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Ausgabe 02/2016 | Deutschland 9,80 EUR Ă–sterreich 9,80 EUR | Schweiz 13,90 CHF
A G O R A
INHALT
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—3 EDITORIAL —4 INHALT
TERRAIN Hier werden Begriffe, Theorien und Phänomene vorgestellt, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.
— 08 DIE AUTOREN — 09 Helmut Willke
Zur Relevanz der Systemtheorie von Niklas Luhmann — 15 Hans Werner Ingensiep — 94 MARKTPLATZ
Die Werkstattgespräche Berlin – Reaktion als Lösung?
— 98 IMPRESSUM
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Leben mit System? – Der Systembegriff in der Biologie — 20 Louis Klein
Systeme? Welche Systeme? – Der blinde Fleck der Aufklärung
— 25 Frank Augustin
Chaos und Kapitalismus
— 31 Reinhard Loske
Energiesystem und Ökosystem – Energieintelligenz als Schlüssel zur Nachhaltigkeit — 36 PORTRAIT
Gestatten: Systemtheorie – Oder: Vom Kommen und Gehen des Steuermanns (von Till Jansen) — 46 EXTRABLATT
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Inhalt
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INTERVIEW
HORIZONT Auf zu neuen Ufern! Wie lässt sich eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen herbeiführen?
— 64 Martin Kornberger
Keine Aufregung. Der Widerspruch hat System — 48 Wir sind Europa
Interview mit Ulrike Guérot
— 72 Lia Polotzek
Schwarmintelligenz – Vorbotin einer hierarchiefreien Welt? — 76 Markus Turber
Digitale Transformation – Oder: Der Abschied vom Standard
— 80 VERANTWORTUNG UNTERNEHMEN
Abenteuer Unternehmertum. Ein Gespräch mit Wolfgang Heck (Teil 2) LAND IN SICHT — 88
engagée – Politischphilosophische Einmischungen — 90
Die BioBoden Genossenschaft – Den Teufelskreis durchbrechen — 92 GEDANKENSPIELE
von Kai Jannek
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DIE AUTOREN
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Hans Werner Ingensiep
Louis Klein
ist Soziologe und lehrt als Professor für Global Governance an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Zuletzt von ihm erschienen: Demokratie in Zeiten der Konfusion (Suhrkamp Verlag, 2014).
ist Professor für Philosophie und Wissenschaftsgeschichte in den Biowissenschaften am Institut für Philosophie der Universität Duisburg-Essen. Zuletzt von ihm erschienen: Der kultivierte Affe (S. Hirzel Verlag, 2013).
ist Geschäftsführer der Systemic Projects GmbH, Vorstand der Systemic Excellence Group e. G., Gastgeber des Interdisziplinären Salons in Berlin und Mitherausgeber der agora42.
— Seite 9
— Seite 15
© Foto: Bernhard Kahrmann
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Helmut Willke
Frank Augustin
Reinhard Loske
ist Chefredakteur des Magazins agora42.
ist Professor für Nachhaltigkeit und Transformationsdynamik an der Universität Witten/ Herdecke und Senior Associate Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin. Zuvor war er unter anderem Umwelt- und Europasenator in Bremen und Mitglied des Deutschen Bundestages. Gerade ist sein neues Buch Politik der Zukunftsfähigkeit. Konturen einer Nachhaltigkeitswende erschienen (S. Fischer Verlag, 2016)
— Seite 25
— Seite 31 8
— Seite 20
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Zur Relevanz der Systemtheorie von Niklas Luhmann — Text: Helmut Willke
Niklas Luhmanns soziologische Systemtheorie hat sich inzwischen von einer esoterischen Theorie für Fachleute zu einem Denkansatz entwickelt, der ganz selbstverständlich für unterschiedlichste Felder von Praxis genutzt wird – von der systemischen Familientherapie über systemische Beratung bis zu Konzeptionen des systemischen Managements. Die Frage, die in diesem kurzen Essay beantwortet werden soll, lautet: Was sind die Kernpunkte der Systemtheorie Luhmanns und welchen Beitrag kann die Systemtheorie für einen adäquaten und reflektierten Umgang mit komplexen dynamischen Systemen leisten? 9
Helmut Willke
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auf welche das System reagiert. Es reagiert wohlgemerkt in seiner eigenen Logik, aber es reagiert auf neue Kontextbedingungen, und es reagiert umso deutlicher, je wichtiger diese Kontextbedingungen im Lichte der Operationslogik des Systems erscheinen. Die Kunst von Management oder Beratung besteht in systemtheoretischer Sicht demnach darin, ein möglichst adäquates Modell des Systems und seiner Operationslogik zu entwickeln und auf dieser Basis solche Kontextfaktoren zu beeinflussen, auf welche das System, etwa ein Unternehmen oder eine andere Art von Organisation, reagiert. Eine der wichtigsten Unterscheidungen in Luhmanns Systemtheorie ist diejenige zwischen trivialen Systemen und nicht-trivialen Systemen. Während Trivialsysteme sich nach einer einfachen Input-OutputSchematik steuern lassen und diese Steuerung zielsicher ist, weil einem bestimmten Input immer ein bestimmter Output folgt, gilt dies für nicht-triviale, also komplexe Systeme gerade nicht. Luhmann verwendet große Mühe darauf, plausibel zu machen, dass soziale Systeme (ebenso wie etwa psychische Systeme) im Laufe ihrer Entwicklung eine eigene interne Komplexität aufbauen, sich von ihrer Umwelt weitgehend abschließen (dies wird im Begriff der Autonomie erfasst) und dann nur noch selektiv und spezifisch mit ihren jeweiligen Umwelten verkoppelt sind. Diese Eigenkomplexität zeigt sich in den Formen einer eigenen Sprache, eigener Rationalitätskriterien und einer eigenen Systemlogik, die mit der Geschichte und den Zielen des Systems zusammenhängen. Eine Intervention von außen – etwa in Form von Management, Beratung oder Coaching – trifft daher auf ein komplexes „Eigenleben“ der Organisation; sie wird in der Logik dieses Eigenlebens aufgenommen, verarbeitet und umgeformt, bis sie in die Ordinaten der Organisation hineinpasst. Kein Wunder also, dass Führungskräfte oder Berater in der Regel darüber staunen müssen, was ihre Interventionen bewirken und was sie auslösen. Zugleich gilt aber (um beim Beispiel Management zu bleiben; Analoges gilt für alle professionellen Aktivitäten), dass es durchaus Qualitätsunterschiede und Grade der Professionalität gibt, die zentral damit zusammenhängen, über welche Erfahrungen im Umgang mit komplexen
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Systemen eine Person verfügt, und welche Konzepte, Methoden und Instrumente ihr zur Verfügung stehen, um die Operationsdynamik eines Systems möglichst brauchbar und valide abzubilden. Was bringt’s?
