archithese 3.12 - Der Bau der Gemeinschaft  / Construction Community

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Der Bau der Gemeinschaft – Constructing Community

archithese

3.2012

Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur

Der Bau der Gemeinschaft – Ausstellung in Basel

International thematic review for architecture

Zur Vorgeschichte des Ersten Goetheanum Bauten von Rudolf Steiner in der Umgebung des Goetheanum Bauchronologie Partizipation: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Die Medialisierung des Goetheanum Fotografische Dokumentation Goethes Beitrag zur Architektur des Dornacher Hügels Fotografien als bauhistorische und urbanistische Zeugnisse Arcosanti und Paolo Soleri Gigon/Guyer Prime Tower, Zürich Esch Sintzel Fussgängerpassage in Chur

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Der Bau der Gemeinschaft Constructing Community


EDITORIAL

Der Bau der Gemeinschaft In der Silvesternacht des Jahres 1922 brannte mit dem Ersten Goetheanum in Dornach eines der ungewöhnlichsten Bauwerke seiner Zeit nieder. Der Gründungsbau der anthroposophischen Bewegung war zerstört, noch bevor er tatsächlich fertiggestellt und offiziell eingeweiht werden konnte. Historische Fotos sind die wesentlichen Zeugnisse, die heute noch einen anschaulichen Eindruck des hölzernen Doppelkuppelbaus auf dem Hügel über dem damaligen Dorf vermitteln. Dazu kommen Pläne, Zeichnungen, Entwürfe, aber auch schriftliche Zeugnisse und einzelne aus der Ruine geborgene Spolien. Anhand von ausgewählten Materialien widmet sich das S AM Schweizerische Architekturmuseum in Basel derzeit dem Ersten Goetheanum mit einer Ausstellung unter dem Titel Der Bau der Gemeinschaft (bis 29. Juli 2012; kuratiert von Hubertus Adam und Elena Kossovskaja). Die Schau versteht sich gleichsam als archäologische Tiefenbohrung und als Versuch einer gedanklichen Rekonstruktion. Eines der Themen ist die fotografische Dokumentation des Gebäudes und ihre Bedeutung für die Rezeption und Popularisierung dieses ersten anthroposophischen Zentralbaus in Dornach. Stärker als das spätere Zweite Goetheanum wurde das Erste Goetheanum als kollektiver Bau, als Bau von und für eine Gemeinschaft errichtet. Dies ist ein zweites Thema der Ausstellung, bei welcher das S AM mit dem Staatsarchiv Basel-Stadt, mit dem Rudolf Steiner Archiv, dem Archiv der Kunstsammlung und dem Planarchiv am Goetheanum Dornach sowie dem Privatnachlass Wilhelm und Gertrud von Heydebrand-Osthoff in Arlesheim kooperiert. archithese hat sich in der Vergangenheit immer wieder mit architekturhistori-

schen Fragestellungen auseinandergesetzt. Das vorliegende Heft ist in Kooperation mit dem S AM entstanden; es greift die Themen der Ausstellung auf und führt sie auf eigenständige Weise weiter. Wir glauben, dass Fragen der Partizipation und des gemeinschaftlichen Bauens nichts an Aktualität verloren haben. Hubertus Adam, Hannes Mayer

In eigener Sache: In Kooperation mit dem Staatsarchiv des Kantons Basel-Stadt findet der Release dieses Heftes in den Räumlichkeiten des Staatsarchivs Basels im Rahmen des Talks: Dokumente, Monumente? Das kulturelle Gedächtnis und seine Orte statt.

Teilnehmer: Esther Baur (Staatsarchivarin Staatsarchiv Basel-Stadt), Walter Kugler (Rudolf Steiner Archiv, Dornach), Hubertus Adam (Künstlerischer Leiter S AM, Chefredaktor archithese). Anschliessend Apéro im Hof, offeriert von archithese.

Termin: Donnerstag, 21. Juni, 19 Uhr, im Staatsarchiv Basel-Stadt, Martinsgasse 2, 4051 Basel.

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Schnittmodell des Ersten Goetheanum, 1913. Foto des Atelier von Heydebrand-Osthoff (Foto: Staatsarchiv Basel-Stadt, Nachlass von Heydebrand-Osthoff)


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ARCHITEKTUR AKTUELL

Zürichs Schwerpunkt verschiebt sich

GIGON/GUYER: PRIME TOWER, ZÜRICH

Mit dem Prime Tower an der Hardbrücke hat sich die Silhouette der Stadt Zürich verändert. Hochhäuser sind zunächst von Überlegungen maximaler ökonomischer Präsenz bestimmt, doch Gigon/Guyer ist es gelungen, daraus auch ästhetisch Kapital zu schlagen. Text: Hubertus Adam Seitdem ich in Zürich wohne, sind mir die HardauHochhäuser von Max P. Kollbrunner zu einem Zeichen der Stadt geworden. Immer etwas dunkel, immer ein wenig dräuend, aber in ihrer puren Form reinste Geometrie melden sie mir, dass ich bald zu Hause bin, wenn sie – reise ich mit der Eisenbahn von Westen her an – in mein Gesichtsfeld geraten. Nun haben die Hardau-Hochhäuser Konkurrenz bekommen. Der Prime Tower ist das ziemliche Gegenteil der Hardau-Hochhäuser. Es ist ein einziger Turm – nicht eine Vielzahl von ihnen; er steht nicht in einem Wohngebiet, sondern an zentraler Lage in Zürich-West; er dient nicht dem Wohnen, sondern einer Reihe unterschiedlicher kommerzieller Nutzungen; er wirkt nicht dunkel, sondern glitzernd, schimmernd, irisierend; und seine Form ist nicht stereometrisch klar, sondern nach oben hin differenzierend gegliedert, sodass er – je nach Perspektive und Standort in der Stadt oder ausserhalb von ihr – unterschiedlich in Erscheinung tritt. Immer aber unübersehbar. Auch wenn die 126 Höhenmeter sich im weltweiten Vergleich bescheiden ausnehmen und der Stab des Staffelrennens um den Schweizer Rekord in absehbarer Zeit an

