archithese 6.2015 – Tradition | Adaption | Innovation

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Elementare Architekturen Schöpfen aus einem traditionellen Formenkanon Von der Referenz zur Adaption Ambivalenz zwischen Kontinuität und Suche nach dem Zeitgemässen Übersetzungsleistungen Neue Arbeiten von Christian Kerez und Peter Märkli im Gespräch Zwischen Tabu und kreativem Impuls Adaption und Transformation in Geschichte und Gegenwart

Tradition Adaption Innovation

DEZ–FEB 6.2015 CHF 28.– |  EUR  24.–


«Transformationsprozesse sind in diesem Sinn entwerferische Prozesse, in welchen bewusst und schrittweise «Stoff» der Vergangenheit in die Gegenwart umgebildet wird.» Aita Flury

«Es ist zu befürchten, dass der Nachahmungsbegriff durch die Reproduktion neoklassischer Formalismen vollends entleert wird.» Axel Sowa

«Kontext kann ohne Interpretation nicht existieren» Ákos Moravánszky


Tradition | Adaption | Innovation DEZ  –  FEB

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3 Editorial 12 Kontexte und Kollisionen Visionen und Revisionen der spätmodernen Stadt Ákos Moravánszky 22 Das Kollektive ins

40 Kultur der Transformation Raumwissen als Grundlage des Entwerfens Aita Flury 48 Causa Austria Zur Emanzipation einer Architektengeneration Harald R. Stühlinger

Zentrum rücken Peter Märkli im Gespräch mit JØrg Himmelreich und Daniela Meyer

56 Re-Evaluations Notes on the Work of Christian Kerez Irina Davidovici

84 Zürich-Konferenz Eine Rückschau auf die Veranstaltung «Zürich – Räumlicher Stand der Dinge» Richard Zemp

Rubriken 88 archithavolata Der fsai bittet zum Tischgespräch 92 Neues aus der Industrie

32 The Good, the Bad

and the Ugly Über adaptive und transformative Architekturtendenzen in Deutschland Frank R. Werner

68 Vom mimetischen Vermögen der Architektur Scharouns Berliner Philharmonie als «moderner Klassiker» Axel Sowa 76 Prekäre Gleichgewichtszustände System, Konzept und Komposition in der Architektur von Pascal Flammer Michel Frei

Titelbild basierend auf: Christian Kerez, Museum für Nachkriegskalligraphie, Guangzhou, Entwurf 2014 (Visualisierung: ArtefactoryLab)


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Editorial Tradition | Adaption | Innovation

Die Wellen schlugen hoch, als Marc Jongen, Mitarbeiter von Peter Sloterdijk, behauptete: «Die Konservativen sind die neue Avantgarde.» Nicht nur, weil der Philosoph sich in der rechtskonservativen bundesdeutschen Partei AfD engagiert, sondern vor allem, weil er damit das Gegensatzpaar von progressiv und konservativ grundlegend infrage stellt. Dabei ist in der Architektur diese Aufhebung oder Umkehrung längst nicht mehr neu: Seit dem Historismus und allerspätestens seit der Postmoderne wurde deutlich, dass eine konservative Avantgarde die Grenze der modernen Architektur gegenüber der eigenen Tradition permeabel gemacht hat. Doch gerieten diese Positionen wieder auf ein Nebengleis und verloren neben den Minimalisten und den Swiss Shapes an Strahlkraft. Nun tauchen sie an diversen Bauten und in den Entwürfen vieler Hochschulstudios wieder auf: Zitate aus dem Fundus der Baugeschichte. Ob bossierte Fassadenelemente oder mit Backstein gefüllte Betonrahmen – der Bruch zu den meist glatten, bündigen Fassaden und abgewinkelten kubischen Formen, die noch bis in die 2000er-Jahre die helvetischen Bauten prägten, ist offensichtlich. Ebenso augenfällig ist das differenziertere Reagieren der Bauten auf den jeweiligen Ort. Im Gegensatz zu den Positionen der Postmoderne scheint das Schöpfen aus der Geschichte zumindest in der Schweiz heute jedoch ohne einen (hitzigen) Diskurs stattzufinden. Höchste Zeit also, das Phänomen zu diskutieren und nach den Motivationen zu fragen: Woher kommt diese Wendung hin zu einer kontextuellen, mit den traditionellen Formenkanons spielenden Architektur? Ist sie Indikator dafür, dass wir im westlichen Kulturkreis generell ein polares Denken abgelegt haben und zu einem Kontinuitätsverständnis gelangt sind? Oder sollten wir uns sorgen, dass die referenzielle Architektur die Disziplin in Beliebigkeit abgleiten lässt, weil sie womöglich lediglich Symptom eines aufkeimenden Eklektizismus ist? Ziel des Heftes ist jedoch nicht Verwirrung oder Auflösung der Begriffe, sondern eine feinere Debatte und ein Bewusstsein für die Parallelität und Gleichzeitigkeit der Dinge zu erreichen. Um aufzuzeigen, dass der Umgang mit der eigenen Tradition und der Grad des Bedürfnisses, innovativ zu sein, sich in verschiedenen Ländern signifikant unterscheiden kann, blickt Frank R. Werner auf die Entwicklungen in Deutschland und Harald R. Stühlinger auf die in Österreich zurück. Es wird deutlich: Neben den Einzelpositionen hat die Geschichte und ihre kollektive Interpretation einen wesentlichen Einfluss auf die architektonische Haltung. Die Redaktion ist überzeugt: Die aktuellen Positionen von etablierten wie auch jungen Büros immer wieder neu zu untersuchen lohnt, denn es werden leise, aber entscheidende Unterschiede zu den vergangenen Diskursen sichtbar. Es geht aktuell weniger um das Kopieren von Bildern als vielmehr um Übersetzungsleistungen – um Methoden der Adaption also. Diese können, wie Ákos Moravánszky in seinem Beitrag ausführt, aus der Auseinandersetzung mit dem Kontext entstehen oder aber auch aus einem begreifenden Transformieren wachsen. Architektur liesse sich, so Aita Flury, auch als Sammlung von Elementen und architektonischen Mitteln verstehen, die über die Epochen immer wieder leicht variiert vorkommen. Sie baue auf einer Kulturgeschichte auf und forme doch aktiv neu. Dass Architektur um einer allgemeinen Verständlichkeit willen auf bestehendes architektonisches Vokabular zugreifen muss, bekräftigt auch Peter Märkli. Es geht also nicht um die Reproduktion von Bildern, sondern um den kreativen Umgang mit Referenzen. Der Diskurs um den Wert eines «coolen Konservatismus» in der Architektur ist mit archithese Tradition | Adaption | Innovation also eröffnet. Die Redaktion

