche Tragikomödie Good Bye, Lenin! (2003) des Regisseurs Wolfgang Becker. Der Film spielt in Ostberlin im Jahre 1989. Um seine gerade aus einem langen Koma erwachte Mutter Christiane vor einem fatalen Schock zu bewahren, muss ein junger Mann ihr die Tatsache vorenthalten, dass es die DDR, wie sie diese kannte und liebte, nicht mehr gibt. Eines Tages jedoch, als der Sohn schläft, verlässt die Mutter die Wohnung und wandert in einer surreal anmutenden Szene durch das neue Berlin. Dabei nimmt sie verwundert zur Kenntnis, dass ihre Nachbarn die alten DDR-Möbel zum Sperr71


WEIT W INK EL

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Hier wird das Fernrohr gegen das Kaleidoskop getauscht und gezeigt, dass die Wirklichkeit viele Facetten hat. Bilder: Dan Perjovschi

H O R I Z O N T Der Künstler Seine Linien sind gestochen scharf, seine Zeich-

Drawing (Die Raumzeichnung) im Tate Modern

nungen gehen unter die Haut. Der Künstler Dan

London, Naked Drawings (Nackte Zeichnungen)

Perjovschi lebt und arbeitet in Bukarest sowie in

im Ludwig Museum Köln, New Europe (Neues

Sibiu, wo er 1961 geboren wurde. Ausgezeichnet

Europa) in der Generali Foundation in Wien und

wird er für sein großes gesellschaftliches Enga-

der 9th Istanbul Biennial 2005. Im Kunstmagazin

gement in Rumänien und die Sprengkraft seiner

art veröffentlicht er regelmäßig seine eigene

Kunst in ganz Europa: 2013 gewann er zusammen

Zeichenserie. Dan Perjovschi, Erzähler der Glo-

mit Lia Perjovschi den European Cultural Foun-

balisierung, könnte seinen Filzstift gegen das

dation Princess Margriet Award. Die größten

Skalpell tauschen. Seine aufklärerischen Zeich-

Museen der Welt stellen seine Werke aus: What

nungen sezieren unsere Gesellschaft – präzise,

Happened To Us? (Was ist mit uns passiert?) im

intellektuell, gelenk, ironisch und hell.

Museum of Modern Art New York, The Room

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H O R I Z O N T

agora 42

"euro", 2010

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FRISCHLUF T

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Sie befassen sich im Rahmen Ihrer Forschungstätigkeit mit Themen an der Schnittstelle von Ökonomie und Gesellschaft/Politik und loten neue Denkräume aus. Stellen Sie Ihre Arbeit bei uns vor: info@agora42.de

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LOSUNG: K U R Z E I L L U S T R AT I O N DES ARTIKELS

PROBLEM: Manager entscheiden zu selten nach moralischen Kriterien und handeln in ökologischer und sozialer Hinsicht nicht nachhaltig genug.

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In der Ausbildung der Manager müssen wir die Bedeutung der Freiheit der Manager und damit ihre Verantwortung klar herausstellen. Dies gelingt, indem man die ganz gewöhnlichen Laster sowie die ganz alltäglichen Tugenden der Menschen in die Modelle und Menschenbilder einpflegt.

ARGUMENT:

So können Manager erkennen, dass sie mit den ethischen Ressourcen ihrer Mitarbeiter und Kunden verantwortungsvoll rechnen sowie frei wirtschaften können.

Manager haben unangemessene Menschenbilder und falsche Modelle der Wirtschaft. Dies verringert systematisch die Chancen für ökologisches, soziales und moralisches Unternehmertum.

Dies führt zu einer Korrektur der Modelle der Wirtschaft und Menschenbilder. Verbesserte Menschenbilder und Modelle der Wirtschaft führen zu ökologischem, sozialem und moralischem Handeln.


