archithese 2.2016 – Bildungslandschaften

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Newcomer Warum St. Gallen, Chur und Basel neue Architekturschulen aufbauen

Hands-on! Bauen im Massstab 1:1 Brücken zwischen Akademie und Praxis

Akademisierung Architektur – eine Forschungsdisziplin? Technik und Humanismus im Gleichgewicht

Bewahren vs. Aufbruch Ausbildung für den Markt oder als Pièce de Résistance

Bildungs– landschaften

JUN–AUG 2.2016 CHF 28.– |  EUR  24.–


Bildungslandschaften JUN  –  AUG

2.2016

3 Editorial

38 Von Entwicklung

Rubriken

und Tradition 10 Welche Architekturausbildung? Christian Auer, Manuel Herz, Anna Jessen, und Tom Munz im Gespräch mit Elias Baumgarten und Andrea Wiegelmann über die neuen Architekturschulen in Basel, Chur und St. Gallen 20 Für eine Synthese

aus technischem Wissen und Humanismus Sieben Ideen als Grundlage für das Lehrkonzept der Akademie in Mendrisio Mario Botta, Marco Della Torre, Bruno Pedretti 32 Abandon your Pencils On the Use and Abuse of Architectural Theory of Life Christophe van Gerrewey

Die Geschichte der Ausbildung von Generalisten an der ETH Zürich Martin Tschanz

82 Neues Feingefühl Bericht über das archithesePecha-Kucha im S AM Elias Baumgarten, Jørg Himmelreich

48 Ideenwelt und Materie

zusammenführen Über Intentionen und Potenziale von hands-on-Projekten im Architekturstudium Jørg Himmelreich 60 Challenging the Frontiers of Architectural Education In Search of New Schools of Thought Peter Staub,  Vera Kaps, Johan de Walsche

84 Bildungslandschaft – zwischen Monokultur und Beliebigkeit Stephan Mäder sprach bei der archithavolata über Architekturausbildung und die Zukunft der Disziplin Elias Baumgarten 88 Top-Adressen im Internet 90 Neues aus der Industrie

72 Die Architektur

als Forschungsdisziplin Ausbildung zwischen Akademisierung und Praxisorientierung Anna Flach, Monika Kurath

Coverbild basierend auf einem Foto von Jon Etter. Im Rahmen des Semesterthemas im Frühjahr 2016 «Building for Disassembly» haben 24 Studierende des Studios von Dirk Hebel an der ETH Zürich ein Automobil in circa 5 000 Einzelteile zerlegt und dabei unterschiedliche Fügetechniken wie Schweissen, Nieten, Schrauben, Klemmen oder Kleben untersucht.


Eine neue Lesung der Postmoderne Erscheint am 1. September 2016

Science-Fiction Erscheint am 1. Dezember 2016

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Foto: Jason Kleeb


archithese  6.2015

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Editorial Bildungslandschaften