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Tradition | Adaption | Innovation Feelings were running high when Marc Jongen, Peter Sloterdijk’s employee said “the conservatives are the new avant-garde.” Not only because the philosopher is involved in conservative, right wing German party Alternative for Germany but also because he wanted to question whether the progressive and the conservative truly are opposites. In architecture, this annulment or reversal is nothing new: since historicism and, at the very latest, since the onset of postmodernism, it has become clear that the conservative avant-garde has made the border between modern and traditional architecture permeable. However, these positions were side-tracked again and lost their power when set alongside minimalism and Swiss Shapes. But references to building history are now reappearing on buildings and in the designs created in university studios. Rough-hewn façade elements, concrete frames filled with brick – there has been a clear break with the smooth, flush façades and angular, cubic shapes that shaped Swiss buildings well into the 2000s. Equally striking is the way in which buildings now react to their setting in a differentiated way. Unlike postmodernist positions, historically inspired elements are used without prompting heated discussion – at least in Switzerland. It is high time to discuss the phenomenon and consider the motivation behind it. What has prompted this move towards contextual architecture that plays with traditional canon of forms? Does it show that we have stepped away from polarised thinking in the west and reached a new understanding of continuity? Or do we need to worry that referential architecture is allowing the discipline to deviate into arbitrariness as a symptom of burgeoning eclecticism? The aim of this magazine is not to confuse or pull terms apart, but rather to achieve a more subtle debate as well as an awareness of parallelism and simultaneity. Frank Werner looks back at developments in Germany and Harald Stühlinger at developments in Austria to show that tradition is dealt with differently in different countries and that the need to innovate also differs significantly. It becomes clear that not only individual positions influence the architectonic approach – history and its collective interpretation also play in important role. archithese’s editorial staff are convinced that it makes sense to take a closer look at current positions held by both established and new offices – they reveal small but critical differences to the discourses of the past. The focus does not lie on copying images but rather on translations, on methods of adaption, which sometimes develop from a focus on context, as Ákos Morávanszky explains in his contribution, and sometimes grow out of conceptual transformation. According to Aita Flury, architecture can be seen as a collection of elements and architectonic features, which reappear, slightly varied, throughout the ages. Architecture is based on cultural history and actively reshapes what already exists. Peter Märkli also supports the idea that architecture needs to make use of existing architectonic vocabulary in order to be understood. The focus lies not on reproducing images but on making creative use of references. archithese Tradition | Adaption | Innovation thus opens a discourse on “cool conservatism” in architecture… The editors

