Herausragend oder kontrovers Eine kritische Rückschau auf ein Jahr Schweizer Architektur
Monumentale Arbeitsräume Deon Architekten – KVA, Perlen Herzog & de Meuron – Roche Turm, Basel
Vermitteln oder Transformieren Adrian Streich und Loeliger Strub – Letzibach Areal, Zürich Fuhrimann Hächler – Haus Bärgiswil EMI Architekten – Speich Areal, Zürich Herzog & de Meuron – Helsinki, Basel
Kultur bauen Barão-Hutter – Bibliothek St. Gallen Morger + Dettli – Hilti Art Foundation, Vaduz Meili, Peter – Sprengel Museum, Hannover
Swiss Performance 2016
MÄR–MAI 1.2016 CHF 28.– | EUR 24.–
archithese abonnieren und kein Heft verpassen Neue Blickwinkel Fotoausstellung Vernissage am 10. März 2016 Die Bauten der Swiss Performance werden in diesem Jahr nicht nur im Heft präsentiert, sondern auch im Rahmen einer Fotoausstellung in Kooperation mit der Galerie BALTSprojects gewürdigt. Angehende Fotografen der Berufsschule für Gestaltung Zürich haben in einem unkonventionellen Projekt für archithese zur Kamera gegriffen und neue Blickwinkel auf die porträtierten Bauten erschlossen. Die Redaktion möchte damit einen Diskurs über das Medium Architekturfotografie anstossen. Die Vernissage findet am 10. März bei BALTSprojets in der Bernerstrasse Nord 180 in Zürich statt. Die Ausstellung ist bis zum 15. März zu sehen.
Fotografen Christine-Joy Apolinar Yaran Bürgi Annina Diethelm Samuel Egger Sara Furrer Milena Gasser
Sina Guntern Bettina Hänni Jason Kleeb Sebastian Lendenmann Samuel Müller Mike Wenger Selina Zuppinger
Zur Zukunft der Schweizer Architekturschulen Erscheint am 1. Juni 2016
Komplexe Räume. Eine fokussierende Rückschau auf die Postmoderne Erscheint am 1. September 2016
Science-Fiction Erscheint am 1. Dezember 2016
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Foto: Jason Kleeb
Swiss Performance 2016 MÄR – MAI
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Editorial
46 Marcel Meili,
Rubriken
Markus Peter 8 Herzog & de Meuron Roche Turm, Bau 1, Basel Jørg Himmelreich 18 Deon Architekten Kehrichtverbrennungsanlage Renergia, Perlen Marcel Hodel 28 Barão-Hutter Bibliothek Hauptpost, St.Gallen Gregory Grämiger 36 Adrian Streich
und Loeliger Strub Letzibach Areal, Zürich Elias Baumgarten
Sprengel Museum, Hannover Ursula Baus
86 archithektour Exkursionen des fsai
54 Andreas Fuhrimann, Gabrielle Hächler
90 Neues aus der Industrie
Haus in Bärgiswil Julia Hemmerling 62 Edelaar Mosayebi Inderbitzin Architekten Speich Areal, Zürich Jørg Himmelreich 70 Morger + Dettli Architekten Hilti Art Foundation, Vaduz Andrea Wiegelmann 78 Herzog & de Meuron Helsinki Dreispitz, Basel Ansgar Staudt
Coverbild basierend auf einem Foto von Yaran Bürgi; Deon Architekten: Kehrichtverbrennungsanlage Renergia Fotos im Ausklapper: E2A Architekten: Escherpark (Foto: Bettina Hänni); Blättler Daffl on: Einfamilienhaus Thalwil (Fotos: Selina Zuppinger); Huggenbergerfries: Limmattower (Fotos: Jason Kleeb); Adrian Streich und Loeliger Strub: Letzibach Areal (Fotos: Samuel Müller); Barão-Hutter: Bibliothek Hauptpost St. Gallen (Fotos: Sara Furrer)
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Editorial Swiss Performance 2016
Was wäre die Architekturdebatte ohne den Bilddiskurs? Jahrhundertelang über Zeichnungen und Stiche transportiert, hat inzwischen – im Zeitalter von Blogs und Newsportalen – das Foto einen exponentiellen Bedeutungszuwachs erfahren und ist zum Informationsträger schlechthin avanciert. Es wundert also nicht, dass sowohl der Aufwand bei der Erstellung der Aufnahmen als auch deren Professionalität stetig steigt. Zahlreiche langfristige und feste Kollaborationen zwischen Architekten und Fotografen stehen sinnbildlich für die verstärkte Konzentration auf eine professionelle Bildproduktion. Künftige Monografien antizipierend, wird über Jahre ein kongruentes Bildwerk zusammengetragen. Doch dies resultiert nicht zwangsläufig in inspirierenden Bildwelten und einem konstruktiven Diskurs. Das Modell, nach dem Fotos entstehen, ist in der Regel folgendes: Das Büro beauftragt einen Fotografen und kauft