Freiheit Somewhere Over The Rainbow ?
03/2011 • 7,90€ (D)
I N H A LT agora42
Personen
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Editorial
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Prolog
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Parallaxe choice. the problem is choice.
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Ökonomische Theorien freihandel – das ultimative heilsversprechen
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Philosophische Perspektive freiheit für fortgeschrittene
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Grundannahmen der Ökonomie der index of economic freedom
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Karen Horn liberalismus und neoliberalismus
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Tim Caspar Boehme zu dumm, um frei zu sein?
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Rainer Schäfer die doppelstruktur der freiheit
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Robert Misik das pathos der freiheit
Interview • Reinhold Messner Im Herzen bin ich Anarchist.
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Speakers’ Corner
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Portrait rosa luxemburg
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Gedankenspiele
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Zahlenspiele
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Auf dem Marktplatz
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Plutos Schatten
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Auf dem linken/rechten Auge blind
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Impressum
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E DI TOR I A L
Freiheit bedeutet heute nicht mehr das, was es beispielsweise zur Zeit der Französischen Revolution bedeutet hat. Jedenfalls nicht in Europa. Und das ist schlecht. Eiskalte Kosten-Nutzen-Abwägungen, pure und unverhohlene Besitzstandswahrung und wenn Aufbegehren, dann nur, wenn es ans eigene Portemonnaie geht oder man sich von lieb gewonnenen Gewohnheiten verabschieden müsste. Wo sind die Menschenmassen, die für die Freiheitsbewegungen in Nordafrika auf die Straße gehen? Wo sind die stolzen, freien Bürger Europas, die zu Hunderttausenden losziehen, um ihren mutigen nordafrikanischen Brüdern und Schwestern mit der Waffe in der Hand zur Seite zu stehen? – Undenkbar. Am liebsten wäre den meisten Europäern doch eigentlich Demokratie plus al-Gaddafi. Das Öl soll bitte schön, schon wegen des guten Gewissens, von freien Bürgern nordafrikanischer Demokratien geliefert werden; aber Leute wie al-Gaddafi sollen für Ruhe und Ordnung sorgen, damit der Ölfluss vor lauter Freiheit nicht ins Stocken gerät. Wie verlogen! Es wird schon schwierig sein, jemanden zu finden, der einen nordafrikanischen Flüchtling bei sich aufnimmt. Europa, aufwachen! Es geht nicht mehr darum, unser Wohlstandsniveau zu wahren, auch nicht primär darum, den Wohlstand gerechter zu verteilen, sondern darum, gemeinsam mit dem eklatanten Verlust an Wohlstand, der uns bevorsteht, fertig zu werden. Freiheit muss heute
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in immer schwierigeren Verhältnissen, das heißt in einer Zeit, in der an allen Ecken und Enden das Geld ausgeht, verteidigt werden. Und nicht nur verteidigt, sondern in manchen Bereichen sogar wieder neu erkämpft. Denn in den vergangenen Dekaden ist die konkrete Freiheit der Bürger zugunsten einer abstrakten Freiheit des Kapitals und des Warenverkehrs eingeschränkt worden. Insofern werden wir in Zukunft einen hohen Preis für Freiheit zu zahlen haben. Fehlt der Mut, sich dies einzugestehen? Ist die Angst vor den kommenden Aufgaben so groß, dass man lieber die Augen verschließt und auf Erlösung wartet? Hat man akzeptiert, dass Demokratie, global gesehen, nur noch die Heuchelei der Besserverdienenden ist? Spricht man nicht offen über Themen wie Gerechtigkeit und Freiheit, weil Gerechtigkeit heißen würde, auf die eigenen Privilegien verzichten zu müssen? Und weil Freiheit Revolution bedeuten würde – Revolution gegen das Diktat einer Wirtschaftsoligarchie, in der Menschen auf bloße Konsum- und Arbeitsamöben herabgestuft werden? Oder, noch schlimmer, will man von all dem gar nichts mehr wissen? Hat man sich so sehr auf das Funktionieren eingelassen, dass man gar nicht mehr weiß, was Freiheit eigentlich bedeutet? Und strampelt jetzt, wie ein ehemaliger Radprofi, nur noch weiter, um dem Infarkt zu entgehen?