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Tradition | Accommodation | Innovation Lorsque le collaborateur de Peter Sloterdijk, Marc Jongen, prétendit que «les conservateurs forment la nouvelle Avant-garde», son propos fit l’effet d’un séisme. Et ce, pas uniquement du fait de son engagement dans le parti allemand d’extrême droite AfD, mais avant tout par la remise en question du couple antagoniste «progressiste /conservateur». L’abolition de cette distinction ne représente pourtant rien de neuf dans le domaine de l’architecture. Depuis l’Historicisme et au plus tard depuis l’Epoque post-moderne, une avant-garde conservatrice a rendu perméable envers sa propre tradition les frontières de l’architecture moderne. Ces positions se sont par la suite trouvées sur une voie de garage et ont perdu de leur éclat face au minimalisme et au Swiss Shapes. De nos jours, elles réapparaissent au travers de différentes constructions et dans de nombreux projets d’écoles d’architecture sous la forme de citations puisées dans le réservoir de l’histoire de l’art. Qu’il s’agisse de bossages en façade ou de cadres en béton garnis de briques apparentes, la fracture avec des façades pour l’essentiel lisses et des formes cubiques sur différents plans qui avaient encore cours jusque dans les années 2000 est manifeste. La réaction des constructions face au lieu est tout aussi évidente. Contrairement à ce qui s’était passé durant la période post-moderne, l’action consistant à puiser dans l’Histoire se déroule, du moins en Suisse, sans discussion houleuse. Il est donc grand temps de débattre du sujet et d’en chercher les motivations. D’où nous vient cette inclination vers une architecture contextuelle qui joue avec des règles de formes traditionnelles? Est-elle un indicateur qui pourrait faire penser que nous avons renoncé dans notre cercle culturel occidental à la pensée polarisée et que nous avons atteint une compréhension de la continuité? Ou devrions-nous plutôt nous préoccuper du fait que l’architecture référentielle laisse dériver cette discipline dans l’arbitraire, parce qu’elle est peut-être uniquement le symptôme d’un éclectisme naissant? Nous n’avons pas pour but de créer la confusion ou la dilution des définitions. Nous recherchons le débat nuancé et nous aimerions créer une prise de conscience de la simultanéité et du déroulement parallèle des événements. Le rapport à notre propre tradition ainsi que l’intensité du besoin d’agir de manière innovante prennent des formes extrêmement diverses d’un pays à l’autre. Afin d’en faire la démonstration, Frank Werner porte un regard sur les développements passés en Allemagne, alors que Harald Stühlinger en fait de même pour l’Autriche. Quelques solitaires mis à part, il ressort que l’histoire et son interprétation collective ont une influence déterminante sur l’attitude architecturale. La Rédaction est persuadée qu’un regard porté sur le travail de jeunes bureaux renommés vaut la peine. Il s’en dégage des différences à peine perceptibles par rapport aux prises de position du passé. De nos jours, il s’agit moins de la copie d’images que d’un travail de traduction, en d’autres termes, d’accommodations. Celles-ci naissent avec le contexte, comme l’explique Àkos Moràvanszky dans sa contribution, mais également de la prise de conscience d’un processus de transformation. Selon Aita Flury, l’architecture peut être perçue comme une collection d’éléments architectoniques qui, tout en étant sujets à de légères variations, réapparaissent périodiquement au travers de différentes époques. L’architecture table à la fois sur une histoire culturelle tout en donnant naissance à de nouvelles formes. Peter Märkli affirme également avec force que l’architecture, si elle veut être comprise, doit s’appuyer sur un vocabulaire existant. Il ne s’agit donc pas de reproduction d’images, mais d’un traitement créatif des références. Avec Tradition | Accommodation | Innovation, le débat d’idée au sujet d’un «conservatisme décontracté» est ouvert. La Rédaction

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Kontexte und Kollisionen Visionen und Revisionen der spätmodernen Stadt

Der Kontext-Diskurs der 1970er-Jahre wurde in der Schweiz wesentlich mitgestaltet. War der Kontextbegriff zunächst phänomenologisches und soziokulturelles Konzept, wurde er später als diskursiv verstanden. Bei seiner Verhandlung war die ETH federführend: Hier trafen die Konzepte von Colin Rowe und Aldo Rossi aufeinander. Allen voran versuchten Bernhard Hoesli und Paul Hofer die Rowe’sche Theorie in Entwurfsprogramme und Unterrichtspraktiken zu transformieren. Hoeslis methodische Strenge und Rowes connoisseurship gingen dabei eine einzigartige Verbindung ein, während Snozzi für einen «revidierten Kontextualismus» stand; eine «realistischere Linie», weil er die Ortsgebundenheit stets als wichtiges Thema kultivierte. Autor: Ákos Moravánszky


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Links  Rainer Jagals Skizze «Stadtphantasie, Stadtvision» von 1967 kann exemplarisch für den Kontext-Diskurs der 1970er-Jahre stehen. (Skizze: Rainer Jagals)