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FREIHEIT UND VERANTWORTLICHKEIT IN DER MANAGERAUSBILDUNG —

NACHGEFRAGT

— Im Kern Ihres Artikels „The FreedomResponsibility Nexus in Management, Philosophy and Business Ethics“ steht die Aussage, dass in der Wirtschaft zu viele schlechte Entscheidungen getroffen werden. Wie unterscheiden Sie eine gute von einer schlechten Entscheidung?

Die Tatsache, dass man sich immer mehr an Zahlen ausrichtet, hat auch mit der durch Zahlen suggerierten Neutralität und Objektivität zu tun – mithin dem vermeintlichen Ideal der Wissenschaft. Begriffe wie Freiheit und Verantwortung werden häufig subjektiv aufgeladen. Wird durch die Betonung dieser Begriffe letztlich der Neutralitätsanspruch aufgegeben?

Sie argumentieren, dass die Reduzierung des Menschen auf den so genannten Homo oeconomicus in der ökonomischen Lehre dazu geführt hat, dass sich alle Entscheidungen an quantitativen Kriterien ausrichten. Ein Beispiel: Wie hoch ist der mögliche Gewinn einer Investitionsentscheidung? Gibt es ein qualitatives Kriterium, das wichtiger ist als der messbare Gewinn?

Dass Wissenschaft wertfrei zu sein habe, ist selbst Ausdruck einer Wertvorstellung. Dadurch, dass die Wissenschaft bestimmte Phänomene beobachtet und andere nicht, bestimmte Messgrößen verwendet und andere nicht, bestimmte Fragen für sinnvoll erklärt und andere nicht, ist sie implizit an Wertvorstellungen – davon, was gute Wissenschaft ausmacht – orientiert. Diese Werte sind zu explizieren und, wo nötig, zu kritisieren. Statt die hinter der ökonomischen Forschung stehenden Werte zu verstecken, sollten wir sie aufdecken, und ge-gebenenfalls verändern. Wir brauchen eine demokratische, keine technokratische Ökonomik.

Qualitatives Denken schließt quantitatives Denken ein, nicht aus. Wenn eine Firma sich, über den Return on Investment (RoI) hinaus, qualitative Ziele setzt, dann sollten sich diese Ziele genauso wie der RoI quantifizieren lassen. Aber: Abwägen kommt vor Abwiegen. Wir müssen erst sagen, was wir wollen, und dann, wie viel davon.

Eine neue Lehre muss her! Diese Schlussfolgerung könnte man aus Ihrer Argumentation ziehen. Überschätzen Sie nicht die Rolle der Lehre? Was bringt es, wenn sich die Lehre ändert, nicht aber das Wirtschaftssystem, dessen Logik sich die späteren Absolventen unterzuordnen haben?

Eine gute Entscheidung in der Wirtschaft ist eine, die auch in der Gesellschaft mehr Probleme löst, denn neue schafft.

Das Wirtschaftssystem ändert sich ja stets – und zwar nicht nur von oben, das heißt durch die Politik. Das Wirtschaftssystem ändert sich eben auch von unten, das heißt durch die sich wandelnde Konsumentennachfrage und das veränderte Verhalten der Bürger sowie, ganz wichtig, aus der Mitte, aus den Unternehmen heraus und durch die Mitarbeiter selbst. Darum fordere ich, dass wir uns in der Lehre nicht an einer fiktionalisierten Welt orientieren, in der Manager durch quasi-naturgesetzliche Sachnotwendigkeiten gezwungen sind, das Gemeinwohl den Profiten zu opfern, sondern an der Welt, in der wir alle leben. Und in dieser realen Welt existieren oft eben auch Win-Win-Szenarien zwischen Ethik und finanziellem Erfolg. Diese Szenarien müssen wir analysieren, um sie zu skalieren. So kann gute Ökonomik zu einer besseren Ökonomie führen. Denn: Realismus schafft Relevanz. Nicht derjenige sieht an der Wirklichkeit vorbei, der die Gestaltungsfreiheit der Wirtschaftenden betont, sondern derjenige, welcher sie verhöhnt. Nicht der größte Pessimist ist der wahre Realist, sondern derjenige, der neben allem Schlechten auch die Aspekte der Wirklichkeit erkennt – und nutzt –, die optimistisch stimmen. Prof. Dr. Claus Dierksmeier Prof. Dr. Claus Dierksmeier ist Direktor des Weltethos Instituts an der Universität Tübingen und Academic Director des Humanistic Management Centers. Seine akademische Arbeit konzentriert sich auf Fragen der Politik-, Religions- und Wirtschaftsphilosophie unter besonderer Berücksichtigung von Theorien der Freiheit und der Verantwortung im Zeitalter der Globalität.