1

den Roche-Tower in Basel übergeben wird: Für Zürich, in dem dumpf-populistische Parteien auch einmal ein – wenn auch kläglich gescheitertes – Volksbegehren mit dem Postulat «Vierzig Meter sind genug» lancieren können, ist der Prime Tower tatsächlich hoch. So hoch, dass beim Blick aus den obersten Geschossen, vor allem aus dem BarRestaurant Clouds, ganz Zürich eine einzige Modelleisenbahnanlage zu sein scheint, an welche sich die Kulisse aus See und Bergen anschliesst.

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1, 2, 3, 4, 5, 10, 15, 16 Bildstrecke Prime Tower (Fotos: Walter Mair)


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VON MÜNCHEN NACH DORNACH Der Weg zum Ersten Goetheanum Im Jahr 1913 fiel die Entscheidung, den zentralen Bau der anthroposophischen Bewegung nicht in München, sondern in Dornach zu errichten. Das bedeutete, das bestehende Projekt nicht nur zu translozieren, sondern den neuen Gegebenheiten des Ortes anzupassen. Binnen Kurzem veränderte es seine Gestalt – ein Formenwandel, der noch heute Rätsel aufgibt.

Text: Hubertus Adam

Theosophie und Anthroposophie

In Absetzung von den als «materialistisch» kritisierten Ten-

Blavatsky und Olcott übersiedelten nach Südindien, konver-

denzen der Zeit entstanden im 19. Jahrhundert neue weltan-

tierten zum Buddhismus und leiteten die Theosophische

schauliche Angebote. Helena Petrovna Blavatsky und Henry

Gesellschaft von Adyar bei Madras aus. Nach dem Tod Bla-

Steel Olcott gründeten 1875 in New York die Theosophische

vatskys kam es 1891 zur Spaltung – in die von Olcott gelei-

Gesellschaft, die auf der Idee einer kulturübergreifenden

tete Theosophische Gesellschaft Adyar (Adyar-TG) und die

universalen Bruderschaft der Menschen beruhte. Grundge-

Theosophische Gesellschaft in Amerika (TGinA), welche ih-

danken der von der Theosophischen Gesellschaft vertrete-

ren Hauptsitz in Lomaland bei San Diego in Kalifornien auf-

nen Theosophie waren der gemeinsame esoterische Kern

baute.

aller Religionen sowie die Ideen von Karma und Reinkarna-

1902 bildet sich eine deutsche Sektion der Adyar-TG, als

tion. Dabei verstand sich die Lehre – und hierin ganz Kind

deren Generalsekretär Rudolf Steiner (1861–1925) fungiert.

des 19. Jahrhunderts – als empirische und wissenschaftli-

Noch während seines Studiums der Naturwissenschaften in

che Weltanschauung.

Wien hat er mit der Herausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften von Goethe begonnen – eine Tätigkeit, für die er 1890 nach Weimar übersiedelt. Neben einer neoplatonischen, auf die in der Natur sich konkretisierende Ideenwelt fokussierenden Interpretation Goethes prägen der Monismus des Evolutionsbiologen Ernst Haeckel und die Philosophie Friedrich Nietzsches seine Vorstellungswelt. 1897

1

verlässt Steiner Weimar und zieht nach Berlin, wo er sich in Zirkeln der literarischen Bohème bewegt und als Redakteur und Herausgeber einer Literaturzeitschrift tätig ist, zunehmend aber auch als Vortragsredner – vor Institutionen der Arbeiterbildung, in Intellektuellenzirkeln wie dem Giordano-Bruno-Bund oder den «Kommenden» und vor theosophischen Gruppierungen. Das Nebeneinander einer stärker von fernöstlichen Vorstellungen geprägten Auslegung der Theosophie, wie es von der Zentrale in Adyar vertreten wird, und einer westlicheren Interpretation des deutschen Ablegers, die von Traditionen der christlichen Mystik und des deutschen Idealismus bestimmt ist, bildet ein latentes Konflitkpotenzial. Als die Adyar-TG seit 1909 den Hindujungen Krishnamurti als neuen Heiland aufbaut, ist der Keim für eine neue Spaltung gelegt. 1912/1913 konstituiert sich die deutsche Sektion der Adyar-TG neu als Anthroposophische Gesellschaft (AG).