Das in der Architektur periodisch aufflammende Interesse am Verhältnis des Bauwerks zu seiner städtischen, landschaftlichen oder kulturellen Umgebung war in den 1970er-Jahren mit der Kritik an der «Objektfixierung» der modernen Architektur und der Vernachlässigung ihrer städtischen Einbindung verbunden. Das Buch Collage City von Colin Rowe und Fred Koetter 1 – das Gründungsmanifest des Kontextualismus – entstand etwa zeitgleich mit Manfredo Tafuris ebenfalls kritischer Analyse der modernen Stadt.2 Rowe betrachtete das Problem der Stadt im Unterschied zu dem italienischen Marxisten allerdings vordringlich als ein Problem der Form, ohne die gesellschaftlichen und politischen Gründe der diagnostizierten «Krise des Objekts» zu untersuchen. Rowe hat aus der Position des aufgeklärten Pluralisten verschiedenste Architekturvorschläge – von russischen Stadtutopien bis zu absolutistischen Stadtkompositionen – als ästhetisch gleichwertig aufgefasst. Auf Tafuri hat ein solches Zelebrieren des Endes der Ideologien bestimmt naiv oder gar zynisch gewirkt. Dies sagt viel über die Emotionalität aus, mit der der Begriff des Kontexts im Architekturdiskurs der 1970er-Jahre behandelt wurde. Es passt gut ins Bild, dass Rem Koolhaas, der zwischen 1972 und 1973 bei Oswald Mathias Ungers studiert hatte, Rowe für seine «contextualist epiphany» kritisierte und ihm vorwarf, er projiziere lediglich ein fiktives Szenario auf die Wirklichkeit, statt die geschichtliche Entstehung einer gegebenen Situation zu verstehen (was durchaus auch Zufälle zulässt).3 Dabei verdanken sowohl Rowes Kontextualismus als auch Koolhaas’ Antikontextualismus ihre Strategien und Methoden der Kunst der Avantgarde – hier vor allem dem Kubismus und Surrealismus mit der Schichtung der Formen, der Collage, der sogenannten paranoid-kritischen Methode oder der dem Zufall eine gestalterische Funktion zubilligenden Methode des cadavre exquis. Diese sehr direkte Verbindung zu Strategien der Bildmanipulation trug dazu bei, dass die Probleme der modernen Stadt höchstens partiell als Probleme der Form wahrgenommen wurden. In der Schweiz wurde dieser vorwiegend amerikanische Diskurs mehr als nur rezipiert.

Die ETH war der Ort, an dem die Konzepte von Colin Rowe und Aldo Rossi aufeinandertrafen, transformiert, verknüpft und adaptiert wurden. Hier versuchte man, präzise formulierte theoretische Standpunkte – ursprünglich eher als Analysetool denn als Entwurfsmethodik gedacht – in praktikable Entwurfs- beziehungsweise Unterrichtsmethoden zu übersetzen. Bernhard Hoesli, der als früherer Kollege und Freund Rowes und 1967 als Mitbegründer des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur gta an der ETH Zürich dabei eine Schlüsselrolle spielte, verwendete die zentralen Begriffe Rowe’scher Theorie wie Transparenz, Collage oder Textur nicht nur in seinem eigenen Werk, sondern auch als Grundlage einer sehr präzise ausformulierten Unterrichtsmethode.

Collage City Das Buch Collage City stellt die Synthese des Theoriewerks von Colin Rowe dar und zugleich das wichtigste Dokument des Kontextualismus. Obwohl der Band erst 1978 erschien, war das Manuskript bereits 1973 in Umlauf. Eine kürzere Fassung wurde 1975 in der britischen Zeitschrift Architectural Review veröffentlicht. Rowe verwendete in seinen Texten nicht den Begriff Kontext, sondern Textur – und betonte damit sein Interesse für das Stadtgewebe, was für ihn vor allem mit dem Studium des Stadtplans verbunden war. Dieses «Stu­ dium» schloss jedoch die eher assoziativen Impulse von Zeichnungen und Bildern nicht aus. Rowe beschrieb die 1967 in der

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Colin Rowe / Fred Koetter, Collage City, Cambridge / Massachusetts 1978. 2 Manfredo Tafuri, Progetto e utopia. architettura e sviluppo capitalistico, Rom / Bari 1973. 3 Rem Koolhaas, «Urban Intervention. Dutch Parliament Extension, The Haque» in: International Architect 1, 3 / 1978, S. 47–60, hier: S. 48.


Peter Märkli, Synthes Firmenneubau, Solothurn, 2012 (Foto: Caroline Palla)

Das Kollektive ins Zentrum rücken Peter Märkli im Gespräch mit Jørg Himmelreich und Daniela Meyer «Wir sind nicht frei von der Vergangenheit», sagt Peter Märkli. Für den Architekten sind Konventionen wichtige Bezugsgrössen, denn «Architektur muss lesbar und für alle verständlich sein». Baukunst ist für ihn daher das Übersetzen von Konventionen in eine gegenwärtige oder zukünftige Form. Innovation – so betont Märkli – kann nur aus der Beschäftigung mit den gegebenen Konditionen entstehen.


