archithese 4.2016 – Science-Fiction

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Bigger than life Architektur- und Stadtvisionen im Science-Fiction-Manga

Fiktion statt Dokumentation ! Ein Angriff auf die passive Architekturforschung

Schwerelos Zwischen Architekturund Gesellschaftsvision

Auf zum Mars ! Architekturen für den roten Planeten

Science-Fiction

DEZ–FEB 4.2016 CHF 28.– | EUR 24.–


Science-Fiction DEZ – FEB  archithese 4.2016 46. Jahrgang

3 Editorial

46 Megamaschine, Dschungel,

Chaos 8 Die Zukunft lässt Raum Das Potenzial der Unschärfe in der literarischen Science-Fiction Boris Buzek

Die fantastisch-eklektischen Architektur- und Stadtvisionen im Science-Fiction-Manga Diane Luther

18 Von den Vorzügen der

54 Destination Mars Exploring Martian Speculations, Aspirations and Imaginations Lukas Feireiss

78 Das Kino als Zeitmaschine Über die Verknüpfung von Zeit und Raum Simon Spiegel

Rubriken Fiktion für die Wissenschaft Axel Sowa 26 Der Traum vom Fliegen Schwerelose Architekturvisionen Elias Baumgarten 37 Faszination Raumfahrt Michael Najjars Fotoprojekt outer space Elias Baumgarten

62 Die Zukunft als endloser Remix Zur Rolle von Architektur in den Star Wars-Filmen Jørg Himmelreich

84 Architekturreise des FSAI Eindrücke aus Münstertal, Vinschgau und Südtirol vom September 2016 86 Premium Brands Online 88 Neues aus der Industrie 96 Vorschau und Impressum

72 Kommende Welten Science-Fiction-Städte und ihre gesellschaftliche, politische und räumliche Relevanz Steffen Krämer, Moritz Maikämper, Carolin Pätsch, Bodo Rott

Coverbild: Michael Najjar, final mission, 2011 Foto Ausklapper : Installation der archithese während der architektur0.16, die vom 28. bis 30. Oktober 2016 in der Zürcher Maag-Halle zu sehen war. Die Bilder stammen aus der Serie Visions et Utopies. Diese studentischen Arbeiten enstanden am Laboratoire des Arts pour les Sciences am Fachbereich Architektur der EPF Lausanne unter Leitung von Nicola Braghieri.


archithese kontext 9. Februar 2017 18.00 – 20.00 Uhr Kornhaus Zürich Sihlquai 306 Dachgeschosszimmer

Patrik Schumacher

AI-Architecture – The Shape of Things to Come

Welches architektonische Potenzial bergen Visionen? Patrik Schumacher spricht in seinem Vortrag über artifizielle Intelligenz in der Architektur. Die Veranstaltung ist zugleich Vernissage der jüngsten archithese 4.2016 Science-Fiction. Vorab lädt das Architekturbüro Harder Haas um 17.00 Uhr dazu ein, das neue Kornhaus bei einer Führung kennenzulernen. Die Teilnehmerzahlen von Vortrag und Führung sind auf je 80 Personen beschränkt. Der Eintritt zum Vortrag ist für Abonnenten der archithese gratis. Alle weiteren Gäste zahlen CHF 28.– ( bei Vorlage eines Studienausweises CHF 16.–) und erhalten dafür vor Ort die Science-Fiction-Ausgabe der archithese als « Eintrittskarte ». Die Anmeldung zu Vortrag und / oder Führung mailen Sie an : redaktion@archithese.ch