agora42 • Editorial
06/2010 – Krieg light
Eigentlich ist es ganz einfach. Sollte es zumindest sein, zumal hierzulande, wo man nach dem letzten Krieg geschenkt bekommen hat, was man weiß Gott nicht verdient hatte. Man hat als Europäer die Pflicht, Freiheit und Demokratie überall bedingungslos zu unterstützen. („Bedingungslos“ – ein Wort, das allerdings heute kaum einem Europäer mehr über die Lippen geht.) Werden sich aber Heuchelei, Selbstgerechtigkeit und die Vorherrschaft ökonomischer Kalküle fortsetzen, dann steht Europa der politische und soziale Kollaps bevor, weil sich Anspruch und Wirklichkeit nicht mehr vereinbaren lassen. Dann wird es mit der Freiheit Europas auf lange Sicht vorbei sein.
01/2011 – Vorsicht Arbeit!
02/2011 – Was macht das Leben komplex?
Frank Augustin Chefredakteur
Heft verpasst? Kein Problem! Bestellen Sie die verpasste Ausgabe ganz einfach hier:
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07031 - 43 57 885 agora42 • Editorial
DE R IN T E RNAT IONA L E HA NDE L I S T, WIE DIE F R E IHÄ NDLE R IMME R B E TONE N, NIC HT S A NDE R E S A L S E INE G ROS S E A RB E I T S S PA R E NDE M A S C H IN E . G . Ha b erler
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agora42 • Ökonomische Theorien • FREIHANDEL – DAS ULTIMATIVE HEILSVERSPRECHEN
Ö ko no m i s c h e T heo r ien
FREIHANDEL – DA S ULT IM AT IVE HEIL SVER SPR ECHEN allein seit 1955 hat sich der welthandel mit industriegütern mehr als verhundertfacht. die vertreter der freihandelstheorie versprechen allen beteiligten parteien einen gewinn an wohlstand. und tatsächlich: wir haben viel gewonnen. warum das so ist, wird im folgenden beschrieben. seltsam nur, dass wir noch immer nicht im paradies leben, wo doch alles so einfach scheint …
Krokodilledertäschchen und Alpaka-Ponchos Das Krokodil ist ein faszinierendes Tier und eines der ältesten Lebewesen unseres Planeten. Wenn man beobachtet, wie es, nur Augen und Nasenlöcher zeigend, im badewannenwarmen Wasser liegt, so täuscht der Eindruck der Entspannung. Es ist jeden Moment in der Lage, aus dem Wasser zu schießen und sein Opfer zu packen, bevor dieses überhaupt registriert hat, dass
agora42 • Ökonomische Theorien • FREIHANDEL – DAS ULTIMATIVE HEILSVERSPRECHEN
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P h i l o s o p h i s c h e Pe r s p e k t i v e
FR EIHEI T FÜR FORTGESCHRI T T ENE
es scheint heute so, als hätte man in bezug auf freiheit nur noch die wahl zwischen pest und cholera: auf der einen seite ist da der standpunkt des zynischen hedonisten, der die „sach-“ und „systemzwänge“ im rahmen einer durch und durch ökonomisierten welt für unabänderlich hält; für den frei-
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heit nicht mehr als die freiheit zum konsum darstellt; der sich damit abgefunden hat, dass nun mal an erster stelle das „freie“, reibungslose funktionieren von warenverkehr und kapitalflüssen stehen muss, damit sich, an zweiter stelle, die menschliche „freiheit“ entfalten kann – wohlgemerkt
agora42 • Philosophische Perspektive • FREIHEIT FÜR FORTGESCHRITTENE
nur insoweit, als sie der ökonomie nicht in die quere kommt. auf der anderen seite ist da der standpunkt des naiven idealisten, dem die realität immer wieder die türe vor der nase zuschlägt, sodass er früher oder später selbst zum zyniker wird.
