Bauherr – The Client
Foto: Pierluigi Macor
archithese
2.2012
Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur
Zum Verhältnis von Bauherr und Architekt
International thematic review for architecture
Im Gespräch mit Rolf Fehlbaum Marke Eigenbau – Individuelles Kalkül und Gemeinsinn Doormen, Gated Communities Uma Casa Portuguesa Captain, Capitalism, Communism – Mastering the Masterplan Iassen Markov – Häuser für Freunde und Bekannte Psychopathologien des Architektonischen Viktorianismus Der Wettbewerb für das MCBA in Lausanne schneider+schumacher Erweiterung Städelmuseum, Frankfurt Gion A. Caminada Reussdeltaturm, Seedorf Christ & Gantenbein Bürogebäude, Liestal
Realisation
Kauf / Verkauf
Interview François Dallegret
März /April
8005 Zürich: Hier realisiert Allreal das Wohnhochhaus Escher-Terrassen www.escherterrassen.ch
archithese 2.2012
Allreal-Gruppe: Zürich, Basel, Bern, St. Gallen
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Preis: 28 CHF/22 Euro
Immobilien
Projektentwicklung
Bauherr The Client
EDITORIAL
Bauherr Ob es den idealen Bauherrn wirklich gibt, sei dahingestellt. Es scheint aber unter Architektinnen und Architekten Übereinkunft darüber zu bestehen, dass das Verhältnis zum Auftraggeber früher wenn auch nicht einfacher, so doch besser gewesen sei. Diese Feststellung ist mehr als gegenwartskritische Nostalgie, denn festzuhalten ist zweierlei: Zum einen wird der klassische Bauherr sukzessive marginalisiert durch einen neuen Typus des Managers, der Kostenoptimierung und Effizienz als primäre Ziele sieht und damit nicht mehr als Partner, sondern als Gegner empfunden wird und dessen Interessen jenen des Entwerfers diametral entgegenstehen. Der neue Manager korreliert mit einer von Anlagestrategien und Rendite bestimmten Ökonomie, welche sich im Bereich des Bauens dahingehend auswirkt, dass nicht mehr der Nutzer selbst als Bauherr in Erscheinung tritt, sondern ein Anlageunternehmen oder ein Generalunternehmer. Schon allein diese Tatsache führt bauherrenseitig zu einem Verlust an Verantwortung; dass derjenige, der den Planungsprozess in die Wege geleitet hat, diesen auch bis zum Ende begleitet, ist dabei die Ausnahme. Zum zweiten – und das hat mit der Flucht vor Verantwortung zu tun – sind auf der Seite des Auftraggebers neue Funktionen und Berufe wie Generalunternehmer, Bauherrenberater und Konstenkontrolleure entstanden, die letztlich ebenfalls am Bau partizipieren wollen und damit den Spielraum des Architekten nicht nur in finanzieller Hinsicht beschneiden. Aber wo ein Herr ist, dort muss auch ein Knecht sein. archithese zeigt verschiedene Facetten des Themas Bauherr und dokumentiert die Veränderungen – die negativen ebenso wie die positiven. Vorgestellt werden Exzentriker und Visionäre; zu sprechen sein wird auch über Ignoranz und Selbstgefälligkeit. Hubertus Adam, Hannes Mayer
In eigener Sache: Die Leitung der bsmediagroup hat sich Ende Januar von J. Christoph Bürkle getrennt. Die Redaktion dankt ihm für 17 Jahre Engagement für die archithese. Die Chefredaktion liegt fortan in den Händen von Hubertus Adam und Hannes Mayer.
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ARCHITEKTUR AKTUELL
Vier Kanzeln über der Landschaft
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GION A.CAMINADA: REUSSDELTATURM, SEEDORF
allerdings als Illusion, wie beispielsweise das Hoch-
wie sehr die Landschaft ein Produkt menschlicher
Eine Bautypologie des 19. Jahrhunderts – der
wasser des Jahres 1987 zeigen sollte. Hinzu kam ein
Formung ist. Links in der Ferne erklimmt die Auto-
Aussichtsturm – stösst seit einigen Jahren auf
weiteres Problem: Der von der in Flüelen ansässigen
bahn vermittels einer Rampe das Mundloch des
neuerliches Interesse. Zu den bemerkens-
Firma Arnold & Co. im ausgehenden 19. Jahrhun-
Seelisbergtunnels, rechts werden die Tunnel der
werten Neuinterpretationen zählt auch ein
dert aufgenommene Kiesabbau führte mit zuneh-
Axenstrasse erkennbar. Ein gewaltiger Schwimm-
hölzerner Turm im Gebiet des Reussdeltas an
mender Baggertiefe zu Abbrüchen der Uferkante,
bagger vorne im See zeugt vom noch andauernden
der Südspitze des Vierwaldstättersees.