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Zur Definition der Anthroposophie schreibt Steiner: «Unter Anthroposophie verstehe ich eine wissenschaftliche Erforschung der geistigen Welt, welche die Einseitigkeiten einer bloßen Natur-Erkenntnis ebenso wie diejenigen der gewöhnlichen Mystik durchschaut und die, bevor sie den Versuch macht, in die übersinnliche Welt einzudringen, in der erkennenden Seele erst die im gewöhnlichen Bewusstsein und in der gewöhnlichen Wissenschaft noch nicht tätigen Kräfte entwickelt, welche ein solches Eindringen ermöglichen.»1 Weil Steiner die Anthroposophie als einen Erkenntnisweg versteht und nicht als dogmatische Lehre, ist das in unzähligen Vorträgen, Aufsätzen und Büchern entwickelte Gedankengebäude überaus komplex. Durch Imagination, Inspiration und Intuition sollen die Fähigkeiten der Seele – Denken, Fühlen, Wollen – weiterentwickelt werden, sodass der Mensch eins wird mit den «welterschaffenden Wesenheiten» und Einblick in das Weltgedächtnis erhält. Die praktische Umsetzung seiner damals noch Theoso-

2

phie genannten Lehre beginnt Steiner ab 1907: «Die Theosophie kann man auch bauen: man kann sie bauen in der Architektonik, in der Erziehung, in der sozialen Frage.»2 Mit

Die Gestaltung des Saals blieb nicht ohne Auswirkungen:

der Aufführung der Mysteriendramen in München (1910 bis

Der Student E. A. Karl Stockmeyer, selbst Teilnehmer des

1913), der Ausbildung einer neuen, Eurythmie genannten

Kongresses, hatte sich zunächst mit den Kapitell- und Sie-

Bewegungskunst und dem programmatischen Bauwerk des

gelmotiven beschäftigt und lud im August 1908 Rudolf Stei-

Ersten Goetheanum seit 1913 in Dornach schafft er vor dem

ner nach Malsch bei Karlsruhe ein, um Ratschläge für einen

Ersten Weltkrieg eine Reihe von Möglichkeiten des ästheti-

«Modellbau» auf dem elterlichen Grundstück einzuholen.5

schen Erlebens der Anthroposophie. Mit dem Bauvorhaben

Steiner sprach von einer aus elliptischen Formen zusammen-

in Dornach, das auch eine Anthroposophen-Kolonie umfasst,

gesetzten Kuppel, die von zwei mal sieben Planetensäulen

verschiebt sich der Schwerpunkt von der ästhetischen zur

getragen wird, welche den Umgang vom Zentralraum tren-

gesellschaftlichen Praxis. Die von Steiner seit 1917 entwi-

nen. Zunächst dachte Stockmeyer offenkundig an ein grös-

ckelte Idee der «sozialen Dreigliederung» wird besonders in

seres Gebäude; ausgeführt wurde es – möglicherweise auf-

der als Epochenschwelle zu verstehenden Umbruchsituation

grund der Intervention von Steiner – schliesslich als

nach Ende des Ersten Weltkriegs diskutiert; 1919 entsteht

(immerhin begehbare) Miniatur mit einer Säulenhöhe von

die erste Waldorfschule. In den Folgejahren gibt die Anthro-

lediglich 87 Zentimetern. Die Grundsteinlegung ereignete

posophie weitere Impulse, die bis heute bestehen – so die

sich im April 1909, doch wurden die Arbeiten noch im Roh-

anthroposophische Medizin mitsamt der Arzneimittelpro-

bauzustand eingestellt. Die finale Fertigstellung erfolgte

duktion Weleda und die biologisch-dynamische Landwirt-

erst 1965 durch Albert von Baravalle.

schaft mit Produkten des Labels Demeter.

1 E.A. Karl Stockmeyer: Modellbau Malsch, 1909; Längsschnitt (Fotos 1–4, 14: Rudolf Steiner Archiv) 2 E.A. Karl Stockmeyer: Modellbau Malsch, 1909; Foto nach Fertigstellung durch Albert von Baravalle (1965)

Schon 1910 besuchte der Stuttgarter Architekt Carl Schmid-Curtius, Partner des Büros Martz und Schmid, den

Das Münchner Projekt und seine Vorläufer

Modellbau in Malsch und realisierte gemeinsam mit Stock-

Tempel- und Kultbauvisionen erfreuten sich um 1900 in

meyer einen ähnlichen, allerdings grösseren Säulensaal

reformerischen Kreisen grosser Beliebtheit. So trat auch

im Keller des neu entstehenden und vom gleichen Büro eröff-

die Theosophin Mieta Waller 1908 an Steiners Sekretärin

neten Stuttgarter Logenhauses an der Landhausstraße.6

Marie von Sivers mit der Idee heran, «dem Worte Rudolf

Dieses wurde im Oktober 1911 offiziell eröffnet.