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Editorial Science-Fiction

Dass wir Science-Fiction zum Thema der Dezember-Ausgabe von archithese gemacht haben, war egoistisch und berechnend. Das Genre und die in ihm entworfenen räumlichen Welten haben auf uns eine magische Anziehungskraft – und wir haben gehofft, auch auf Sie. Nach dem geschäftigen Jahresende in den Büros bietet die Zeit « zwischen den Jahren » hoffentlich Freiräume zum Lesen. Vielleicht wollen Sie sich von einer etwas anderen Debatte um Architektur und Planung beflügeln lassen und zugleich die Möglichkeit zum Schwelgen und Fantasieren haben ? Insgeheim haben wir darauf spekuliert, dass Sie ( falls Sie nicht bereits einer unserer treuen oder neuen Abonnenten sind ) sich selber, einem Kollegen oder einer Freundin unser Science-Fiction-Heft zu Weihnachten schenken und damit die stetig steigenden Verkaufszahlen in unserem Webshop weiter nach oben schnellen lassen. Wir sind zuversichtlich ; schliesslich halten Sie die druckfrische Ausgabe in den Händen. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Wir müssen noch ein zweites Geständnis m ­ achen : Dieses Heft ist ein Trojaner. Mag es ­vordergründig Unterhaltung versprechen, haben wir darin eine grundlegende gesellschaftliche Debatte leicht verpackt und mehr oder minder direkt die Aufforderung zu mehr Fiktion in der Architektur in Stellung gebracht. Fiktion wird gemeinhin als Antonym zur Realität verstanden und häufig mit dem Unechten, Unrealistischen oder gar dem Fantastischen assoziiert. Doch sind diese beiden Sphären enger miteinander ver­woben, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Fiktion ist vielfach Spiegel von Verhältnissen, Agenden, Wünschen oder ­Unsicherheiten der Gegenwart. Über viele Jahrzehnte wurde unser Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und technologischem Fortschritt von den in Science-­Fiction ( vor- ) formulierten Trajekten beein­flusst – seien sie positiver oder nega­tiver Natur. In Büchern, Comics, Computerspielen oder Filmen kamen der Architektur – oder besser gesagt : dem Entwerfen ­visionärer oder utopischer Welten – handlungstragende Rollen zu. Das Genre war und ist ein Labor für zukunftswirksame Ideen ; von der Biologie über die Mechanik, die Politik, Gesellschaft und Ethik. Wir werfen Holz ins Feuer. Doch offensichtlich ist das derzeit nicht opportun, sondern beinahe anachronistisch. Fik­ tionen scheinen rar geworden zu sein. Eine neue Sinus-Studie will just herausgefunden haben, dass die heutigen Jugend­lichen neo-konventionell sind. « Sie versuchen sich nicht gegenüber Erwachsenen abzugrenzen und bilden keine Subkulturen. Zum ‹ Mainstream › zu gehören [ wird ] nicht als Schande empfunden. Junge Menschen wollen auffallend unauffällig sein. » Das stösst selbst bei der Neuen Zürcher Zeitung auf ­Kritik, obwohl das Blatt selbst gerade vom libera­len Kurs in ein neokonserva­tives Fahrwasser schwenkt. Bisher hat diese Entwicklung in der Architekturdebatte noch keine grössere Krise ausgelöst, doch in der Redaktion werden wir zunehmend unruhig. Wir sind überzeugt davon, dass sich unsere Disziplin permanent den gesellschaftlichen, ökologischen, ökonomischen, kurz, allen gesellschaftlichen Entwicklungen stellen und auf sie reagieren muss ; oder noch besser : sie bewusst formen sollte. Kann eine Schriftenreihe zum Gegensteuern beitragen ? Als wir bereits vor genau einem Jahr nach Innova­tionen in der Architektur fragten, stellten wir dem Axiomatischen noch klar das Mimetische anheim. Doch dieses Heft ist allein der Fiktion gewidmet. Wir fragen nach ihrer ( möglichen ) Rolle für Entwurf, Wissenschaft und Ausbildung und zeigen Zukunftsvisionen und Utopien – bewusst mit einer Prise Exotik und einer gewissen Radikalität. Die Redaktion

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Science Fiction Our choice to make science fiction the topic of the December issue of archithese was self-serving and calculating. Because the genre and the spatial worlds designed within it have a magic appeal for us – and we hope for you, too. After a busy time at work as the year draws to an end, the holiday season hopefully offers some free time to read. Do you perhaps want inspiration from a different debate on architecture and planning while also having an opportunity to indulge by letting your fantasies fly free ? Secretly, we speculated that ( if you are not one of our loyal or new subscribers ) you would give our science fiction issue as a Christmas gift to yourself, a colleague or a friend and as a result, the already rising sales figures in our web shop would literally rocket skywards. We are confident of that – after all, you are holding a freshly printed copy in your hands right now. But that’s only half the story. We have to make a second confession : This issue is a Trojan horse of sorts. While it may ostensibly promise entertainment, we have surreptitiously packed a fundamental social debate inside, more or less directly calling for more fiction in architecture. Fiction is commonly understood as the opposite of reality and is often associated with the artificial, the unrealistic, or even the fantastic. But these two spheres are more closely interwoven than it may seem at first glance. That’s because fiction is a manifold mirror of circumstances, agendas, wishes and uncertainties of the present. For many decades, our relationship to scientific knowledge and technological progress has been influenced by the ( pre- ) formulated trajectories of science fiction – whether positive or negative – that have been visualized in books, comics and films. Architecture – or, rather, the designing of visionary or utopian worlds – took on a major supporting role in this process. The genre was and is a laboratory for future ideas – from biology to mechanics to politics, society and ethics. And we are fanning the flames. Apparently, though, this is presently not opportune, but almost anachronistic, because fiction seems to have become rare. A new Sinus study purports to have found that today’s youth are neo-conventional. “They do not attempt to differentiate themselves from adults and do not form subcultures. To belong to the “mainstream” is not perceived as shameful. Young people want to be strikingly inconspicuous.” That actually provoked criticism in the Neue Zürcher Zeitung, even though the newspaper itself is currently shifting from a liberal course toward neoconservative waters. So far, this development has yet to trigger a major crisis in the architectural debate. But we on the editorial staff are increasingly restless. Because in the face of social, ecological, and economic events – in short, all societal developments – we are convinced that our discipline must continually confront and react ; or better yet : it should consciously shape these developments. Can a publication like ours help find countermeasures ? Exactly one year ago, as we sought innovations in architecture, we clearly chose to supplant the axiomatic with the mimetic. This issue, however, is dedicated solely to fiction. We probe its ( possible ) role in design, science and education, and we present future visions and utopias – intentionally adding a pinch of the exotic and a certain bit of radicalism. The Editors

