07 / PLENARY SESSION COMPLEXITY SCIENCE – CORONA AND THE CONSEQUENCES Vittoria Colizza (Sorbonne), Ricardo Hausmann (Harvard), Dirk Helbing (ETH Zürich), Stefan Thurner (CSH) // Chair: Helga Nowotny (RTD-Council) Supported by Complexity Science Hub Vienna
Schon früh in der Corona-Krise versuchten wissenschaftliche Disziplinen wie die Complexity Science, Modelle und Vorhersagen zur Eindämmung des Virus zu erstellen, so Helga Nowotny vom österreichischen Rat für Forschung und Technologieentwicklung in ihrer thematischen Einführung. Die Pandemie hat laut Dirk Helbing, Professor of Computational Social Science an der ETH Zürich, klar die Grenzen von Big Data und AI aufgezeigt. Die AI-Vision, dass künftig Daten für sich selbst sprechen, bewahrheitete sich nicht. Vorhersagen über die Pandemie zu treffen, war eine große Herausforderung. Helbing kritisierte generell AI-Methoden, mit denen etwa Flughafenpassagiere überwacht und Terroristen gesucht werden. Die Fehlerraten lagen bei 99 Prozent bzw. gab es 100.000 falsche Positivmeldungen für jeden realen Terroristen. Das Problem sei, dass Algorithmen statistische Beziehungen in kausale Zusammenhänge verwandeln können. „Wir sollten AI und Computer Science anders nutzen“, forderte Helbing. Mit Smartphones und ihren Sensoren können etwa kollaborative Sicherheitsnetzwerke gebildet werden, mit denen schon Erdbeben detektiert wurden. Helbings Vision: Der Aufbau einer digitalen Demokratie. Hier spiele der freie Zugriff auf Daten mit Open Source und Open Data eine wichtige Rolle. Laut Helga Nowotny ist ein kollektiver Lernprozess erforderlich, eine neue Kultur, wie man 18
mit Big Data umgehe: „Wir müssen wissen, wo Daten erzeugt und in welchem Kontext sie gesammelt werden, sonst kann es falsch laufen.“ Mit diesem Lernen müsste schon früh in der Schule begonnen werden. Vittoria Colizza, Research Director bei INSERM und der University of Sorbonne, Faculty of Medicine, in Paris, sprach zum Thema „Chasing Covid-19 Pandemie through modeling” und teilte ihre Erfahrungen der letzten Monate. Anfangs gab es keine Daten und Erfahrungen. Mit mathematischen Modellen wurde versucht, Klarheit zu schaffen. „Wir hätten auch mehr aus den Erfahrungen anderer Länder lernen sollen“, so Colizza, da habe es eine gewisse nationale Arroganz gegeben. Ricardo Hausmann, Ökonom an der John F. Kennedy School of Government der Harvard University, verwendet Complexity Science, um Wachstum in Entwicklungsländern und ökonomische Krisen zu erforschen. „Ich sehe Gesellschaften wie ein soziales Gehirn, in dem unterschiedliche Teile spezialisiertes Wissen erlangen, das vernetzt werden muss, um es zu nutzen“, so Hausmann. Er untersucht, wie diese Netzwerke wachsen. Seine Erforschung von Wirtschaftszusammenbrüchen hat ergeben, dass die Erholungsgeschwindigkeit vor allem von der Resilienz der Orte abhänge - und diese wiederum vom Zustand der gesellschaftlichen Netzwerke. Um Resilienz in einer Gesellschaft zu schaffen, bedarf es aber perfekt auf die je-
weilige Situation angepasste Maßnahmen. Ein Gutes hat die Corona-Krise laut Stefan Thurner, Leiter der Abteilung Science of Complex Systems an der Medizinischen Universität Wien und Präsident des Complexity Science Hub Vienna: Es gab erstmals den Schritt in Richtung einer evidenzbasierten Politik. Im CSH wurden am Anfang der Krise alle laufenden Projekte unterbrochen, um 18 Teams zur Lösung von 18 Problemen zu bilden – etwa um die Rolle der Kontaktnetzwerke oder ökonomische Effekte besser zu verstehen. Zugleich wurde ab April mit Grafiken zu den Infektionsraten und einer Corona-Ampel die Öffentlichkeit informiert. Was nicht funktioniert habe, war der Zugang zu den entsprechenden Daten. Da mangelte es oft an der Datenqualität, eingespielten Datenprozeduren und dem Teilen der Daten. „50 Prozent der Projekte scheiterten, da wir die Daten nicht in der passenden Art nutzen konnten“, sagte Thurner. Ohne korrekte Daten könne Digitalisierung nicht funktionieren, warnte der Komplexitätsforscher: „Wir müssen lernen, mit Daten richtig umzugehen.“
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