Amnesty Journal März/April 2020

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Foto: Rob Hammer / Aurora / laif

Überall Windmühlen, auch in den USA. In »Quichotte« kämpft der Protagonist gegen Lüge und Hass in der Weltgesellschaft.

Fiktion gegen Fake News Wo Lüge und Wahrheit kaum noch zu unterscheiden sind, da weist die Fantasie den Weg zur Wirklichkeit: Salman Rushdies Roman »Quichotte« ist ein literarisches und politisches Meisterwerk. Von Maik Söhler

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enn die politische Macht dazu übergegangen ist, ein zwangloses und spielerisches Verhältnis zu Wahrheit und Lüge oder auch zu News und Fake News zu entwickeln, um auf diesem Weg dem Falschen Raum zu verschaffen, da steht es um die Wirklichkeit schlecht. So schlecht sogar, dass es der politischen Opposition, Teilen der Medien und der Zivilgesellschaft kaum noch gelingt, geradezurücken, was, etwa im Weißen Haus, zuvor verrückt worden ist. Warum dann nicht einen Spezialisten hinzuziehen, wenn es darum geht, die Wahrheit wieder genauso erkennbar zu machen wie ihr Gegenteil? Jemanden, der sich auf den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fiktion versteht: Einen Schriftsteller. Und unter den Schriftstellern einen, der die Vielfalt der Realität und die Vielfalt der Fiktion meisterhaft beschreiben kann; der den politisch-gesellschaftlichen Essay genauso beherrscht wie die Belletristik. Salman Rushdie also. Sein neuer Roman heißt »Quichotte« und ist eine mehr als 450 Seiten starke Auseinandersetzung mit Wahrheit und Lüge, Liebe und Hass, Individualität und Gemeinsamkeit, mit den USA von heute und der Welt von morgen. Und »Quichotte« ist nicht nur reinste Fiktion, sondern als Schelmenroman auch besonders geeignet, der Wirklichkeit und ihren Interpretationen mit viel Humor dichterisch den Spiegel vorzuhalten.

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Genau das gelingt Rushdie von der ersten Seite an. Er nimmt seine Leser mit auf eine literarische Reise durch die USA und manchmal auch in andere Länder, etwa nach Indien und Großbritannien. Er erzählt die Geschichte eines Mannes, der sich in einen Fernsehstar verliebt und versucht, ihm nahezukommen. Nicht nur das Fernsehen wird so zum Zentrum der Wirklichkeit, mehr Zentren entstehen und konkurrieren um Aufmerksamkeit: Ein eigenmächtiger Erzähler, der sich schnell von Rushdie löst, eine Gesellschaft, die süchtig nach Opioiden ist, digitale Spione und Gegenspione, Vater-Sohn- und Bruder-SchwesterGespinste und das drohende Ende der Welt. Dazu Eskapismus, wohin man auch schaut. Zwischen all dem spielt Rushdie virtuos mit Fiktion und Realität. Keine Fiktion ist, dass die Ayatollahs in der Islamischen Republik Iran seit nunmehr 30 Jahren eine Fatwa aufrechterhalten und ihm mit dem Tode drohen. Nicht erfunden ist auch die deutliche Zunahme des Rassismus im US-Alltag, der aus dem Roman herausragt wie ein großer hässlicher Monolith. Selbst das Reich der Fantasie wird vom Rassismus durchbohrt. Die Fantasie aber wehrt sich, indem sie, also Rushdie, jede Menge Erinnerung an seine Protagonisten verteilt. Die Hysterie einer von schnellen Medien und noch schnellerem Internet beschleunigten Gesellschaft trifft auf Bewusstsein, auf Geschichte. »Das Gewissen stirbt nie«, sagt eine Figur und bereitet den Boden für eine Welt, in der die Lüge und der Rassismus automatisch in den Hintergrund gedrängt werden, weil die Wahrheit und ein menschliches Miteinander wieder mehr Raum beanspruchen. »Quichotte« ist ein Meisterwerk. Salman Rushdie: Quichotte. Aus dem Englischen von Sabine Herting. Bertelsmann, München 2019. 464 Seiten, 25 Euro.

AMNESTY JOURNAL | 02/2020


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