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Science-Fiction Avoir choisi le genre science-fiction comme thème pour notre édition de décembre est un peu comme apporter de l’eau à notre moulin. Les espaces qui s’y développent exercent sur nous une attraction magique. Nous souhaitons qu’il en aille de même pour vous. Espérons que les fêtes de fin d’année vous offrent du temps libre pour la lecture, après une période de travail intense au bureau. Peut-être désirez vous être stimulé par un débat sur l’architecture qui sort de l’ordinaire, qui vous laisse prendre du bon temps à la lecture et donne libre cours à votre fantaisie. Nous avons secrètement spéculé sur le fait que vous alliez vous offrir ce numéro science-fiction pour Noël ( si vous n’êtes pas déjà un de nos fidèles abonnés ) ou en faire cadeau à des collègues ou ami(e). Vous stimuleriez ainsi les ventes en ligne qui sont, d’ores et déjà, en progression croissante. La preuve : vous tenez en main l’édition fraîchement sortie de presse. Prenez garde, ce numéro est un cheval de Troie ! Même s’il semble à première vue promettre du divertissement, nous y avons intégré un débat de fond en rapport avec notre société et, de manière plus ou moins sous-entendue, un appel à introduire plus de fiction dans l’architecture. La fiction est communément perçue comme antonyme de la réalité et elle est souvent associée à l’artificiel, l’irréaliste, voire le fantastique. Ces deux entités sont cependant plus fortement liées qu’il n’y paraît de prime abord, car la fiction est souvent un miroir des conditions de notre espace de vie, de nos stratégies et un catalyseur de nos vœux et incertitudes actuels. Durant de nombreuses décennies, notre relation avec les connaissances scientifiques et le progrès technologique a été influencée, de manière aussi bien positive que négative, par des trajectoires ( pré- ) formulées par la science-fiction visualisée sous forme de livres, de bandes-dessinées ou de films. L’architecture, ou plus précisément, la création de mondes visionnaires ou utopiques, y occupait une fonction charnière. La science-fiction a toujours été un laboratoire pour des idées futures, aussi bien pour la biologie et la mécanique, que pour la politique, la société et l’éthique. Nous attisons le feu. Cependant nous devrions nous poser la question de savoir, si la science-fiction est encore d’actualité : une étude récente de l’institut Sinus révèle que les jeunes d’aujourd’hui sont néo-conventionnels. Cette étude dévoile que la jeunesse n’essaie pas de se démarquer des adultes et de former des sous-cultures. « Suivre le courant majoritaire n’est pas perçu comme une honte. Les jeunes semblent se complaire dans un anonymat collectif ». Ceci a même provoqué la critique de la NZZ alors que le journal est en train de quitter sa ligne libérale au profit d’un filon néo-conservateur. Ce développement n’a jusqu’à présent pas encore déclenché de crise notoire au niveau du débat architectural. Cette évolution inquiète cependant de plus en plus la rédaction d’archithese. Nous sommes en effet persuadés que notre discipline ne doit avoir de cesse de relever le défi social, écologique, économique, en bref, réagir à tous les développements de la société. En plus, elle devrait consciemment les former. Une revue est-elle à même de contribuer à renverser la vapeur ? Nous étions déjà, il y a très exactement une année, en quête d’innovations dans le domaine de l’architecture, mais ce qui était pionnier découlait encore clairement de l’acquis. Ce numéro est dédié à la seule fiction. Nous nous interrogeons sur son rôle possible pour la conception architecturale, la science et l’enseignement, et nous vous présentons quelques visions et utopies – et ceci consciement – avec une prise d’exotisme et une certaine radicalité. La rédaction


Die Zukunft lässt Raum Das Potenzial der Unschärfe in der literarischen Science-Fiction Literatur entzieht sich dem Diktat bildlicher Darstellung und hat somit die Kraft, Denkräume zu öffnen. In ihr wird Zukunft jenseits des dreidimensionalen Raums gedacht und sie vermag die vermeintlichen Gegensätze von Realität und Virtualität zu überwinden. Autor : Boris Buzek

Wie sehen Räume der Zukunft aus ; wie wird sich unsere Lebensumgebung entwickeln ? Verschiebt sich die Realität unserer Beziehungen, Arbeit, Unterhaltung, Shopping und so weiter in virtuelle Räume ? Wenn morgens die Passagiere eines Trams schweigend auf die Bildschirme ihrer Smartphones starren – kann das als Zeichen einer entsprechenden Entwicklung gedeutet werden ? Zeugt die steigende Zahl von Skype-­ Konferenzen mit Projektmitarbeitenden – egal, ob sie nun im Homeoffice in Zürich-Wiedikon oder in Montréal sitzen – von einer Virtualisierung der Arbeitsprozesse ? Das Brocki heisst im 21. Jahrhundert eBay ; der Detailhandel verschiebt sich von Warenhäusern und Boutiquen hin zu Online-Shops und Labelseiten. Dating findet online statt, und in Gesprächen wird zwischendurch etwas im Internet nachgeschaut ; Abwesende werden per Chat oder Livestream auf dem Laufenden gehalten. Jüngst beschäftigte die Überlagerung von Virtualität und Rea­ lität im Spiel Pokémon Go die Medien weltweit. Dabei ist schon die Unterscheidung zwischen Realität und Virtualität problematisch : « There’s no such thing as real life, just AFK », lautet ein populärer Spruch der Netzkultur. Das Kürzel steht für away from keyboard und dessen Verwendung

für das Abwesendsein im Cyberspace trägt der Forderung Rechnung, dass die virtuelle Wirklichkeit als nicht weniger real zu betrachten sei als die physische. Dabei wird gerne auf die Tradition literarischer F ­ iktion referenziert – von Fjodor Michailowitsch Dostojewskis Der Idiot ( 1869 ) bis William Gibsons Neuromancer ( 1984 ). Realität und Virtualität sind längst nicht mehr als Antonyme zu verstehen, sondern als ein sich in seinen Bedeutungen überlagerndes Begriffspaar. Doch wenn dem so ist – welche Bedeutung bleibt dann dem physischen Raum ? Was bringt die Verschränkung von Realität und Virtua­ lität in Bezug auf die Raumerfahrung mit sich ? Was meinen wir beispielsweise, wenn wir derzeit von « Stadtraum » reden ? Und worin wird damit künftig die Aufgabe der Architektur liegen ?