Was also bringt es, in den Kategorien der Systemtheorie von Niklas Luhmann über Gesellschaft, Wirtschaft und Management nachzudenken? Die Antwort lautet: Erst durch ein solches Denken ist man überhaupt in der Lage, mit den fundamentalen Herausforderungen von Globalisierung und Wissensgesellschaft umgehen zu können. Die Systemtheorie stellt die Konzeptionen, Kategorien, Anregungen und Aufforderungen zur Verfügung, die man als Führungskraft, Manager, Berater oder in einer sonstigen professionellen Rolle benötigt, um hoher organisierter Komplexität gewachsen zu sein – und sich entsprechend durch Intransparenz und Ungewissheiten nicht entmutigen und schon gar nicht zu Trivialisierungen hinreißen zu lassen. Die Systemtheorie gibt ein Instrumentarium für eine Professionalisierung im Umgang mit hochkomplexen Systemen an die Hand und ermöglicht es insofern, der Komplexität sozialer Systeme auf Augenhöhe zu begegnen. ■
Vom Autor empfohlen: SACH-/FACHBUCH
Karl Weick: Sensemaking in Organizations (Sage Publications, 1995) Paul Watzlawick: Die erfundene Wirklichkeit (Piper Verlag, 2. Auflage, 1985) ROMAN
Franz Kafka: Der Prozess (1925) FILM
Der Perlmuttknopf von Patricio Guzmán (2015)
Die Systemtheorie gibt ein Instrumentarium für eine Professionalisierung im Umgang mit hochkomplexen Systemen an die Hand.
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Leben mit System? T E R R A I N
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Der Systembegriff in der Biologie
Text: Hans Werner Ingensiep
In den Medien wimmelt es nur so von Systemen: Man spricht vom „Ökosystem“, das aus dem Gleichgewicht geraten sei, in medizinischen Kontexten von der Zelle oder dem Genom als „System“, man reklamiert die Systemtheorie in der Evolution oder redet von Selbstorganisation und chaotischen Systemen. Aber nicht nur in den Medien, auch und vor allem in der Biologie ist der Systembegriff beliebt: in Form des Biosystems. So häufig dieser Begriff genutzt wird, so selten ist man sich über seine Bedeutung im Klaren. Was hat es also auf sich mit den Biosystemen?
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Systeme? Welche Systeme? —
Der blinde Fleck der Aufklärung
Text: Louis Klein
Das Unbehagen ist allerorten. Das Unbehagen ist groß, sehr groß sogar. Es ist ein Unbehagen im Jetzt, ein Unbehagen im System, ein Unbehagen in der eigenen Haut. Das Unbehagen artikuliert sich. „Empört euch!“, ruft Stéphane Hessel, und die OccupyBewegung versteht sich als Sprachrohr nicht nur einer jungen Generation. Das Unbehagen fordert auf zum Ausstieg aus dem System. Damit rückt etwas in den Blick, was die Aufklärung übersah. Nun ist es an der Zeit, über Systeme aufzuklären. 20
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Systeme? Welche Systeme?
POSITIVISMUS Positivismus ist eine vor allem von Auguste Comte (1798–1857) begründete philosophische Richtung, wonach alles Erkennen vom „positiv“ Gegebenen, also von der sinnlichen Erfahrung, auszugehen hat. Alles, was nicht beob-
Systemizität
Das System ist der blinde Fleck der Aufklärung. Doch was wurde von ihr übersehen? Emergenz! Emergenz bedeutet, dass ein System nicht einfach nur die Summe seiner Teile ist, sondern dass aus dem Zusammenspiel der Teile etwas entsteht, das größer ist als ihre Summe, etwas, das in Art und Umfang nicht herzuleiten ist aus dem je individuellen Beitrag. Emergenz schafft Kontext. Systemizität ist in erster Linie Kontextkreation. Systemizität beschreibt die Kreation, das Werden, das sich Verfestigen eines Kontexts ebenso wie seine Kreationsleistung, wie die Macht eines Kontexts, Dinge hervorzubringen. Das emergierende Ganze, das System, wenn man so will, wirkt in seiner Existenz limitierend und regulierend auf das zurück, woraus es entstanden ist. Niklas Luhmann beschreibt dies für soziale Systeme – für Interaktionen, Organisationen und Gesellschaften – und bezeichnet dieses generative Wechselspiel als Autopoesis. Das soziale System erzeugt die Elemente, aus denen es besteht, mittels zirkulärer Emergenz wieder und wieder neu. Das kann man dann als nachhaltige Selbstorganisation beschreiben. Trauen darf man ihr nicht. Pathologien sind möglich. Adam Smiths unsichtbare Hand ist nicht unser Freund. Emergenz ist jenseits von Gut und Böse. Schauen wir auf ein Beispiel, schauen wir auf den Kapitalismus. Der Kapitalismus ist das Ergebnis eines Wechselspiels zwischen Praxis und Regelsystem. Die Händler und Kaufleute erfinden den Wechsel, rehabilitieren Zins und Zinseszins und gründen Kompanien als Investitionsgemeinschaften. Sie erfinden die doppelte Buchhaltung und verfestigen ihre Geschäftspraxis in Regelsystemen. Die englischen Fabrikanten systematisieren die Arbeitsteilung, bringen die Arbeit selbst in Warenform und entdecken die Freuden der Skalierung. Die USamerikanischen Banker „hebeln“ Eigenkapital und ersinnen Finanzmarktprodukte, futures, options, swaps, in denen Wetten
Experimente erfassbar ist, wird als unwissenschaftlich abgelehnt. Inwiefern allerdings die Beobachtung selbst in einen persönlichen oder gesellschaftlichen Bedeutungskontext eingebettet und insofern subjektiv eingefärbt ist, wird nicht hinterfragt.
UNSICHTBARE HAND Mit der Metapher „unsichtbare Hand“, die auf den englischen Nationalökonomen Adam Smith (1723–1790) zurückgeht, wird die Annahme bezeichnet, dass die Wirtschaft sich über Angebot und Nachfrage selbst steuert.