In ganz Europa ist eine Debatte über die Zukunft der Architekturausbildung in vollem Gange – angestossen durch die Bologna-Reform und weiter in Fahrt gekommen durch die veränderten ökonomischen, technischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Es besteht beinahe Einigkeit darüber, dass der Architekt ein Generalist sei und es auch bleiben müsse. Doch resultiert daraus nicht automatisch eine einheitliche Vorstellung von der Ausbildung. Geht es den einen darum, die Bedürfnisse von Markt und Industrie möglichst ideal zu bedienen, sehen andere die Hochschule als Ort des Experimentierens und des Widerstands, an dem eine eigene Agenda formuliert und verankert werden muss. Mal sind die Stimmen voller Hoffnung, dass die jetzige zumeist hohe Qualität der Lehre gegen alle Widrigkeiten erhalten oder gar ausgebaut werden kann. Und doch gibt es auch Pessimismus: Wie sollen Architekten Generalisten bleiben, wenn vielerorts die Rolle als Mastermind an Planer und Projektmanager verloren ging und lediglich die des raumgestalterischen Beraters oder Fassadendesigners übrig bleibt? Und wie realistisch ist es, Generalisten ausbilden zu wollen, wenn die Studiengänge bei einer Dauer von drei bis fünf Jahren bereits inhaltlich hoffnungslos überfrachtet sind und paradoxerweise zugleich als unvollständig gelten? In der Schweiz ist ein einschneidender Generationswechsel innerhalb der Professorenschaft in vollem Gange. Die alten Meister von Tendenza, Minimalismus, Bündner Schule und Analoger Architektur erreichen das Pensionsalter. Nun wäre es an ihren Kindern, die Lehrstühle zu erobern. Doch einige Schulen sind unsicher, ob sie mit Lehrern aus der Generation des anything goes ihre bisherigen prägnanten Profile erhalten können. Daher gilt es nicht nur, neue Profesorinnen und Professoren mit erfolgreichen Büros zu finden, sondern auch Persönlichkeiten anzustellen, die wichtige Traditionslinien aufrechterhalten oder – vielleicht noch wichtiger – prägnante neue Akzente setzen. Und wie ist es dabei um die Parität der Geschlechter bestellt? Nicht gut – mehr dazu im beiliegenden Sonderheft. In den vergangenen Monaten haben wir in einer Tour de Suisse Hochschulen in der Schweiz und in Liechtenstein besucht sowie diversen Schlusskritiken gelauscht. Unser besonderes Augenmerk galt dabei der Arbeit junger Dozenten. Wo wir Spannendes fanden, haben wir gegraben und einige der Studios im Heft mit doppelseitigen Porträts skizziert. Auch ein paar alte Hasen haben wir untergemischt, wenn sie uns mit innovativen Lehransätzen überrascht haben. Man darf bei diesen Untersuchungen nicht aus dem Auge verlieren, dass über Curricula zu sprechen hoch politisch ist. Schliesslich befinden sich die Schulen im Wettbewerb um Studierende, Budgets und Drittmittel. Das war uns bereits bewusst, als wir das Thema wählten, und bei Erstellung des Heftes haben wir es dann im Detail erfahren. Um uns nicht vor diverse Karren spannen zu lassen, haben wir gar nicht erst versucht, alle akuten Fragen stellen oder gar beantworten zu wollen. Stattdessen haben wir in der Tradition unserer Schriftenreihe zur Architekturtheorie thematische Schwerpunkte ausgewählt und uns von persönlichen Interessen leiten lassen. Uns beschäftigt die Rolle der Theorie und die kniffelige Definition des Begriffs «Forschung». Wir haben das derzeit florierende Phänomen vom 1:1-Bauen an den Hochschulen untersucht und die Beweggründe hinter der Neugründung von Architekturschulen in Basel, St.Gallen und Chur beleuchtet. Und, obwohl wie so oft stark auf die Schweiz fokussierend, haben wir auch ausgewählte Beispiele aus dem europäischen Ausland eingestreut. Wir hoffen, die Debatte inspirieren zu können! Die Redaktion Übrigens: In unserem Blog auf www.archithese.ch sind viele weitere Beiträge zur aktuellen Debatte über die Struktur und die Inhalte der Architekturausbildung zu finden.