Die begleitenden Bilder sind eine Auswahl studentischer Arbeiten aus dem Laboratoire des Arts pour les sciences LAPIS am Departement Architektur der EPF Lausanne unter Leitung von Nicola Braghieri. Entstanden sind sie im Rahmen des Masterkurses «Visions et Utopies». Benjamin Baertschi, 2014–2015


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Von den Vorzügen der Fiktion für die Wissenschaft In der Architektur wird immer mehr « geforscht ». Sehr oft handelt es sich dabei jedoch um dokumentarische Arbeiten, in denen mehrheitlich das Scheitern von Architektur und Planung festgehalten wird. Wie kommen wir aus den unzähligen Darstellungen der zermürbenden Realität heraus ? Die Wiederentdeckung der Fiktion weist einen möglichen Ausweg. Autor : Axel Sowa

Am Abend des 23. November 2000 ereignete sich im Konferenzsaal des Architekturzentrums Arc en Rêve von Bordeaux ein denkwürdiges Spektakel. Anlässlich der Eröffnung der Ausstellung Mutations hatten deren Kuratoren Rem Koolhaas, Jean Nouvel, Stefano Boeri, Sanford Kwinter und HansUlrich Obrist auf der Bühne Platz genommen, um den angereisten Journalisten ihre Absichten und Ziele zu erklären. Die Stadt Bordeaux hatte nicht nur ein kolossales Budget bereitgestellt, sondern auch Kuratoren von Weltrang mobilisiert, um in dieser gross angelegten Schau eine globale Bestandsaufnahme des Städtischen zu zeigen.1 Das wirklich Erstaunliche war jedoch, dass die auf der Bühne versammelten Kuratoren unentwegt von «Forschung » redeten. In geradezu inflationärer Vehemenz durchzog der Begriff den Fluss sämtlicher Verlautbarungen. Es bestand schon nach fünf Minuten kein Zweifel mehr : Mutations war eine rein wissenschaftliche Angelegenheit. Auf die Frage nach ihrem Wissenschaftsverständnis und der Überprüfbarkeit des zusammengetragen Wissens reagierten die Kuratoren jedoch unwirsch. Als sie gebeten wurden, ihre Methodik offenzulegen, folgte beklommenes Schweigen. Es wurde deutlich, dass Wissenschaft eher fingiert als betrieben wurde. Die zu Forschern mutierten Architekten legten

weder initiale Fragestellungen vor noch waren sie bereit, ihre Kriterien zu diskutieren. Ungeachtet dessen war der dokumentarische Eifer beeindruckend, mit dem alle Teile der Ausstellung erstellt und zu einem kaleidoskopartigen Bild zusammengefügt worden waren. Gezeigt wurden beispielsweise moderne Einkaufswelten, die Stadt Lagos, nordamerikanische Bungalows oder die europäische Suburbia. Bemerkenswert waren jedoch nicht die fotografischen und kartografischen Dokumentationen, sondern die Tatsache, dass Boeri, Koolhaas und Nouvel mit der Ausstellung und dem parallel erschienenen Buch vor den Augen des staunenden Publikums die Rolle von Gestaltern abstreiften und stattdessen in die von empirischen Sozialwissenschaftlern, Stadtgeografen und Ethnologen


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Ermin Mete Erdogan, Entroforming Upon a Globe 1, 2015, Acryltinte auf Aluminiumplatte, 150 × 100 cm

schlüpften und damit einen Stellungswechsel im Architekturdiskurs einleiteten. Wenn Zuschauer des munteren Bühnenspiels gehofft hatten, der dadaistische Spuk würde eine einmalige Episode bleiben, haben sie sich getäuscht. Mutations wurde ein grosser Erfolg, der weltweit Schule machte. Die Schau bildete den Anfang einer Reihe von Veröffentlichungen, mit denen jene Winkel der Welt ausgeleuchtet wurden, in denen architektonisches Handeln entweder kläglich gescheitert ist oder überhaupt nie stattgefunden hat. 2003 erschien Multi­ plicity von Stefano Boeri ; 2004 veröffentlichte Philipp Oswalt seine internationalen Feldforschungen zu schrumpfenden Städten ; 2007 legte Eyal Weizman sein Buch Hollow Land zur israelischen Siedlungspolitik vor. Diese Studien sind allesamt

1 Rem Koolhaas / Stefano Boeri u. a. ( Hg. ), Mutations, Katalog zur Ausstellung im Arc en rêve centre d’architecture, Barcelona 2000.


Der Traum vom Fliegen Schwerelose Architekturvisionen Viele Architekten knüpfen die Hoffnung auf eine bessere, kreativere und freiere Gesellschaft an die ­Metapher des Fliegens. Im Verlauf der Architekturgeschichte wurden zahlreiche Fantasien und Projekte hervorgebracht, die im Spannungsfeld zwischen Unmöglichem und Möglichem, sozialen Utopien und Überlegungen zur Funktion, zwischen bildhaften Fantasien und den Zwängen der Konstruktion an verschiedenen Punkten verortet sind. Dieser Essay ist eine Auslegeordnung innerhalb dieses Koordinatenkreuzes. Er stellt sechs Protagonisten aus der Kunst- und Architekturszene vor, die von fliegenden Architekturen träumen oder sie mit mehr oder weniger grossen Kompromissen bereits in eine architektonische Wirklichkeit überführt haben. Autor : Elias Baumgarten