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s gibt kein richtiges Leben im falschen“, schrieb Theodor W. Adorno 1951 in seiner Minima Moralia. Adorno ist aktuell. Er verweigert das kleine Glück und richtet den kritischen Blick auf das System. Damals wie heute stellt sich die Systemfrage. Statt Francis Fukuyamas Ende der Geschichte zu erleben, zweifeln und verzweifeln wir an dem, was uns umgibt – Kapitalismus, Konsumismus, Demokratismus – und hoffen bang, dass das nicht das Ende ist. Die moderne Gesellschaft ist ein Missverständnis. Gegründet auf Rationalität und erwachsen aus dem Geist der Aufklärung, schafft sie Systeme und Wirklichkeiten so herrlich und so grauenvoll, dass es schwerfällt, in alldem gemeinsame Wurzeln zu erblicken. Die kritische Theorie der Frankfurter Schule hatte da ein gutes Gespür. Sie misstraute der Aufklärung und der Rationalität. Die Kritik galt den Denksystemen und ihren Folgen. In ihrem Werk Dialektik der Aufklärung beschreiben Horkheimer und Adorno die Sackgasse des Positivismus. Sie beschreiben, wie sich eine naive Rationalitätsgläubigkeit in sich selbst verheddert und statt einer schönen neuen Welt Monströses hervorbringt. Sie beschreiben, wie es die Aufklärung versäumt, sich selbst zum Gegenstand des eigenen aufklärerischen Blickes zu machen und sich quasi unbeobachtet in den selbst erschaffenen Labyrinthen der Rationalität verläuft. Die Moderne schafft Kontexte, die uns beherrschen und Unfassbares ermöglichen. Ein globaler Waren- und Finanzverkehr, weltumspannende Produktions-, Lieferund Konsumtionsverbünde mehren den materiellen Wohlstand der Nationen. Der Marktplatz, die Fabrik und die Börse sind die heiligen Orte der Wohlstandsmehrung. Sie sind aber auch die Orte, an denen Menschen als Sklaven zu Waren werden, Mord im industriellen Maßstab zum Genozid skaliert und ein Vielfaches der globalen Arbeitsleistung in den Wettbüros des KasinoKapitalismus vernichtet wird.
achtbar und durch wissenschaftliche
Demnach ist das Marktgeschehen eine ordnende und regulierende Kraft, die den Einzelnen dazu bringt, seine wirtschaftlichen Interessen mit dem Ziel bestmöglicher Bedürfnisbefriedigung zu verfolgen, und die gleichzeitig dazu führt, dass die bestmögliche Güterversorgung für die Gesellschaft garantiert wird.
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Louis Klein
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Vom Autor empfohlen: SACH-/FACHBUCH
Theodor W. Adorno: Negative Dialektik (Suhrkamp Verlag, 1966). Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (Suhrkamp Verlag, 1984) Niall Ferguson: Civilization: The Six Killer Apps of Western Power (Penguin, 2012)
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werden; und drittens gibt es zu jeder beliebigen Beobachtungsperspektive weitere alternative Perspektiven. Das ist ein guter Weg, um beschränkte Denkweisen aufzubrechen. Ob allerdings aus einem thinking out of the box, einem Denken also, das seine eigenen Voraussetzungen hinter sich lässt, ein thinking without a box, ein Denken ganz ohne Voraussetzungen werden kann, ist zu bezweifeln. So weit muss man auch nicht gehen; die Reflexion der Denkvoraussetzungen ist selbst der entscheidende Schritt, um aus erstarrten Denkmustern herauszufinden. Vor diesem Hintergrund gelesen, erhalten die leicht angestaubten Schlagworte der Multidisziplinarität, Interdisziplinarität und Transdisziplinarität einen neuen Glanz. Das pragmatische Brot-und-ButterGeschäft systemischer Kritik ist die Folgenabschätzung. Hat sich ein System erst einmal etabliert und stabilisiert, so lässt es sich als Akteur begreifen, dessen Aktivitäten sich als Handlungen mit entsprechenden Handlungsfolgen beobachten lassen. Hinsichtlich der Beobachtung sozialer Systeme ließe sich begrifflich eine Krücke dahingehend basteln, dass man statt von Technikfolgenabschätzung von Sozialtechnologienfolgenabschätzung sprechen könnte – oder besser noch von Sozialdesignfolgenabschätzung. Es würden sich dann die Fragen stellen, ob man das, was ein System in die Welt bringt, gutheißen mag und zweitens, wie man es ändern könnte, wenn man das denn wollte. Man könnte frei nach dem Physiker Heinz von Förster fragen, was für Menschen wir aus uns machen, wenn wir unsere Kontexte so gestalten, wie wir das tun. Es käme damit wieder eine Verantwortlichkeit in den Blick, die nicht nach den Intentionen und Handlungen des Individuums fragt, sondern klug den Einfluss des Systems auf bestimmte Ent24
scheidungen und Handlungen in den Blick nimmt. So könnten die sensiblen Punkte des Systems ausgemacht werden, um dort zu intervenieren, wo die Regelsysteme tatsächlich gestaltbar sind. Was tun?
