Suburbia
archithese
3.2009
Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur
Positionen, Kontroversen, Kompromisse
International thematic review for architecture
«Raumwirksame Kräfte» in Suburbia Fertighausarchitektur: Standardisierte Individualität Wasteland Suburbia – The Sound of a Bubble Bursting Vom «Périph» zum «Boulevard Central» Abkehr von Suburbia: Krisengewinner New Urbanism MVRDV: Gwanggyo Power Centre, Seoul Suburbia Reset – From the Ground Up Die Krise im Bild: Der Fotokünstler Gregory Crewdson Village fig. – eine Werkreihe der Künstlerin Sofie Thorsen
Suburbia im Spiegel von Spielfilmen
Patrick Gmür, Jakob Steib Wohnsiedlungen Büelen
Imbisbühlstrasse, Zürich-Höngg
Frank Schäfer + L3P Haus Staldern, Regensberg
FORM FOLLOWS FLOW. Mimo, design Phoenix Design
Bathroom Culture since 1892 Leserdienst 159
www.laufen.ch
archithese 3.2009 Mai/Juni Preis: 28 CHF/18 Euro
Suburbia
Editorial
Suburbia «Lasst sie zusammenfallen, die gebauten Gemeinheiten» – mit diesem Satz beginnt Bruno Taut seine 1920 erschienene Publikation Die Auflösung der Städte. Die zugehörige Grafik zeigt oben eine zusammenstürzende Mietskasernenstadt des 19. Jahrhunderts und unten mit der Beischrift «Nun blüht unsere Erde auf» die Vision der Zukunft: weit in der Landschaft verstreute Kleinhäuser, aus der Luft gesehen zu Blütenformationen arrangiert. Es war der Hass auf das urbane Elend der grossen Stadt, der die Reformer zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach alternativen Siedlungsformen suchen liess. Theoretiker wie Ebenezer Howard (To-morrow. A Peaceful Path to Real Reform, 1900) hatten die Vorlage für suburbane Siedlungsmuster, und auch die Praktiker des Neuen Bauens folgten mit ihren Stadterweiterungen – handle es sich um DessauTörten, Frankfurt-Westhausen oder die Werkbundsiedlung Neubühl in Zürich – einem antiurbanen Reflex. Neue Dimensionen erfuhr die Suburbanisierung in der Weite Amerikas, wo Frank Lloyd Wright mit dem seit den frühen Dreissigerjahren ausgearbeiteten Konzept von Broadacre City eine naturnahe Siedlungsform für die Ära der Massenmobilisierung plante. Kritik an derlei Modellen, vor allem an der aus ihnen resultierenden Praxis der Zersiedelung, wurde bald manifest; so veröffentlichte der britische Architekt Hugh Casson im Februarheft des amerikanischen Journal of the AIA eine «Critique of Our Expanding ‹Subtopia›»: Die Redaktion leitete den Text mit den Worten «The author praises our buildings but reports that we live in a mess» ein und illustrierte ihn mit einer Karikatur von Tom Gladden, die das Monster des Unplanned Building mit einem ausgerissenen Baum in der Hand auf seinem Weg zwischen Einfamilienhäusern, Autofriedhof und Insignien der Werbewelt zeigt. Zum Aufblühen der Erde hatte die Auflösung der Städte nicht geführt. In letzter Zeit wird häufig die Wiederkehr des Städtischen beschworen – und damit das Ende von Suburbia. Die amerikanische Immobilienkrise scheint derlei Überlegungen zu bestätigen. Doch so einfach, wie sie mitunter dargestellt wird, ist die Sachlage nicht. Die Vertreter der kompakten und der flächigen Stadt stehen sich unversöhnlich gegenüber. Wohin das Pendel in Zukunft aber ausschlägt, bleibt unklar. Redaktion
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Tom Gladden: How long are we going to permit this monster to roam? (Karikatur aus dem Journal of the AIA, Februar 1958, S.60)
Don’t make movies out of your life Suburbia im Spiegel von Spielfilmen Der Topos Suburbia wird durchzogen von einer konstitutiven Ambivalenz zwischen Idylle und Albtraum. Im Wechselspiel von Beruhigung und Beunruhigung manifestiert sich dabei in der Architektur nicht nur ein gesellschaftlicher Raum, der eine Trennung von Innen und Aussen bewirkt. Architektur produziert durch die ihr immanenten Blickregime vor allem Ein- bzw. Ausschlussmechanismen, die eine vermeintliche Idylle ermöglichen und dennoch gleichzeitig verunmöglichen. Nicht zuletzt an der prototypischen Darstellung US-amerikanischer Vorstädte im Spielfilm wird dies deutlich. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung.