sodass sich die Uferlinie des Urnersees um mehr als
Kiesabbau, und die Wiesen- und Weideflächen im
Im 19. Jahrhundert mit seiner positivistischen Grund-
zweihundert Meter Richtung Süden verschob. Weil
Rücken sind seinerzeit im Gebiet früherer Auwälder
es so nicht weitergehen konnte, wurde seitens des
entstanden.
strömung prinzipieller technischer Machbarkeit so-
Kantons und unter der massgeblichen Mitwirkung
Der Aussichtsturm selbst steht am Ufer im Flur-
wie dem Gedanken, die Natur bezwingen zu können,
der Firma Arnold, der man einen naturverträglichen
bereich Schanz, einem durch kleine Badeinseln –
begann die Ära der Flusskorrektionen, die sich bis
Kiesabbau weiterhin zusicherte, ein Landschafts-
einige von ihnen wurden mit Ausbruchsmaterial des
ins 20. Jahrhundert fortsetzte. Zwischen 1850 und
entwicklungsplan erarbeitet, der im Rahmen des
Neat-Tunnels aufgeschüttet – besonders beliebten
1863 beispielsweise wurde der Oberlauf der Reuss
Reussdelta-Gesetzes 1985 auf Zustimmung des
Gebiet, das man von Flüelen aus zu Fuss in gut
reguliert, die sich – im Gotthard- und Furkamas-
Souveräns stiess.
zwanzig Minuten erreicht. Es ist ein Ort der Freizeit-
siv entspringend – bei Flüelen in den Vierwaldstät-
Seitdem hat sich das Bild des Reussdeltas gra-
kultur, der gleichwohl zum Erleben der Natur einlädt,
tersee ergiesst, um diesen in Luzern wieder zu
vierend gewandelt: Ohne die Landschaft in einen
denn das Reussdelta ist ein üblicher Zwischenstopp
verlassen; weitere Hochwasserschutzmassnahmen
vermeintlichen Naturzustand zurückzuverwandeln,
für Schwimmvögel vor oder nach der Überquerung
erfolgten in den Dreissigerjahren des 20. Jahrhun-
ist das Reussdelta zu einem beliebten Naherho-
des Alpenhauptkamms. Schon seit 2002 bestand
derts. Die Hoffnung, die Gegend vor verheerenden
lungsgebiet geworden. Steht man auf dem neuen
hier ein Aussichts- und Beobachtungsturm, der aber
Überschwemmungen zu bewahren, erwies sich
Aussichtsturm von Gion A. Caminada, so sieht man,
aufgrund nicht behebbarer Schäden 2008 wieder
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1 Blick über das Reussdelta Richtung Vierwaldstättersee (Fotos: Lucia Degonda) 2 Treppenspindel mit Weidengeflecht
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abgebrochen werden musste. Ende 2010 fiel der Entschluss des Regierungsrats des Kantons Uri, an gleicher Stelle einen Ersatzturm zu errichten, mit dessen Planung Gion A. Caminada aus Vrin beauftragt wurde. Mitte Januar 2012 erfolgte die Einweihung des für 197 000 Franken erstellten Gebäudes. Aussichtstürme sind eine Typologie des 19. Jahrhunderts. War der Blick in die Landschaft bisher funktional begründet, etwa zu militärischen Zwecken oder aus Gründen des Brandschutzes, so konnte die sich ausbildende bürgerliche Gesellschaft ihn nun zweckfrei geniessen. Es verwundert aber nicht, dass sich die frühen Aussichtstürme in der Zeit der Nationalromantik stilistisch an Wart- oder Burgtürme anlehnten – und mit anderen Elementen der Freizeitkultur angereichert wurden, Gaststätten etwa oder memorialen Setzungen; eines der bekannten Hybridgebäude in der Schweiz ist das 1908 eingeweihte Morgartendenkmal von Robert Rittmeyer am Ägerisee. In den letzten Jahren hat die Bauaufgabe Aussichtsturm erneut Konjunktur, wenn auch unter gewandelten Funktionszuschreibungen. Zum einen