„Die meisten Probleme entstehen aus Dingen, die nicht zu Ende gedacht wurden“, soll Dwight D. Eisenhower gesagt haben. Profunder und implizit systemisch wird es von Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung und der Negativen Dialektik beschrieben: Die Aufklärung ist nie zu Ende gedacht worden, ihre Rezeption ist verkürzt und es ist ihr nie gelungen, sich selbst zum Gegenstand zu machen, sich selbst über sich selbst aufzuklären. Es läge nahe, die Dinge einmal zu Ende zu denken. Entweder ist man Teil der Lösung oder Teil des Problems. Dieses vermeintliche Bonmot des RAF-Terroristen Holger Meins ist systemisch betrachtet nicht wirklich haltbar. Systeme sind unausweichlich, die Teilhabe ist das Verbindende. Die Unterscheidung zwischen Lösung und Problem führt nicht weiter. Und dennoch sind Optionen vorhanden. Welche das sein könnten, beantwortet das Orakel von Delphi prozessual. „Gnothi seauton“, lautet die vielzitierte Inschrift über dem Eingang der Apollotempel: Erkenne dich selbst, beobachte dich selbst, nimm dich in den Blick. Der Fokus jedoch sollte nicht auf das Individuum beschränkt bleiben. Kollektive, überindividuelle Selbstvergewisserung ist möglich. Es ließe sich das System einblenden und das Individuum entlasten. Die unsichtbare Hand würde in ihrem Tun und Wirken sichtbar und ließe sich zur Verantwortung ziehen. Durch die Aufklärung der Aufklärung wäre es möglich, der unsichtbaren Hand auf die Finger zu klopfen. ■
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Chaos und Kapitalismus —
Text: Frank Augustin
Kapitalismus gibt es nur ganz oder gar nicht. Er ist viel mehr als ein Wirtschaftssystem – er ist ein Metasystem. Und als solches bildet er nicht nur die Grundlage des Wirtschaftens, sondern unseres gesamten Daseins. Das sollte einem klar sein, denn das Metasystem Kapitalismus ist dabei zusammenzubrechen. 25
Frank Augustin
Ratgeberliteratur. Wir sehen uns – und zwar zu Recht – nicht in der Lage, etwas Sinnvolles zu tun, weil es „uns“ tatsächlich immer weniger gibt. Halten wir also fest: Der Kapitalismus umfasst als Metasystem alles und deshalb stürzt er – als Geldismus – auch alles ins Chaos. Ins Neue
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In Anlehnung an Friedrich Nietzsche könnte man sagen: Der Kapitalismus ist tot. Und weiter: Wir haben noch gar nicht begriffen, was das bedeutet. Wir haben noch nicht begriffen, dass ein Metasystem für unser Dasein so wichtig ist wie Schlafen, Essen und Trinken, dass es eine existenzielle Bedingung unseres Daseins darstellt. Es geht nicht bloß um die Neugestaltung der Wirtschaft oder des Bankenwesens, es geht nicht nur um Stress oder Burn-out, es geht um alles. Wie auch immer: Die Widersprüche im Großen wie im Kleinen werden zunehmen. Alles, woran wir uns gerade noch festhalten, wird selbst in Bewegung geraten, inklusive des eigenen Selbst. Das wird dramatische Folgen haben. Denn einerseits müssen wir uns vom Metasystem Kapitalismus verabschieden, weil es durch seine Implosion alles Bestehende (alles, was ist – siehe „Subjekt“) zerstört. Andererseits gibt es noch kein neues Metasystem, in das wir uns hinüberretten können. Man kann sich ein solches noch nicht einmal vorstellen – im Chaos ist eben kein fester Standpunkt zu finden. Jeglicher „vernünftiger“ Rettungsversuch ist zum Scheitern verurteilt, weil es in einem implodierenden Metasystem nichts Vernünftiges gibt. Es wird uns nichts anderes übrigbleiben, als zu akzeptieren: Alles ist verloren; wir haben keine Chance, dem Chaos zu entrinnen.
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Wo aber Chaos ist, wächst das Subjektive auch. Mit anderen Worten: Wo die ganze Ordnung zur Disposition steht und nicht nur Einzelheiten innerhalb der Ordnung geregelt werden müssen, erweitert sich auch der potenzielle Spielraum der subjektiven, Ordnung schaffenden Macht dramatisch. Menschen, die bereit sind, den subjektiven Auftrag, der ihr Wesen ausmacht, ganz und gar anzunehmen, können epochale Veränderungen bewirken. Sie müssen bereit sein, auf alles zu verzichten, was sie im alten Metasystem hält, auf ihre Gewohnheiten, Wünsche und Träume, auf das, was sie glauben zu sein; sie müssen zum Nullpunkt der Subjektivität vorstoßen, um von dort aus neu zu beginnen. Nur so kann es ihnen gelingen, eine Trennlinie zwischen Alt und Neu zu ziehen, nur dann können sie als Stellvertreter für ein subjektives Ereignis fungieren, das eine neue Ordnung schafft. Jede Wette: Es gibt diese Menschen schon! Ihr öffentliches Auftreten wird dem Kapitalismus, der noch wie ein Zombie, wie ein lebender Toter, umherirrt, endgültig den Todesstoß versetzen. In der Folge wird man sich – selbstgerecht, ohne Frage – mit Schaudern von seiner Leiche abwenden und bald schon verständnislos auf ihn zurückblicken. Man wird zurückblicken, frisch verzaubert von einem neuen Metasystem, das keine anderen Götter neben sich duldet. ■
Vom Autor empfohlen: SACH-/FACHBUCH
G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Das Maß der Dinge. Leider schwer zu lesen und noch schwerer zu verstehen. Subjektivität ist ganz schön verrückt. Slavoj Žižek: Weniger als nichts (Suhrkamp Verlag, 2014). Auch universal, aber ganz anders; mit Hegel von Hegel herunter- und weiterkommen. FILM
Fight Club von David Fincher (1999). Vom Ich zum Subjekt.
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Energiesystem und Ökosystem —
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Energieintelligenz als Schlüssel zur Nachhaltigkeit
Text: Reinhard Loske
Anfang und Ende des Industriezeitalters sind mit dem massenhaften Einsatz von Kohle, Erdöl und Erdgas so eng verbunden wie das Leben mit Geburt und Tod. Mit der Erschließung und Verbrennung der fossilen Energieträger hat die moderne Menschheit vor nun fast zwei Jahrhunderten ihren energetischen Grundmodus fundamental verändert. Statt wie bis dahin vom stetigen Einkommensfluss der Natur zu leben, von Pflanzenwachstum, Wind- und Wasserkraft, haben die Industriegesellschaften auf den Verzehr des gespeicherten Naturkapitals umgestellt. 31
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Der hier abgebildete OPSROOM wurde 1972 nach dem Vorbild militärischer Einsatzzentralen von Gui Bonsiepe entworfen. In diesem futuristischen Kontrollraum sollten groĂ&#x;e Datenmengen zusammengefasst und visualisiert werden, um die Steuerung der chilenischen Wirtschaft zu erleichtern. Lesen Sie mehr dazu auf Seite 41.