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The Freedom–Responsibility Nexus in Management Philosophy and Business Ethics


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DIE ARGUMENTATION IM ÜBERBLICK

— Der Aufsatz gliedert sich wie folgt: Im ersten Schritt wird die gültige ökonomische Theorie dekonstruiert, um herauszufinden, wann und warum die Idee der Freiheit des Individuums aus der ökonomischen Theorie verschwunden ist. Im zweiten Schritt werden die Konsequenzen, die sich aus dieser Tatsache auf die ökonomische Lehre ergeben, analysiert.

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Im dritten Schritt wird das Fundament für eine neue ökonomische Theorie gelegt, welche die Tatsache berücksichtigt, dass auch der in ökonomischen Kontexten agierende Mensch über gewisse Freiheiten verfügt und ihm somit auch Verantwortung für sein Handeln zukommt. Dies hat ferner zur Folge, dass es zu einem grundlegenden Wandel in der Managementausbildung kommen muss: So muss es zukünftig darum gehen, Studenten von der Betriebsblindheit ihres eigenen Fachs zu befreien; ihnen also zu zeigen, in welchem Maß ihr Bild von der Wirtschaft von den Modellen der Ökonomik selbst geformt wird, welche Aspekte der Wirklichkeit in diesem Bild verborgen bleiben und wie sie dennoch nutzbar sind.

UTILITARISMUS (von lat. utilitas: Nutzen) Theorie, derzufolge der Wert einer Handlung ausschließlich nach ihren Folgen bewertet wird. Bewertungsmaßstab ist der größtmögliche Nutzen für die größtmögliche Anzahl von Menschen. Eine klassische Formulierung findet der Utilitarismus bei Jeremy Bentham (1748–1832), für den das Erleben von pleasure (Glück/Lust/Befriedigung) und pain (Schmerz/Unangenehmes) die Beweggründe allen menschlichen Handelns sind. Weil das Interesse der Gemeinschaft die Summe der individuellen Interessen ist, muss folglich bei jeder Entscheidung abgewägt werden, wie das größte Glück für die größte Anzahl an Personen erreicht werden kann.

DER VERLUST DES FREIEN WILLENS In der durch den Utilitarismus getragenen Entwicklung hin zu einer rechenbaren Wissenschaft ist auch die Idee des freien Willens verloren gegangen. Philosophen beschreiben den freien Willen üblicherweise als die Möglichkeit, unsere Entscheidungen nicht nach den Bedürfnissen ausrichten zu müssen. So können auch religiöse oder gesellschaftliche Werte unsere Entscheidungen beeinflussen. Im Gegensatz dazu kennt der Utilitarismus als einzige Handlungsmaxime die Maximierung des Nutzens. Um den so handelnden Menschen zu beschreiben, hat sich in der Ökonomie über die letzten Jahre der Begriff des Homo oeconomicus herausgebildet. Natürlich gab es an diesem reduzierten Menschenbild schon früh Kritik, aber letztlich setzte sich die Idee des Soziologen Max Weber (1864–1920) durch, wonach die Ökonomie sich darauf beschränken solle, zu erklären, wie die Wirtschaft funktioniert. Die normativen Beurteilungen und Vorgaben solle sie der Politik überlassen (Werturteilsfreiheit).