zugleich die Nutzungsrechte an den Bildern. Mit sichtbaren Auswirkungen – denn wer die Musik bestellt, bestimmt bekanntlich, was gespielt wird. Architekturfotografie wurde so vielerorts zur Auftragsarbeit degradiert; vorgegebene Blickwinkel und Motive sollen das gewünschte Bild des Gebäudes vermitteln und die Auswahl, welche die (Fach-)Presse schliesslich erhält, ist vorselektiert und wird parallel auf den Bürohomepages verbreitet und in Blogs gestreut. Das ist für die Redaktionen bequem, hat aber einen grossen Haken, denn so verflacht der Bilddiskurs und verschwimmt vollends mit dem Marketing. Dies ist auch den Redaktoren bewusst. Ihre Kritik an Fotos entzündet sich meist an denselben Punkten: Unerwünschter Kontext wird ausgeblendet; weite Kamerawinkel lassen die Innenräume unrealistisch grosszügig erscheinen; mit Bildbearbeitungsprogrammen wird nachgebessert, montiert, retuschiert und aufgehellt. Gibt es Alternativen, und welche Rolle müssen oder können Fotos in Architekturzeitschriften überhaupt noch spielen, wenn sie ohnehin zuhauf im Internet abrufbar sind? Diese Fragen plagen die Redaktion der archithese insbesondere beim Erstellen der Swiss Performance jedes Jahr ein wenig mehr, und auch die Fotografen fühlen sich an der kurzen Leine der Architekten zunehmend unwohl. Aber wie können Fotografen wieder Bildgestalter sein statt blosse professionelle Dienstleister? archithese versucht mit der Swiss Performance einen Reset und probiert ehrgeizig, gleich zwei Schritte auf einmal zu nehmen. Statt Fotografen zu beauftragen und mit den Intentionen der Redaktion zu briefen, haben wir für diese Ausgabe Cartes blanches verteilt: Lernende Fotografinnen und Fotografen der Berufsschule für Gestaltung Zürich haben unter Leitung von Gunnar Remane die Herausforderung angenommen, sich den im Heft vorgestellten Bauten fotografisch zu nähern und damit eine eigene Position zu formulieren – ein Experiment mit unvorhersehbarem Ausgang. Die Ergebnisse liegen mit diesem Heft in Auszügen vor. Es sind vielfältige Arbeiten entstanden; einige präzise und klassisch, andere experimentell, ungewöhnlich und rätselhaft. Ein roter Faden sind motivnahe Standpunkte und menschlichere Blickwinkel, wodurch die Gebäude mehr als komplexe Persönlichkeiten denn als glatte Charaktere in Erscheinung treten. Der Betrachter befindet sich meistens «im Raum»; der Anspruch auf die vollständige Lesbarkeit eines Bauwerks ist damit aufgegeben. Das macht Zeichnungen und Plandarstellungen wieder bedeutender – ein positiver Nebeneffekt, der zur Rückbesinnung auf das zentrale Medium der Entwerfer zwingt. Da nicht alle Arbeiten im Heft Platz fi nden konnten, sind weitere vom 10. bis 15. März in der Zürcher Galerie BALTSprojects zu sehen. Mehr Informationen dazu finden Sie im Ausklapper. Das Experiment ist der Beginn einer Serie: archithese möchte künftig jedes Jahr Fotografen oder -schulen einladen, eigene Positionen zur Architekturfotografie zu formulieren, damit die Swiss Performance ab jetzt in jedem Frühjahr zu einer doppelten Entdeckung wird! Die Redaktion
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Swiss Performance 2016 What would architectural debate be without visual discourse? Handed down over many centuries through sketches and engravings, architecture photography has seen an exponential growth since the rise of blogs and online news sources, which have now become a primary source of information. Therefore it is hardly surprising that the level of effort and professionalism that goes into creating these photographic images is constantly increasing. Predefined perspectives aim to present a building in a certain, desired light. The carefully made selection then handed over to magazines is highly controlled and calculated. While this process might be convenient for the editorial offices, it has one major drawback: If magazines only receive a pre-selected range of images, pictorial discourse loses its multidimensionality and ultimately becomes indistinguishable from marketing machinery. Editors are aware of this, and