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Educational Landscapes In Switzerland and all of Europe, a debate about the future of architectural education is in full swing – set in motion by the Bologna reform and given additional momentum by the new economic, technical and social conditions. It is widely agreed that architects are generalists and must remain so. But that consensus does not automatically result in a uniform notion about education. Whereas some seek the most ideal way to serve the needs of the market and industry, others see the university as a place of experimentation and opposition, where one’s own agenda must be formulated and rooted. Sometimes the voices are full of hope that the current, generally high quality of teaching can, against all odds, be maintained or even increased. Yet there is also pessimism: How can architects remain generalists when in many places the role as mastermind has been lost to planners and project managers and what remains is merely a role as a spatial artistic consultant or facade designer? And how realistic is to want to train generalists when the programs of study, which last three to five years, are already hopelessly overloaded with content and, paradoxically, are simultaneously regarded as incomplete? In Switzerland, a radical generational change within the professorate is in full swing. The old masters of Tendenza, minimalism, the Bündner Schule and Analogue Architecture are reaching retirement age. Seems a bit strange – maybe: “Now it is time for younger architects to step into their shoes.” But some schools are unsure whether they can retain their present salient profiles with the “anything goes” generation as teachers. Now the task is not only to find new professors who have successful practices, but also to hire prominent figures who sustain important lines of tradition, or – perhaps more importantly – set salient new accents. And how is the situation with gender parity? Not good. Read more about it in the accompanying special supplement. In a veritable Tour de Suisse over the past few months, we have visited schools of higher education in Switzerland and Liechtenstein, eavesdropping on various final critiques. We paid particular attention to the work of young docents. Where we detected something exciting, we dug deeper and portray some of the studios with double-page spreads in the magazine. We also added a few old hands to the mix when they surprised us with innovative teaching approaches. Discussing curricula is highly political. Ultimately, the schools are competing for students, budgets and external funding. We were aware of that when we chose the theme, and in producing this issue we came to know many of the details. To avoid putting the cart before the horse, we have not even attempted to raise all the acute questions, let alone tried to answer them. Instead, following our tradition as a publication series devoted to theory, we have selected areas of thematic focus and allowed ourselves to be guided by personal interests: We are captivated by the role of architectural theory and the tricky definition of the term “research”. We have examined the currently flourishing phenomenon of 1:1 construction at universities and cast light upon the motives behind the establishment of new architecture schools in Basel, St. Gallen and Chur. And – although we cast a strong focus on Switzerland, as is often the case – we have also interspersed selected examples from other European countries. The editors

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Tour d’horizon de la formation Nous sommes, en Suisse et en Europe, en plein débat sur la formation des architectes. initiée par la réforme de Bologne, elle (la formation) a été relancée par des conditions-cadre changeantes, tant économiques, techniques que sociales. De manière quasiment unanime, les intervenants s’accordent à dire que l’architecte est un généraliste et qu’il doit le rester. Il n’en résulte pas pour autant une conception uniforme de l’enseignement. Alors que les uns pensent devoir combler au mieux les besoins du marché et de l’industrie, les autres voient les hautes écoles comme un lieu d’expérimentation et de résistance doté de son propre agenda dûment formulé et établi. D’une part, les voix qui s’expriment sont pleines d’espoir, dans l’idée que le niveau généralement élevé sera maintenu contre vents et marées, voire développé. Mais le pessimisme n’est pas absent: comment les généralistes sauraient-ils le rester alors qu’en bien des endroits, leur rôle dirigeant s’est perdu au profit de celui de planificateurs et de gestionnaires de projets et qu’il ne leur reste qu’un rôle de conseiller en matière d’agencement de l’espace ou de designer de façade? D’autre part, est-il réaliste de vouloir former des généralistes alors que le cursus de 3 à 5 ans est déjà surchargé au niveau du contenu et que, paradoxalement, il passe en même temps pour incomplet? Un changement générationnel décisif s’opère actuellement en Suisse au sein du corps professoral. Les vieux maîtres de la tendenza, du minimalisme, de l’école grisonne et de l’architecture analogue atteignent l’âge de la retraite. Ce serait en principe au tour de leurs «enfants » de conquérir les chaires de l’enseignement. Certaines écoles sont cependant inquiètes et se demandent si elles pourront conserver leur profil marquant avec des enseignants de la génération du «tout est possible». Il convient maintenant non seulement de trouver des professeurs placés à la tête de bureaux renommés, mais encore, d’engager des personnalités susceptibles de maintenir des courants traditionnels établis ou, ce qui semble peut-être plus important encore, de marquer de nouveaux accents forts. Et qu’en est-il de la parité des genres? Elle n’est pas bonne, comme il ressort du tiré à part. Au cours des derniers mois, nous avons fait un Tour de Suisse des hautes écoles de Suisse et du Liechtenstein et nous avons entendu des critiques de projets. Notre attention s’est concentrée sur des travaux de jeunes chargés de cours. Là où nous avons découvert quelque chose de passionnant, nous avons approfondi la question et nous présentons, sur une double page, quelque uns des bureaux correspondants. Lorsqu’ils nous ont surpris avec un type d’enseignement innovant, nous avons aussi glissé parmi eux quelques vieux loups. Parler des spécificités des écoles est éminemment politique dans la mesure où celles-ci se trouvent en concurrence pour ce qui est des étudiants, des budgets et des fonds alloués par des tiers. Nous en étions conscients au moment du choix du thème de ce numéro, et nous l’avons vécu en détail lors de son élaboration. Nous n’avons pas succombé à la tentation de poser les questions les plus brûlantes, et encore moins d’y répondre, ceci, afin de ne pas être instrumentalisés. En lieu et place, et dans la tradition de notre revue, nous avons choisi des points forts thématiques se rapportant à la théorie et nous nous sommes laissés guider par nos intérêts personnels. Le rôle de la théorie architecturale retient notre attention tout comme la définition épineuse de la recherche. Nous avons examiné le phénomène actuellement florissant des constructions grandeur nature dans les hautes écoles, et nous avons porté un éclairage sur les raisons qui conduisent à la création de nouvelles écoles d’architecture à Bâle, St-Gall et Coire. Et bien que notre regard se concentre, comme bien souvent, sur la Suisse, nous avons aussi introduit des exemples choisis dans notre entourage européen. La rédaction