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Noch bis vor circa 150 Jahren bestimmten qualitative Ziele den ökonomischen Diskurs. Dabei ging es um das subjektive Wohlbefinden des Einzelnen und den Wohlstand der Gesellschaft sowie das Zusammenspiel von beiden. Die Wendung hin zu Zahlen und Funktionen in der Ökonomie erfuhr durch den Utilitarismus, der mit Verlauf des 19. Jahrhunderts immer populärer wurde, große Unterstützung. Inspiriert von den Argumenten der Utilitaristen träumte der englische Ökonom und Philosoph William Stanley Jevons (1835–1882) davon, die Ökonomie nur noch als Funktion von Schmerz und Freude behandeln zu können. Das fiel bei den Ökonomen auf fruchtbaren Boden, die bei dem Versuch, so wissenschaftlich zu werden wie die Kollegen aus den Naturwissenschaften, immer mehr Bänder zu den Sozial- und Politikwissenschaften kappten und sich stattdessen an mathematischen und physikalischen Modellen orientierten.

DER MARKT UND DER MANAGER Basierend auf der Annahme, dass die Konsumenten immer das kaufen, wovon sie sich den größten Nutzen versprechen, wird der Markt ständig darüber in Kenntnis gesetzt, was gebraucht wird. Somit reduziert sich die Aufgabe von Unternehmen auf die Befriedigung dieser Bedürfnisse; und da Unternehmen sich im ständigen Wettbewerb untereinander befinden, ist die Aufgabe des Managers ganz klar umrissen: Er muss die Bedürfnisse der Kunden maximal befriedigen und dabei die Kosten minimieren.

HOMO OECONOMICUS In Abwandlung von Homo sapiens (von lateinisch homo = Mensch und sapiens = weise) bezeichnet Homo oeconomicus („Wirtschaftsmensch“) in der Wirtschaftstheorie das Modell eines ausschließlich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten denkenden und handelnden Menschen. Der Homo oeconomicus handelt rational, ist auf die Maximierung des eigenen Nutzens bedacht und vollständig über das Marktgeschehen informiert. Unterhaltsamer als unsere Erklärung des Homo oeconomicus ist jene des bekannten Ökonomen Torstein Veblen, der ihn als eine Kreatur bezeichnet, „that of a lightning calculator of pleasures and pains, who oscillates like a homogeneous globule of desire of happiness under the impulse of stimuli that shift him about the area, but leave him intact. He has neither antecedent nor consequent. He is an isolated, definitive human datum, in stable equilibrium except for the buffets of the impinging forces that displace him in one direction or another. Self-poised in elemental space, he spins symmetrically about his own spiritual axis until the parallelogram of forces bears down upon him, whereupon he follows the line of the resultant. When the force of the impact is spent, he comes to rest, a self-contained globule of desire as before.“ (Veblen, T.: 1898, Why is Economics not an Evolutionary Science?, Quarterly Journal of Economics 12, p. 389)

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VON DER QUALITATIVEN ZUR QUANTITATIVEN ÖKONOMIE


GEDANK ENSPIELE

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10.01.2051

Liebes Tagebuch,

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die Kollegen in der Manufaktur haben meine neuen Charakterzüge offensichtlich noch nicht bemerkt, obwohl ich die Genanpassung ja bereits vor einigen Tagen habe durchführen lassen. Auf jeden Fall bat Yong mich heute um einen Gefallen, bei dem es eher auf Sensibilität ankam. Ob ich einmal mit Mito, seinem humanoiden Roboter, sprechen könne. Der sei gerade etwas verstört aus Europa zurückgekehrt. Dort war er mit der Hilfsorganisation „Robotiers sans frontières“ im Nothilfeeinsatz und muss Schreckliches erlebt haben. Ich traf Mito im Meditationsraum der Manufaktur. Da lag der Roboter, alle Viere von sich gestreckt, auf einer dynamischen Yoga-Matte. Diese hatte die Struktur einer Blumenwiese angenommen und verströmte einen frischen Duft. Über Mito kreisten holografische Schmetterlinge. „Ich muss meine Gedanken ein bisschen sortieren“, begrüßte er mich halb entschuldigend. Ich setzte mich neben ihn. Nach einer Weile fing er an, von seinem EuropaTrip zu erzählen. „Das Schlimmste war nicht der Katastropheneinsatz, sondern die Zeit danach“, fing er an. „Ich habe dem Tod ins Auge geblickt. Die Menschen sind alt in Europa. Und sie sehen auch so aus. Alt. Gebrechlich. Ohne Antrieb. Nicht wie in China. Hier gibt es junge Menschen, Zuwanderer. Es gibt auch alte Menschen, eingesessene Chinesen vor allem, aber die sehen nicht so alt aus. Hier sehe ich Vitalität, in Europa …“ Er stockte, machte eine Pause. „Am ersten Tag war es okay, da 94