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Portrait
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Gestatten: Systemtheorie —
Oder: Vom Kommen und Gehen des Steuermanns Text: Till Jansen
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Portrait
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Gregory Bateson: Das Muster, das die Muster verbindet
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Eine der schillerndsten und vielseitigsten Figuren der Systemtheorie ist ohne Zweifel der Anthropologe Gregory Bateson. Geboren 1904 in England, befasste er sich in seiner Anfangszeit mit ethnographischen Forschungen in Neu Guinea und Bali, die er gemeinsam mit seiner ersten Frau Margret Mead betrieb. Hier entwickelte er unter anderem die Theorie der Schismogenese, in der er zwei zentrale Muster sozialer Beziehungen beschrieb. Symmetrische Beziehungen sind laut Bateson solche, in denen beide Seiten spiegelbildliches Verhalten zeigen und es so zur Konkurrenz kommt. In komplementären Beziehungen hingegen ordnet sich eine Seite der anderen unter. In beiden Fällen ergeben sich stabile Beziehungsmuster, in denen das Verhalten der einen Seite das Verhalten der anderen Seite bedingt (wobei Symmetrie meist Konkurrenz oder Konflikt bedeutet). Aufbauend auf diesen frühen Arbeiten wendete sich Bateson später der Psychiatrie zu, die er ebenfalls mittels des Motivs rekursiver, sich selbst verstärkender Beziehungsmuster interpretierte. So entwickelte er etwa mit der Theorie des double-bind eine Hypothese über die Genese von Schizophrenie. Ein double-bind, so Bateson, entstehe immer dann, wenn in einer Beziehung Ebenen der Kommunikation auseinanderfallen. So kann eine Mutter ihr Kind etwa verbal loben, nonverbal jedoch Ablehnung signalisieren. Die konkrete empirische Arbeit seiner frühen Jahre wich einem ganzheitlichen, ökologischen Denken in seiner Spätphase. Mensch und Natur wurden von ihm als Vielheit von Mustern beschrieben, wobei diese Muster ihrerseits von Mustern verbunden werden. Diese Muster lassen sich nicht steuern und klare Lösungen sind in den komplexen Interaktionen nicht auszumachen. Mit einem Plädoyer für ein demütiges Verhalten des Menschen gegenüber der Natur wurde Bateson so zu einer der zentralen Figuren der Umweltbewegung. Batesons Denken ist wesentlich von einem Spiel zwischen, wie er es nennt, lockerem und strengem Denken charakterisiert. Es changiert zwischen exakter empirischer Analyse und oftmals assoziativer, beinahe literarischer Arbeit. So nehmen etwa spielerische (imaginäre) Dialoge mit seiner Tochter, sogenannte Metaloge, große Teile seines Buches Ökologie des Geistes ein. Unter Titeln wie Warum fuchteln die Franzosen? behandelt er anthropologische Fragen.
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Gestatten: Systemtheorie
KONSTRUKTIVISMUS
Humberto Maturana und Francisco Varela: Die Selbsterschaffung des Lebens
Was ist Leben? – Sich nicht damit zufrieden gebend, dass Leben über ein bloßes Aufzählen der Eigenschaften lebender Wesen definiert wird, entwickelten die Biologen Maturana (geb. 1928) und Varela (1946–2001) die Theorie der Autopoiesis (Selbstproduktion) lebender Systeme. Leben, so ihre Theorie, ist weniger eine bestimmte Eigenschaft, etwa die Möglichkeit zur Selbstbewegung, sondern vielmehr ein Prozess, mit dem sich Zellen wie auch höher aggregierte Lebensformen selbst organisieren. Ein lebendes Wesen zeichnet sich dadurch aus, dass es seine Bestandteile selbst herstellt. Leben ist demzufolge der Prozess der Reproduktion als solcher – die Autopoiesis. Dies betrifft sowohl einzelne Zellen, wie auch Metaorganismen (etwa Tiere und Menschen), in denen autopoietische Zellen zu einer höheren Form aggregiert werden, die wiederum als autopoietisch zu betrachten ist. Maturana und Varela waren damit in der Lage, erstmals eine präzise Definition von Leben zu geben. Diese Definition hatte auch erkenntnistheoretische Konsequenzen. Denn wenn Leben Autopoiesis bedeutet, dann ist das, was in einem lebenden Wesen geschieht, nur Resultat seiner eigenen Operationen – und das betrifft auch den Umweltkontakt, den ein System haben kann. In der Folge ist das Bild, das ein System – etwa die menschliche Kognition – von seiner Umwelt hat, ein reines Produkt dieses Systems selbst. Dieser Gedanke, der schon in Kant einen Vorläufer hat, macht die beiden Biologen zu zentralen Protagonisten des Konstruktivismus. Mit dem Begriff der Autopoiesis liefern sie zudem ein für die Systemtheorie zentrales Motiv, das von Niklas Luhmann aufgegriffen und – zum Missfallen der Schöpfer des Konzepts – auf Kommunikation angewendet wird.
Bezeichnung für die von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen vertretene Auffassung, dass eine vom Erkennenden unabhängige Welt/ Wirklichkeit prinzipiell nicht erkannt werden kann. Die Wirklichkeit ist im Wesentlichen ein Konstrukt des Erkenntnisprozesses. Selbst wenn es so etwas wie eine vom Menschen unabhängige Realität geben sollte, so bleibt sie dieser Überzeugung zufolge doch unnahbar und nebulös.
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Wir sind Europa – Interview mit Ulrike Guérot
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Ulrike Guérot
Fotos: Janusch Tschech
Ulrike Guérot wurde 1964 in Grevenbroich geboren. Sie studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Philosophie in Köln, Bonn, Paris sowie in Münster, wo sie 1995 promovierte. Von 1992 bis 1995 war sie Mitarbeiterin des Außenpolitischen Sprechers der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, Karl Lamers, und wirkte am Schäuble-Lamers-Papier zur Vertiefung der Europäischen Union mit. Anschließend war sie als Chargée de Mission beim ehemaligen Präsidenten der Europäischen Kommission, Jacques Delors, bei der Organisation Notre Europe
Meine Oma hat immer gesagt: „Drei sind zu viel.“ Butter, Quark und Marmelade zusammen ging nicht. Ich musste mich immer entscheiden: Butter und Marmelade oder Quark und Marmelade. So ist das auch mit Europa. Ein politisches System, das aus EU, Nationen und Regionen besteht, funktioniert einfach nicht. Wenn wir uns die Nationalstaaten wegdenken, dann haben wir das, was meiner Ansicht nach wirklich Europa ist: die autochthonen Regionen wie Mähren, Bayern, Tirol, Savoyen, Allemannien, Katalonien oder Schottland etc. Das sind für mich die konstitutiven Träger einer Europäischen Republik. Diese Regionen hätten einen Gouverneur, der weitgehend unabhängig wäre – ähnlich wie in den USA. Interessanterweise haben diese Einheiten, die wir aus 2000 Jahren Geschichte kennen, alle ungefähr die Größe von zehn bis 15 Millionen Einwohnern. Das scheint die optimale Betriebsgröße für staatliche Einheiten zu sein. Ein Grund dafür ist, dass jeder Einwohner glaubt, er hätte einen Cousin in der Regierung – einen Cousin, den man anrufen könnte, wenn man ein bestimmtes Anliegen hat oder einem etwas gegen den Strich geht. Ob das tatsächlich so ist oder nicht, ist dabei völlig irrelevant. Wenn niemand das Gefühl hat, von einer fernen Instanz regiert zu werden, glauben umgekehrt alle, dass sie sich selbst regieren – und sind zufrieden.