their criticism often focuses on the same points: unwanted context is edited out, wide-angle lenses make interiors appear far more generous than they actually are, editing software is used to improve, collage, retouch and increase brightness. But what are the alternatives? And what place can or must photographs have at all in architecture magazines today, if a plethora of them is just a simple Google search away? These are the questions that increasingly plague the editors of archithese with every new issue of Swiss Performance. And photographers, likewise, grow more and more uncomfortable on the architects’ short leash. But how can they once again become image designers instead of professional service providers? With this year’s Swiss Performance, archithese attempts a total reset, ambitiously taking two steps at once. Instead of assigning photographers and briefing them on the ideas of the editorial team, we decided to hand out cartes blanches: students from Zurich’s vocational school medien form farbe, under the guidance of Gunnar Remane, took on the challenge of finding a photographic approach to the buildings to be featured in this issue, thus formulating their own positions – an experiment with an unpredictable outcome. This issue presents a selection of the results. It is a highly variegated spectrum of works – some precise and classical, others experimental, extraordinary, irritating or cryptic. A golden thread that weaves through all of them is the use of close-ups and more humanized perspectives, which makes the buildings appear rather as complex personalities than featureless objects. The observer is “inside the space”; any aspirations to make the structure readable as a whole are foregone. This once again alerts us to the importance of plans to gain an overview – a positive side effect that forces the designer’s central medium to be reconsidered. Not all of the resulting images could be reproduced in the magazine, which is why a broader selection will be showcased at the Zurich gallery BALTSprojects from March the 10th to 15th. More info on this exhibition can be found in the fold-out page. This experiment is the beginning of a new series: Once a year, archithese will invite photographers or schools to formulate their own positions on architecture photography, thus making the exploration of each new issue of Swiss Performance a double discovery! The editors
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Swiss Performance 2016 Comment le débat au sujet de l’architecture se présenterait-il sans le message des images? Alors que ce message a été v éhiculé des siècles durant au moyen de dessins et de gravures, la photographie est devenue porteuse d’informations privilégiées. Au plus tard à l’avènement de l’ère des blogues et des portails de nouvelles, son importance a crû de manière exponentielle, jusqu’à devenir porteuse d’informations par excellence. Il n’y a donc rien d’étonnant à ce que l’investissement consenti pour la mise en œuvre augmente sans cesse le professionnalisme des prises de vue. De nombreuses collaborations à long terme entre architectes et photographes témoignent de la concentration sur une production professionnelle d’images. Le choix des images qui seront finalement transmises à la presse est le résultat d’une sélection revendiquée. Ceci est commode pour les rédactions mais présente un défaut majeur. Si les revues ne reçoivent plus qu’un choix du choix, le langage de l’image s’appauvrit pour se fondre complètement dans le marketing. Les rédacteurs en sont conscients. Leurs critiques achoppent en règle générale sur les mêmes points: le contexte indésirable est gommé; l’utilisation du grand-angle fait apparaître de manière généreuse mais irréaliste les espaces intérieurs; au moyen de programmes informatiques, les images font l’objet d’améliorations, de montages, de retouches, de modifications des conditions d’éclairage. Existe-t-il des alternatives à cela? Quel rôle les photographies de revues d’architecture peuvent-elles ou doivent-elles