waren wir mit dem Einsatz beschäftigt. Aber am zweiten Tag … Ich habe nur geheult und konnte gar nicht mehr aufhören.“ Ich blickte ihn an und sah, wie sich in seinen Augen wieder das Wasser sammelte. Ein Roboter, der wegen des Elends in der Welt heult. Muss man da Empathie aufbringen? Ich spürte keine richtige Anteilnahme. Das konnte aber auch an meinem neuen Genprofil gelegen haben. Ich fragte ihn nach der Katastrophe, das interessierte mich mehr. Der Nordwesten Europas war erst von einer Starkregen-Front und dann von einer Jahrhundert-Sturmflut erfasst worden. Zahlreiche Küstengebiete wurden überspült, aber auch im Hinterland traten viele Flüsse über die Ufer und richteten immense Schäden an. Besonders schwer hatte es England erwischt, das ohnehin schon ärmste Land Europas. England ist ja praktisch nie wieder auf die Füße gekommen, seit es die Europäische Union verlassen hat und seitdem sich Schottland und Wales von Großbritannien losgesagt haben. Auch die übrigen 43 EU-Staaten sind arm, aber im Vergleich zu England Oasen des Glücks. Deshalb führte der Hilfseinsatz Mito, ein Dutzend weiterer Humanoide sowie einige tausend Microbots ins stark überschwemmte östliche London. Der Roboter berichtete, wie sie großflächig Superabsorber im Olympiastadion verstreuten und so ein gigantisches Wasserrückhaltebecken schufen. Infrastrukturen und Anwohner zu schützen, hatte höchste Priorität. Flussnahe Gebäude wurden rundum

abgedichtet. Risiko-Komplexe in Windschneisen wurden mit Erdbebentapete ausgestattet, um sie gegen den Sturm zu schützen. Hochkalorische Lebensmittel wurden verteilt. Aber die Menschen reagierten mit Scheu. „Scheu“ – Nachdenklich wiederholte Mito den Begriff. „Das ist es, warum Europa so zurückgefallen ist. Die Menschen sind technikscheu. Technophob!“ Er lag damit vollkommen richtig. Vier Stunden pro Tag verbringt der Durchschnittseuropäer damit, Entscheidungen zu treffen. Dabei kann man die meisten Entscheidungen doch an Computer outsourcen. Zum einen kommen die zu besseren Lösungen, zum anderen haben die Menschen mehr Zeit, um produktiv zu sein. Auch in der Politik würde man mit automatisierten Entscheidungen viel Gutes bewirken können. Gerade in der EU mit ihrer hochintegrierten Fortschritts- und Wohlfahrtspolitik. „Bevor es dazu kommt, muss aber noch etwas anderes geschehen.“ Mito hatte meine Gedanken verfolgt. „Weißt du, warum die Chinesische Union so viel besser funktioniert als die Europäische Union?“ Er beantwortete die Frage selbst: „Wir haben unseren Sand gemischt.“ Was er damit wohl gemeint hat? Ich melde mich die Tage wieder, wenn ich es herausgefunden habe. Versprochen!

Kai Jannek, Director Foresight Consulting bei Z_punkt


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