Welche Architekturausbildung? Christian Auer, Manuel Herz, Anna Jessen und Tom Munz im Gespräch mit Elias Baumgarten und Andrea Wiegelmann Der zweite fsai-Talk war eine Debatte um die Neugründung respektive den Relaunch von Architekturschulen in Basel, St. Gallen und Chur. Welche Motivation steckt dahinter und sind weitere Ausbildungsstätten innerhalb der bereits dichten Schweizer Bildungslandschaft überhaupt vonnöten? Und welches Potenzial für die Lehre eröffnet sich durch diese Veränderung?


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Christian Auer, Manuel Herz, Anna Jessen und Tom Munz debattierten mit Elias Baumgarten und Andrea Wiegelmann über die Zukunft der Architekturausbildung und die Motive hinter den Neugründungen in Chur, Basel und St. Gallen. (Fotos: Markus Frietsch)

Andrea Wiegelmann

Bevor wir über

Unterrichtskonzepte, Stärken und Ziele der geplanten neuen Studiengänge diskutieren, interessiert uns, was Sie zu den Neugründungen bewogen hat. In der Schweiz gibt es bereits zehn Architekturschulen – ETHs und FHs –, die Ausbildungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten auf hohem Niveau anbieten. Nun werden zusätzliche Bachelorstudiengänge in St. Gallen und Chur sowie ein neuer Masterstudiengang in Basel eingerichtet, an deren Konzeption Sie massgeblich beteiligt sind. Sind diese wirklich nötig?

In St. Gallen mangelt es und stellen andere Anforderungen. Es an geeignetem Nachwuchs für die Büros. ist also unverzichtbar für unsere Arbeit, Seit die Architekturausbildung 2007 im die kulturellen Eigenheiten einer RegiZuge der Bologna-Reform umstruktu- on verstehen zu können – unabhängig riert wurde und es hier keine Schule vom Studienort. Dies erfordert seitens mehr gibt, gehen die Studierenden nach der Architekturschaffenden ein feines Zürich, Winterthur oder Vaduz und die Verständnis, das in der Ausbildung wiewenigsten kommen wieder zurück. So der vermittelt werden muss und einen fehlen junge Architektinnen und Archi- Schwerpunkt bilden sollte. Entspretekten mit Verständnis für die regionale chend grosse Hoffnungen setzen meine Baukultur, die überdies noch fähig sind, Kollegen und ich in die Neuauflage einer relativ schnell eigenständig als Projekt- Architekturausbildung in St. Gallen. Wir leiter zu arbeiten. Man muss sehen, dass wünschen uns junge Architekten, die in St. Gallen eine andere Architektur- sich dafür begeistern, unsere Region sprache vonnöten ist als zum Beispiel in mitzugestalten. Zürich oder Basel; die Bauherrschaften – egal, ob öffentliche Hand oder Privatiers – wünschen sich andere Lösungen Tom Munz


