Atrium 04/2024

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Architektur: Semperpreisträger Roger Boltshauser, Seite 32

Magazin für Architektur, Design und Kunst

Design: Wofür brennen Sie, Mathieu Lehanneur? Seite 62

Im Interview:

Inga Humpe beschreibt eine neue Welt

Kunst: Margate. der neue Hotspot der Kreativen, Seite 112

Atrium als Ort der Orientierung

«Wenn man mich fragt, was für mich die Fantasie bedeutet, antworte ich: Fantasie ist die Suche nach einer besseren Welt.»

Diese pointierten Worte beeindrucken mich immer wieder. Sie stammen vom brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer (1907–2012), der bis ins stolze Alter von 105 Jahren kreativ gewirkt hat und in diesem Sinne mit einem unheimlichen Erfahrungsschatz beseelt war.

Auch wir, das kleine, aber feine Team von Atrium, befinden uns stetig auf der Suche. Ich will nicht in Anspruch nehmen, dass wir selbst eine bessere Welt schaffen können. Doch wir begeben uns jeden Tag mit einer grossen Portion Fantasie, Leidenschaft und einem erarbeiteten Erfahrungsschatz auf die Suche nach Geschichten, die im Kern für eine bessere Welt plädieren. Die führenden Köpfe der Architekturszene, der Designbranche und der Kunstwelt überwinden seit einiger Zeit lange gültige Grenzen – im Kleinen wie im Grossen und natürlich mehr oder weniger erfolgreich. Denn fast täglich entstehen neue technologische Möglichkeiten und die Herausforderungen der Zukunft bringen neue Denk- und Sichtweisen hervor.

Wir wollen mit diesen Entwicklungen mithalten und beginnen, Atrium neu zu denken. Diesen Entwicklungsprozess haben wir in den letzten Wochen und Monaten angestossen und er ist mit dieser ersten Ausgabe «im neuen Kleid» noch lange nicht abgeschlossen. Wir verstehen uns, wie im ganzen Leben, in einer inspirierenden Lernphase.

Atrium soll ein andauernder Denkprozess sein. Wir hoffen, dass wir Sie mit dieser Ausgabe und den vielschichtigen Geschichten über Architektur, Design und Kunst überraschen werden. Wir sehen uns als eine Plattform, auf der heiss über unterschiedlichste Themen diskutiert wird. Wir wollen ein Ort der Orientierung für die grosse Community der Enthusiast:innen dieser sich ständig neu erfindenden Welt sein.

Tauchen Sie ein in das Gespräch mit dem Musik-Universalgenie Inga Humpe, die vom Raum erzählt, den jeder Mensch haben sollte (ab Seite 8). Der neue Semperpreisträger Roger Boltshauser aus der Schweiz beschreibt ab Seite 32 die Herausforderungen heutigen Bauens und wie Kunst und Architektur für ihn persönlich eng verknüpft sind. Auch der Designer Mathieu Lehanneur lässt aufhorchen: Sein Fackelentwurf für die Olympischen Spiele 2024 leuchtet am Himmel von Paris (ab Seite 62). Oder entdecken Sie ein kleines Haus auf dem Vitra Campus in Weil am Rhein, das viel mehr als eine Hütte ist (ab Seite 14) – es ist eine Antwort auf die Klimaveränderungen unserer Zeit.

Und mit dem «neuen» Atrium loten wir Grenzen aus, wollen sie gar immer wieder überwinden. Wir verbinden die Stärken von Print mit der Online-Welt: Klicken Sie sich durch unsere Playlist, um das Leseerlebnis auch zum Hörgenuss zu machen. Viel Spass auf Ihrer persönlichen Entdeckungsreise!

NACHHALTIGKEIT

MEHR ALS EXOTEN

Seite 40

3 Editorial –— Sinn stiftende Worte vom Chefredakteur.

Universalgenie: Inga Humpe spannt im Interview den Bogen vom Raum, den jeder Mensch haben sollte, bis zur kreativen Kraft, welche die Welt bewegen kann. (Titel: Juljia Goyd)

8 Interview –— Wenn Kreative auf Kreative treffen, beschreiben sie gedanklich früher oder später eine neue Welt. Die Musikerin Inga Humpe im Gespräch mit der Künstlerin Anca Munteanu Rimnic.