werden Türme zwecks Stadtmarketing in Innenstädten realisiert, wie etwa der hölzerne Aussichtsturm an der Baustelle des im Entstehen begriffenen Wiener Hauptbahnhofs; zum anderen erleben sie eine neue Karriere als pädagogische Instrumente, die Einblicke in natürliche Lebensräume bieten sollen. Ein Beispiel hierfür ist der Bostoren des niederländischen Architektenteams SeARCH auf dem Landgut Schovenhorst bei Putten: Zunächst nähert man sich auf kreisförmigem Kurs den benachbarten Stämmen, tritt ein in einen hölzernen Raum, von dem aus man durch Löcher wie in einer animalischen Peepshow in Vogelnester schaut, kann in einem kastenartigen Netz in schwindelerregender Höhe auf den Boden blicken, um sich und die Um-
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«IT’S NOT A HOUSE YOU NEED, IT’S A DIVORCE.»
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Zum Verhältnis von Bauherr und Architekt Architekt und Bauherr gleichen zwei Kindern auf der Wippe. Je nach Gewicht verhilft das eine seinem Gegenüber nach oben. Es benötigt den Impuls beider, um Bewegung und Genugtuung zu erreichen – und springt eins lustlos ab, sackt das andere Kind zu Boden.
Autor: Stephan Trüby
sentationsabsichten. Auch im 21. Jahrhundert bleibt die Ar-
Mit dem wohl ambitioniertesten architekturtheoretischen
chitektur eine fremdbestimmte Anti-Disziplin, die ein zum
Werk der letzten Jahrzehnte – Patrik Schumachers Autopoie-
Erfolg bestimmtes Architekturbüro in eine kontinuierlich
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archithese 2.2012
sis of Architecture – wird der problematische Versuch un-
akquirierende Rolle drängt. Nur die Gnade der glücklichen
ternommen, ein «System der Architektur» lediglich auf die
Geburt kann eine zeitweilige Entlastung von der Bauher-
«design decisions» des Entwerfers zu gründen. Zum Schuma-
rensuche in Aussicht stellen. Doch selbst ein Millionenerbe
cher’schen Architektursystem gehören weder politischer
wie Philip Johnson weiss aus Erfahrung, dass die «private
Wille noch partizipatorische Akte, weder Altbauten noch
masturbation» 2, für sich selbst zu bauen, keinen direkten
Kulturerbe. Vor allem exkludiert Schumacher den Bauherrn
Weg zur Erfüllung bietet. Die Mühsal, monologisierend zu
aus dem System der Architektur. Doch: Nichts könnte mehr
Entwurfsentscheidungen zu kommen, werde in der Summe
zur Verklärung der Architekturrevolution beitragen als ein
immer noch weit übertroffen von den Tücken, die ein bau-
Schweigen über Auftraggeber, deren Wünsche und Reprä-
herrlicher Dialogpartner in Planungsprozessen an den Tag
legen kann. Bereits ein flüchtiger Blick auf die Geschichte
Noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein waren Könige und
zeigt, dass die Architektur ohne Bauherr kaum zu denken ist.
andere Feudalherrscher die tonangebenden Bauherren, so-
Mit ihm – sei er königlich, kirchlich, staatlich, bürgerlich oder
dass bestimmte Spielarten der Kunstgeschichtsschreibung
auch eine juristische Person – kommt die Ökonomie zurück
es für eine gute Idee hielten, die gesamte Architekturpro-
in den Architekturdiskurs, also jene Wissenschaft der Wirt-
duktion eines Landes in den Schemata von «Königsstilen» zu
schaft, die sich nicht von ungefähr vom griechischen Wort für
beschreiben. Neben England wurde dieses Verfahren insbe-
Haus – oikos – ableitet.