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Für eine Synthese aus technischem Wissen und Humanismus Sieben Ideen als Grundlage für das Lehrkonzept der Akademie in Mendrisio Im Jahr 1996 wurde in Mendrisio eine neue Architekturschule gegründet. Um ihre Lehre zu konzipieren und geeignete Professoren zu wählen, mussten zuerst grundlegende Fragen nach dem zeitgemässen Bild des Architekten gestellt und beantwortet werden: Ist der Architekt ein Generalist oder Spezialist? Soll er mit oder gegen die Realitäten von Ökonomie und Bauwirtschaft agieren? Gilt es, regionale, europäische oder gar globale Architekten auszubilden? Als Mendrisios grösstes Potenzial sah man seine besondere geografische Lage zwischen zwei Kulturräumen. Entsprechend präsentiert sich das Curriculum der Schule als Mediator zwischen den technisch ausgerichteten Universitäten Nordeuropas und der humanistischen Tradition des Mittelmeerraums. Autoren: Mario Botta, Marco Della Torre und Bruno Pedretti Übersetzung aus dem Italienischen: Eva Martina Strobl Deutsches Übersetzungslektorat: Jørg Himmelreich

Für eine neue Synthese Architektur ist eine künstlerische Disziplin, in deren Ausbildung intellektuelle und technische Fähigkeiten erlernt werden sollen, welche auf die berufliche Praxis vorbereiten. Eine Universität ist jedoch nicht nur ein Ort der Lehre; sie muss auch Raum zur Auseinandersetzung mit dem kulturellen Fortschritt und dem stetig wachsenden Wissen bieten. Gerade bei einer Hochschulneugründung ist es unabdingbar, ein Bewusstsein für die eigene kulturelle Rolle zu etablieren und dieses mit einem starken, innovativen Geist zu paaren. Die Hochschule kann frei von einschränkenden Routinen konzipiert werden, die sich mit der Zeit in allen kulturellen Institutionen einschleichen. Frei von Traditionen kann unmittelbarer

auf die Herausforderungen und Bedürfnisse der Zeit reagiert werden. Gut geplant kann eine neue Universität somit zum Seismografen für aktuelle Probleme werden und ein Ort sein, an dem geforscht und kritisch reflektiert wird.

Ein Labor der Baukultur Innovation gilt den meisten als Notwendigkeit. Der Drang, etwas Neues hervorzubringen, ist in unserer Kultur mittlerweile beinahe zwanghaft – mit allen Vor- und Nachteilen. Das hat unmittelbare Auswirkungen auf die Strukturen und Inhalte der universitären Ausbildung.


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AR BO NAB U N NN O L US D G ET, N DI, I M OM U E N E S NE S D R DA ISI O SILV A