14 Architekturdialog –— Das Khudi Bari von Marina Tabassum ist mehr als ein kleines Haus, es leistet einen konkreten Beitrag zur Klimakrise.

16 KI –— Ein Interview von ChatGPT mit ChatGPT – wer oder was kann wie am besten die aktuellen und die zukünftigen Herausforderungen unserer Welt lösen?

22 Architektur –— Atelier Oslo ist eines der spannendsten Architekturbüros Norwegens. Wir haben Jonas Norsted, einen der Gründer, in Oslo getroffen.

28 Neuheiten –— Hermès ist Heritage – die neue Home-Kollektion ist ein wahres Spiel mit der Zweideutigkeit.

32 Architektur –— Der Schweizer Architekt Roger Boltshauser ist der neue Semperpreisträger. Im Interview beschreibt er seinen persönlichen Ansatz zu Kunst und Architektur.

40 Nachhaltigkeit –— Was heute heiss diskutiert wird, muss zur Selbstverständlichkeit wachsen – fünf Einrichtungsgegenstände aus RecyclingMaterialien, die mehr als Exoten sind.

50 QR-Codes –— Wenn keiner schaut, blättert Atrium auch einmal im Internet – Film-Highlights.

52 Städtebau –— Mit dem Entwurf für Chandigarh hat Le Corbusier eine Ikone geschaffen. Wie leben 80 Jahre nach der Grundsteinlegung Millionen Menschen in einer Stadt, die zum UNESCO-Welterbe wurde?

62 Design –— Mathieu Lehanneur lässt sich in keine Schublade stecken. Sein neuster Wurf: die Fackel für die Olympischen Spiele 2024 in Paris.

70 Fotografie –— Olympic Realities – der Schweizer Fotograf Bruno Helbling führt uns zu Hüllen, denen der olympische Geist längst entwichen ist.

Fotos: Boltshauser Architekten (Visualisierung), Felipe Ribon (Kirche), WYE (Hocker)

78 Wohnen –— Das Haus «Fonte das Perdizes» steht für einen radikalen architektonischen Ansatz, der sich natürlich in die Landschaft fügt –eine Geschichte in drei Teilen und mit einer Fortsetzung im Netz.

80 Nachhaltigkeit im Bad –— Kreislauffähig oder (nur) recycelbar: Welche Materialien im Bad sind wirklich nachhaltig? Das Thema Nachhaltigkeit muss sich vom Ökotrend zur Generationenaufgabe wandeln.

86 Badprodukte –— Das Bad ist frei – eine Produktparade, die überraschen und inspirieren wird.

92 Kunst –— Graffiti – der Kipp-Punkt zwischen verständlichem Vandalismus und unverstandener Kunst.

98 Wohnen –— Fragen zum Notwendigen, die Suche nach einfachen Mitteln oder die Entwicklung des Raumprogramms aus der Substanz heraus – ein Steinhaus im Tessin.

110 Kolumne –— Ein Phänomen in der Designmöbelbranche – Skalierung ist das neue Neu.

112 Reisen –— Einst ein verblasstes Seebad, heute Englands neuer Hotspot am Meer – Margate ist ein Ort, der Kreativen und vielen mehr Raum und Zeit schenkt.

ARCHITEKTUR PREISGEKRÖNT Seite 52

DESIGN BRENNEND GELÖST

Seite 62

122 Impressum –— Wer hat am Atrium alles mitgewirkt …

Die Musikerin Inga Humpe gilt als Universalgenie ihrer Branche. Im Gespräch mit der bildenden Künstlerin Anca Munteanu Rimnic spannt sie den Bogen vom Raum, den jeder Mensch haben sollte, bis zur kreativen Kraft, welche die Welt bewegen kann.

04/2024

Foto: Julija Goyd

2019–2025:

ROGER BOLTSHAUSER:

SEMPER- PREIS 20 24

Hochhaus H1 auf dem Zwhatt-Areal in Regensdorf.