doch es gibt sie, die wirkliche freiheit. freiheit, die diesen namen verdient; freiheit, die durch nichts begrenzt ist. sie übersteigt den rahmen dessen, was man gemeinhin als „gegebene“ menschliche realität bezeichnet. dennoch – oder gerade deshalb – darf man nicht vor ihr zurückschrecken.
agora42 • Philosophische Perspektive • FREIHEIT FÜR FORTGESCHRITTENE
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K aren Hor n
L IBE R A L I SMU S UND N E OL I B E R A L I S M U S
in der arabischen welt gehen menschenmassen für die freiheit auf die strasse und sogar an die waffen. in den wohlfahrtsstaatlichen demokratien des westens hingegen legen die menschen die hände selbstgefällig in den schoss. hier verliert die freiheit zusehends an popularität – und damit auch ein gedankengebäude und jene über jahrhunderte gewachsene politische tradition, auf deren grundlage für die freiheit gekämpft und mit ihr gerungen wurde: der liberalismus.
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agora42 • Karen Horn • LIBERALISMUS UND NEOLIBERALSIMUS
agora42 • Karen Horn • LIBERALISMUS UND NEOLIBERALSIMUS
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Robert Misik
DA S PAT HO S DE R F R E IHE I T
wissen wir überhaupt noch, was das ist oder sein könnte: die freiheit einer selbstbewussten bürgerschaft, die mit ernst und entschieden ihre eigenen dinge in die hand nimmt?
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agora42 • Robert Misik • DAS PATHOS DER FREIHEIT
agora42 • Robert Misik • DAS PATHOS DER FREIHEIT
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Die viel beschworene „Optionen- und Risikogesellschaft“ bedeutet in der Realität: Optionen für die einen, Risiko für die anderen.
Freiheit, das ist ein Wort, das sofort einen pathetischen Beiklang gewinnt. Das Freiheitsstreben der Menschen ist vielleicht die mächtigste Kraft der Geschichte. Wenn Bürger in gemeinsam genützter Freiheit ein Gemeinwesen aufbauten, sind das die erhabensten Momente gewesen. „Der Sinn von Politik ist Freiheit“, formulierte Hannah Arendt autoritativ. Und auch heute werden wir immer wieder Zeugen dieses Freiheitsdrangs, auch als Zuseher zieht uns das in seinen Sog. Die große Freiheitsparty am Tahrir-Platz, dem „Freiheitsplatz“ im Herzen Kairos, fegte gerade eine Despotie weg, wie zuvor schon in Tunesien das Regime durch einen Aufstand gestürzt wurde. Wir sind ergriffen von diesem Freiheitsfrühling, so wie wir es von den Umstürzen im Zeichen der Freiheit im Osten Europas 1989 waren. Wir sind gefesselt von all dem. Wir Bürger demokratischer, freiheitlicher Gemeinwesen des Westens beobachten das mit einer Bewunderung, die sich nicht alleine aus unserer Hochachtung vor Menschen erklärt, die mutig und oft unter Einsatz ihres Lebens für die Freiheit eintreten. In diese Bewunderung mischt sich oft auch ein bisschen Neid auf die Energie, die hier zum Ausdruck kommt und von der wir das instinktive Gefühl haben, uns wäre sie abhandengekommen. So in dem Sinn: mit der verwirklichung der freiheit schwinden die energien, die sie erst ermöglicht haben. Denn gewiss: Wir genießen alle Freiheiten. So viele Freiheiten: Meinungs- und Pressefreiheit sind verwirklicht, freiheitliche Verfassungen regeln das Funktionieren unserer Institutionen, die Ver-
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sammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Religionsfreiheit und natürlich die Wirtschaftsfreiheit. Sodass mit den vielen Freiheiten die Freiheit – die im Singular, die pathetische – irgendwie verloren gegangen scheint. Wir können es da mit dem Spötter Johann Nestroy halten, der in seiner Freiheit in Krähwinkel (1848) schrieb, dass die Freiheit und das Recht nur in der einfachen Zahl unendlich groß seien, weshalb man sie uns auch immer nur in der wertlosen vielfachen Zahl gegeben habe. Aber man kann natürlich auch ganz simpel formulieren: liebreizend ist die freiheit, solange sie einem vorenthalten wird. Hat man sie, weiß man nicht recht etwas anzufangen mit ihr. Beim Marsch durch die Ebene kriegt auch sie schwielige Füße.