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Stadt, Land und Fluss Ein ausgeprägtes und raffiniertes Kanal- und Bewässerungssystem versorgt die Stadt Marseille und die umliegenden Täler mit frischem Wasser aus den Seealpen. Entsprechend sind die Ländereien rund um die wichtigste Hafenstadt Frankreichs fruchtbare Ackerflächen. Als Geflecht aus Siedlungsraum und Landwirtschaftsflächen wirken sie je nach Blickwinkel wie vorstädtische Landschaften oder urbane Gärten. Im Zuge der anhaltenden Bevölkerungszunahme steht die Hauptstadt des Départements Bouches-du-Rhône heute jedoch vor der Frage, wie die wachsende Grossstadt mit der Landschaft in ein Verhältnis zu setzen sei. Die drei Studios der Akademie in Mendrisio von Frédéric Bonnet, Michele Arnaboldi sowie João Nunes und João Gomes da Silva machten sich im September 2015 zu einer Exkur sion in den Süden Frankreichs auf – mit dem Ziel, das Gebiet um Marseille zu verstehen und Ideen zu entwickeln, wie die Identität des Stadtgebiets gestärkt werden könnte. Die Antwort fand man an den meist als problematisch empfundenen Schwellensituationen zwischen Land(-wirtschaft) und Stadt. Die Studierenden entwarfen verschiedenartige Projekte, die sie unter dem Titel «Marseille Agrocity» zusammenfassten und die zwischen Landschaft, Städtebau und Architektur oszillieren. In Frédéric Bonnets Studio entwarf beispielsweise Chiara Carraro eine Markthalle für ein Areal am nordöstlichen Ufer des Étang de Berre und am Fluss Arc. Hier könnten die regionalen Bauern ihre Produkte anbieten, womit der Markt zugleich zu einem sozialen Treffpunkt der Region würde. Für den Parc naturel régional de Camargue im Rhônedelta entwickelte Riccardo Cola aus dem Atelier Nunes und Gomes da Silva eine künstliche Düne. Das Projekt versucht eine Lücke im natürlichen Gürtel zu schliessen, um die dahinterliegenden Gebiete besser vor Sturmfluten und Erosion zu schützen. Das modulare System aus Betonelementen würde im Lauf der Zeit vom Sand überlagert. Das dadurch entstehende skulpturale Ensemble ist zwischen Land-Art und Architektur zu verorten. Bis der Sand der Zeit es verschlungen hätte, könnte es den Strandbesuchern als Rückzugsort und Schattenliegeplatz dienen.

Oben Axonometrische Darstellung von Arbeiten des Studio Bonnet: Andrea Denisa Balaj, Francesco Giuseppe Bellini, Elia Bianchi, Chiara Carraro, Gemma Carzaniga, Nicolò Clerici, Filippo Cocco, Ludovica Di Betta, Giacoma Di Vieste, Eleonora Dradi, Federico Maria Farinatti, Tommaso Fruga, Stefano Gariglio, Patrick Heller, Ruoxin Li, Jara Mahdavi Daronkola, Marco Malgarini, Hannah Elizabeth Matthews, Mio Oribe Ueno Stuberg, Basil Studer, Ljiljana Tubak und Alice Zanzi. Links unten Chiara Carraro, Studio Bonnet, Markthalle am Fluss Rechts oben Verschiedene Entwürfe für das Rhônedelta. (Foto: Elias Baumgarten) Rechts unten Riccardo Cola, Studio Nunes und Gomes da Silva, Künstliche Düne (Foto: Jørg Himmelreich)



Von Entwicklung und Tradition Die Geschichte der Ausbildung von Generalisten an der ETH Zürich Das Departement Architektur der ETH Zürich ist nicht nur bei Weitem die grösste, sondern auch die bedeutendste Ausbildungsstätte für Architektinnen und Architekten in der Schweiz. Und doch ist ihre Geschichte noch wenig erforscht. Dieser Essay1 schliesst ein Stück dieser Lücke und zeigt auf, dass sich mit der Idee vom Architekturschaffenden als Generalisten ein roter Faden durch die Entwicklung von der «kleinen» Bauschule zum renommierten D-ARCH zieht. Autor: Martin Tschanz

Die Bauschule Die Bauschule war eine von sechs Abteilungen der am 15. Oktober 1855 eröffneten eidgenössischen polytechnischen Schule. Die dort stattfindende dreijährige Ausbildung sollte überwiegend praktisch und technisch orientiert sein, wobei man Absolventen mit künstlerischen Ambitionen befähigen wollte, ihre Studien anderswo zu vollenden. Als erster Professor und Vorsteher wurde Gottfried Semper berufen, der als ausgewiesener Baukünstler und Theoretiker dieser Konzeption nur wenig entsprach. Die zweite, überwiegend technisch ausgerichtete Professur für Zivilbau konnte erst 1857 mit Ernst Gladbach besetzt werden. Dieser stand als Lehrer im Schatten Sempers, machte sich aber einen Namen als Erforscher der Schweizer Holzbautradition.