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Steiners einen ‹Tempel› zu bauen» – eine Idee, die bei Stei-

Zur gleichen Zeit plante Schmid-Curtius ein viel grösse-

ner selbst auf Reserviertheit stiess. Allerdings hatte er

res Projekt, nämlich den Johannesbau in München. Weil

die Notwendigkeit erkannt, die Versammlungsorte der theo-

Steiners Mysteriendramen bislang in angemieteten Theater-

sophischen Bewegung künstlerisch auszugestalten. Dies

sälen aufgeführt werden mussten, forderten theosophische

war zum ersten Mal anlässlich des 4. Kongresses der Fö-

Kreise ein eigenes Gebäude. Rudolf Steiner selbst verfolgte

deration europäischer Sektionen der Theosophie 1907 in

auch dieses Ziel nicht aktiv und fungierte im Johannesbau-

München geschehen. Nach Skizzen Steiners hatte der Maler

Verein, der im März 1911 gegründet wurde, um das Baupro-

Carl Stahl in den Kaim-Sälen in der Türkenstraße sieben ge-

jekt zu lancieren und zu begleiten, lediglich als Berater in

malte Planetensäulen mit unterschiedlich gestalteten Ka-

künstlerischer Hinsicht. Treibende Kraft hinter dem Münch-

pitellen installiert; hinzu kamen Rundmedaillons mit apo-

ner – und später auch dem Dornacher – Projekt war die Lei-

kalyptischen Siegeln, angefertigt von der Malerin Clara

terin des Münchner Zweigs der Theosophischen Gesell-

Rettich.

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schaft, Sophie Stinde.

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1

ZWISCHEN DOKUMENTATION UND REPRÄSENTATION Die Medialisierung des Goetheanum Rudolf Steiner besass zu dem Medium Fotografie ein ambivalentes Verhältnis. Dennoch sind Fotografien die wichtigsten Zeugnisse des zerstörten Goetheanum und dienten nicht zuletzt dessen postumer Popularisierung.

Text: Elena Kossovskaja

grafien erlaubten einen Einblick in fremde Kulturen und

Das Erste Goetheanum verstand Rudolf Steiner als Versuch

ferne Städte; die Reproduktion von Kunstwerken erleich-

eines «Übergang[s] vom blossen geometrisch-mechanischen

terte den Zugang zur Hochkultur. Populäre bebilderte Buch-

1

Bauen zu dem Bauen in organischen Formen» . Seinen Aus-

reihen, Illustrierte und Fotobände erzielten in den ersten

sagen zufolge sollte die Welt in diesem Gebäude nicht in

Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts grosse Erfolge beim brei-

Begriffen und Ideen, sondern durch das lebendige Bild aus-

ten Publikum. Dabei wurde die Fotografie, wenn auch zuerst

gedrückt werden. Dieses lebendige Bild – das «anschauliche

nur schwarz-weiss (die Farbfotografie verbreitete sich erst

Propagandamittel» der anthroposophischen Bewegung –

in den Dreissigerjahren), als vermeintlich getreues Abbild

wurde schon während der Entstehungszeit in Fotografien

der sichtbaren Welt wahrgenommen.

dokumentiert. Nach dem Brand sollten diese Bilder an die Stelle der vormaligen Realität treten.

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Die Gegner des neuen Mediums befürchteten, der Realismus des fotografischen Blicks ersetze in der allgemeinen

Die Erfindung der Fotografie Mitte des 19. Jahrhunderts,

Wahrnehmung die Realität durch das Bild. So entstand eine

die Vereinfachung der Druckverfahren und die rasante Ent-

Diskussion, ob die Fotografie ein rein technisches Medium

wicklung technischer Apparaturen führten um 1900 zu einer

und ein Hilfsmittel zur Dokumentation und Vermittlung von

bis heute andauernden Dominanz der visuellen Kultur. Foto-

Kunst und Wissenschaft sei, oder ob sie einen eigenen


künstlerischen Wert besitze. Im Piktoralismus, einer kunstfotografischen Stilrichtung, die vom Impressionismus und Symbolismus in der Malerei inspiriert war, diente zum Beispiel die fotografische Aufnahme nur als Ausgangspunkt für einen Bearbeitungsprozess, an dessen Ende ein stimmungsvolles Bild stehen sollte. Dabei waren die Unschärfe der Bildkonturen oder das neblige Licht keine Zufallsprodukte, sondern Resultat sorgfältiger manueller Nachbearbeitung. Für eine dokumentarische Architekturfotografie, die für Archivoder Unterrichtszwecke bestimmt war, sind dagegen die technische Perfektion des Bildes, das günstige Licht und der Detailreichtum von primärer Bedeutung.

Vom Wort zum Bild Mit der fortschreitenden Popularisierung der Fotografie trat zunehmend das Bild an die Stelle der Schrift. Visuelle Anschaulichkeit wurde zum obersten Grundsatz einer durch die Bilder neu geordneten physischen Welt. Das Bedürfnis nach Anschaulichkeit zeigte sich auch in dem Wunsch der Mitglieder der anthroposophischen Bewegung, die Idee

2

zur künstlerisch-plastischen Form werden zu lassen. Steiner bezeichnete dieses Bedürfnis als «die innere Notwen-

die Menschheit also Enthusiasmus für so etwas, wofür das

digkeit […], durch andere Offenbarungs- und Mitteilungs-

Grammophon ein Ausdruck ist, zeigen würde, dann könnte

mittel, als sie in den bloßen Gedanken und in den bloßen

sie sich davor nicht mehr helfen. Da müßten ihr die Götter

Worten liegen, dasjenige vor die Seelen der Mitmenschen

helfen.»7

heranzutragen, was mit dieser Geisteswissenschaft gemeint ist.»2

Auch bei der Wiedergabe der physischen Wirklichkeit zeige sich das Medium Fotografie kontingent. Die Entste-