Das 20. Jahrhundert hat unzählige Zukunftsvisionen hervorgebracht. Visionäre wie Constant Nieuwenhuys oder Lebbeus Woods erdachten fliegende Architekturen ; Wolken, die sich scheinbar über die Schwerkraft hinwegsetzen. Ihre Zeichnungen, Pläne, Modelle und Texte faszinieren uns bis heute. Sie haben die Imagination zahlreicher weiterer Künstler und Architekturschaffender stimuliert und sie zu eigenen Gestaltungen angespornt. In der Vergangenheit gingen solch non-konforme Architekturen häufig mit sozialen Utopien Hand in Hand. Schon seit geraumer Zeit verknüpfen Architekturschaffende den Traum vom Fliegen mit Gesellschaftsvisionen : Von der russischen Avantgarde der 1920er-Jahre, dem Wolkenbügel El Lissitzkys ( 1929 ) oder den fliegenden Städten Georgy Krutikovs ( 1928 ) , über De Stijl, Constant und Österreichs Avantgarde der 1970er-Jahre bis hin zu Frei Otto – die Suche nach schwere-

losen, wolkengleichen Architekturen steht fast immer im Zusammenhang mit der Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderungen. Dieser Essay greift einige Vertreter heraus und wirft zuallererst Schlaglichter auf die Rezeption von C ­ onstant und Lebbeus Woods in Kunst und Architektur. Wie wurden ihre Visionen aufgenommen, adaptiert und weitergesponnen ? Welchen Niederschlag fanden sie etwa bei Coop Himmelb( l )au oder Wolfgang Tschapeller ? Welche Rolle spielen sie in der Lehre – etwa am Institut für experimentelle Architektur der Universität Innsbruck ? Und wie rezipiert der argentinische Installationskünstler Tomás Saraceno sie aktuell in seinen schwerelos wirkenden, mitunter begehbaren Arbeiten ?


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Tomás Saraceno, In Orbit, Kunstsammlung NordrheinWest­falen, K21 Ständehaus Düsseldorf, kuratiert von Marion ­Ackermann / Susanne Meyer-Büser, 2013 ( Foto : Tomás Saraceno )

Die architektonische Utopie als Medium der Kritik New Babylon ist eine labyrinthische Stadtstruktur, die auf Stützen steht, bis zu 20 Meter über dem Boden schwebt und den ganzen Erdball umspannt.1 Fast zwei Dekaden lang arbeitete Constant ( 1920 – 2005 ) unermüdlich an seiner optimistischen, idealistischen Zukunftsvision. Zwischen 1956 und 1974 entstand so ein riesiger Fundus an Modellen, Zeichnungen, Fotomontagen, Essays und Ausstellungen. Constants Projekt erreichte beachtliche Popularität ; in Museen und Kunstmagazinen, mit Vorlesungen und sogar im Fernsehen war der ­Visionär präsent : « Er verkörperte das Gewissen der progres­ siven Architekten in den Niederlanden der 1960er-Jahre », so der Architekturtheoretiker Bart Lootsma.2 Seine mehrgeschossige Megastruktur sollte klimatisiert und beleuchtet sein. Darunter würden sich vollautomatische Fabriken befinden, Autos und Züge fahren, darüber Helikopter kreisen. Die Neubabylonier sollten sich – befreit von der Last jeglicher ( Lohn- )Arbeit und losgelöst aus dem Trott alltäglicher

Routine – wie Nomaden durch das Labyrinth aus beweglichen Böden, Trennwänden, Rampen, Leitern und Brücken treiben lassen und ihre Stadt dabei ständig neu erleben und verändern. Mit anderen Worten : New Babylon sollte die « selbst gestalt­ bare Kulisse für permanente spielerische Neuerfindung » 3 sein, an die Stelle des Homo faber der Homo ludens treten. Die Zukunft – davon war Constant überzeugt – gehört nämlich nicht dem Arbeiter, sondern dem Spieler.4 Raum für Privatheit gibt es in New Babylon indes nicht. Die Struktur ist als kontinuierlicher öffentlicher Raum konzipiert und auf die permanente

1 Bart Lootsma, « Koolhaas, Constant und die Niederländische Kultur der 60er-Jahre », Nürnberg 2007, S. 10. 2 Ebd., S. 10  – 21. 3 Ebd., S. 10. 4 Mark Wigley, Constant’s New Babylon. The Hyper-Architecture of Desire, Rotterdam 1998, S. 10.


Megamaschine, Dschungel, Chaos Die fantastisch-eklektischen Architektur- und Stadtvisionen im Science-Fiction-Manga Inzwischen ist der japanische Comic – der Manga wie auch sein filmisches Pendant, das Anime – in unserer westlichen Unterhaltungskultur fest verankert. Besonders die Architektur- und Stadtvisionen der japanischen Pop-Art-Künstler und Manga-Zeichner, der Mangaka, sind oft atemberaubend und übernehmen handlungstragende und bisweilen sogar handlungsbildende Funktion. Ihre Visionen bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Utopie und Apokalypse – von der im elektronischen Pixelstrom dekonstruierten Hightech-Grossstadt mit ihren verwirrenden Datennetzen bis hin zu den unsere Erde bedeckenden Schrottplätzen einer Endzeit-Zivilisation. Das Talent der japanischen Mangaka, sich eklektisch an Vorbildern zu orientieren und widerspruchsfrei gegensätzliche Aspekte zu kombinieren, resultiert in überaus fesselnden und reichen Erzählungen. Dabei werden zeitgenössische Kulturströme ebenso wie historische und religiöse Wurzeln als Inspirationsquelle verarbeitet. Autorin: Diane Luther