«Bitte sage mir, welchen Weg ich gehen soll.» «Das hängt davon ab, wohin du willst.» Lewis Carroll, Alice im Wunderland
Text: Sønke Gau
In dem Kinderbuchklassiker Alice im Wunderland1 beschreibt der britische Schriftsteller Lewis Carroll die wunderbare Reise der Protagonistin in eine fiktive Welt voller Absurditäten und Paradoxa, bei der ihr während des Versuches, mit den BewohnerInnen zu kommunizieren, einige Überraschungen und auch Missgeschicke widerfahren. Die Hauptdarstellerin in Mike Mills Kurzfilm The Architecture of Reassurance 2 trägt ebenfalls den Namen Alice – und auch darüber hinaus finden sich in diesem Film einige Parallelen und Anspielungen auf Carrolls Text. Allerdings in einer zeitgenössischen Variante: Der Ort der Handlung ist kein Kaninchenbau, sondern eine US-amerikanische Vorstadt, deren jugendliche BewohnerInnen zu der Musik von The Smiths aus dem Walkman tanzen, während draussen die Eltern Barbecue-Feste geben und ein vollautomatischer Staubsauger unter Wasser den Pool reinigt. Mike Mills hat als Grafiker CD-Cover für Bands wie Sonic Youth und die Beastie Boys gestaltet und als Musikvideoregisseur prägte er wesentlich die visuelle Ästhetik der Clips von Air. 2005 erschien mit Thumbsucker sein erster abendfüllender Spielfilm. Bereits The Architecture of Reassurance wurde davor auf den wichtigen internationalen Filmfestivals gezeigt und von der Kritik gefeiert. So gewann 1 Filmstills, Playtime, Jacques Tati, Frankreich 1967
er auf den 46. Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen (2000) einen Preis. Die Jury begründete ihre Entscheidung wie folgt: «Auf der Suche nach einem glücklichen Zuhause und familiärer Geborgenheit macht sich Alice auf den Weg in ihr architektonisches Wunderland. Doch die pseudokoloniale Wohninszenierung einer gated community, die an Walt Disneys Celebration erinnert, erweist sich als kalt strahlen-
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2 Filmstills, The Architecture of Reassurance, Mike Mills, USA 1999
der Albtraum. Alice in den Vorstädten. Hinter den Fassaden bewegen sich die Menschen wie personifizierte Werbebotschaften. Die Versuche des jungen Mädchens, sich im Verhalten anzuverwandeln und den Sprachgestus zu imitieren, gelingen nicht. Sie wird als nicht dazugehörig erkannt und abgewiesen.» Alice Cooper nennt sich die «moderne Alice im Wunderland» und zitiert damit die gleichnamige Rockband aus den Siebzigerjahren. Zwischen grellbunter Hüpfburg, pinkfarbenem Spielhaus und fahlen Sandwiches erscheint die Popkultur erstarrt zur Dingwelt medialer Imitate. Tatsächlich inszenieren die Bilder des Films The Architecture of Reassurance – die Architektur der Beruhigung – eine Architektur der Beunruhigung.3 The Architecture of Reassurance Die hier beschriebene Doppelcodierung von Architektur als eine beabsichtigte Beruhigung, die aber tatsächlich in Beunruhigung umschlägt, soll im Folgenden Ausgangspunkt und Leitmotiv sein für Überlegungen zum Topos Suburbia aus kulturwissenschaftlicher Sicht – und dies unter Bezugnahme auf zwei weitere Beispiele von paradigmatischen Darstellungen US-amerikanischer Vorstädte im Spielfilm. Die Untersuchung geht dabei davon aus, dass sich Architektur als ein gesellschaftlicher Raum manifestiert, der eine Trennung von Innen und Aussen bewirkt und durch die immanenten Blickregime dieser Raumkonfiguration bestimmte Ein- beziehungsweise Ausschlussmechanismen produziert. Von entscheidender Bedeutung für die Wahrnehmung des Selbst ist in diesem Zusammenhang das wechselseitige Verhältnis zwischen dem Subjekt, seinen Begehren und Projektionen sowie dem Aussen – dem Blick des/der «Anderen» – das Subjektivität an dem dazwischenliegenden screen konstituiert. Die Begriffe Blick – Screen – Blickregime verweisen darauf, dass die Organisation von Sichtbarem, der wir als Subjekte eingeschrieben