Die künstlerische anthroposophische Form habe einen

hungsgeschichte der Zeichnung der Kabiren illustriert Stei-

moralischen Auftrag zu erfüllen; sie müsse sich von den

ners Einstellung hinsichtlich der Grenzen der Fotografie:

überholten Stilen und Symbolen der Gegenwartskunst be-

Für eine Inszenierung von Goethes Faust hatte er die drei

freien, «deren Formen einer untergehenden Kultur angehö-

chthonischen Götterfiguren der Kabiren geschaffen. Einer

ren», weil sonst «unsere Arbeit mehr oder weniger doch das

Anthroposophin gefielen die Plastiken so gut, dass sie Stei-

Schicksal dessen treffen, was dem Untergange geweiht ist»,

ner um eine Abbildung bat. Aber dieser entgegnete, «für

bemerkte Steiner bei der Grundsteinlegung des Logenhau-

denjenigen, der plastisch-künstlerisches Gefühl hat, ist jede

3

ses in Stuttgart 1911. Die neue entstehende Kultur der

Photographie einer Plastik eine Ertötung des eigentlichen

künstlerischen Form sollte eine Heilung vom Bösen zum Gu-

Kunstwerkes»8. Deswegen entschloss er sich, eine Schwarz-

ten bewirken: «Wenn die Ideen zu solchen Kunstwerken ein-

Weiss-Zeichnung der Skulpturen anzufertigen, die schliess-

mal in der Kultur Nachfolger finden werden, dann werden

lich abfotografiert werden durfte.

die Menschen, […] ihren Mitmenschen nicht mehr Unrecht

Auch die Reproduktionen der farbigen Kuppelmalereien

tun, denn sie werden von den künstlerischen Formen Liebe

des Goetheanum sollten nach Ansicht Steiners nicht dem

lernen.»4

Illusionismus verfallen. Die Schwarz-Weiss-Fotografie ver-

Durch Fotografie zum Bild geronnen, fügte sich diese Form in die von den Bildmedien geprägte Kultur ein.

1 Atelier von HeydebrandOsthoff, Ansicht des Goetheanum von Norden (Foto: Staatsarchiv Basel-Stadt) 2 Zeichung von Rudolf Steiner, Die Kabiren (Foto: Rudolf Steiner Archiv, Dornach)

weise geradezu auf die fehlende Farbe. Steiner sprach sich gegen farbige Fotografien der Kuppelmalereien aus: Unkünstlerisches Reproduzieren wäre nur ein Surrogat, eine

Technik im Dienste der Kunst

Vortäuschung der Wirklichkeit, ausser man würde versu-

Das Verhältnis Steiners gegenüber den technischen Medien

chen, die Fotografien so gross wie die realen Kuppelmale-

blieb allerdings ambivalent. Er äusserte sich bejahend den

reien anzufertigen.9

technischen Errungenschaften gegenüber, die «für die mechanische Verrichtung der Menschendienste in die Welt ein5

Fotografische Dokumentationsarbeit

treten» .Zur Anfrage einer Filmemacherin, einen Film über

Steiners Ambivalenz dem Medium Fotografie gegenüber

die Waldorfschule und die Dreigliederung drehen zu dürfen,

zum Trotz wurde der Bau des Ersten Goetheanum von ver-

sagte Steiner: «Wenn sie durch einen internationalen Film

schiedenen Personen dokumentiert – die wichtigsten waren

auch beiträgt zum Bekanntwerden der Waldorfschule, so hat

Gertrud und Wilhelm von Heydebrand, Max Benzinger und

man in der Zeit des öffentlichen Auftretens nichts dage-

Otto Rietmann.

gen.»6 Doch wenn das Mechanische in die Kunst eindringe,

Max Benzinger (1877–1949), am Bau mitbeteiligt, führte

das Spirituelle durch das Technische ersetzt werde, «wenn

ein Bau-Tagebuch, für welches er mit dem Einverständnis

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ARCHITEKTUR IM ARCHIV Fotografien als bauhistorische und urbanistische Zeugnisse Das Fotoarchiv von Gertrud von Heydebrand-Osthoff zählt zu den wichtigen Sammlungsbeständen des Staatsarchivs Basel-Stadt. Bis in die Achtzigerjahre hinein galten Bildzeugnisse den übrigen Archivalien gegenüber als nicht ebenbürtig. Das hat sich seither grundlegend gewandelt.

am Ersten Goetheanum und der fotografischen Dokumentation der Bauarbeiten betraut. Gertrud von Heydebrand war als Kunstmalerin tätig und erlernte die Fototechnik autodidaktisch. Den diesbezüglich spärlichen Aussagen Steiners und des Ehepaars Heydebrand-Osthoff zufolge waren die Fotos ursprünglich vor allem aufgenommen worden, um die Bauzeit zu dokumentieren. Erst später, Jahre nach dem Brand des Ersten Goetheanum, fanden sie öffentlichkeitswirksame Verbreitung in der Publikation Der Baugedanke des Goethe-

1

anum (1932) von Rudolf Steiner sowie in Postkartenproduk-

tionen. Dadurch wurden die Fotografien von Gertrud von Heydebrand-Osthoff zu einem kanonischen Bestandteil an1 Das Erste Goetheanum von Ostnordost mit Heizhaus, circa 1920 (Foto: Gertrud von Heydebrand-Osthoff; Staatsarchiv Basel-Stadt, BSL 1023 1-2-22)