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Die Aktualität der Vergangenheit Jørg Himmelreich  Wir beobachten mit Neugierde, dass viele junge Architekten und einige Entwurfsklassen an Schweizer Hochschulen typologisch, in der Formsprache und bei Grundrissfigurationen vermehrt aus der architektonischen Tradition schöpfen. Zugleich beschleicht uns jedoch der Eindruck, dass der Fokus häufig auf den Stimmungen der Bilder liegt

Peter Märkli: Diese Themen sind für meine Arbeit natürlich sehr wichtig, doch scheint mir der Umgang mit ihnen weder eine spezielle noch eine neue Haltung zu sein, sondern eine Notwendigkeit. Sind wir von den Vergangenheiten frei – oder nicht? Sicherlich nicht. Kulturelles Gut wird als Erbe weitergegeben und alle Werke stehen in Beziehung dazu. Nehmen wir ein Beispiel aus der Kunst: Das monochrome Bild entstand aus einer Auseinandersetzung mit der Geschichte der Malerei und ist ohne diese nicht zu verstehen. Jede Zeit hat ihre eigenen Möglichkeiten und Herausforderungen.

und die Adaption auf die gesellschaftlichen, materiellen, politischen und ökonomischen Realitäten mitunter zu kurz kommt. Darum möchten wir möchten mit Ihnen über die drei Bezugsgrössen «Tradition», «Adaption» und «Innovation» und deren Bedeutung für die Architektur sprechen – allgemein und für Ihre Arbeit im Besonderen.

JH  Hatte die Auseinandersetzung mit der Tradition der Architektur für Sie bereits im Studium denselben Stellenwert?

Daniela Meyer  In welcher Zeit oder bei welchen Architekten und Objekten haben Sie dann Inspiration gefunden?

Als ich in den 1970er-Jahren begonnen habe zu studieren, fragte ich mich: Was interessiert mich? Was fehlt? Ich war ein junger Mann, der noch nichts über Architektur wusste, denn im Gymnasium erfuhr ich keine Bildung des Auges. Ich war auf der Suche nach einer Sprache, mit der ich meine Gefühle ausdrücken konnte. Die ETH war damals noch sehr politisiert; es gab viel Soziologie und Semiotik. Mich interessierte jedoch die Gestalt, also das Bauen. Die jüngste Vergangenheit – die Klassische Moderne – konnte ich noch nicht verstehen. Ich musste zwangsläufig weiter in der Geschichte zurückgehen, um die Sprachlichkeit unseres Berufs zu verstehen. Gewisse Epochen haben mich unmittelbar angesprochen – entsprechend meinem Temperament. Andere war ich noch unfähig zu lesen.

Ich habe Rudolf Olgiati gut gekannt. Er war für mich kein Regionalist, wie damals oft behauptet wurde. Das Fundament für seine Architektur war die Archaik der Griechen, das Engadiner Haus und die Arbeit Le Corbusiers. Das Bauhaus hat er abgelehnt. Etwa bis Ende des Zweiten Weltkriegs war Le Corbusier an der ETH kein Thema. Olgiati hat jedoch schon während seines Studiums Lithografien von ihm erworben. Als ich an die ETH kam, stand dann die Klassische Moderne im Zentrum der Lehre. Olgiati hat Häuser gebaut mit archaischen Säulen, jedoch ohne Kapitell. An ihre Stelle trat eine schwarze Fuge mit einem minimalen Auflager. Da war nichts, nur Schatten; eine Leere. Als Student sagte ich: Das ist doch tragisch, wenn wir es nicht mehr vermögen, den Übergang von der Säule zur Horizontalen zu formulieren. Und er hat gefragt: «Was bleibt mir übrig?» Für mich war das eine Tragödie. Ich fragte mich: «Wohin führt das? Was ist die Zukunft unseres Berufs?» Ein wenig später habe ich verstanden: Er hat genau das gemacht, was für ihn möglich war. Er setzte präzis die Mittel ein, um die von ihm gewünschte Wirkung zu erzeugen. Das ist Ausdruck von höchstem Können.


Unten  Hild und K Architekten, Beitrag für den internationalen Ideenwettbewerb Seestadt Aspern, Wien, 2015 (Visualisierung: Hild und K) Rechts  Brandlhuber+ Emde, Burlon Architekten, Wettbewerbsbeitrag für das Guggenheim-Museum in Helsinki, 2014 (Visualisierung: Brandlhuber+ Emde, Burlon / Ponnie Images)

The Good, the Bad and the Ugly Miszellen zu einer kurzen Geschichte adaptiver und transformativer Architekturtendenzen in Deutschland Formadapteure hatten es in der Blütezeit des Neuen Bauens auch in Deutschland schwer. Obschon es immer auch Architekten der Adaption und der Tradition gab, wurden sie lange Zeit nicht wahrgenommen. Konnte man in der Zeit des Nationalsozialismus eine politische und symbolische Verwertung traditioneller Baustile beobachten, wurde im Deutschland der Nachkriegszeit der Rückgriff auf Historismen vollends zum Tabu erklärt. Erst im Zuge der Postmoderne wagten sich auch deutsche Architekten an den Formenkanon des Vergangenen und traten für mehrdeutige Lesarten in der Architekturgeschichte ein. Nach der Zeit der Minimal Architecture der 1990er-Jahre sind nun auch bei jüngeren deutschen Architekten neue Tendenzen im Umgang mit historischen Vorbildern zu beobachten. Autor: Frank R. Werner