1 Der Text basiert auf Vorarbeiten zur Publikation Die Bauschule am Eidgenössischen Polytechnikum in Zürich. Architekturlehre zur Zeit von Gottfried Semper (1855–1871), die 2015 erschien und auch dem historischen Abriss auf der Homepage des D-ARCH zugrunde liegt.

Semper versuchte ein Unterrichtsmodell einzuführen, das sich an der Pariser École des Beaux Arts orientierte. Innerhalb der straff organisierten Struktur des Polytechnikums liessen sich seine Vorstellungen jedoch nur in Ansätzen realisieren. Immerhin: Die Bauschüler arbeiteten im Zeichensaal an praxisnahen Aufgaben, konnten voneinander lernen und sich in Konkurrenz miteinander messen. Die besonders Talentierten durften überdies an Sempers eigenen Projekten mitarbeiten. Neben dem Atelier, das sich rasch als Zentrum der Ausbildung etablierte, umfasste der Fächerkanon Vorlesungen in Architektur und Konstruktion, Baumateriallehre, Mathematik, darstellender Geometrie, Mechanik, Strassen- und Wasserbau, Recht und Kunstgeschichte. Dazu kamen Freifächer und Unterricht im Figuren- und Ornamentzeichnen sowie Modellieren. Die Mischung aus straff organisiertem Schulbetrieb und künstlerischer Arbeit im Atelier, die sich bereits in den Anfängen herausbildete, ist bis heute charakteristisch für die Architektenausbildung an der ETH. Semper erreichte, dass der Titel des Diploms von «Baumeister» zu «Architekt» geändert wurde. Nicht durchzusetzen vermochte er sich jedoch mit Anträgen zur Verlängerung des Studiums. Als Lehrer galt er seinen Schülern, obwohl hoch respektiert, als wenig zugänglich und schwer verständlich. Dementsprechend wichtig waren die Hilfslehrer, späteren Kollegen und Nachfolger Georg Lasius und Julius Stadler für die Lehre.



Ideenwelt und Materie (wieder) zusammenführen Über Intentionen und Potenziale von hands-on-Projekten im Architekturstudium Stand für circa zwei Jahrzehnten das digitale Entwerfen und Modellieren an den Architekturschulen im Rampenlicht, so stiehlt die hands-on-Bewegung ihnen zunehmend die Schau. Von Studierenden entworfene und gebaute Projekte gedeihen auf den Campussen der westlichen Hemisphäre – archaisch und traditionell oder auch avantgardistisch und experimentell. Doch was steckt dahinter? Sind sie nur in Mode oder gar eine Übersprungshandlung der Digital Natives im Sinne einer kollektiven Therapie für vom physisch Entfremdeten? Oder ist hands-on eine Widerstandsbewegung, mit der Professoren subversiv zur Opposition gegen die Verdrängung des Architekten aus Detailplanung und Ausführung aufstacheln? Oder geht es gar im Gegenteil darum, möglichst marktgerecht Studium und Praxis einander anzunähern? Für diesen Essay haben wir einigen Schweizer Studios, in denen solche 1:1-Projekte entstehen, «auf die Finger geschaut», Gemeinsamkeiten und Unterschiede entdeckt und gelernt: Es ist ein bisschen was von all dem und noch mehr! Autor: Jørg Himmelreich