in Paris tätig (1995–1998). Von 1998 bis 2000 lehrte sie als Juniorprofessorin an der Paul H. Hitze School of Advanced International Studies im Fachbereich European Studies an der Johns Hopkins University in Washington, D. C. Von 2000 bis 2003 war sie Leiterin der Programmgruppe Europa bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin und von 2004 bis 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin beim German Marshall Fund. Danach leitete sie bis 2013 das Berliner Büro des European Council on Foreign Relations. Seit 2014 leitet sie unter dem Dach der European School of Governance das „European Democracy Lab“. Dessen
Wie sollen diese Regionen in einen europäischen Rahmen eingebunden werden?
In der Europäischen Republik gäbe es einen Kongress, bestehend aus einem Senat und einem Abgeordnetenhaus. Jede Region, egal wie groß, hätte zwei Senatoren. So wie Kalifornien oder Idaho zwei Senatoren haben, hätten dann Malta und Bayern ebenfalls zwei Senatoren, der proportionale Faktor läge also wie überall in der Welt in der zweiten Kammer. Außerdem gäbe es ein Abgeordnetenhaus, wo dann die Sitze strikt proportional nach Bevölkerungszahl vergeben würden, nach dem Grundsatz: eine Person – eine Stimme. Nur so gibt es Wahlrechtsgleichheit für die Bürger und Bürgerinnen und das ist wichtig, ja eigentlich die Grundlage für die Begründung jeder politischen Einheit. Alle europäischen Bürger wären gleich in ihren politischen Rechten, ob bei den Wahlen, bei den Steuern oder hinsichtlich des Zugangs zu sozialen Rechten. Diese Maxime der politischen Gleichheit aller Bürger erfüllt EU-Europa heute nicht, weswegen die EU keine wirkliche politische Einheit werden kann und Europa nicht funktioniert. Und das merken die Leute langsam.
Leitidee formulierte sie 2013 im „Manifest für die Begründung einer Europäischen Republik“, das sie mit dem österreichischen Schriftsteller Robert Menasse verfasste. Guérot arbeitet als Publizistin und Analystin zu Themen der europäischen Integration sowie zur Rolle Europas in der Welt. Sie ist ab April 2016 Professorin und Departementsleiterin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems in Österreich. Gerade ist ihr neues Buch Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie im J. H. W. Dietz Verlag erschienen.
Schon lange wird bemängelt, dass die Nationalstaaten globalisierte Unternehmen nicht mehr regulieren können. Wird das nicht noch schwieriger, wenn mit den Regionen noch kleinere Einheiten als Nationalstaaten eingeführt werden?
Was wir in Europa brauchen, ist Rechts- und Steuergleichheit, und zwar für Unternehmen wie für Bürger. Momentan geht es um die Frage, wer das Sagen hat: der Staat oder die Wirtschaft? Was tun wir in Zeiten, in denen die Industrie längst global agiert, die Nationalstaaten hingegen noch versuchen, ihre sozialen und steuerlichen Angelegenheiten national zu regeln? Ich glaube, dass diese Diskussion in die Irre führt, weil wir zum einen übersehen, dass der Nationalstaat dort praktisch keine Stellschrauben mehr hat, und zum anderen, dass innerhalb der EU die Nationalstaaten in soziale und steuerliche Konkurrenz zueinander treten – zu Lasten ihrer Bürger. Eine Währungsunion kann ohne Fiskal- und Sozialunion nicht funktionieren, das wussten wir, als wir den Vertrag von Maastricht gemacht haben. 51
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Frau Guérot, Sie plädieren für ein neues europäisches System, eine Europäische Republik, und sind in diesem Zusammenhang entschieden für die Auflösung der Nationalstaaten. Warum wollen Sie keine Nationalstaaten in Europa?
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Keine Aufregung. Der Widerspruch hat System
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Text: Martin Kornberger
„Die Paradoxie ist die Orthodoxie unserer Zeit“, schreibt Niklas Luhmann, und nirgends trifft das besser zu als im Fall des Kapitalismus. Der Kapitalismus stellt den Betrachter vor eklatante Widersprüche – und zwar mit solcher Regelmäßigkeit, dass der systemisch geschulte Analytiker den Widerspruch erwartet wie einen alten Freund. Doch um welche Widersprüche geht es genau? Und sind sie wirklich alte Freunde?