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archithese 3.2012

Text: Esther Baur, Daniel Hagmann

throposophischer Memorialkultur (vgl. den Beitrag von

Das Erste Goetheanum ist Geschichte – von ihm zeugen nur

Elena Kossovskaja ab Seite 68).

noch Bilder und Dokumente, unter anderem die Fotografien

Die 671 erhaltenen Glasnegative aus dem Nachlass Ger-

von Gertrud von Heydebrand-Osthoff. Erhalten geblieben

trud von Heydebrands sind für die Erforschung der anthro-

sind diese Bilder dank einiger Archive wie dem Staatsarchiv

posophischen Architektur und ihrer sozialen und kulturellen

Basel-Stadt. In dessen Magazinen lagern Tausende einzigar-

Prämissen im grösseren gesellschaftlichen Kontext der Ar-

tiger visueller Dokumente, die den Weg hierher als Bestand-

chitektur- und Kulturgeschichte des frühen 20. Jahrhun-

teil staatlicher Ablieferungen oder in Form sogenannter Pri-

derts zweifellos von grossem Wert. Möglich wird dies durch

vatarchive, die – wie der Name sagt – historisch wichtige

die Kernaufgabe des Staatsarchivs: wertvolles historisches

und wertvolle Nachlässe privater Herkunft sind, fanden. Der

Rohmaterial über seine physische Sicherung hinaus verfüg-

fotografische Nachlass von Gertrud von Heydebrand-Ost-

bar zu machen, einen möglichst freien und niederschwelli-

hoff (1886–1973) ist eines dieser Privatarchive. Er wurde von

gen Zugang zu schaffen, es möglichst aktiv der Erforschung

ihren Nachkommen im Staatsarchiv deponiert – mit dem

zuzuführen.

Ziel, die Materialien zu sichern und langfristig insbesondere

Das Fotoarchiv Heydebrand-Osthoff ist nur einer von vie-

auch ausserhalb des engeren anthroposophischen Kontex-

len Bildbeständen im Staatsarchiv Basel-Stadt. Der hiesige

tes zugänglich zu machen.

Bildbestand umfasst ungefähr eine halbe Million Fotogra-

Gertrud von Heydebrand, Tochter aus gutbürgerlichem

fien, Zeichnungen, Drucke und Stiche. Architektur ist darin

Gelehrtenhaus, war ausgebildete Zeichenlehrerin und folgte

ein zentrales Motiv, und das war sie bereits bei der Grundle-

1914 der Aufforderung Rudolf Steiners, mit ihm von Mün-

gung der Bildersammlung durch den ersten baselstädti-

chen nach Dornach zu ziehen. Sie hatte durch ihren Mann

schen Staatsarchivar 1899. Von einer homogenen, struktu-

Wilhelm Zugang zum inneren Kern der Theosophischen und

rierten Überlieferung der Bilddokumente im Archiv kann

dann der Anthroposophischen Gesellschaft gefunden. Die

allerdings keine Rede sein, denn Fotografien und Bilder all-

Eheleute wurden von Rudolf Steiner mit Bildhauerarbeiten

gemein galten im Archiv zunächst als reine Ergänzung der


2 Der St.-AlbanSchwibbogen war ein kleines Stadttor und Bestandteil der inneren Basler Stadtmauer; 1878 wurde er abgerissen (Foto: Adam Borbély Varady; Staatsarchiv Basel-Stadt, Bild 2, 115)

3 Neubau Wohnund Geschäftshaus (Fritz Rickenbacher/Walter Baumann) am Claraplatz, 1953. Der Neubau war umstritten, weil er den Abbruch der barocken SchettyHäuser bedingte. Im Vordergrund das Gebäude des Schweizerischen Bankvereins, das 1954 ebenfalls abgerissen wurde (Foto: Hans Bertolf; Staatsarchiv Basel-Stadt, BSL 1013 1-488)

4 Strassen- und Schienenarbeiten am unteren Blumenrain, circa 1936. Im Zuge des Neubaus des Polizeiverwaltungsgebäudes Spiegelhof (im Hintergrund) fanden grossflächige Abbruch- und Korrektionsarbeiten statt (Foto: Alfred Kugler; Staatsarchiv Basel-Stadt, BSL 1012 898)

2

«Vorstellung, die uns Urkunden und Akten vermitteln», wie Staatsarchivar Paul Roth 1949 schrieb. Trotzdem wurden im Staatsarchiv Basel-Stadt intensiv Bilder und Fotografien (vorwiegend privater Herkunft) gesammelt und archiviert. Im Allgemeinen galten sie bis in die Achtzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts den schriftlichen Archivalien nicht als ebenbürtig – weder im Archiv selbst noch im Bewusstsein der Öffentlichkeit. In den Verordnungen und Vereinbarungen, welche die Ablieferung staatlicher Akten regelten, tauchten Bildzeugnisse gar nicht erst auf. Erst in den Achtzigerjahren setzte sich eine andere Einschätzung hinsichtlich der Aussagekraft und kulturgeschichtlichen Bedeutung audiovisueller Dokumente durch. In diesem Sinne vollzogen auch die historischen Wissenschaften in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen visual turn: Bilder werden nicht mehr ausschliesslich als Illustra-

tion verwendet, sondern auf ihr eigenes Erkenntnispotenzial hin befragt. Im Staatsarchiv Basel-Stadt vollzog sich 1998 mit Inkrafttreten des neuen Archivgesetzes ein grundlegen-