sind, immer schon Teil einer medialen Konstruktion von Wirklichkeit ist, welche von einem externen Blickpunkt aus bestimmt ist. Die psychoanalytische Theorie Jacques Lacans geht in Bezug auf einen solchen externen Blickpunkt von einem Konzept der Subjekt-Konstitution aus, demzufolge «wir im Schauspiel der Welt angeschaute Wesen sind»4. Die Herausbildung des Subjekts vollzieht sich seiner Theorie nach wesentlich durch visuelle Prozesse. In einem wechselseitigen Prozess von Blickverhältnissen und Bildern unterscheidet Lacan zwischen dem Sehen, das von uns ausgeht, und einem prä-existenten Blick, der auf uns ruht. Das Subjekt konstituiert sich an der Schnittstelle zwischen beiden – am sogenannten Schirm/screen (écran). Kaja Silverman erweiterte die ahistorische Subjekt-Konzeption Lacans, indem sie den Begriff des «cultural gaze»5 einführt und auf die sozialen, kulturellen und ideologischen Implikationen des Blicks hinweist. Er repräsentiert grösstenteils die vorherrschende hegemoniale Ordnung («dominant fiction»), welche versucht, über die Produktion von Bildern einen gesellschaftlichen Konsens herzustellen, der die aktuellen Machtstrukturen legitimiert und sichert. Neben den materiellen Produktionsverhältnissen ist die Produktion von gesellschaftlich relevanten 67
Vom «Périph» zum «Boulevard Central» Notizen zu einem urbanistischen Labor für die Stadt des 21. Jahrhunderts Ihren den Anforderungen der Zeit entsprechenden Städtebau hat die Stadt des 21. Jahrhunderts erst noch zu finden. Denn längst entspricht das Stadtverständnis der Zentralität des 19. Jahrhunderts nicht mehr den faktischen urbanen Realitäten. Städtebaulich umfassend gestaltete Polyzentralität vielmehr weist den Weg in Richtung Metropolen von morgen. Das Kyoto-Protokoll, die Zwischenstadt sowie die Global-City-Diskurse sind dabei Eckpfeiler eines solchen neuen Stadtverständnisses. Gerade in Paris konkretisieren sich momentan solche abstrakten Programmpunkte eines städtebaulichen Arbeitens an der Stadt des 21. Jahrhunderts.
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1
Text: Angelus Eisinger, Nina Brodowski, Jörg Seifert
Die Transformation Londons im Verlauf der letzten Jahre
Epochen halten sich ungern an die Takte, die ihnen die Ein-
ist dafür geradezu exemplarisch: Vor allem in der City und
teilungen in Jahrzehnte oder Jahrhunderte schlagen. So stellt
den Docklands programmierten immer extravagantere Vor-
sich mit Blick auf die wirtschaftlichen Verwehungen und Tur-
haben die Stadtsilhouette vehement um. Als Insignien der
bulenzen der letzten Monate die Frage, ob jetzt nicht mit ein
neuen Machtverhältnisse in der globalen Wirtschaft und der
paar Jahren Verspätung das 20. Jahrhundert sein Ende gefun-
neuen Demarkationslinien zwischen Wirtschaft, Politik und
den hat. Zumindest in städtebaulichen Belangen spricht eini-
Öffentlichkeit bedrängten Projekte wie Fosters Gherkin, Pia-
ges dafür. Noch weit ins Jahr 2008 hinein hat sich das Bauen
nos Shard of Glass oder The Pinnacle von Kohn Pedersen Fox
an der Stadt als medial eifrig bespiegeltes Wettrennen um
zusehends die seit Jahrhunderten sakrosankte Position der
architektonische Originalität, gestalterische Expressivität und
St. Paul’s Cathedral und der Westminster Abbey. Das Regime
konstruktive Innovation präsentiert, das – in den Dimensionen
der Gegenwart geht somit achtlos über die Logiken und Pos-
der avisierten Stadttransformationen – keine Grenzen zu ken-
tulate der überkommenen Stadt hinweg. Gerade darin aktua-
nen schien. Man braucht dazu nur die Realisierungen und Pro-
lisieren sich strukturell die Herausforderungen und Zumutun-
jekte der Supertall Skyscrapers und all der anderen Hochhäu-
gen noch einmal, denen der Urbanismus des 20. Jahrhunderts
ser in den neudeutsch genannten Central Business Districts
die gewachsenen Städte lange Zeit ausgesetzt hatte.
