Amnesty Journal März/April 2020

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Mit den Augen einer Mutter

»For Sama« ist ein beeindruckendes filmisches Tagebuch über den Krieg in Syrien. Gedreht hat es eine Bewohnerin von Aleppo für ihre Tochter. Von Jürgen Kiontke

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ie Syrerin Waad al-Kateab ist 18 Jahre alt, als sie sich entschließt, ein Studium der Wirtschaftswissenschaften aufzunehmen. Die Eltern warnen sie, sie möge vorsichtig sein. Was dies bedeuten könnte, wird ihr erst später klar. Denn sie will in Aleppo studieren. Und al-Kateab gerät mitten hinein in die Wirren eines Bürgerkrieges, dessen Ausmaß mörderisch ist: 2011 haben ein paar Jugendliche im südsyrischen Daraa regierungsfeindliche Parolen an die Wände gesprüht. Die Reaktionen der Sicherheitskräfte sind drastisch. Zur Zeit des Films, fünf Jahre später, stehen sich Regierungstruppen, die oppositionelle Freie Syrische Armee und islamistisch orientierte Milizen gegenüber. Auch Kräfte aus dem Ausland mischen mit, die Luftwaffe Russlands hat 2015 in den Konflikt eingegriffen. Der Osten von Aleppo wird ein Hauptkampfgebiet. Dort haben sich die Rebellen verschanzt – aber auch rund 300.000 Menschen leben hier. Es gibt Berichte von Massakern, die syrische und die mit ihr verbündete russische Luftwaffe fliegen täg-

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lich Angriffe, um Milizen aus der Stadt zu bomben. Al-Kateab hat die Kamera eingeschaltet, seitdem sie in der Stadt ist. Das Ergebnis ist jetzt im Kino zu sehen und trägt den Titel »For Sama«. Ein ungewöhnlicher Dokumentarfilm: »Anfangs habe ich einfach ohne großartigen Plan mein Leben und die Protestbewegung in Syrien mit dem Handy dokumentiert, wie so viele andere Aktivisten auch«, sagt die Regisseurin. »Ich hatte keine Vorstellung davon, wohin mich dieser erste Schritt später führen würde. Von Medien hatte ich keine Ahnung.« Ab Januar 2016, einige Monate vor der Belagerung durch die Truppen der syrischen Regierung, laufen ihre Berichte im Programm des britischen Senders Channel 4. So kommt sie mit dem Co-Regisseur von »For Sama«, Edward Watts, in Kontakt. Dessen Augenmerk liegt schon lange auf den Auseinandersetzungen in Syrien: Im Jahr zuvor hat er »Escape from ISIS« gedreht, einen Film über jesidische Frauen, die von der Terrororganisation Islamischer Staat entführt worden sind. »For Sama« nennt al-Kateab ihr Material, weil sie, um den teils zufällig entstandenen Aufnahmen einen Sinnzusammenhang zu geben, für ihre Tochter dreht, die in die Wirren des syrischen Bürgerkrieges hineingeboren wird. 2012 beginnen die Aufzeichnungen, die in »For Sama« verwendet werden. Bilder von Demonstrationen gegen den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, gegen die Angriffe seiner Regierungstruppen. Bilder, die zeigen, wie Assads großformatige Porträts übermalt werden.

AMNESTY JOURNAL | 02/2020


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