3

der Wandel in der Bewertung audiovisueller Dokumente. Seither unterstehen diese genau wie schriftliche Dokumente der allgemeinen Anbietungs- und Ablieferungspflicht. Als Ergänzung zum staatlichem Archivgut wird heute im Staatsarchiv – der besonderen Bildtradition folgend – historische Fotografie so systematisch wie möglich übernommen. Einzelne Schenkungen beispielsweise bestehen aus vielbändigen Alben mit Stadtansichten. Dazu kommen historische Archive und Nachlässe von Berufsfotografen, die aus eigener Initiative oder im Auftrag grosse Teile der Stadt abbildeten. Charakteristisch für diese Fotografien vorwiegend aus dem späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ist, dass sie Architektur vor allem im Kontext erfassen. Fotografiert oder skizziert wurde in der Regel nicht das einzelne Bauwerk als ästhetisches Monument oder architektonische Leistung, sondern die offensichtliche Veränderung des Stadtbilds.

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1

ARCOSANTI Städtisches Labor oder Utopie Mitten in der Wüste Arizonas entsteht seit 1970 eine neue Form des Zusammenlebens als Gegenmodell zur Zersiedelung der Landschaft. Die Ideen des mittlerweile 92-jährigen italienischen Architekten Paolo Soleri stellen sich heute, wo weniger als ein Zehntel tatsächlich gebaut wurde, als utopisches und gigantisches Konzept heraus, das jedoch der Logik der ökologischen Bewegung der Achtzigerjahre folgt.

Text: Lilian Pfaff

gen. Soleris Zeichnung The Beast stiess dabei entgegen der-

Paolo Soleri, der 1919 in Turin geboren wurde, hat wie viele

jenigen seines Meisters auf grosses Interesse. Die Brücken

seiner europäischen Kollegen bei Frank Lloyd Wright in des-

waren dabei nicht einfach nur Infrastrukturbauten, sondern

sen Architekturschule Taliesin West in Scottsdale von 1947

wurden zu alternativen Wohnräumen umfunktioniert, wie

bis 1948 gearbeitet und sich deswegen letztlich in Arizona

es das historische Beispiel der Ponte Vecchio in Florenz

niedergelassen.

zeigt.1 Verschiedene Skizzen für einen Wettbewerb in Lu-

Ein Zerwürfnis mit Wright führte zum schnellen Ende der

xemburg 1958 enthalten bereits alle für Soleri später rele-

Studienzeit des damals fast ausschliesslich italienisch spre-

vanten Elemente: Die Omega-Brücke sah terrassierte, ver-

chenden und wegen der Hitze immer in Badehose gekleide-

dichtete Wohnanlagen vor – und die Campanula-Brücke

ten Soleri. So wollte das Museum of Modern Art in New York

wuchs aus einer zellulären, multifunktionalen Struktur her-

für eine Ausstellung einen Brückenentwurf des Studenten

aus, die nach oben auskragte und die Fahrbahnen der Auto-

Soleri und gleichzeitig einen von dessen Lehrer Wright zei-

bahn enthielt. Geprägt von Wright, aber auch Buckminster

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archithese 3.2012


Fuller, baute Soleri 1949 ein halb unterirdisch liegendes

Buch Scenes in America Deserta die Bedeutung und den Ein-

Dome House in der Wüste für eine Bauherrin, deren Tochter

fluss Frank Lloyd Wrights nach dem Zweiten Weltkrieg in

er später heiratete. Nach einem Umweg zurück nach Italien,

Italien. Paolo Soleri «has turned out to be the opposite of

wo er die Keramikfabrik Vietri sul Mare (1951–1954) reali-

Frank Lloyd Wright in practically every way one can ima-

sierte, deren Fassade aus gebrannten Fliesen besteht, liess

gine». 2

er sich in Scottsdale nieder und gründete 1955 Cosanti, sei-

Soleri verband in Arcosanti ökologische Fragen, wie man

nen Wohn- und Arbeitsort. Diese ebenfalls als Architektur-

in der Wüste und den Weiten des Südwestens Amerikas lebt,

ausbildungsstätte gedachte Anlage finanziert sich über die

mit urbanistischen Problemen und entwarf gleichsam ein

Herstellung von Keramik- und Bronzeglocken, mit deren Pro-

Gegenmodell zur Broadacre City.

1 Paolo Soleri mit Mitarbeitern und Bewohnern in der Keramik-Apsis von Arcosanti, Mitte der Siebzigerjahre (Foto: Ivan Pintar)

duktion er während seines Italienaufenthaltes vertraut wurde, während Soleris Architektur weitgehend theoretisch

Arcology und Arcosanti

und konzeptuell blieb. Er realisierte noch ein Open-Air-The-

In seinem Manifest Arcology: Cities in the Image of Man

ater in Santa Fe und arbeitete seit 1970 ausschliesslich an

(1969) beschreibt Soleri seine Vorstellungen von Architektur

seiner Stadtutopie Arcosanti, etwa 110 Kilometer von Scotts-

und Ökologie. Der Titel bildet sich aus den Wörtern «Ar-

dale entfernt.