encore vraiment jouer, alors qu’elles sont de toute façon accessibles en grand nombre sur internet? Au fil des années, ces questions tourmentent de plus en plus la rédaction d’archithese, particulièrement au moment de l’élaboration du n uméro Swiss Performance. Il en va de même des photographes qui se sentent de moins en moins à l’aise en étant à la merci des architectes. Mais comment les photographes peuventils redevenir des concepteurs d’images et non des prestataires professionnels de services? archithese tente une remise à zéro avec Swiss Performance et, de manière ambitieuse, essaie de faire deux pas en un: en lieu et place de photographes envoyés sur place munis de nos intentions, nous avons d onné carte blanche à des élèves de l’école zurichoise medien form farbe. Sous la direction de Gunnar Remane, ceux-ci ont relevé le défi de s’approcher des bâtiments présentés dans ce numéro sous l’angle de la photographie, en formulant leur propre position, une expérience à l’issue imprévisible. Les résultats sont présentés sous forme d’extraits. Des travaux variés ont vu le jour, certains précis et classiques, d’autres plus expérimentaux, inhabituels, irritants et énigmatiques. Une distance plus réduite face à l’objet et une approche plus humaine en constituent le fil conducteur, lequel fait apparaitre les bâtiments plus comme des personnalités complexes que comme des caractères lisses. L’observateur se trouve dans l’espace. Le droit à la lecture intégrale de l’œuvre a été abandonné. Ceci redonne plus d’importance au dessin et à la représentation au moyen de plans – un effet secondaire positif qui nous oblige à nous pencher à nouveau sur les outils centraux du projeteur. Comme l’ensemble des travaux n’a pas trouvé place dans ce numéro, ceux-ci sont à voir du 10 au 15 mars 2016 à la galerie BALTSprojects, à Z urich. Des informations à ce sujet se trouvent dans le rabat. Cette expérience correspond au début d’une série: archithese aimerait dorénavant inviter chaque année des photographes, des écoles de photographie, à formuler des positions qui leur sont propres au sujet de la photographie d’architecture, afin qu’à partir d’aujourd’hui, archithese soit à chaque printemps l’objet d’une double découverte! La Rédaction
Von hohen Türmen und flachen Diskursen Herzog & de Meuron: Bürohochhaus für Hoffmann-La Roche in Basel Im September 2015 wurde mit dem 178 Meter hohen Bau 1 das derzeit höchste Haus der Schweiz fertiggestellt. Während viele Laien begeistert sind, brachen einige (Architektur-)Kritiker bereits während der Planung in Wehklagen aus. Ihnen ist der Turm schlichtweg zu hoch; manche sehen gar das gesamte städte bauliche und politische Gleichgewicht von Basel durch ihn in Schieflage gebracht. Anderen ist er formal zu schlicht geraten. Beide Kritiken sind zu pauschal und greifen daher zu kurz. Soll die «Verdichtung nach innen» mehr als ein Lippenbekenntnis sein, so muss auch das Hochhaus in der Schweizer Stadtlandschaft (wieder) seinen Platz einnehmen dürfen. Statt über Höhe sollte über drei wichtigere Aspekte diskutiert werden: Wie ist ein Hochhaus in den Stadtraum eingebunden? Welches räumliche Potenzial kann in Grundriss und Schnitt freigelegt und wie das richtige Gleichgewicht zwischen gestalterischem Ausdruck und kontextueller Einpassung gefunden werden? Auf allen diesen Betrachtungsebenen kann der Roche Turm durchaus punkten – und macht Lust auf die anstehende vertikale Verdichtung der urbanen Schweiz. Autor: Jørg Himmelreich Fotograf: Sebastian Lendenmann