sondere auf Frankreich angewandt, etwa auf die Kunst und Architektur im Zeitalter Ludwigs XVI. Der Louis-seize-Stil ist
Der König als Bauherr
demnach gekennzeichnet durch die Ablösung von Rocaille-
Für weite Zeiträume in der Geschichte der Architektur kann
Formen durch geometrischere Formen, die durch dezent-
als folgenreichster Bauherr der König gelten – der König in
naturalistische Ornamente wie Blumenkörbe, Zweige, Vögel,
all seinen historischen und territorialen Spezifikationen: als
Fruchtstäbe, Fruchtgehänge, Girlanden und Festons verziert
Feudalherrscher, Pharao, Kaiser, absolutistischer Monarch
wurden.5 Folgt man dem laut Emil Kaufmann «unfruchtba-
oder Zar. Bereits der älteste monumentale Steinbau der
ren» Schema der Königsstile, dann schliesst sich an das
Menschheit, die um 2650 v. Chr. durch Imhotep errichtete
Louis-seize das Directoire (Hochzeit zwischen 1795 und 1799)
Stufenpyramide von Sakkara, kann als eine königliche Ar-
an, gefolgt vom Empire (Hochzeit zwischen 1804 und 1820).
chitektur beschrieben werden – als die bis in alle Ewigkeit
Dem Louis-seize voraus ginge demnach das Louis-quatorze
hinausgreifende Grablege des altägyptischen Königs Djoser.
(französisches Barock) unter Ludwig XIV. und das Louis-
Während die Sakkara-Pyramide noch einer Vergöttlichung
quinze (französisches Rokoko) unter Ludwig XV.6 Wie dem
des Bauherrn selbst zuarbeiten sollte, kündet ein Steinrelief
auch sei: Der Begriff Louis-seize-Stil, der europaweit Schule
im Inneren des von 237 bis 57 v. Chr. erbauten Edfu-Tempels
machen sollte, verdankt sich ausgerechnet jenem französi-
von einer stark veränderten Machtlage: Der Pharao – hier
schen Herrscher, der – anders als die meisten seiner Vorgän-
Ptolemaios III., auch bekannt als Euergetes I. – baut nicht
ger – am wenigsten durch Bauten in die Öffentlichkeit treten
mehr als Gott, sondern für einen Gott, nämlich für Hor-Beh-
sollte, sondern vor allem dadurch, dass er 38-jährig im Zuge
deti, den Horus von Edfu. Das Relief – eine der frühesten
der Französischen Revolution unter der Guillotine endete.
Stifterdarstellungen überhaupt – zeigt den Pharao, wie er
Der «Anti-Bauherr» Ludwig XVI. markierte daher ein relati-
symbolisch das Bauwerk dem Lokalgott überantwortet. Hie-
ves Ende in der manchmal noch immer zu beobachtenden Ge-
roglyphen schildern die festliche Gründung mit folgenden
wohnheit, die Architekturgeschichte als Herrschergeschichte
Worten: «Dieser schöne Tag […] war der Tag des Senut-Fes-
zu begreifen. Insgesamt kann für die gesamte königliche be-
tes […]. Der König selbst und die Göttin Seschat, die Grosse,
3
legten den Grundriss des Ersten-Heiligtums fest; die richtige Lage seiner Räume wurde bestimmt von den Göttern des Schöpfungswortes gemeinsam mit dem Herrn der Hedenpflanze, die Chnumgötter begannen zu formen, Ptah bildete und die erste Urgötterschaft war in Jubel ausgebrochen rings umher.» 3 Wie im alten Ägypten, so dominierte auch im antiken Rom der königliche beziehungsweise – seit Cäsar – der kaiserliche Bauherr. Als architektonisch besonders bedeutsam gilt
1 Edfu-Tempel, Stifter-Detail, 237 bis 57 v. Chr. 2 Sakkara-Pyramide, 2650 v. Chr. (alle Abbildungen ausser 7: Archiv Stephan Trüby) 3 Cabinet doré von Marie-Antoinette in Versailles