chitecture» und «Ecology» und zielt primär auf ein Wohnen in dichten Strukturen. Dies, um die Ressourcen zu schonen

Bauen in der Wüste Arizonas

und kurze Fuss- und Transportwege zu ermöglichen. Die

Das Auto als neue Wahrnehmungsmaschine mitsamt den

multifunktionale Anlage dient als Wohn- und Arbeitsort,

Autobahnen als einschneidende monumentale Anlagen

umfasst aber auch kulturelle Einrichtungen, Bildungsinsti-

spielen bei der Bebauung der Wüste und der Entstehung von

tutionen und Versorgung. Soleri formuliert prägnant: «Arco-

Arcosanti eine wichtige Rolle – man denke hier auch an

logy is in short, an efficient plumbing system for contem-

Kevin Lynchs Analyse The Image of the City (1960) oder noch

porary society.»3

expliziter The View from the Road (1964). Dies zeigte sich

Durch das kompakte Bauen in die Höhe könne man die

schon zu Beginn des Jahrhunderts mit Frank Lloyd Wrights

Verschwendung der natürlichen Ressourcen ebenso verrin-

urbanistischer Vision für die Stadt der Zukunft, in der er die

gern wie die Umweltverschmutzung. In seinem Manifest

Agglomeration und das Auto als Fortbewegungsmittel ver-

finden sich zahlreiche Punkte, die das gesamte Weltbild von

herrlichte. An diesem Konzept der Broadacre City arbeitete

Soleri umfassen. So spricht er sich gegen die soziale Segre-

Wright über zwanzig Jahre in seiner privaten Schule Ta-

gation aus und versteht öffentliche Räume als Kinderspiel-

liesin West. In seinem bereits 1932 erschienenen Buch Dis-

plätze.

appearing City waren die wesentlichen Merkmale bereits

Anstatt die Erde mit Broadacre Cities zu überziehen, for-

zusammengefasst und wurden dann später weiter aus-

dert er, die Menschen in grossen Wohntürmen anzusiedeln

formuliert. Die Idee bestand darin, jedem Bürger ein acre

und damit die umgebende Landschaft unbebaut zu lassen.

(4000 Quadratmeter) Land zu geben, auf dem er sich ein

Er vertrat damit letztlich weiterhin ein europäisches Stadt-

Haus bauen konnte. Die verschiedenen Parzellen waren alle

modell. Ausserdem bewunderte er die Felsenunterkünfte

über Autobahnen verbunden, und eine kleine Belegschaft

der Ureinwohner Amerikas, wie beispielsweise in Mesa

von Architekten sollte für die Gebäudeerstellung im Sinne

Verde, wo auch die runden Höfe über den Kivagruben (für

von Wrights Usonian Houses zuständig sein. Fussgänger

religiöse Zusammenkünfte und Rituale) an italienische

konnten sich nur innerhalb des einen acre ungehindert be-

Plätze erinnern. Soleris Ziel besteht darin, diese Felswoh-

wegen, ansonsten war sämtlicher Transport vom Auto ab-

nungen in neu gebaute, gewaltige Strukturen zu übersetzen.

hängig. Diese Vision, wie sie heute die Realität der Agglome-

In seinen zahlreichen grossformatigen Zeichnungen für Ar-

ration aller grosser amerikanischer Städte ist, ging von der

cosanti übersteigt die Stockwerksanzahl die Dreihundert-

Faszination des Autos (und Wrights eigener Vorliebe für

Meter-Marke bei Weitem. Wie ein Modell beweist, sollten

schöne Autos, von denen er gleich mehrere besass) aus und

anfangs, gegen 1970, in der alternativen städtischen Anlage

stellte ein Gegenmodell zur europäischen verdichteten Stadt

fünfundzwanzigtausend Menschen untergebracht werden.

dar. Neben John Lautner half auch Paolo Soleri mit, die Ideen

Die Zahlen variieren jedoch je nach Quelle und verändern

Wrights in zahlreichen grossformatigen Zeichnungen und

sich im Laufe der Zeit. So wird einmal von drei-, ein anderes

einem riesigen städtebaulichen Modell von 3,7 × 3,7 Metern

Mal von fünftausend Menschen gesprochen. Soleri geht von

umzusetzen.

einer Bebauung für fünftausend Menschen aus. Heute leben

Obwohl sowohl Frank Lloyd Wright als auch Paolo Soleri

in der Wüste maximal 150 Personen – meist Studenten oder

kulturell ehrliche Architektur bauen wollten, die dem Klima

Aussteiger –, die hier hängen geblieben sind und für einen

und dem Ort angemessen ist, könnte ihr Ansatz unterschied-

Minimallohn arbeiten.

licher nicht sein. Frank Lloyd Wright schickte gemäss Be-

Wie Banham schon 1982, also zwölf Jahre nach Baube-

richten jeden Studenten erst einmal für drei Wochen in die

ginn, schrieb, fühlt man sich bei dem Besuch der bisher er-

Wüste, damit er dort einen Unterschlupf baue und der extre-

stellten Gebäude abseits des Interstate Freeways I-17, Exit

men Hitze sowie der Kälte während der Nacht trotze. Der

262, wie in einem Lager in römischen Ruinen oder in einem

Architekturtheoretiker Reyner Banham beschrieb in seinem

verfallenen Filmset.4 Dennoch wird auch heute noch an der

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