Wirtschaftsfreiheit Als Parole ist Freiheit aus der Mode gekommen bei uns in den vergangenen dreißig Jahren. Natürlich, Datenschützer warnen vor ihren Bedrohungen, Wikileaks und andere Netzaktivisten kämpfen um Informationsfreiheit, aber so richtig gepackt werden wir von solchen Kämpfen nicht mehr. Schleichend hat der Slogan „Freiheit“ auch die Seite gewechselt. War sie früher eine Parole emanzipatorischer, meist linker Bewegungen, haben in den vergangenen dreißig Jahren vor allem die Neokonservativen und Neoliberalen die Freiheit vor sich hergetragen. Verengt auf den Begriff der Wirtschaftsfreiheit, der Freiheit des Bürgers, als Wirtschaftsbürger
agora42 • Robert Misik • DAS PATHOS DER FREIHEIT
unbehelligt von Regulierungen, Steuergesetzgebungen und Sozialversicherungsgesetzen am Markt agieren zu können – am „freien“ Markt. Unkomisch ist das nicht, war das Wort „Freiheit“ ja nie die zentrale Parole des Konservativismus, der ja „Ordnung“ favorisierte, was nicht selten das Gegenteil von Freiheit meinte. Man könnte deshalb mit Sarkasmus anmerken: der konservativismus hat erst die „freiheit“ auf seine fahne geschrieben, nachdem andere sie erkämpft hatten. Und auch heute steht die hohe Freiheitsrhetorik der Konservativen in einem seltsamen Missverhältnis zu dem moralisch-sittlichen Verbotsjargon, den sie stets und reflexartig anschlagen. So fordern Konservative, dass der Staat nicht in das Leben seiner Bürger eingreifen soll, was ja nur einen Sinn ergibt, wenn man der festen Überzeugung ist, dass niemand das Recht hat, über den Lebensstil eines Menschen zu urteilen; aber gerade Konservative nehmen sich natürlich sehr gerne dieses Recht heraus: Laisser-faire in lebenskulturellen Fragen ist ihre Sache keineswegs. Konservative lieben die doppelte moralische Buchführung. Sie wollen, wie Daniel Bell schrieb, „einerseits wirtschaftliche Freizügigkeit, andererseits Moralvorschriften“. Man hat die normalen, einfachen Leute so traktiert mit den Parolen von der „Eigenverantwortung des Einzelnen“ und von Reformen, die mehr Wirtschaftsfreiheit herbeiführen sollten, dass die schon zusammenzucken vor Angst, wenn jemand von Freiheit redet. Die fragen sich dann sofort: Was will mir der jetzt wieder wegnehmen? Will der mir meinen Lohn kürzen oder mir die Rentenerhöhung streichen?