der Städte anzusehen, die zu den Wachstumsgewinnern der
Die Londoner Entwicklungen stehen dabei als Platzhal-
letzten Jahrzehnte zählten, oder in jenen, die es ihnen gleich-
ter für eine Dynamik, die in den jüngsten Boomphasen ubi-
tun wollten. Das Städtebauliche beschränkte sich faktisch auf
quitäre Ausmasse angenommen hat und welche von einem
eine Bricolage von Einzelobjekten, von denen jedes für sich
fundamentalen, nicht aufzulösenden Widerspruch begleitet
auf seine unbedingte Autonomie pochte. Ihre Gemeinsamkeit
war. Die gerne mit dem sprechenden Wort der «Leucht-
fanden sie nicht in der Komposition von Massen und Räumen,
turmprojekte» versehenen Architekturen befestigten als
sondern in einem schrillen Bekenntnis zur Zentralität. Sie be-
stadträumliche Zeichen das Stadtverständnis der Zentralität
zeugten jedes für sich und gemeinsam: Hier konvergieren Res-
des 19. Jahrhunderts, das aber längst nicht mehr den fakti-
sourcen, Kompetenzen und Macht in Architektur.
schen urbanen Alltagen entspricht. Die Global City, die Re-
1 – 2 Der Boulevard périphérique zwischen Porte de Vanves und Porte d’Orléans etwas östlich des Standorts der Tour Triangle (Foto: TVK)
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Die Krise im Bild
Gregory Crewdsons analytische Dekonstruktion von Suburbia Fast alle Arbeiten des Fotokünstlers Gregory Crewdsons umreissen ein gemeinsames Gebiet: Sie zeigen das Alltägliche – Personen in gewöhnlichen Situationen, meist in der privaten Umgebung in oder ausserhalb ihrer Wohnhäuser. Das Setting Suburbia ist dabei zumeist zentrales Themenfeld dieser, auf den zweiten Blick erkennbar konstruierten und irritierenden Bildwelten. Crewdson – der versierte Bildarchitekt – entlarvt durch seine Fotokunst ein wirkungsmächtiges, mit Wünschen, Sehnsüchten und Mythen aufgeladenes Raumkonstrukt der USA – was im Kontext der aktuellen Wirtschafts- und Immobilienkrise seinem Werk beinahe prophetischen Charakter verleiht. Gleichzeitig eröffnet seine Arbeit jedoch auch ein Feld für Neubewertung und Transformationen im Angesicht der Krise rund um Suburbia. 56 archithese 3.2009
1 Gregory Crewdson, Ohne Titel, aus der Serie Hover, 1996 – 97 Gelatine Silberdruck, 0,508 m × 0,61 m
Text:Jørg Himmelreich
vertikal in der Bildmitte eingefangene, linear verlaufende
«Eigentlich halte ich mich für einen Realisten»1, sagt der
Strasse – verstärkt den vordergründig harmonischen Cha-
Fotograf Gregory Crewdson über sich. Betrachtet man das
rakter des Bildes.