Die japanische Kultur grafischer Literatur Visuell betrachtet weisen die farbigen Manga Parallelen zu den franko-belgischen Comics der Ligne claire ( « klare Linie ») auf : Farbflächen werden durch gleichmässig dicke schwar­ze Konturen abgegrenzt und die Figuren sind meist viel schlichter gezeichnet als die Hintergründe. Auch beim Gros der monochrom gehaltenen Manga werden letztere ­komp­lex gestaltet. Speziell im Science-Fic­tion-Genre sind hier sowohl detailreich gezeichnete technoide Welten als auch Stadtbilder zu finden. Erzählerisch folgen die Bildergeschichten der traditionellen japanischen Literatur : Allegorisch in ihren Aussagen und labyrinthisch im Handlungsaufbau wirken sie für unser Verständnis oft etwas verworren. In Japan lässt man sich Zeit, die Haupthandlung voranzutreiben. Das gilt für die wöchentlich gedruckten, telefonbuchdicken Sammelbände – die so­­ genannten « Fast-Food-Manga » – genauso wie für die anspruchsvollen Bildbände, die sich durch ihren individuellen künstlerischen Stil auszeichnen und deren Autoren oder ­Autorengruppen oft so engagiert sind wie die grossen Dramatiker der Literaturszene.

Die Koppelung des Manga-Protagonisten an seinen ­ angaka markiert einen besonderen Unterschied zu den M US-amerikanischen Comics : Während dort Comicverlage die Urheberrechte an einem Charakter besitzen und die Geschichten mit wechselnden Zeichnern und Textern endlos fortsetzen können, werden in Japan bestimmte Serien als Projekt eines Mangaka oder einer Gruppe von Mangaka betrachtet. Manga finden erst ihren Abschluss, wenn der Zeichner die Serie beendet, den Verlag wechselt oder stirbt. Darum werden auch sehr erfolgreiche Figuren wie Astro Boy oder Akira nicht weiterentwickelt, sondern höchstens neu erzählt ( siehe Astro Boy, 2009 ). Eine Ausnahme bilden Serien, die dank erfolgreichem Merchandising einen Verlag finanziell am Leben erhalten – wie zum Beispiel Dragon Ball. Innerhalb der Autorengruppen, die gemeinsam an einem Manga arbeiten, werden die Mangaka oft gemäss ihren darstellerischen Stärken und ihrem Spezialwissen eingesetzt. So gibt es Zeichner, welche für die Charaktere, und andere, die für die Hintergründe verantwortlich sind. An der K ­ reation futuristischer Städte sind beispielsweise geübte Architekturzeichner ebenso beteiligt wie gelernte Ingenieure.


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Otomo Katsuhiro, Akira, Bd. 6: 1982 – 1990, Tokio 1990, S. 432 – 433 ( AKIRA©MASH · ROOM Co., Ltd. / Kodansha Ltd. )

Eklektizismus als Prinzip und Kompetenz Es ist eine besondere Stärke der japanischen Kultur, unterschiedliche Philosophien und Ideen eklektisch zu vereinen, ohne dabei Widersprüche zu produzieren. Dies überträgt sich auch auf Erzählstil, Inhalt und die grafische Gestaltung der ­Manga : Die Mangaka entwickeln ihre Figuren nur sehr selten komplett aus der eigenen Fantasie. Sie schöpfen vielmehr aus literarischen Quellen, überlieferten Mythen, religiösen Göttergeschichten und märchenhaften Sagen, welche sie nach Belieben kombinieren. Die Unkenntnis dieser Ursprünge führt dazu, dass westliche Leser japanische Comics als erzählerisch höchst kreativ wahrnehmen.

Dieses « System » wird auch auf den Entwurf der Räume und Hintergründe angewandt, die eine Erzählung begleiten. So erklärt sich, warum vor allem in der Manga-Architektur Motive zu finden sind, die zu ihrer Zeit entweder populär oder evolutionär waren. Für aufwendige Hintergründe werden vielfach aktuelle Stadtfotografien durchgepaust. Gibt es keine Vorgaben in Form realer Bilder, werden auch gerne Motive aus Film und Literatur aufgegriffen. Nicht minder wichtig wird der Einfluss von europäischen Zeichnern wie Moebius ab den 1980er-Jahren eingeschätzt, und auch Klassiker wie Metro­ polis – der monumentale Stummfilm des deutschen Expres­ sionismus, den Fritz Lang in den 1920er-Jahren drehte – dienten als Inspiration.


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Destination Mars Exploring Martian Speculations, Aspirations and Imaginations The vision of colonizing our neighboring planet Mars has long been more than a mere fantasy. Technical developments have progressed so far that the American space agency NASA and private spaceflight companies have set their sights on the red planet and are eagerly promoting its settlement. Mars fever is rampant. And although many puzzles remain to be solved, our visions of Mars have long since become reflections of earthly hopes and fears. But how do politics, science, literature and film convey this vision and stimulate our imagination ? Author : Lukas Feireiss