Verdichten statt Auslagern Seit Gründung von Hoffmann-La Roche im Jahr 1896 ist Basel der wichtigste Standort des Konzerns. Über die Jahrzehnte ist die Firma zu einem der führenden forschungsorientierten Unternehmen in den Bereichen Pharma und Diagnostik herangewachsen und wird umsatzbasiert derzeit global hinter Novartis und Sanofi auf Platz drei gerankt. Weitere Schweizer Standorte existieren in Kaiseraugst, Rotkreuz, Reinach und Zürich. In Basel sitzt die Konzernleitung; hier wird zudem geforscht, entwickelt und produziert. Baulicher Nukleus war das Firmengelände im Basler Quartier Wettstein zwischen Grenz acherstrasse und Rhein. 1939 folgte eine Erweiterung Richtung Norden. Gemäss Otto R. Salvisbergs Masterplan wurden neue Forschungs- und Produktionsgebäude mit rechteckigen Fussabdrücken auf einem Raster in Nord-Süd-Ausrichtung aufgereiht. Über die Jahrzehnte ist das Areal mit den umliegenden Wohnquartieren verwachsen. Wer andere Standorte von Pharma- und Chemieindustrie kennt, ist überrascht, dass man entlang der Grenzacherstrasse quasi mitten durch das Werksgelände spazieren kann. Die Nähe zum Quartier ist im Sinne einer durchlässigen Stadtstruktur begrüssenswert, setzt aber einer potenziellen Erweiterung des Areals zugleich Grenzen. Weil Roche in der
letzten Dekade besonders stark wuchs, nunmehr Tausende Mitarbeiter in Bürobauten über die Stadt verteilt eingemietet sind und mehrere Laborbauten auf dem Areal nicht mehr dem Stand der Zeit entsprechen, wurden Entwicklungsszenarien für verschiedene Standorte durchgespielt. Letztlich wurde entschieden, den 120 000 Quadratmeter grossen Traditionsstand ort in Basel weiterzuentwickeln und massiv zu verdichten. 2006 wurde ein Leitbild entwickelt, für das der Grosse Rat von Basel zwei Bebauungspläne bewilligte; ein dritter wurde aufgelegt. Diese Pläne bilden die Grundlage für die Entwicklung des Südareals mit Bürohochhäusern und des Nordareals mit Bauten für Forschung und Produktion.1 Nachdem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit einigen grossflächigen Neubauten die Logik von Salvisbergs Plan gestört wurde, versucht die neue Arealentwicklungsstrategie sie nun zu korrigieren. So werden Querriegel, welche einige der aufgereihten Kuben zu kammartigen Strukturen geschlossen haben, entfernt und damit wieder Blickachsen zum Rhein geöffnet.
1 Bau- und Verkehrsdepartement des Kantons Basel-Stadt, «Areal F. Hoffmann-La Roche AG. Bebauungsplan Grenzacherstrasse (Nordareal)», Internet-Version, Stand vom 04.06.2015.
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Wenn die Schlange den Elefanten frisst Deon Architekten: Kehrichtverbrennungsanlage Renergia in Perlen Es brennt, zischt und brodelt in der Kehrichtverbrennungsanlage – der Umgang mit der rauen Arbeit und die Unterbringung riesiger technischer Anlagen verlangen nach enormen Spannweiten und zugleich einer starken Architektursprache, um die riesige Baumasse in Perlens ländlichem, feinkörnigem Kontext zu verorten. Das Luzerner Büro Deon Architekten hat diese schwierige Aufgabe mit einer zweckmässigen und doch monumental wie skulptural anmutenden Architektur gelöst. Kraftvolle Gestaltung und industrielle Pragmatik gehen dabei eine einzigartige Verbindung ein. Autor: Marcel Hodel Fotograf: Yaran Bürgi
Nach zweieinhalb Jahren Montage- und Bauzeit ist im ländlichen Perlen die grösste Kehrichtverbrennung (KVA) der Innerschweiz entstanden. Die 203 Meter lange und 60 Meter breite Hightechanlage hat die Fläche zweier Fussballfelder. Der Solitär sprengt die architektonische Körnung des Reuss tals, denn die benachbarten Industriebauten stammen noch aus der Phase der Frühindustrialisierung um 1860 und sind entsprechend kleinteilig. Im Norden der KVA-Parzelle verläuft der parallel zur Reuss angelegte Reusskanal; dahinter breitet sich ein Naturschutzgebiet aus. An den Kanal angegliedert ist eine Reihe von Gewerbebetrieben: Im Westen der neuen Verbrennungsanlage befindet sich die Papierfabrik
Perlen (PEPA) – ein Konglomerat aus Fabrikbauten – und im Osten türmen sich die Schnittholzstapel des Sägewerks Schilliger. Entsprechend rau und direkt ist die Architektursprache vor Ort. Die Erschliessung der KVA erfolgt über die Landstrasse, welche die kleinen Gemeinden Root und Buchrain miteinander verbindet und sie mit der nahen Autobahn verbindet. Im Süden des Bauplatzes verlaufen drei Industriegleise, dahinter befindet sich mit dem Rooterberg eine der landschaftlich prägenden Anhöhen der Region. Informelle Industriegelände und zwischen Agrarland gebettete Wohnweiler sind typisch diese Gegend.