Werk des Künstlers, in dem er seit den Achtzigerjahren in mehreren Fotoserien Krisen in suburbanen oder ländlichen
Grenzüberschreitungen
Räumen Amerikas thematisiert, dann wirken die Fotografien
Doch schnell realisiert der Betrachter, dass die Details des
im Gegensatz zu seiner Aussage eher surreal oder theatra-
Bildes eine andere Bedeutungsebene offenlegen, welche
lisch. Doch vor dem Hintergrund der derzeitigen Krise von
die vermeintliche Vertrautheit der Szene infrage stellt: Auf
Suburbia – augenfällig spätestens seit der Immobilienkrise
der Strasse ist ein Mann damit beschäftigt, ein grosses, zu-
– scheint Crewdson tatsächlich fast prophetisch die aktuellen
sammenhängendes Feld aus Rollrasen auszubreiten. Anders
Probleme vorhergesehen und in seinen Fotografien bildhaft
als zuerst vermutet, nehmen die Dinge einen ungewohnten
überzeichnet angekündigt zu haben. Während die meisten
Gang. In leichter Distanz zum Geschehen verharren verwun-
Auseinandersetzungen mit Gregory Crewdsons Werk auf
derte Anwohner. Ein Polizeiauto und ein sich nähernder Po-
psychologische Aspekte fokussieren, soll in diesem Artikel
lizist verdeutlichen, dass hier etwas nicht «normgerechtes»,
versucht werden, sein Bildwerk als Analyse der räumlichen
vielleicht sogar gesetzeswidriges passiert. Der ausgebreitete
und sozialen Ordnungssysteme von Suburbia zu interpretie-
Rasen – ein an sich typisches Gestaltungsmerkmal subur-
ren und als Kritik dieser Raumkonditionen zu lesen. Dabei
baner Freiräume – verursacht aufgrund seiner Dislozierung
soll es auch darum gehen, über die kritische Bestandsauf-
Erstaunen und Irritation. Mehr noch: Sein un-«normaler»
nahme hinaus, in den Fotografien Perspektiven zur Überwin-
Einsatz auf der Strasse stellt die gesamte räumliche Ordnung
dung der derzeitigen Krise zu finden.
infrage.
Einblicke in normierte Territorien
Fotografie als Kunst der Konstruktion
Fast alle Arbeiten Gregory Crewdsons umreissen ein ge-
Viele von Crewdsons Bildern wirken zuerst wie Momentauf-
meinsames Gebiet: Sie zeigen das Alltägliche – Personen in
nahmen, doch auf den zweiten Blick offenbaren sie sich als
gewöhnlichen Situationen, meist in der privaten Umgebung
gestellte Szenen – und bei noch genauerem Betrachten als
in oder ausserhalb ihrer Wohnhäuser.2 In der Serie Hover
vollständig konstruierte Bildräume. Dabei kann der Grad, in-
beispielsweise – eine Serie schwarz-weisser Fototafeln, ent-
wieweit für ein Foto eine vorgefundene Realität adaptiert
standen zwischen 1996 und 1997 – sind Szenen aus suburba-
oder verändert wird, variieren – von wenigen hinzugefügten
nen oder ländlichen nordamerikanischen Einfamilienhaus-
Requisiten bis zu komplett für ein Foto erstellten Sets. Zur
siedlungen jeweils aus der Vogelperspektive fotografiert. Zu
Erschaffung seiner Bildräume benutzt Crewdson, ähnlich ei-
sehen sind Frei- und Zwischenräume, Strassen und Gärten.
nem Architekten, verschiedene Techniken und bewegt sich
Indirekt nimmt der Künstler eine Bestandsaufnahme der
zwischen den Massstäben. In Crewdsons frühen Arbeiten
baulichen Textur von Suburbia vor. Auf der hier abgebilde-
beispielsweise wurden die gesamten Szenen in Form ver-
ten Plate 32 bietet sich dem Betrachter der Blick auf eine
kleinerter Modelle realisiert. Danach folgte eine Phase, in
anscheinend gewohnt und gewöhnlich wirkende Szenerie:
welcher der Künstler in den Massstab 1:1 wechselte. Zuerst
Hölzerne – aufgrund ihrer ähnlichen Formen offensichtlich
unter Adaption realer Orte, wie in der Hover-Serie, in der
seriell hergestellte – eingeschossige Einfamilienhäuser ste-
er lediglich Gegenstände, Fahrzeuge und Personen arran-
hen aufgereiht entlang einer Strasse. Die Szene wirkt zuerst
gierte. In einem nächsten Schritt hat er begonnen – meist
wie eine generische Momentaufnahme. Typische Freiraum-
um Innenräume darzustellen – für seine Fotos komplette
möblierungen helfen, die Szene dem Privaten und Alltägli-
Sets aufzubauen, die zum Teil vollständig in Studiohallen
chen zuzuordnen: Briefkästen am Strassenrand, Holzzäune
entstanden. In aufwendiger Vorarbeit hat er im Voraus Skiz-
zur Abgrenzung von Privatgrundstücken, parkende Autos
zen, Zeichnungen, Visualisierungen, Beleuchtungspläne etc.