Martian Aspirations From Moon to Mars Significant events regarding mankind’s Martian ambiFor centuries mankind has been fascinated by space tions are currently underway. On September 27 at the 67th travel and exploring other planets. Today this ultimate ­International Astronautical Congress in Guadalajara, Mexico, flight of fancy for human imagination – of reaching nearby Elon Musk – chief executive of SpaceX and founder of PayPal planets – is technologically possible. Almost half a century ago, and Tesla – shared his vision of colonizing Mars within the next men had already walked on the surface of the Moon. Yet to decade by sending humans there with methane-fueled reusable support the creation of a permanent, self-sustaining human spaceships and the largest rocket ever built. Only a week later, presence on another planet, many long-term technical chal- on October 5, Boeing CEO Dennis Muilenburg took on the challenges still need to be solved. Nonetheless, imagining humans lenge and declared at the What’s next ? tech conference in Chias a multiplanetary species is not a mere fantasy anymore. cago that “the first person to set foot on Mars will arrive there During the golden age of space travel in the mid 20th riding a Boeing rocket”. Then on October 11, US President Ba­century, the Moon – our nearest astronomical neighbor – rack Obama fittingly delivered a speech about the future of served as the primary testing ground for ideas about space space exploration that was reminiscent of John F. Kennedy’s travel, ultimately culminating in the feat of landing men on historic “We choose to go to the Moon” speech, which kick-startthe Moon. The importance of these lunar explorations was ed NASA’s Apollo program in 1962. Speaking at Kennedy Space largely neglected in the following decades but now, at the be- Center in Cape Canaveral, Florida, Obama proclaimed that ginning of the 21st century, it’s another celestial body that stirs “sending humans to Mars by the 2030s” is “a clear goal vital to our imagination : Mars. This terrestrial planet – a rocky body the next chapter of America’s story in space”. For their part, the about half the size of Earth – has clearly taken the top spot European Space Agency ( ESA ) and Russia’s Roscosmos have the away from Earth’s natural satellite, the Moon, filling its place stationary lander Schiaparelli, which was set to touch down on in popular imagination. It now seems possible to reach Mars Mars on October 19 in search of past and present Martian life within our lifetime. “Mars has become a kind of mythic arena and habitability on the planet. This most recent mission failed, onto which we have projected our Earthly hopes and fears,” but these episodes are merely the beginning. said astronomer, cosmologist and popular scientist Carl Sagan, who even recorded a message dedicated to future explorers Campaign poster, shown in an exhibition at the Kennedy Space and settlers of Mars, a few month before he died in 2012. Center in Titusville, 2009 (© NASA / K SK )


Water on Mars Named after the Roman god of war, the red planet – which was regarded as a symbol for destruction and aggression across different cultures for thousands of years – still holds many mysteries to be solved. Chief among them is indeed whether Mars, with its seasons, polar ice caps, volcanoes, canyons and weather, ever had the right conditions to support advanced life forms. Scientists believe that Mars experienced huge floods about 3.5 billion years ago. Though it is still unknown where the ancient floodwater came from, how long it lasted or where it went, numerous missions to Mars – from NASA’s Mars Odyssey orbiter to the Mars Exploration Rover mission, with Spirit and its twin Opportunity – have uncovered intriguing hints. Most recently, NASA’s Curiosity rover has even revealed groundbreaking details about actual flowing saltwater on the surface of Mars, which caused downright hysteria about the planet. Unraveling the story of water on Mars is so important because it could unlock the planet’s climate history and would actually help us to understand the very evolution of all planets, since water is an essential ingredient for life as we know it.

Mars Fever Speculation over Mars’s habitability, and indeed its potential of carrying water, is, however, far from a contemporary phenomenon. It has its roots in the late 19th century, long before humankind ever made it close to the planet. In 1877, the Italian astronomer Giovanni Schiaparelli – after whom Europe’s current stationary lander and planed rover are named – unintentionally incited an enduring kind of Mars craze by observing deep trenches meandering across the planet’s surface in a

Bryan Versteeg, Mars One, visualization, 2013 The private initiative founded in 2011 aims to establish a human settlement on Mars. The outpost consists of six or more lander modules. Two big inflated tubes, covered with gravel provide 200 square meters for living and food production. Additional elipsoid-shaped units generate energy and breathable air.

dense network that he called canali. Schiaparelli’s canali, however, went completely viral because of a simple mistranslation. Instead of its literal meaning of marks or grooves, canali in English became “canals” suggestive of water, life and intelligent intervention in the Martian landscape. Inspired by Schiaparelli’s telescopic observations, books on the subject by American businessman, author, mathematician and astronomer Percival Lowell further fueled speculation that there were canals on Mars and popularized the long-held belief that these markings showed that Mars sustained intelligent life forms. Moreover, the books put forward the notion of Mars as a drying, cooling, dying world with surviving ancient civilizations constructing irrigation works. Many other observations and proclamations by notable personalities of the time added to what has been termed as “Mars Fever”. Even the ingenious Serbian-­ American inventor, physicist and futurist Nikola Tesla believed that Mars was inhabited by an intelligent civilization. After observing signals in 1899 that he thought were coming from Mars ( while investigating atmospheric radio noise in his ­Colorado Springs lab ), Tesla spent the next 50 years of his life trying to find a way to communicate with our p ­ lanetary neighbor. In 1901 an article in the New York Times by Edward Charles Pickering, director of the Harvard College O ­ bservatory, seemed to confirm that Mars was trying to communicate with Earth.