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Zwischen Industriebau und Wohnmaschine Adrian Streich und Loeliger Strub: Wohn- und Gewerbeüberbauung Letzibach in Zürich Altstetten gehörte einmal zur Zürcher Peripherie. Die Bebauug entlang der Hohlstrasse zwischen Europaund Hardbrücke besteht aus rauen Gewerbehallen und monotonen Bürotankern; diffus und eigenschaftslos. Soll das Quartier nicht nur verdichtet, sondern wie von der Stadt Zürich vorgesehen gar zur erweiterten «Innenstadt» werden, so ist kraftvolle, neue Architektur vonnöten. Ein erster Schritt in diese Richtung ist die Letzibach-Überbauung von Adrian Streich und Loeliger Strub Architektur. Mit ihrer prägnanten Gestaltung hat sie das Potenzial, als Katalysator für neue Urbanität zu fungieren, und wird im besten Fall tonangebend sein für die weitere bauliche Entwicklung entlang des Zürcher Gleisfeldes. Autor: Elias Baumgarten Fotograf: Samuel Müller
Kraftvoller Softie Edelaar Mosayebi Inderbitzin Architekten: Wohn- und Gewerbehaus Speich in Zürich-Wipkingen «Bauen» heisst in Zürich «verdichten». Da freie Grundstücke rar werden, lohnt es sich mittlerweile, auch an verkehrsreichen Lagen Projekte zum Wohnen und Arbeiten zu entwickeln. Der Speich-Neubau von Edelaar Mosayebi Inderbitzin Architekten am Zürcher Wipkingerplatz – unweit der Limmat und direkt neben der Hardbrücke gelegen – muss sich in einer komplexen städtebaulichen Situation behaupten. Seine Formensprache wirkt ambivalent: prägnant und doch weich. Im Alltag erweist sich der Bau aber gerade wegen seiner «Sowohl-als-auch»-Haltung als geschickter städtebaulicher Vermittler und formuliert für das Quartier und den Uferbereich einen neuen sympathischen Auftakt. Autor: Jørg Himmelreich Fotografin: Sina Guntern Fotograf Wohnraum: Samuel Egger
Seit Aushebung der Baugrube vor vier Jahren beob achten die Redaktoren der archithese das voranschreitende Bauvorhaben auf dem Speich-Areal in Zürich. Da unser Büro unweit des Grundstücks am Wipkingerplatz liegt, sind wir mit der städtebaulich spannenden und spannungsgeladenen Situation bestens vertraut. Entsprechend stieg mit dem Bau fortschritt die Neugierde, wie das Haus darauf reagieren oder sie beeinflussen würde. Als endlich das Baugerüst entfernt und die gelbliche, vielfach abgewinkelte Kubatur sichtbar wurde, entsponn sich eine umfassendere Diskussion: Formu liert der Bau eine kraftvolle, eigenständige architektonische
Position – prägnant, schillernd, auf Zack und expressiv? Oder muss man ihn als reaktive Architektur lesen, die sich dem Kontext unterordnet: weich oder gar ausweichend; geformt von Baugesetzen und getrieben vom Bedürfnis, die Parzelle maximal auszuschöpfen? Dass sich das Gebäude derart janus köpfig präsentiert, mag auf den ersten Blick unentschieden wirken: Doch in der täglichen Beobachtung wurde deutlich, dass EMI Architekten für Platz und Quartier genau den richti gen Ton getroffen haben.