die Regentschaft Hadrians zwischen den Jahren 117 und 138 n. Chr., in dessen Amtszeit vor allem der Bau seiner rund 120 Hektar grossen Villa Adriana (erbaut 118 bis 134) und des zwischen 118 und 125 errichteten Pantheons in Rom fällt. Dass Hadrian an den zahllosen Baumassnahmen seiner Regentschaft nicht nur als distanzierter Bauherr im Hintergrund wirkte, sondern zuweilen aufdringlich den Baufachleuten dreinzureden versuchte, macht folgende Anekdote deutlich, die der Geschichtsschreiber Cassius Dio überliefert: In seiner Römischen Geschichte berichtet er von einer Diskussion zwischen Kaiser Trajan, dessen späterem Nachfolger Hadrian und dem erfahrenen Architekten Apollodor von Damaskus, der vor allem durch sein Trajansforum berühmt geworden war. Als Apollodor mal wieder vom jungen, architekturbegeisterten Hadrian unterbrochen wurde, blaffte der Architekt zurück: «Verzieh dich und zeichne deine Kürbisse. Du verstehst nichts von diesen Dingen.» 4
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UMA CASA PORTUGUESA Häuser der Emigranten in Portugal Am Rande historischer Dorfkerne in Portugal entstanden über mehrere Jahrzehnte Häuser und Siedlungen von Emigranten. Sie sind die gebauten individuellen Projektionen der Bauherren, in welchen sich die neue mit der alten Heimat vereint.
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Text: Ana Sofia Gonçalves und Eberhard Tröger
rung in weitem Bogen das alte Dorfzentrum. Diese Avenida
Fotos: Ana Sofia Gonçalves und Manuel Frey
da República passiert eine lockere Reihe von wenigen selt-
Valezim ist ein kleines Bergdorf im Herzen Portugals, das
sam isoliert stehenden Neubauten. Oberhalb der vielbefah-
sich wenig unterhalb des kargen Hochplateaus der Serra
renen Strasse gelegen, besetzen sie eine sehr prominente
da Estrela an den sonnigen Südhang eines kleinen Tales
Lage und sind grösser und repräsentativer gestaltet als die
schmiegt. Üppige Pinienwälder begrünen die Bergflanken,
traditionellen Steinhäuser. Gleichzeitig distanzieren sie sich
und im Frühjahr verwandeln Tausende von Ginsterbüschen
von der dörflichen Gemeinschaft.
die Landschaft in ein gelbes Blütenmeer. Das Leben in der
Eines dieser Häuser gehört der Familie Gonçalves, die seit
350-Seelen-Gemeinde war über viele Jahrhunderte von har-
vielen Generationen in Valezim beheimatet ist. Ihr stattliches
ter Arbeit geprägt. Mühsam rang man den steilen Hängen
Einfamilienhaus erhebt sich über einem granitverkleideten
mit aufwendigen Terrassierungen nutzbares Land für den
Erdgeschosssockel, die Wände darüber sind weiss verputzt
Ackerbau und die Weidung der Ziegen und Schafe ab. Die
und werden von einem roten Ziegeldach mit Gaupen, Vor-
einfachen Steinhäuser wurden aus dem gelblich-grauen
dächern und Giebeln gedeckt. Eine halbkreisförmig ge-
Granit des Gebirges errichtet und rücken eng entlang
schwungene Freitreppe mit kunstvollen schmiedeeisernen
der alten gepflasterten Dorfstrasse um den Kirchplatz zu-
Geländern führt vor dem Haus auf einen kleinen Balkon im
sammen. Nicht weniger als fünf Gotteshäuser, von denen
Obergeschoss, wo sich die offizielle Haustür befindet. Ein
das grösste bereits auf römischen Grundmauern errichtet
grosszügiges Wohn- sowie ein Esszimmer schauen über die
wurde, zeugen vom tief verwurzelten katholischen Glauben
Strasse auf Berge und Landschaft. Die Familie Gonçalves
der Bewohner und ihrer traditionell starken Verbindung mit
jedoch betritt ihr Haus über einen unscheinbaren Hinterein-
dem Ort. Tatsächlich entschädigen die Terrassen Valezims
gang auf der rückwärtigen Hangseite. Dieser führt in einen
all die Entbehrungen mit einem überwältigenden Panora-
kleinen, später hinzugefügten Anbau, der die Küche mit dem
mablick hinaus über weite Teile der hügeligen Landschaft
holzbefeuerten Herd beherbergt. Das gesamte Leben findet
Zentralportugals.