Die Zukunft als endloser Remix Zur Rolle von Architektur in den Star Wars-Filmen Star Wars ist die erfolgreichste Science-Fiction-Saga – ein fesselndes Patchwork aus Narrationen, Motiven und Referenzen, entwickelt über vier Jahrzehnte von Regisseur und Produzent George Lucas und optisch geprägt von innovativen Konzeptdesignern, allen voran Ralph McQuarrie. Künftig wird jährlich ein neuer Film in die Kinos kommen. Ein Ende des Erfolgs ist nicht abzusehen. Woran liegt das ? Die Geschichte und ihre Charaktere sind bestechend, doch ohne seine futuristischen, exotischen und zugleich seltsam vertraut wirkenden Landschaften, Fahrzeuge und ikonischen Architekturen wäre Star Wars nie zu einem globalen Erfolg geworden. Autor : Jørg Himmelreich

Dieser Essay nimmt Bauwerke und Städte des Star Wars-­ Universums unter die Lupe und legt unter einer süssen Kuvertüre aus Pop und Spezialeffekten tiefgründige, vielschichtige und mitunter widersprüchliche Schichten frei. Er zeigt, wie das Erfolgsrezept aus Ingredienzen wie Intertextualität, Archetypen, Dialektik und architecture parlante angerührt wurde. Zahlreiche Autoren aus Disziplinen wie Vergleichende Reli­ gionswissenschaften, Philosophie, Psychologie oder Literatur haben versucht, dem Phänomen Star Wars wissenschaftlich auf den Grund zu gehen. Einige ihrer Theorien und Interpretationsversuche werden aufgegriffen, da sich Zusammenhänge zur Rolle der Architektur in den Filmen aufzeigen lassen. Das klingt komplex ? Ist es auch. Aber gleich zu Beginn muss relativiert werden : Es bleibt letztlich offen, ob Star Wars lediglich eine eklektische Collage ist, die intuitiv den Nerv ihrer Zeit getroffen hat, oder ob die Saga ein philosophisches und gesellschaftspolitisch relevantes Konstrukt mit tiefgründigen Botschaften ist. Der Charme liegt gerade in dieser postmodernen Doppel- und Mehrfachcodierung : Jedem ist selbst überlassen, Star Wars mit der wissenschaftlichen Brille der Hochkultur zu betrachten oder die Filme einfach als fulminanten Spass auf sich einprasseln zu lassen.

Globaler Erfolg Die Science-Fiction-Welt von Star Wars ist seit vier Jahrzehnten ein kommerzieller Erfolg. Ihren Kern bilden drei Trilogien, von denen bislang sieben Teile als Spielfilme realisiert wurden. ( Zuerst wurden zwischen 1977 und 1983 die Episoden IV bis VI gefilmt, dann folgten zwischen 1999 und 2005 die Episoden I bis III, die als Prequel-Trilogie bezeichnet werden, und im letzten Jahr erschien mit Episode VII der erste Teil einer dritten Trilogie – der Sequel-Trilogie ). Zusätzlich sind mehrere Spin-off-Movies, animierte Fernsehserien, über 250 Bücher, Comics und zahllose Spielzeuge und Fanartikel entstanden. Der erste Star Wars-Film A New Hope kam 1977 in die Kinos, brach Zuschauerrekorde und erreichte auf Anhieb Kultstatus. 2012 verkaufte Regisseur und Produzent Georg Lucas das Franchise an die Walt Disney Company für 4 Milliarden US-Dollar. Der erste von Disney produzierte Film The Force Awakens ( ein softer Reboot des Klassikers von 1977 ) spielte abermals Rekord­ umsätze von über 2 Milliarden US-Dollar an den Kinokassen ein.1 Am 15. Dezember kommt mit Rogue One der jüngste Streifen in die Filmtheater.


archithese  4.2016

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Imperiale Basis auf Scarif Alle Standbilder aus: Gareth Edwards ( Regie ), Rogue One, 2016 (© Lucasfilm )

Die meisten Kritiker sind sich einig : Ohne die fulminanten Welten, Fahrzeuge und Charaktere samt ihren ausgetüftelten Kostümen wäre Star Wars nie zu einem globalen Hit geworden. Zahlreiche der gezeigten Designs sind ikonisch, haben sich tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt und sind aus dem Kanon der ( Pop- ) Kultur nicht mehr wegzudenken. Für ein Verständnis der folgenden Analyse ist eine Kenntnis der Handlung hilfreich.2 Der Text ist aber so verfasst, dass er auch für Leser verständlich sein sollte, welche die Filme nicht kennen.

Architektur als Akteur Eine der Leistungen von Star Wars ist, dass die Filme unterschiedlichste Motive und Philosophien, technische und architektonische Elemente, Naturräume und Lebensformen eklektisch vereinen, ohne dabei störende Brüche zu offenbaren. Das ist vor allem der Arbeit des Konzeptkünstlers Ralph McQuarrie zu verdanken, der ab 1975 die Ideen von Georg Lucas visualisierte und während der Produktion von Episode IV bis VI viele der Vorsatzmalereien anfertigte.

Ohne McQuarrie, so sagte Lucas selbst, hätte es Star Wars nicht gegeben.3 In den 1970er-Jahren waren neben einem erfolgversprechenden Drehbuch schliesslich auch überzeugende Konzeptbilder entscheidend dafür, ob ein Studio ein Filmprojekt finanzierte. McQuarrie zeichnete Planeten, Fahrzeuge und Charaktere nach Lucas’ Vorstellungen und entwickelte den visuellen Stil einer ganzen Galaxie. Mit Erfolg – nachdem mehrere Studios das Projekt abgelehnt hatten, liess sich 20th Century Fox überzeugen, die Produktion zu finanzieren und den Film herauszubringen.

1 Die Produktion des Films The Force Awakens kostete 306 Millionen US-Dollar und war mit einem Marketingbudget von 175 Millionen US-Dollar ausgestattet. Alle sieben Spielfilme spielten 6 Milliarden US-Dollar ein und mit dem Verkauf von Spielzeug und Fanartikeln wurden weitere 30 Milliarden US-Dollar erwirtschaftet. 2 Eine kurze und gute Zusammenfassung bietet der deutsche Eintrag zu Star Wars auf Wikipedia. 3 Siehe hierzu den Film: Ralph McQuarrie. Star Wars Concept Artist. Tribute to a Master, 2012.


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