vor den Garagenzufahrten. Die Gärten sind einheitlich und
angefertigt, um die gewünschten Situationen zu konstruie-
dennoch belanglos formiert, hauptsächlich mit Rasen belegt
ren. Damit verschiebt sich seine Arbeitsweise von der klassi-
und mit wenigen Büschen, Blumen und Bäumen «gestaltet».
schen Fotografie zu den Techniken anderer Disziplinen: Der
Die unterschwellige Symmetrie – hervorgerufen durch die
Fotograf wird zum Architekt von Bildräumen. Gleichzeitig 57
ARchitektur Aktuell
Lob xxx der Tiefe
Patrick Gmür und Jakob Steib: Wohn-
Mehrfamilienhäusern und dem grossen Baukörper
siedlungen Büelen, Wädenswil,
einer Fabrik realisierten Patrick Gmür und Jakob
und Imbisbühlstrasse, Zürich-Höngg
Steib zwischen Büelen- und Weststrasse eine Se-
Der Ausbruch aus dem Korsett standardisier
quenz von parallel ausgerichteten Wohnhäusern
ter Grundrisse ist ein wichtiges Thema zeit
für die Mieter-Baugenossenschaft Wädenswil. Die
genössischen Wohnungsbaus. Wie weit man
hellen Fassaden mit ihren bandartigen Öffnungen,
dabei gehen kann, beweisen überzeugend zwei
den grossen Loggien und den offenen Autounter-
jüngst fertig gestellte Siedlungen in Zürich
ständen im Erdgeschoss knüpfen an Formen des
und Umgebung.
Villenbaus der klassischen Moderne an; tatsäch-
1– 4 Grundrisse Untergeschoss, Erdgeschoss, Obergeschoss und Attikageschoss eines breiten Hauses 1:400 5 Gesamtansicht der Siedlung Büelen (Fotos 5, 11+13: Georg Aerni) 6 Büelen: Obergeschossgrundriss eines schmalen Hauses 1:400
lich aber handelt es sich um Mehrfamilienhäuser, Wädenswil ist eine der typischen Vorortgemeinden
in denen Geschoss- und Maisonettewohnungen
von Zürich am linken Seeufer, die von der Nähe zur
miteinander kombiniert sind. Schmalere Häuser mit
Metropole profitieren und durch starke Zersiedlung
sieben und breitere mit acht Wohnungen wechseln
gekennzeichnet sind. Innerhalb einer heterogenen
einander ab. Die Hanglage ausnutzend, ordneten
Bebauungsstruktur aus zwei- bis dreigeschossigen
die Architekten die Autoeinstellhallen bergseitig im
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7+8 Längs- und Querschnitt eines breiten Hauses 1:400
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Erdgeschoss an, während die Untergeschosse auf
Obergeschoss – bei letzterem Typ ist die Wohnung
der Talseite als Wohnbereiche genutzt werden. In
im Obergeschoss gleichsam durch das Volumen
den kleineren Häusern sind Erd- und Untergeschoss
hindurchgesteckt. Die interessantesten Wohnungen
nach dem Maisonetteprinzip verbunden, während
liegen in der Mitte des Gebäudes. Da hier eine Sei-
die beiden Obergeschosse je zwei dreiseitig orien-
tenbelichtung nicht möglich war, werden die zentral
tierte Geschosswohnungen aufweisen. Diese be-
positionierten Küchenbereiche zenital über Licht-
sitzen einen zentralen Wohn- und Essbereich, der
schächte belichtet, die seitlich des Erschliessungs-
sich zwischen zwei Loggien aufspannt und somit die
kerns die Attikawohnungen durchstossen.
gesamte Gebäudetiefe beansprucht. In den Ecken
Geben sich die Häuser der Siedlung Büelen
schliessen sich die offene Küche und ein Arbeitszim-
gegen aussen zurückhaltend, so entfalten sie ihren
mer an, während die Schlafräume über einen kleinen,
räumlichen Reichtum im Inneren. Interessanterweise
internen Korridor erschlossen werden.
wurde das möglich durch die rigide Anwendung des
In den breiteren Häusern übergreifen die Mai-
Schottensystems, das ein ökonomisch effizientes Er-
sonetten Erd- und Untergeschoss oder Erd- und
stellen des Gebäudes, zugleich aber auch unkonven 73