Ein Phänomen – viele Namen Von der Randerscheinung zum didaktischen Flaggschiff In wenigen Tagen wird der imposante Pavilion of Reflections vis-à-vis vom Sechseläutenplatz im Zürichsee verankert. Von der schwimmenden VIP-Lounge der Fussballeuropameisterschaft war ein stählerner Ponton übrig geblieben. Dieser bildet nun die Basis für den neuen hölzernen Pavillon, der von 30 Studierenden des Studios von Tom Emerson an der ETH Zürich entworfen und (mithilfe diverser Spezialfirmen für Holz-, Wasser- oder Stahlbau) in mehreren Wochen zusammengebaut wurde. Die räumlichen Fachwerke für zwei Dächer, Tribüne und Turm wurden aus circa 100 000 Profilen gefügt.2 Wegen des geringen Querschnitts der Hölzer von nur fünf mal fünf Zentimetern wirkt die Konstruktion leicht und luftig – und doch ist das Projekt insgesamt weitaus grösser, als es ein Hands-on-Projekt erwarten lassen würde. Einen Sommer lang wird der Pavillon nicht nur als Infopoint, Bar, Kino und Schwimmbad Besucher der Kunstbiennale Manifesta anziehen. 23 mal 32 Meter breit, 150 Tonnen schwer 3 und über CHF 600 000 teuer, wird er zugleich das aufwendigste Flaggschiff der hands-on Bewegung sein, das je errichtet wurde.4 Ein guter Anlass, den dahinterstehenden Lehransatz zu reflektieren und zu beleuchten, welche Intentionen ihm zugrunde liegen. (Siehe zum Pavilion of Reflections auch: Studioporträt Tom Emerson, S. 44–45.)

«1:1-Bauen», «Design-as-you-Build» oder «hands-on» – das Phänomen hat viele Namen. War es vor Jahren noch ein zartes Pflänzchen, hat es sich mittlerweile zu einem wichtigen Bestandteil der Curricula vieler Architekturschulen emanzipiert. Fielen zuerst Britische und US-Schulen mit diesem Ansatz auf, ist er nun auch in der Schweiz, in Deutschland und Österreich etabliert – vermittelt und gebaut wird in seinem Sinne in Summerschools, Seminarwochen, Blockseminaren oder regulären Entwurfsstudios. Es entstehen experimentelle Konstruktionen, prototypische Ausschnitte grösserer Bauten, Pavillons oder konstruktive Details. Der unmittelbare Reiz für die Studierenden leuchtet ein: Statt bloss Papierfantasien zu entwickeln, entsteht bereits im Studium ein physisches Artefakt. Auch wenn nicht alle Resultate derart im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen wie der Pavilion of Reflections – fast alle werden im öffentlichen Raum oder zumindest auf den Campussen gezeigt. Das ermöglicht, sie auf ihren Gebrauchswert, ihre Haltbarkeit und Anmutung hin zu testen.



Challenging the Frontiers of Architectural Education In Search of New Schools of Thought Today, schools of architecture are no longer solely focusing on teaching and research. In order to justify their relevance, they are often required to bridge the gap between academia and practice and to address a wider audience. By doing so, they start to venture into the expertise of institutions that specialize in fostering public awareness for the built environment. New symbiotic partnerships are required. Authors: Peter Staub, Vera Kaps and Johan de Walsche

Since the 20th century, architectural education in Europe has been affected first by parameters determined by educational reforms and more recently by economic pressures. The former could be summarized by the Bologna Process, which was initiated in response to a globally changing world and has resulted in increased internationalization facilitated by mobility and digitalization: student bodies and teaching staff are composed of multiple nationalities; international internships, research projects and institutional cooperations are encouraged and lead to the expansion of academic networking around the globe; English serves as the common language; online, live stream lectures and distant learning are prevalent.

In this process, education and thus knowledge production are increasingly understood as globally marketable products, and the public and private bodies that fund education demand easier accessibility to education and research in terms of better communication of its outcomes to stakeholders and the public. This means that higher education and research are no longer matters solely for educators and researchers. The outcome of academic education and research needs to be communicated to society, addressing and involving people from outside academia – practitioners, policymakers and society as a whole. Given its societal and multidisciplinary nature, architectural education is a field in which these tendencies are particularly at stake. The domain today is confronted with the challenge of tackling the trifold gap between academia, practice and society. It has almost become an obligation to address a wider audience, to mediate with the public in order to make the output of educational in­sti­tutions more accessible and to justify their existence and relevance. It can be observed that particularly for smaller institutions, fulfilling the requirements stated above proves to be a substantial challenge because it requires specific knowledge in a broad range of fields that is often beyond their capacities, which are generally focused on knowledge production or public mediation only. Hence we raise the question: What schools of thought have emerged that concentrate on the production and dissemination of knowledge in architecture?


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