Die Linken und die Freiheit Weil die Konservativen den Wert der Freiheit gekapert haben, haben die Progressiven ihn irgendwie vergessen. Sie haben deshalb eher auf Gerechtigkeit gesetzt oder Gleichheit. Man hat sich, etwas salopp gesprochen, die Begriffe geteilt: Die einen haben die Freiheit gekriegt, die anderen die Gerechtigkeit. Das ist schon deshalb
grotesk, weil ja die Linken (die Progressiven) historisch nicht nur jene Kraft waren, die für soziale Gerechtigkeit eingetreten ist, sondern immer auch für die mächtige Kraft der Freiheit. Viele Menschen haben sich leidenschaftlich für die Linke engagiert, weil sie gegen Unterdrückung, Diktatur und undemokratische Machenschaften aufgetreten ist. Das war vor 150 Jahren so, als die frühen Sozialisten in der Revolution von 1848 den Kampf für Freiheitsrechte wie Meinungs- und Pressefreiheit und demokratische Wahlen führten – ein Kampf, der damals noch von Kaiser- und Königtum niedergeschlagen wurde. Das war so, als die ersten Gewerkschaften das Recht der Arbeiter erkämpften, sich mit ihresgleichen zusammenzuschließen. Das war am Ende des Ersten Weltkriegs so, als in den meisten Ländern Europas die Monarchien stürzten und es oft die Anführer der sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien waren, die demokratische Republiken ausriefen, in denen das freie und gleiche Wahlrecht garantiert war. Das war in den dreißiger Jahren so, als es vor allem die progressiven Kräfte waren, die sich gegen den Aufstieg des Faschismus auflehnten und, wie etwa im Spanischen Bürgerkrieg, beherzt für die Freiheit kämpften. Das war in den sechziger Jahren in den USA so, als die Bürgerrechtsbewegung ihren Kampf gegen die rassistische Diskriminierung der Schwarzen führte. Aber dass sich die Linke um die Freiheit nicht mehr so recht kümmerten und sich primär der Gleichheit annahmen ist auch deshalb grotesk, weil die Gleichheit nicht der Antipode der Freiheit ist, sondern ihr Zwilling. Die viel beschworene „Optionen- und Risikogesellschaft“ bedeutet in der Realität: Optionen für die einen, Risiko für die anderen. „Freiheit“ unter den Bedingungen von grober Ungleichheit heißt Freiheit für die Begüterten, aber Optionenmangel für die Unterprivilegierten. dass eine egalitäre gesellschaft nur auf kosten der „freiheit“ zu haben ist, ist vielleicht die allergrösste lüge der neuen konservativen. Gleichheit heißt nämlich, dass alle die „Freiheit“ haben, aus ihrem Leben etwas zu machen. Und Ungleichheit hat freiheitseinschränkende Wirkungen für die Unbegüterten, weil
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„IM HERZEN BIN ICH ANARCHIST “ Inter v ie w mit Reinhold Messner
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Fotos: Wolfram Bernhardt
Reinhold Messner wurde am 17. September 1944 in Brixen (Italien) geboren. Bereits im Alter von fünf Jahren bestieg er in Begleitung seines Vaters den ersten Dreitausender. Hunderte von Klettertouren in den Alpen folgten, darunter viele Erst- und Alleinbegehungen. Nach der Schule, die er 1966 mit dem Abitur in Bozen abschloss, nahm er ein Studium des Hoch- und Tiefbaus in Padua auf. Neben seinen Bergtouren begann er, als Mathematiklehrer in der Mittelschule zu arbeiten. Bekannt wurde Messner der internationalen Öffentlichkeit vor allem durch seine Expeditionen in den Himalaja, wo er 1970 zusammen mit seinem Bruder Günther die Rupalwand des Nanga Parbat, die höchste Steilwand der Erde, erstmals durchstieg. 1971 verzichtete Messner auf seine Lehrerstelle, um sich ganz seinen Expeditionen und ihrer Vermarktung zu widmen. 1975 erfolgte die aufsehenerregende, weil ohne Zwischenlager (im Alpenstil) gelungene Besteigung des Hidden Peak zusammen mit Peter Habeler. Auf beide Bergsteiger richtete sich 1978 die Aufmerksamkeit einer weltweiten Öffentlichkeit, als sie am 8. Mai ohne Sauerstoffgerät den höchsten Berg der Erde, den Mount Everest, bestiegen. Wenige Monate später gelang Messner die erste Alleinbegehung eines Achttausenders – er krönte sein Solo auf den Nanga Parbat damit, dass er sowohl im Anstieg wie auch im Abstieg eine neue Route ging. 1980 folgte der Alleingang auf den Mount Everest. 1986 hatte Messner als erster Mensch die 14 höchsten Gipfel der Erde bestiegen – ohne die Zuhilfenahme von Sauerstoffflaschen. Außerdem erreichte er als zweiter Mensch die „Seven Summits“, das heißt die jeweils höchsten Berge der sieben Kontinente. 1989/90 durchquerte er mit Arved Fuchs in 92 Tagen zu Fuß die Antarktis. 1993 gelang ihm die Längsdurchquerung Grönlands zu Fuß. Von 1999 bis 2004 war Reinhold Messner für die Grünen im Europäischen Parlament aktiv. Ab 2003 entwickelte er das Projekt eines Bergmuseums; 2006 eröffnete er dann das Messner Mountain Museum (MMM), das aus fünf verschiedenen und untereinander vernetzten Standorten besteht.