Vom Widerspruch zwischen Geist und Körper des Kapitalismus Geist, Ungeist oder Gespenst – wie auch immer man zum Kapitalismus steht, einen Hang zur Metaphysik kann man ihm nicht absprechen. In Adam Smiths (1723–1790) System – und darin liegt seine große Errungenschaft – muss die Natur des Menschen nicht unterdrückt werden, um gesellschaftliche Ordnung zu gewährleisten. Im Gegenteil: Sie darf nicht unterdrückt werden, denn Ordnung entsteht aus der Natur des Menschen – nicht trotz, sondern wegen seiner Mangelhaftigkeit, wegen seines Egozentrismus. Eben gerade weil wir
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unsere Einzelinteressen verfolgen und weil wir auf unseren privaten Nutzen aus sind, schaffen wir über kurz oder lang ein funktionierendes Ganzes. Und das Ganze beruht nicht auf gesellschaftlicher Hierarchie, Religion oder Ständen, sondern auf dem Prinzip der „greatest happiness of the greatest number“, wie es Jeremy Bentham (1748–1832) formulierte. Das ist das große Versprechen des Kapitalismus, dass er nämlich unsere privaten Laster in öffentliche Tugenden zu verwandeln weiß. Man braucht keinen überirdischen Gott, keinen Gesellschaftsvertrag und keinen Leviathan, um ein geordnetes Zusammenleben zu ermöglichen; man muss lediglich der Natur ihren Lauf lassen und gesellschaftliche Harmonie stellt sich ein. Dieser Geist des Kapitalismus steht in klaffendem Widerspruch zu seinem Körper. Denn um die „greatest happiness“ der vielen zu garantieren, braucht es eine Unmenge an Gütern, die getauscht werden können. Produktivität ist die Voraussetzung der kapitalistischen Gesellschaft. Darum malt Smith gleich zu Beginn seines Werkes das Bild der berühmt-berüchtigten Stecknadelfabrik gleichsam als Kulisse für seine Philosophie. Die Stecknadelfabrik ist der „unbewegte Beweger“ der smithschen Philosophie. Die arbeitsteilig organisierte, hierarchisch gegliederte Unternehmung ist der Motor der Produktivität und Effizienz. Ohne Arbeitsteilung kann der Einzelne keinen Überfluss erwirtschaften, der es ihm erlaubt, am Markt teilzunehmen. Und hier schleicht sich der Widerspruch ein: Auf der einen Seite ist der Kapitalismus ein Gesellschaftsentwurf, der auf der Ordnung des freien Marktes beruht. Auf der anderen Seite beruht der Kapitalismus auf Produktivität und Effizienz, die sich nur im Rahmen einer hierarchischen Struktur erzielen lässt. Smiths Vision einer freien Marktordnung
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Keine Aufregung. Der Widerspruch hat System
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Die Generation Y sei verwöhnt, frech und faul; da sind sich viele Personalabteilungen einig. Die nach 1980 Geborenen bräuchten für die einfachsten Aufgaben ein Feedback, moserten herum, wenn man ihnen Vorgaben machen will, und würden am liebsten so flexibel arbeiten, dass sie morgens gar nicht aus dem Bett müssen. – Oder ist dies nur die Sicht einer alternden Generation? Möglicherweise übersehen die analog aufgewachsenen älteren Kohorten die Vorboten der neuen Welt: Dass die Ypsiloner – immerhin die ersten Digital Natives – zunehmend Anzeichen eines intelligenten, weltumspannenden Schwarms aufweisen, der alle hierarchisch aufgebauten Organisationen in nicht allzu ferner Zukunft hinwegfegen wird.
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Schwarmintelligenz – Vorbotin einer hierarchiefreien Welt? Text: Lia Polotzek
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Schwarmintelligenz (auch kollektive Intelligenz) bezeichnet das Phänomen, dass selbstorganisierte Gruppen im Zusammenspiel eine höhere Problemlösungskompetenz aufweisen als die fähigsten Individuen unter ihnen für sich genommen. James Surowiecki beschreibt in Die Weisheit der Vielen die Suche nach dem 1968 verschollenen U-Boot Scorpion unter Zuhilfenahme der Schwarmintelligenz. Für die Suche nach dem U-Boot wurde ein Team aus Mathematikern, U-Boot-Spezialisten, Bergungsexperten etc. gebildet, die unabhängig voneinander mögliche Untergangsszenarien (von der Untergangsursache über die Sinkgeschwindigkeit bis hin zum Neigungswinkel beim Sinken) entwarfen. Jedes Teammitglied sollte schließlich schätzen, wo das Wrack liege. Nachdem alle Einschätzungen der Gruppe ausgewertet waren, wurde das Wrack tatsächlich auf dem Meeresgrund gefunden. Der Fundort war jedoch weit von den Orten entfernt, die jedes Teammitglied einzeln vorausgesagt hatte. Dieses erstaunliche Ergebnis erklärt Surowiecki damit, dass die Einschätzung jedes Einzelnen immer zwei Komponenten enthalte: Information und Fehler. Errechne man aus den Einschätzungen den Mittelwert, so würden sich die Fehler gegenseitig aufheben und es bliebe reine Information übrig. Schwarmintelligenz funktioniere allerdings nur, wenn drei Bedingungen erfüllt wären: Diversität, Unabhängigkeit und Dezentralisierung. Um diese Bedingungen zu verstehen, bedienen wir uns eines Beispiels: den Spice Girls (spätestens jetzt merkt man der Autorin ihre Zugehörigkeit zur Generation Y an). Jedes Spice Girl – Sporty Spice, Baby Spice, Ginger Spice, Posh Spice und Scary Spice – stellt dabei ein Element des Systems „Spice Girls“ dar. Zwischen den Spice Girls gibt es systemische Verbindungen, das heißt, sie tauschen Informationen aus, kommunizieren und beratschlagen sich (Rückkopplung).
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Markus Turber
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Digitale Transformation – H O R I Z O N T
Oder: Der Abschied vom Standard Text: Markus Turber
Die digitale Transformation dringt mit hoher Geschwindigkeit, einer zunehmenden Kapitalflut und der damit einhergehenden Marktmacht in unsere Arbeits- und Lebensbereiche vor. Neue Themen, die uns als Menschen und Gesellschaft begegnen, wie autonomes Fahren, Industrial Internet, Smart Cities, vernetzte Produkte etc. werfen Gestaltungsfragen auf. Dabei geht es weniger um technische Machbarkeit oder Effizienz, sondern vielmehr um die künftige Bedeutung von Menschen und Unternehmen in der digitalen Welt. Status quo Die verbreiteten Organisationsmodelle der Unternehmen sind meist eine Weiterentwicklung ursprünglich nationalstaatlicher Organisationsmodelle. Sie wurden im vergangenen Jahrhundert durch Vordenker wie Alfred Sloan dahingehend optimiert, kompliziertere Produkte in gleichbleibend hoher Qualität und steigender Anzahl zu erzeugen, um damit globale Märkte zu erschließen. Die Vielfalt der Organisationsmodelle hat seither abgenommen. De facto kann man von einer Standardisierung des Organisationsmodells sprechen. Diese führte dazu, dass es
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lukrativer wurde, Standardsoftware (zum Beispiel ERP-Systeme) zu entwickeln und millionenfach zu distribuieren. Die ersten IT-Riesen entstanden. Gleichermaßen konnten Beratungsunternehmen weltweit wachsen, da Konzepte, wie beispielsweise das Shareholder-Value-Konzept, plötzlich millionenfach anwendbar wurden. Nachdem nun alle in vergleichbaren Strukturen mit ähnlichen Mitteln arbeiten, ist es nicht verwunderlich, dass sich der Wettbewerb verschärft hat – und zwar nicht nur gefühlt. Abschied vom Standard Die nach 1980 Geborenen zeigen ein kritischeres Verhältnis zu kollektiven Standards und hierarchischen Strukturen. Beispiele wie die Open-Source-Software-Bewegung verdeutlichen den Nutzen, der durch lose Netzwerke gestiftet werden kann. Die freie beziehungsweise günstige Verfügbarkeit von Software, gepaart mit kritischer „Respektlosigkeit“ gegenüber orthodoxen Unternehmensstrukturen, führte dazu, dass eine neue Gattung von digitalen Unternehmen entstand. So ist es vielen Menschen heute klar, dass eine Wurstfabrik nicht nur andere Wertschöpfungsprozesse, sondern auch andere Organisationsmodelle braucht als eine Bank oder eine Internetsuchmaschine. Heute könnte prinzipiell jedes Unternehmen seine Organisation und digitalen Prozesse entsprechend seiner Identität und Wertströme selbst gestalten. Diese Erkenntnis würde sich noch schneller durchsetzen, wenn nicht immer noch ganze Branchen großen Nutzen aus den alten Standards ziehen würden.