mehr oder weniger in den zehn Quadratmetern dieser klei-
Wie in vielen Dörfern dieser ländlich geprägten Gegend
nen Küche statt. Die restlichen Räume des Hauses wirken
hat sich auch in Valezim das gewachsene Ortsbild bis in die
unbewohnt. Selbst gegessen wird meist bei der Grossmutter,
Gegenwart weitgehend erhalten. Reist man jedoch über die
die in einem kleinen alten Steinhaus im Ortskern lebt.
kurvige Nationalstrasse hinauf zum höchsten Gipfel des por-
Die längste Zeit des Jahres sind die Rollläden des stolzen
tugiesischen Festlandes, so umfährt die neue Strassenfüh-
neuen Hauses an der Nationalstrasse ohnehin geschlossen
1 Paranhos da Beira, Seia, Bauherren aus Afrika 2 Valezim, Seia, Bauherren aus der Schweiz
und das Haus verwaist, denn die Gonçalves leben zweitau-
Nacional wurden von Emigranten erbaut. Die einen sind
send Kilometer entfernt in Zürich in einer kleinen Mietwoh-
nach Brasilien, die anderen in die USA, nach Deutschland
nung eines pragmatischen Wohnblocks.
oder eben in die Schweiz ausgewandert. Und jeder hat ein Stück der Kultur seines Gastlandes mit in die portugiesischen
Heimatverlust und Heimatbau
Berge gebracht. Gerade in der agrarlandschaftlich geprägten
Unter der ruinösen Diktatur Salazars verkam Portugal immer
Região do Centro mit den Distrikten Guarda, Coimbra, Viseu
mehr zum Armenhaus Europas und die immens steigende
und Castelo Branco haben bis zu achtzig Prozent der Einwoh-
Arbeitslosigkeit zwang viele Portugiesen dazu, ihr Glück in
ner ihr Heimatdorf irgendwann einmal verlassen.
der Ferne zu suchen. Seit der Nelkenrevolution 1974 versucht
Die am Rande ihrer Heimatörtchen entstandenen Emig-
sich das Land innerhalb der Konkurrenz zu den europäischen
rantenhäuser sind inzwischen in ganz Portugal zum Inbegriff
Nachbarländern neu zu positionieren.
für einen bestimmten Bautypus geworden. So verschieden
Auch der Vater der Familie Gonçalves verliess in jungen
diese Bauten auch gestaltet sein mögen, so haben sie doch
Jahren sein Heimatdorf und fand Ende der Siebzigerjahre
vieles gemeinsam. Meist stehen sie an einer prominenten
schliesslich in der Schweiz Arbeit. Nach sechs Jahren folgten
Stelle am Rand und gerne oberhalb des gewachsenen Ortes.
ihm Frau und Töchter nach. Doch es war nie sein Ziel, in der
Sie reihen sich an neuen Strassen, die oft sogar Namen wie
Fremde zu bleiben; so steckte die Familie all ihre Ersparnisse
Avenida do Emigrante tragen, halten aber nach Möglichkeit
in den Bau des neuen Hauses in Valezim. Seit 1981 wird wäh-
Abstand zueinander. Kulturpolitisch und allen voran von den
rend aller Ferien daran gebaut, aber erst seit Mitte der Neun-
ambitionierten Architekten Portugals werden sie bis heute
zigerjahre übernachtet die Familie zeitweise in dem immer
geschmäht und heftig kritisiert. Sie fördern die Zersiedelung
noch unfertigen Neubau. Viele der Baumaterialien bringen
der Landschaft, weisen eine willkürlich und geschmäckle-
sie nach und nach aus der Schweiz nach Portugal und zeigen
risch erscheinende Gestaltung auf und veröden durch ihren
damit, was sie im Ausland erreicht haben und welche Mög-
langen Leerstand die ländliche Kultur.