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Schon seit Längerem wissen wir, dass die Architekturgeschichte bis vor gar nicht allzu langer Zeit das Baugeschehen des 20. Jahrhunderts nach Art einer Schwarz-Weiss-Malerei, ja mitunter sogar als veritables Schurkenstück dargestellt hat. Auf der einen Seite die unantastbaren, ex novo schöpfenden architektonischen Avantgarden, auf der anderen die Unentschiedenen und schliesslich die Ewiggestrigen – sprich die Eklektiker; frei nach dem Filmtitel The Good, the Bad and the Ugly.1 Tatsächlich haben aber schon vom frühen 20. Jahrhundert an bis in die Gegenwart hinein in Sachen Historie unterschiedliche architektonische Entwicklungslinien und Entwurfshaltungen kontinuierlich nebeneinander bestanden. Dass die sogenannten Avantgarden sich dabei immer wieder in den Vordergrund spielen konnten, ist einer Handvoll gleichermassen messianisch wie unkritisch auftretender Propagandisten zuzuschreiben. Letztere konnten und wollten einfach nicht wahrhaben, dass auch eher stille, dem Unspektakulären verpflichtete Baumeister wie Heinrich Tessenow und viele ande-

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re sich eigentlich gleichfalls als Avantgardisten verstanden, wenn auch als Avantgardisten des Bewahrens oder Fortschreibens von Bewährtem. In seinem 1962 erschienenen Buch Das wilde Denken befasste sich der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss ( 1908 – 2009 ) mit der zunehmenden Dichotomie zwischen fortschrittsfixierten und traditionsgebundenen Gesellschaften und verwendete hierfür die Begriffe der «kalten» und der «heissen Kulturen».2 Eine solche Dichotomie wurde von den Propagandisten der Moderne befördert und bestimmt noch bis heute viele Freund-Feind-Bilder in der Architektur.

1 Spaghetti-Western-Klassiker von Sergio Leone aus dem Jahre 1966. 2 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Lévi-Strauss diese Unterscheidung wertfrei verstand: Die «kalten» Kulturen seien weder unterentwickelt noch hätten die «heissen Kulturen» einen Entwicklungsvorsprung.


Vom mimetischen Vermögen der Architektur Scharouns Berliner Philharmonie als moderner Klassiker Die herausragenden Architekturen der Moderne sperren sich aufgrund ihrer Heterogenität gegen die Zusammenstellung einer kanonischen Sammlung. Ihr herausgehobener Status basiert auf ihrer Unwiederholbarkeit – und doch ist die Scharoun’sche Philharmonie in Berlin aufgrund ihres mimetischen Vermögens über die letzten fünf Dekaden zu einem Modell avanciert, das der Nachahmung und Aneignung offensteht. Autor: Axel Sowa

Anlässlich der Fertigstellung der Berliner Philharmonie Die baulichen und konstruktiven Mittel, welche Schaim Jahr 1963 kommentierte Hans Scharoun das von ihm ent- roun einsetzt, um die von ihm benannte Beziehung zu realiworfene Werk mit folgenden Worten: sieren, werden nicht mit den zugehörigen Fachtermini aufge«Ich folge dem Bild einer Landschaft: Der Saal ist wie ein Tal rufen, sondern als Teile eines Landschaftsbildes. Dieses Bild gedacht, auf der Sohle das Orchester, umringt von energisch auf- wird in seine Bestandteile zerlegt, die Scharoun als pittoreske steigenden Gründen und Hängen. Wie Weinberge an den Hängen Elemente identifiziert: die Talsohle, der Grund, die Breite des eines breiten Tales steigen die Sitzreihen, in Gruppen gegliedert, Tals sowie die Hänge, die es umschliessen. Scharoun verfährt rund um das Orchesterpodium empor. Das Musizieren und das also nach dem Bewegungsmuster, das dem metaphorischen gemeinsame Erleben der Musik finden also an einem Ort statt, der Sprachgebrauch zugrunde liegt. Mit der Metapher gelingt die in seiner baulichen Konzeption nicht vom Formal-Ästhetischen Anknüpfung an die gewöhnliche Sprache; sie macht Anleihen ausgeht, sondern vom Vorgang. Wir realisieren die Beziehung: in entlegenen Bereichen und transferiert diese an einen fremMensch, Raum, Musik.»1 den Ort. So gelangt die Vorstellung von der Topografie eines