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Arrondierung und Optimierung Bis vor wenigen Jahren besetzten kleinere Bauten und den – unter ihnen SLIK, LYRA und Blue Architects. Überzeu Parkplätze das Areal zwischen Limmatuferweg und Höngger gen konnten letztlich EMI Architekten mit ihrem Entwurf strasse. Das Grundstück ist nach der Eigentümerfamilie Speich «Smilla» – weil ihr Vorschlag «unaufdringlich» sei und den benannt, die dort eine Druckerei betrieb. Im Jahr 2010 entschied noch «eine Identität» habe, so die Jury in ihrem Bericht. die Firma, an diesem Ort ein neues Wohn- und G eschäftshaus zu entwickeln. Sie zog in Erwägung, selbst in zwei der grossen Eine Schwäche für den Kontext Büroräume im Erdgeschoss und Souterrain einzuziehen, hat Am Wipkingerplatz stossen zeitliche Schichten und ver sich mittlerweile aber dagegen entschieden. schiedene Stadtkonzepte aufeinander: mittelalterlicher Weiler, Da ein Gemeindegrundstück hinzugekauft wurde, konn Blockrandstrukturen, Gartenstadt, (autogerechte Nachkriegs-) te die Stadt die Durchführung eines Studienauftrags durch Moderne und postmoderne Justierungsversuche. Genauso setzen. Neun Architekturbüros wurden 2011 dafür eingela- komplex ist die Verkehrsinfrastruktur: Über die Brücke rollen
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Bauen auf dem Land Andreas Fuhrimann und Gabrielle Hächler: Haus in Bärgiswil Die Aufgabe, ein altes Bauernhaus durch einen zeitgemässen Neubau zu ersetzen ohne dabei den ländlichen Kontext zu negieren oder zu verklären, forderte viel Fingerspitzengefühl vom Team rund um Andreas Fuhrimann und Gabrielle Hächler. Ihnen ist eine reiche, vielschichtige Architektur gelungen, die Altes neu interpretiert und behutsam zwischen traditionellen Bauformen und modernen Ansprüchen vermittelt. Ihr Entwurf, der aus Wirtschaftlichkeit ästhetische Qualität schöpft und vielfältige Referenzen aus zeitgenössischer Kunst und Fotografie einbindet, hat Vorbildcharakter für modernes Bauen in ländlicher Umgebung. Autorin: Julia Hemmerling Fotografin: Milena Gasser
«Wie es denn nun dämmerte und allmählich nachtete, beschäftigten ahnungsvoll zusammenstimmende Töne unser Ohr; das Glockengebimmel der Kapelle, das Plätschern des Brunnens, das Säuseln wechselnder Lüftchen, in der Ferne Waldhörner; – es waren wohltätige, beruhigende, einlullende Momente.»1 Dichter Nebel wabert über den Vielwaldstättersee. Er reicht bis nach Merlischachen und zum Hof in Bärgiswil. Jetzt, in der Dämmerung, erscheint der Putz des Neubaus gräulich. Deutlicher noch als bei Tageslicht kommen hölzerne Riegel und Pfosten zum Vorschein und offenbaren Ungewöhnliches: Ein neu gebautes Fachwerkhaus. Aus dem ehemaligen Bauern hofensemble ist ein Ort der Sinne, vor allem der Klänge gewor den. Was Goethe 1775 auf seiner Reise durch das Luzerner Oberland begegnete, findet sich dort noch heute: der ländliche Raum als Rückzugsort, in dem (Wohl-)Klänge die Stille durch brechen.
1 Johann Wolfgang von Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Paris 1836, S. 534. 2 Auszug aus der Quintessenz der Arbeitstagung mit Gion A. Caminada und Josef Perger. Zürich 2009.
Natur, Kultur, Wohnen Die poetische Bezeichnung «Ort der Sinne» wurde 2009 vom Bauherrenpaar zusammen mit dem Architekten Gion A. Caminada und dem Philosophen Dr. Josef Perger erarbeitet und anschliessend Architekturstudenten der ETH Zürich als Entwurfsaufgabe gestellt. Dabei stand die Synthese von Naturund Kulturraum im Vordergrund: Die Bauherren wünschten sich einen Ort, an dem «ein Nährboden entsteht, welcher er laubt, alle fünf Sinne in der Tiefe an einen Ort gebunden zu er leben.»2 Ein Ort also, der den Menschen in ein neues Verhältnis zur (Kultur-)Landschaft setzt. Das Hören und der Bezug zur Musik waren dem Bauherrn besonders wichtig – nicht nur, weil er leidenschaftlicher Hobbymusiker ist, sondern auch weil er mit seiner grossen Schwyzerörgeli-Sammlung, die vor allem dem Erhalt der Instrumente dient, ein hohes Kulturgut bewahrt. Die Handorgeln kann man ausleihen, ganz nach dem Vorbild Stradivari. Gute Schwyzerörgeli sind für Jungmusiker kaum erschwinglich und zugleich erhält das regelmässige Spielen den guten Zustand der sensiblen Instrumente. Wohnen, Lagern und Reparieren der Handorgeln und Orte zum Proben und Musizieren – all dies braucht viel Platz, den die Bauherren an ihrem bisherigen Wohnort in Meggen nicht hatten. Und so kauften sie 2008 den ehemaligen Bauern hof in Bärgiswil samt Wohnhaus, Schopf und Scheune. Ein