Herr Messner, wie definieren Sie Freiheit? Für mich persönlich ist Freiheit die Möglichkeit, mich nach meinen Vorstellungen entfalten zu können. Aber ich möchte gleich ergänzen: nur in dem Maße, wie ich dabei die Entfaltung der anderen nicht störe. Ich bin im Herzen ein Anarchist, das sage ich ganz offen, und zwar in der klassischen Definition des Anarchismus: keine Macht für niemand! Niemand soll mich von oben herab regieren, genauso wenig wie ich jemanden von oben herab dirigieren will. Wenn ich diesen Freiraum habe, heißt das natürlich auch, dass ich voll verantwortlich bin für mein Tun. Als „alpiner Anarchist“ haben Sie nicht nur die Grenzen des bis dato für möglich Gehaltenen, sondern auch jene der Toleranz Ihrer Zeitgenossen oftmals überschritten: Beispielsweise sind Sie ob Ihres Vorhabens, den Mount Everest ohne künstlichen Sauerstoff zu besteigen, öffentlich als Selbstmörder, Größenwahnsinniger und Spinner beschimpft worden … Ich habe versucht, an der Grenze meiner persönlichen Möglichkeiten entlangzugehen. Mir ging es um die Frage: Komme ich um – wenn ich einen Fehler mache – oder habe ich
agora42 • Interview mit Reinhold Messner
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ÂťDer Einzelne kann sich Besessenheit leisten, der Staat nicht.ÂŤ
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agora42 • Interview mit Reinhold Messner
die einen Blick auf das große Ganze des Staats und einen Einblick in die Menschennatur haben. Ich möchte unsere besten Köpfe an der Regierung sehen. Politiker sollten möglichst frei von Zwängen sein. Und eigenverantwortlich entscheiden. Sie finden sicherlich bessere Lösungen als Parteien mit ihrem Fraktionszwang. Also eine direkte Wahl von Volksvertretern? Direktwahl von Volksvertretern. Ich habe nichts dagegen, wenn solche Persönlichkeiten von Fall zu Fall Koalitionen bilden. Das war eine positive Erfahrung aus meiner Zeit im EU-Parlament: Es gab keine Mehrheit a priori; stattdessen mussten sich die Gruppierungen bei jedem Thema aufs Neue Mehrheiten basteln – und dann wurde abgestimmt. Problematisch ist jedoch, dass es auf EU-Ebene keine richtige Regierung gibt; und als ich dort war, hatte das Parlament nicht viel zu sagen. Um das umzusetzen, was Sie skizzieren, bräuchten wir in Deutschland eine Zweidrittelmehrheit im Parlament – und das ist eher unwahrscheinlich … Ich denke, wir haben alle ein Interesse an einer neuen Form von Demokratie. Und warum sollte nicht Deutschland Vorreiter spielen in einem Versuch, eine effizientere Demokratieform zu finden. Warum es nicht einfach ausprobieren: Weniger Staat wagen! Deutschland wurde die heutige Demokratie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gewissermaßen geschenkt. Ist es da nicht wahrscheinlicher, dass ein neuer Gesellschaftsentwurf aus einem der Länder kommt, die sich die Demokratie erkämpft haben – Frankreich, die USA? Ich war kürzlich wieder in den USA und habe mir einmal mehr geschworen, nicht mehr dorthin zu reisen. Dieses Land ist so unfrei und so respektlos Fremden gegenüber – chaotisch im negativen Sinne dazu. Es funktioniert nichts, die Infrastruktur ist kaputt. Amerika geht dem Untergang entgegen: Es lebt nur noch auf Schulden. Dazu kann ich nur sagen: „They can’t“. Obama ist ein Idealist, aber seine Probleme sind zu groß für ein nachhaltiges Amerika. Oder zu vielfältig. Fehlt es – nicht nur in den USA – an eindeutigen Zielen, die über die Partikularinteressen hinausweisen und auf die man sich fokussieren kann? Von Ihren großen Zielen – ich denke da an den Alleingang auf den Mount Everest – waren Sie ja regelrecht besessen … Ohne Besessenheit fängt man ein Projekt wie Everest solo gar nicht an. Der Einzelne kann sich Besessenheit leisten, der Staat nicht. Die EU aber darf nicht Partikularinteressen untergeordnet werden.