Mit dem Semperpreis werde eine Persönlichkeit gewürdigt, deren Werk sich durch besondere Qualitäten nachhaltigen Bauens in der Verbindung von Baukunst, Wissenschaft und ökokultureller Praxis auszeichne, heisst es in der Beschreibung des Preises. Der Preis scheint gleichsam auf Ihre Arbeit zugeschnitten zu sein. Was bedeutet Ihnen diese Ehrung?

ROGER BOLTSHAUSER: Es ist für uns eine wichtige Würdigung. Schön finde ich vor allem, dass der Preis versucht, nachhaltigeren Positionen mehr Gewicht zu verleihen. Und mich hat besonders gefreut, wie die Jury unser Wirken wahrgenommen und beschrieben hat. Der Jurybericht war für mich fast das Wichtigste. Das bedeutet eine Bestätigung für unsere Arbeit.

Ihre Bauten werden als komplex und sperrig beschrieben. Sie würden sich einer oberflächlichen Betrachtung entziehen und man müsse sich mit ihnen auseinandersetzen, liest man in der Jurybegründung. Ebenso verhält es sich mit Erinnerung: Wir wollen uns ihr tendenziell entziehen. Ich musste diesbezüglich an den Wettbewerb für das Dokumentationszentrum in Hamburg denken, den Sie mit Ihrem Vorschlag gewonnen haben. Wie sind Sie an diese Bauaufgabe herangegangen? Wie gibt man Erinnerung Raum?

RB: Wir starten immer mit einer Analyse des Ortes. Es gibt am Hannoverschen Bahnhof in Hamburg bereits eine sehr schöne

Landschaftsgestaltung von Günther Vogt, welche die Gleislinien aufgenommen hat. Wir haben dort Ansatzpunkte gefunden und daran angeknüpft. Wir haben materiell Spuren der Stadt in den Bau einbezogen und versucht, mit unseren Themen Antworten auf diese komplexe Aufgabe zu finden. Die Materialien sollten sinnlich und haptisch, aber auch sperrig sein dürfen. Lehm schafft eine besondere, beruhigende Atmosphäre. Damit entsteht über die Materialisierung ein Raum, der zum Nachdenken anregt, ohne dabei direkt auf die historischen Geschehnisse Bezug nehmen zu müssen. Man wird dem Thema Holocaust mit Architektur nicht gerecht. Aber man kann versuchen, einen Ort zu schaffen, an dem Reflexion und Erinnerung möglich werden. Es soll zugleich ein Museum werden, in dem man in die Zukunft schauen kann. Und das sollte sich auch in der Architektur widerspiegeln.

Sie sind zwar mit Lehmbauten bekannt geworden, bauen allerdings nicht ausschliesslich mit diesem Material. Stört Sie das Label des Lehmbauarchitekten?

RB: Nein, denn ich bin stark um den Lehmbau bemüht. Diese Bauweise steht für eine nachhaltige Denkweise und für 25 Jahre Arbeit daran. Und nicht zuletzt auch für meine Brücke zur Kunst. Ich habe durch Lehm viel gelernt, meine Arbeit damit wurde

mit der Zeit vielschichtiger. Lehm ist ein wichtiger Teil meines Kosmos. Es gab vielleicht eine Phase nach dem Haus Rauch, in der ich das Gefühl hatte, ich müsse mich als Architekt beweisen, der keinen Lehm einsetzt. Die Wahrnehmung dieses Baus fokussierte mehr auf das Material und weniger auf die entwerferische und kreative Leistung. Es ging dabei vergessen, was es bedeutet, das Material zum Klingen zu bringen. Andererseits ist diese klare Verortung meiner Arbeit ja nicht falsch. Als wir uns vor 25 Jahren um ökologisches Bauen bemühten, interessierte das die Architekturwelt noch kaum. Heute reden alle von Nachhaltigkeit und Klima. Wir haben sicher dazu beigetragen, dass Lehm, und damit andere alte und vermeintlich «primitive» Materialien, Teil der aktuellen Diskussion in der Architektur wurden.