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99 % digital ist beinahe noch analog Unter Digitalisierung wird auch die zunehmende Automation von Geschäftsprozessen durch Software und Vernetzung verstanden. Der Erfolg rein digitaler Geschäftsmodelle wie bei Airbnb oder Uber zeigen deutlich, dass es wertvoller ist, sich auf einzelne Prozesse zu fokussieren und diese vollständig zu digitalisieren, statt zu versuchen, das große Ganze (hier: die Hotellerie oder das Taxifahren) zu digitalisieren, diese Digitalisierung aber nicht durchgängig zu verwirklichen. Das heißt wir müssen unsere Geschäftsprozesse nach und nach zu 100 % digitalisieren! Genau darin steckt die Krux, vor allem für deutsche Hightech-Exportchampions. Der Erfolg der letzten Jahrzehnte beruht vor allem darauf, dass wir im Rennen um komplexe Produkte und Dienstleistungen die Nase vorn hatten. Dummerweise lässt sich die Komplexität, mit der wir ein so inniges Verhältnis pflegen, nicht zu 100 % in Software abbilden. Dies ist keine Frage des IT-Budgets, sondern geht schlichtweg auf absehbare Zeit nicht. Denn die Computersysteme, die uns umgeben, sind zwar schnell, aber leider erschreckend dumm. Die Kunst, die wir erlernen müssen, wird sein, dass wir unsere Organisations- und Produktionsstrukturen mitsamt deren Prozessen neu sortieren. In solche, die sich zu 100 % digital abbilden lassen und solche, die wir noch nicht digital umsetzen können oder wollen. Letzteres wird vernachlässigt, denn niemand zeichnet sich heute für das Non-Digitale verantwortlich. So müsste es neben dem heutigen CIO (Chief Innovation Officer) auch einen CAO (Chief Analog Officer) geben. In der Folge würde der CIO nicht am Grad des Einsatzes von Software insgesamt
gemessen, sondern könnte sich darauf konzentrieren, Prozesse zu isolieren, die sich beim jeweiligen Stand der Technik zu 100 % digital abbilden lassen. Bei diesem Ansatz sinkt die Komplexität der Einzelsysteme. Stattdessen würde die Metaebene, also die Verknüpfung der vielen Einzelsysteme, an Bedeutung gewinnen. Der Effizienzgewinn aus den zu 100 % digitalisierten Prozessen dürfte dabei den Verlust des Vorteils einer Standardsoftware überwiegen. Simplere Subsysteme dürften zudem den Einsatz von Machine Learning begünstigen.
Markus Turber ist Designer und Unternehmer. Als Gründer des strategischen Designbüros Intuity gestaltet er vernetzte Produkte und Dienstleistungen. Er ist Mitgründer des Start-ups The Native Web.
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Digitale Transformation
Abschied von Linearität Obwohl soziale Systeme per se nichtlinear sind, und Unternehmen sowohl im Verhältnis zum Markt, als auch im Innenverhältnis ein soziales System darstellen, sind lineare Prozessbeschreibungen das vorherrschende Paradigma. Das hat auch einen guten Grund, denn durch das Zähmen des Chaos lassen sich billige Energie und billige Rohstoffe in wertvolle Produkte und Dienstleistungen verwandeln. Das System ist effizient. Bei aller Kritik am vorherrschenden Paradigma muss erwähnt werden, dass hierdurch in den vergangenen Dekaden riesige Werte geschaffen wurden. Gleichzeitig stellt sich die Frage nach den Grenzen dieses Wachstums, und leider lässt sich immer häufiger beobachten, wie alte Mechanismen darin versagen, die Märkte verlässlich zu regulieren. (Das heißt, ein System verlässt den Bereich, in dem es sich linear beschreiben ließ.) Unternehmen werden folglich immer häufiger mit unvorhersehbaren Ereignissen konfrontiert – und reagieren
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IMPRESSUM
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HERAUSGEBER Wolfram Bernhardt, Nazim Cetin, Louis Klein, Richard David Precht, Birger P. Priddat CHEFREDAKTEUR Frank Augustin
IN ANALOGER MISSION —
REDAKTION Raimund Bernhardt, Wolfram Bernhardt, Janusz Czech, Carlos García-Sancho, Patricia Nitzsche, Lia Polotzek, Tanja Will BEIRAT Rudi Blind, Andreas Jurowich, Wolfgang Kesselring, Matthias Maier, Max Pohl agora42 ist Medienpartner des Weltethos-Instituts. GESTALTUNG & LAYOUT D M B O – Studio für Gestaltung Art Direction Janina Schneider Gestaltung Layout & Cover Janina Schneider, Isabelle Possehl/ www.dmbo.de FOTOGRAFIE /BILDER Editorial Bernhard Kahrmann/ certainmemories.net Interview Janusch Tschech Artikel S.7: Bernhard Kahrmann/ certainmemories.net S.63: Wolfram Bernhardt ILLUSTRATIONEN S.36/44: Max Pulver S.64-78 / S.88-91: Carlos García-Sancho / dedesign.tumblr.com S.92: Janina Schneider KORREKTORAT Ana Kugli www.wortkultur-online.de
Wie das Thema Systeme für das Cover visualisieren? Ganz einfach: Man macht das Cover selbst zum System – zur Abwechslung mal ganz analog, nämlich mit Lego-Steinen. Einiges an Tüftelei, sechzehn Stunden reine Umsetzungszeit, circa fünftausend bunte Steine und ein Dutzend Bauplatten (insgesamt 1,6 Quadratmeter) haben wir in das Ergebnis investiert, das Sie nun in den Händen halten. Finden Sie die Blümchen, die sich eingeschlichen haben? Ein herzliches Dankeschön geht an an dieser Stelle an Felix Gutekunst (11 Jahre), für seine großzügige Lego-Leihgabe.
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