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Hans Scharouns 1963 fertiggestellte Philharmonie in Berlin ist aufgrund ihrer besonderen architektonischen Qualität zu einem «modernen Klassiker» avanciert, der zur Aneignung offensteht. (Schnitt: Hans Scharoun)

Tals in den Innenraum der Berliner Philharmonie. Doch bleibt es nicht bei dieser metaphorischen Bewegung, denn Scharoun spricht nicht als Dichter, sondern als Architekt. Tal und Weinberg werden nicht nur im Medium der Sprache hügeligen Gegenden entnommen und in den märkischen Sand versetzt. Vielmehr ist die Philharmonie gebaute Topografie, von der ebenfalls in poetischen Worten gesprochen werden kann. Scharoun gelingt somit eine doppelte Bewegung – oder gar ein Kreislauf der Ähnlichkeiten, in dem landschaftliche und bauliche Formen aufeinander verweisen beziehungsweise sogar miteinander verwandt zu sein scheinen. Indem sie Weinbergen assimiliert werden, sind die Sitzreihen dem Landschaftsbild nicht fremd. In umgekehrter Lesart ruft die besondere Konfiguration der Sitzreihen nicht etwa die Erinnerung an bereits besuchte Säle für Orchestermusik, sondern steile, terrassierte Weinberghänge ins Gedächtnis. Scharouns metaphorisches Sprechen und Bauen ist jedoch nur nachvollziehbar, wenn es mehr als ein beliebiges Spiel der Zeichen ist. Damit der landschaftliche Ort der Talsohle in Korrespondenz zum baulichen Ort des Orchesterpodiums treten kann, müssen beide Orte dem Publikum bekannt sein; so können sie als Topoi der Rede oder des Bauens aufgerufen werden. Scharouns Entwurf kann daher nur überzeugen, soweit es dem Architekten gelingt, eine singuläre Beziehung zwischen allseits bekannten Orten herzustellen. Spricht er vom Realisieren der Beziehung «Mensch, Raum, Musik», so handelt es sich um das Aktivieren von Gemeinplätzen in einer einzigartigen Konstellation. Scharoun muss sich an die Regeln der Wahrscheinlichkeit und der Plausibilität halten, um bauliche Elemente jenseits ihrer technisch-konstruktiven Seinsweise zur Aufführung zu bringen. Sollen die Sitzränge, das Podium und die Saaldecke nicht auf die Erfüllung funktionaler Zwecke reduziert werden, sondern Bilder aus ganz anderen Kontexten evozieren, so bedarf es hierzu der Kenntnis des Publikums, seiner Erwartungen und seiner Sehgewohnheiten. Der Architekt muss das Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögen des Publikums, gewissermassen dessen Gemeinsinn im Blick behalten, um den Möglichkeitsraum seiner Performance abzustecken.

Affekt und Performance Mit seinem Vorgehen steht Scharoun in einer Tradition, die durch den französischen Architekten Louis-Etienne Boullée eine erste theoretische Grundlage erhielt. In seinem Essai sur l’art nimmt Boullée eine klare Abgrenzung zu vitruvianischen Positionen vor und weist der Architektur eine neue, künstlerische Rolle zu. Der Architekt, so Boullée, sei ein metteur en œuvre de la nature; der Begriff, den Boullée selbst geschaffen hat, leistet zweierlei: Er überwindet den eingeführten Begriff des Baumeisters, des maître d’œuvre, und bringt den metteur en scène, den Regisseur, ins Spiel. Die Architektur wird bei Boullée zu einer darstellenden Kunst, deren zentrale Aufgabe die Affektsteuerung ist. Um den Eindruck des Majestätischen, des Grandiosen, der Trauer oder der Gewalt zu erzeugen, müsse sich der Architekt laut ihm aller bildnerischen Mittel bedienen. Er schreibt dazu: «Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf ein Objekt. Das Gefühl, welches wir zuerst empfinden, wird durch die Art und Weise hervorgerufen, wie uns das Objekt affiziert. Charakter nenne ich die Wirkung, die von diesem Objekt ausgeht und in uns einen bestimmten Eindruck verursacht.»2 Boullées Ausführungen legen nahe, Architektur werde nicht einfach hergestellt, sondern bringe einen bestimmten Charakter zum Ausdruck, der dem Publikum bereits geläufig ist. Die besondere Form der Nachahmung, um die es hier geht, bezeichnet eine erfinderische Darbietung

1 «Musik mit Wänden», in: Der Spiegel 42, 1963, S. 107. 2 Étienne-Louis Bollée, Architecture. Essai sur l`art, Paris 1968, S. 73.