Wie entstand Ihr Interesse für den Lehmbau? RB: Vor 20 Jahren entdeckte ich eine Lehmwand, die der Lehmspezialist Martin Rauch in Zürich realisiert hatte. Ich war begeistert von diesem Material und überlegte mir, wie ich das selbst verwenden könnte. Daraus entstand spontan der Entwurf für das Projekt beim Sihlhölzli in Zürich. Ich wusste damals nicht viel über nachhaltige Bauweise, ich bin über eine emotionale Faszination für dieses Material ins Thema eingestiegen. Bei der Vorbereitung für das Projekt fragte ich

Roger Boltshauser wird im Oktober 2024 mit dem renommierten Semperpreis ausgezeichnet.

Atrium sprach mit dem Schweizer Architekten über die Herausforderungen heutigen Bauens sowie seinen persönlichen Ansatz zu Kunst und Architektur.

Text: Susanna Koeberle

Nachhaltige Materialien, ethische Produktion und innovatives Design: Jutta Werners Teppichkollektion, die sie unter dem Label «Nomad Studio» vertreibt, vereint gutes Gewissen und gutes Aussehen. «Weniger produzieren, dabei gut produzieren» ist das Motto der Deutschen. «Wir nutzen Industrierestmaterialien und kombinieren sie mit neuen Werkstoffen, um unsere Produkte herzustellen», erklärt sie. Der «Candy Wrapper Rug» bildet das Herzstück der Nomad-Kollektion: Der gewebte Teppich besteht aus 80 Prozent Schurwolle und 20 Prozent Bonbonpapier in unterschiedlichsten Farben. «Wir bekommen die Reste direkt aus der Verpackungsindustrie. So ist es für uns immer eine Überraschung, welche Farbe in den jeweiligen Teppich eingewebt wird – und jeder einzelne ist daher ein unverwechselbares Unikat.» Die Wirkung des Teppichs im Raum ist frappierend: An bewölkten Tagen sieht er einfach und ruhig aus. Tageslicht, Sonne oder Kunstlicht bringen ihn zum Leuchten. «Fast wie eine Wasseroberfläche, auf der die Sonne tanzt.» www.nomad-studio.de

Der Annex mit seinem gedämmten Holzeinbau ist der einzige beheizbare Raum des Ensembles.

Fort Road Hotel: Stilvoll absteigen im Bau von Gabriel Chipperfield an der Promenade von Margate. fortroadhotel.com

Turner Contemporary Museum: Architektonisch kunstvoller Entwurf von PritzkerPreisträger David Chipperfield. turnercontemporary.org

Vielleicht haben Sie schon einmal von Margate gehört. Das dürfte 2011 gewesen sein, als dort das Museum für moderne Kunst namens «Turner Contemporary» eröffnet wurde. Die Architektur des Gebäudes, entworfen von Pritzker-Preisträger David Chipperfield, ist ein Kunstwerk für sich, bietet atemberaubende Ausblicke auf das Meer und sollte Margate einen ordentlichen Bilbao-Effekt bescheren. Doch der ersehnte Hype liess auf sich warten, in den folgenden Jahren verirrte sich nur eine überschaubare Zahl an Besucher:innen in das Küstenstädtchen, das von London aus in eineinhalb Stunden per Zug zu erreichen ist. Das Museum wertete Margate zwar architektonisch auf, doch die Fassaden drum herum bröckelten erst einmal weiter. Bis 2018 Tracey Emin, eine der bekanntesten britischen Künstlerinnen in der zeitgenössischen Kunstwelt, ihren Heimatort wiederentdeckte, London den Rücken kehrte und in Margate ein Atelier bezog. Dessen Umbau verantwortete der Sohn von David Chipperfield, Gabriel. Obwohl Gabriel Chipperfield damals nicht direkt am «Turner Contemporary»-Projekt seines Vaters beteiligt war, prägte es seine Wahrnehmung für das Potenzial von Margate als kreativer Hub. «Tracey bestärkte mich, in Margate ein eigenes Immobi-

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