lichkeiten sich dort bieten. Gleichzeitig sollen sich diese aber
Die zeitgenössische Architekturszene des Landes bezieht
auch in die Bauweise am Ort integrieren, denn es herrscht
sich explizit auf traditionellere Vorbilder. In dem vor allem
eine grosse Sehnsucht, im Dorf präsent zu bleiben und die
durch die Interpretation der Fado-Ikone Amália Rodrigues
eigene Bekenntnis zur Heimat für alle sichtbar zu markieren,
berühmt gewordenen Lied Uma Casa Portuguesa heisst es:
obwohl eine tatsächliche Rückkehr immer unwahrscheinli-
«A alegria da pobreza está nesta grande riqueza de dar, e
cher wird. Auch die meisten anderen Häuser an der Estrada
ficar contente. Quatro paredes caiadas, um cheirinho à ale-
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HÄUSER FÜR FREUNDE UND BEKANNTE Iassen Markov: Pixel-Fantasien realer Personen Seine Entwürfe künden von einem empathischen Monumentalismus: Sie sind das Resultat eines paradoxen Wunsches, die eigenen Präferenzen im Gegenüber eskalieren zu lassen. Dieses Gegenüber setzt sich zusammen aus zwanzig prominenten und semiprominenten bulgarischen Politikern, Musikern, Wissenschaftlern, Künstlern, mit denen lange Gespräche geführt wurden – in der Tradition architektonischer Zuhörkunst Richard Neutras –, um ihre Raumträume und Albträume Form werden zu lassen. Entstanden ist ein Pixel-Panorama wilder Konstruktionsimprovisationen, Ornamentfetischismen und Dämmdelirien, die eine genuin postsozialistische Kondition aufscheinen lassen: den radikalen Sprung vom einen Bauherrn (dem Staat) hin zu den vielen Bauherren, welchen die Marktwirtschaft mit sich brachte.
Haus für Svetlio (Barbesitzer) Wenn Svetlio, ein leicht notorischer Barbesitzer (Butcher’s Bar, Sofia) gnadenlos Niederfrequentes hört und damit Gebäude gefährlich ins Vibrieren bringt, dreht er so selten wie möglich die Musik einfach nur leiser; lieber besänftigt er die strapazierte Statik durch Handauflegen. Sein Haus, hoch über der bulgarischen Hauptstadt gelegen, ist ein haptisches: Es ist bekleidet mit Moosen, Sträuchern, Bäumen – ja ganzen Wäldern. Unter der weichen Oberfläche des am höchsten aufragenden Gebäudeteils verbirgt sich der wertvolle Nukleus des Hauses: ein synthetischer Diamant. Manchmal, wenn der Wind über Sofia den Kanten des Bauwerks zusetzt, blitzt er über der Stadt.
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Haus für Ivan Moudov (Künstler) Ivan Moudov geht es gut, wenn es anderen schlecht geht. Entsprechend gibt sich sein Haus, denn schlampig verschalte Betonwände bilden die Fassade. Das Dach wird von einem Wohnwagen Moudovs bekrönt – waghalsig an der Dachkante platziert, sodass sich Passanten ständig fragen, wann das Gefährt nun herunterfliegt. Das Haus, das trotz seiner Lage direkt am Meeresstrand von aussen hermetisch geschlossen wirkt, wartet in seinem Inneren mit attraktiven Wandmalereien auf, um die Illusion völliger Transparenz zu erzeugen. Teil des Gebäudevolumens ist ein Freilaufterritorium für einen gefährlichen Hund, der manchmal Strandbesucher anfällt. Ivan Moudov ficht das nicht an: Sein Hausdach verleiht ihm direkten Zugang zu einem Sprungbrett, mit dem er ins Meer springen kann.
Haus für Stefan Kartchev (Künstler) Ein Feuer in Stefan Kartchevs Wohnung liess sein gesamtes Hab und Gut in Rauch aufgehen, und sein neues Haus soll diese Katastrophe in magischen Momenten wachhalten: Man betritt es durch einen Blitz-Eingang. Dahinter folgen Showtreppen sowie frei im Raum schwebende Hausebenen und Stadtfassaden. Der einzig umschlossene Raum ist der Observation von Horror gewidmet: Filmen, Asservaten, Überbleibseln etc. Die grösste Plattform des Hauses weist zwei Vertiefungen auf: In einer befindet sich eine BugsBunny-Skulptur in gefrorenem Öl; daneben dient ein Pool der Regeneration des Künstlers und seiner Freunde. Hin und wieder schiebt sich eine hysterisch illuminierte Rauchwolke vor die benachbarten Gebäude und hinterlässt surreale Spuren, so auch die Fata Morgana eines Lieblingsgebäudes Kartchevs: des Schlosses von Oz.