Prekäre Gleichgewichtszustände System, Konzept und Komposition – drei Begriffe stehen im Zentrum von Pascal Flammers Architektur. Weil sie sich in seinen Entwürfen überlagern, teilweise bewusst widersprechen oder irritieren, ermöglichen sie mehrdimensionale Lesbarkeiten. Flammers Werke changieren dadurch zwischen Einfachheit und Komplexität, Benennbarkeit und Mehrdeutigkeit, Logik und Chaos. Es entstehen Entwürfe, die den Betrachter intellektuell fordern und ihn dadurch in ihren Bann ziehen. Autor: Michel Frei


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Pascal Flammers Entwurf für ein Gebäude nahe Quidinish auf der Isle of Harris, Schottland entstand 2014 für eine Ausstellung der AE Foundation, bei der unter anderem auch Arbeiten von Angela Deuber und Raphael Zuber zu sehen waren. Die beteiligten Architekten aus Schottland, Schweden und der Schweiz suchten mit ihren Entwürfen Antworten auf die Frage, wie die Schottische Landschaft zu bebauen sei und welche Rolle Architektur bei der Entwicklung ländlicher Regionen übernehmen könne und solle. (Modell und Foto: Yushi Sasada)

In Pascal Flammers Entwürfen schwingt etwas Mystisches mit – seien es die rohen Strukturen seiner Studentenprojekte, die Skulptur aus gestapelten Modellen als Beitrag für den Swiss Art Award (2013) oder sein in der nebligen Landschaft leuchtendes Wohnhaus in Balsthal. Alle Projekte scheinen Fragen zu stellen und diese in ihrer physischen Präsenz zu artikulieren. Sie machen deutlich, wie fundamental sich Flammer mit Fragen der Architektur auseinandersetzt und dass das Nachdenken über die Grundbedingungen der Disziplin zentraler Bestandteil seines Schaffens ist. Im Fokus steht der Mensch mit seinen Emotionen, Ängsten, Wünschen und existenziellen Grundbedürfnissen wie Geborgenheit, Schutz, Gemeinschaft und sozialem Austausch. «Wie würde ich an diesem Ort leben wollen?» ist eine Frage, die sich Pascal Flammer bei jedem Projekt stellt und bei der er von seiner eigenen Person ausgeht. Für ihn ist das existenzielle Grundwesen aller Menschen gleich, womit der Selbstreflexion eine universelle Gültigkeit zukommt. Flammer sieht seine Projekte denn auch als Vorschläge für mögliche und gleichsam präzise formulierte Lebenswelten, die sich im architektonischen Raum manifestieren.

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System Geprägt von seinem Lehrer Valerio Olgiati entwickeln sich Flammers frühe Projekte aus einem Interesse am System als strukturierte Ganzheit, wobei das System verstanden wird als Gesamtheit von Elementen, die so aufeinander bezogen oder miteinander verbunden sind, dass sie als eine sinngebundene Einheit angesehen werden können. In diesem Sinn müssen auch seine Räume als Teil eines Systems verstanden werden, denn auch sie sind nie isoliert, sondern stehen in einem ableitbaren, logischen Verhältnis zueinander. Sehr eindrücklich wird dieses Interesse am System anhand eines frühen Studentenprojekts sichtbar, dem Haus mit zwei Treppen, das Flammer 2000 in der Entwurfsklasse von Valerio Olgiati konzipierte, als dieser als Gastdozent an der ETH Zürich lehrte. Das Haus wirkt in seiner Radikalität wie ein Architekturmanifest. Flammers Entwurf ist für einen fiktiven Standort in einer Park– landschaft gedacht und soll entsprechend der Entwurfsaufgabe sein eigenes, imaginiertes Architekturbüro aufnehmen. Das Haus ist dreigeschossig und erhebt sich mit einem Seitenverhältnis von 1:2 auf einem rechteckigen Grundriss. Das einzige raumhaltige Element ist ein Kern, der zwei einläufige, übereinanderliegende Treppen aufnimmt und die Geschosse zoniert. Er bildet das statische Rückgrat, von dem die Geschossplatten allseitig auskragen. Um dies zu ermöglichen, werden Massnahmen notwendig, welche isoliert betrachtet durchaus konventioneller Natur sind, in ihrem Zusammenspiel jedoch zu einer verblüffenden Komplexität führen. Im obersten Geschoss verlaufen vier Wände im 45-Grad-Winkel vom Kern in die Gebäudeecken und teilen so den Grundriss in ebenso viele Räume. Die Wände sind statisch aktiviert und leiten die Vertikalkräfte der Bodenplatte in den Kern ab. Damit sie sich in ihrer Mitte nicht durchbiegt, wird die Platte zudem von Pfosten nach oben gezogen. Die Dachebene darüber leitet die Kräfte wiederum seitlich über dreiecksförmige Aufbordungen der Deckenplatte ab. Ein ähnliches Prinzip wird für die Geschossplatte des ersten Obergeschosses angewendet. Hier werden die Ecken über Zugstäbe gehalten. Zusätzlich stützt auf jeder Gebäudeseite ein mittig in der Fassadenebene angebrachter Pfosten die Platte.


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