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Jör n S c h ü t r u m p f
R O S A L U X E M B UR G – »FREIHEIT IST IMMER F R E I H E I T DE R A NDE R SDE N K E NDE N « Por t ra i t
Großen Teilen des deutschen Kleinbürgertums fiel im Januar 1919, als die Ermordung Rosa Luxemburgs bekannt wurde, ein Stein vom Herzen. Der Schriftsteller Max Hochdorf erinnerte sich noch zehn Jahre später: „Und die Erwachsenen … sprachen es mit Genugtuung aus, dass die Nemesis, die unerbittliche Rächerin aller Menschenschuld, Rosa Luxemburg hochgerecht gestraft habe … Ein solches Leben durfte nur durch solchen Tod beschlossen werden.“ Rosa Luxemburg vereinigte so ziemlich alles in sich, was in der deutschen Mehrheitsgesellschaft Mordlust erzeugte: Sie war nicht nur eine Frau, sie war obendrein klug und selbstbewusst. Sie war nicht nur Polin, sie war obendrein Jüdin. Sie sprach nicht nur mehrere Sprachen – Polnisch, Deutsch, Russisch, Französisch, Italienisch, Englisch –, sie war obendrein hochgebildet und in jeder Hinsicht hochkultiviert. Viele ihrer Freunde waren Sozialisten, und sie selbst war zu allem Überfluss auch noch der Kopf der radikalen Linken in Deutschland und in Polen. Mit 27 Jahren reiste Rosa Luxemburg in der Nacht vom 12. zum 13. März 1898 in das Land ihrer Mörder ein – mit dem Zug von Zürich nach München. An der Grenze konnte sich die Frau mit dem harten Akzent – klein im Wuchs, groß in der Ausstrahlung – als preußische Staatsbürgerin und damit als deutsche Staatsangehörige ausweisen. Ihre Papiere hatte sie durch eine Schein-
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ehe erlangt; ihre Hotelmeldezettel pflegte sie mit „Frau Gustav Lübeck“ zu unterzeichnen. Geboren am 5. März 1871 als fünftes Kind einer assimilierten ostjüdischen Familie aus Zamość in Russisch-Polen, war sie in Warschau aufgewachsen und hatte an der Universität Zürich studiert und promoviert. Sie war nach Deutschland gekommen, um in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands jene politische Heimat zu finden, die ihr zu Hause in Polen verweigert war; dort stand sie auf den Fahndungslisten. Diese deutsche Sozialdemokratie war angetreten, für die Emanzipation von allen Verhältnissen zu kämpfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes, verlassenes, verächtliches Wesen sei, und an ihre Stelle Verhältnisse zu setzen, in denen die Bedürfnisse nicht weiter der profitorientierten Produktion unterworfen seien, sondern die Produktion auf die Bedürfnisbefriedigung zurückgeführt werde. Doch schon nach wenigen Jahren (und einem wahrlich nicht ohne Genuss gelebten Honeymoon) starb ihre Beziehung zur Partei August Bebels und Wilhelm Liebknechts, der damals bedeutendsten sozialistischen Vereinigung der Welt, einen langsamen, aber unausweichlichen Tod. Die „Beerdigung“ fand an jenem Tag statt, an dem die SPD-Reichstagsfraktion – entgegen ihrem bis dato vertretenen Standpunkt – die Kriegskredite für den Ersten Weltkrieg bewilligte. Man schrieb den 4. August 1914.
agora42 • Portrait • ROSA LUXEMBURG – FREIHEIT IST IMMER FREIHEIT DER ANDERSDENKENDEN
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