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DIE ZUKUNFT EINES DER «GELUNGENSTEN ERDSTRICHE DES PLANETEN» Der Wettbewerb für das MCBA in Lausanne Architekturwettbewerbe sind zahlreich in der Schweiz. Sie gelten als faires Mittel zur Qualitätssicherung und zur Planung der Zukunft, erfreuen sich somit auch beim Bauherrn grösster Beliebtheit. Zwei Wettbewerbe in Lausanne zeigen die architektonische Spanne von enggesteckter Auftragserfüllung bis hin zur weitgespannten Vision.
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archithese 2.2012
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Text: Hannes Mayer
chen wie der Cristo Redentor in Rio mit seiner Geste der aus-
Eigentlich hätten die niedergeschriebenen Gedankengänge
gebreiteten Arme (Heitor da Silva Costa 1931) und der Pariser
rund um den Wettbewerb zum Musée Cantonal des Beaux-
Eiffelturm (Gustave Eiffel 1881) gingen aus Wettbewerben
Arts in Lausanne bereits Teil des vergangenen «Swiss
hervor. Auch die zahlreichen Mythen, welche sich der wenig
Performance»-Heftes werden sollen. Es schien ein Wettbe-
transparenten Entscheidungsverfahren wegen um grosse
werb zu sein, welcher angesichts seines Ausgangs eine kri-
internationale Wettbewerbe ranken, sind Zeugnis ihrer Be-
tische Rückschau erfordert und somit den üblichen Fokus
deutung. Die bekannteste Episode ist wohl Eero Saarinens
auf gebaute Projekte aufzuheben rechtfertigte. Gleichsam
Rolle als Juryvorsitzender in der Kür von Jørn Utzons Entwurf
geht die Problematik dieses Wettbewerbs über das einzelne
für die Sydney Opera Hall – den er aus dem Stapel der be-
Projekt hinaus, zeigt exemplarisch Natur und Ergebnisse so-
reits verworfenen Einreichungen gezogen haben soll. Diese
wie verbreitete Probleme heutiger Wettbewerbsverfahren
Anekdote ist gleichzeitig paradigmatisch für das Prinzip der
auf. Mit dieser Erweiterung der Betrachtung über die reine
Ähnlichkeit und Affinität als Grundlage für Wettbewerbsent-
Berichterstattung hinaus verlagert sich die Untersuchung
scheidungen: Während dem Wettbewerb war Saarinens TWA
auf den Wettbewerb als strukturiertes Kommunikations-
Terminal am Flughafen JFK im Entstehen. Zwanzig Jahre
werkzeug zwischen Architekten und auslobenden Bauher-
später, im Jahr 1971, wäre das Centre Pompidou ohne den
ren – und öffnet auf diese Weise ein elementares Kapitel für
Juryvorsitz unter Jean Prouvé kaum nach Plänen von Richard
das vorliegende Heft.
1 Proto-Bild 02: «eine Superstruktur», «eine Morphologie / eine Landschaft» Made in: Visualisierung des Wettbewerbsprojekts MCBA (alle Abbildungen: Made in) 2 Proto-Bild 01: «ein Inneres», «ein Museum / ein Kaufhaus» Made in: Visualisierung des Wettbewerbsprojekts MCBA
Rogers und Renzo Piano, als dessen grosser Mentor er be-
Eine umfangreiche Geschichte des Wettbewerbs in der
schrieben wird, entstanden. Ein ähnlich erfolgreicher Muse-
Architektur würde den Rahmen des Artikels sprengen – we-
umsfremdkörper, das Grazer Kunsthaus von Colin Fournier
nige Fragmente sollten daher genügen, die Bedeutung für
und Peter Cook, wäre ohne den Juryvorsitz Volker Gienkes
die Orts- wie Karrierebildung zu unterstreichen. Wahrzei-
wohl ebenfalls Utopie und Zeichnung geblieben. Rem Kool-
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