archithese 3.13 - Weak materiality / Eine Schwäche für Materialität

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archithese

3.2013

Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur

Fadenkonstruktionen: armes Material, starkes Medium

International thematic review for architecture

Do Ho Suhs genähte Räume Von ant farm bis Hüpfburg Textile Schalungen Heinz Islers Eis-Versuche Die Hauträume von Heidi Bucher Zur Bedeutung von Bewehrungsplänen ProtoRobotic FOAMing The (risky) craft of digital making Material: Oberfläche oder strukturbestimmender «Stoff» Über Putz Bautraditionen in Himachal Pradesh, Indien Digitales Prototyping: Leadenhall Building von RSHP Digitale Fabrikation und Denkmalpflege Sandstein-3-D-Druck von Michael Hansmeyer Renzo Piano Building Workshop: The Shard, London Caruso St John Architects: Erweiterung des Sir John Soane’s Museum, London

Weak materiality – Eine Schwäche für Materialität


EDITORIAL

Weak Materiality – Eine Schwäche für Materialität Als im Spätsommer vergangenen Jahres der Titel für das vorliegende Heft festgelegt wurde, war der Redaktion bereits bewusst, dass mit dem deutsch-englischen Wortspiel, der Verschiebung von der sinngemässen Übersetzung «a soft spot for architecture» hin zu «weak materiality», ein Titel gewählt worden war, dem ein Heft allein über Materialität nicht gerecht werden konnte. Dies half einer Wiederholung des «klassischen» Diskurses über Materialität vorzubeugen, wie er sich zum Beispiel in der Ausgabe der Zeitschrift Daidalos unter dem Titel «Magie der Werkstoffe» (Juni 1995) abbildete und wie er in den vergangenen drei Jahrzehnten besonders die Deutschschweizer Architektur auszeichnete. Während die Schweiz das Material und seine Beschaffenheit erkundete, wandte sich der weltweite Diskurs dem Immateriellen zu. Es war die Entdeckung des Cyberspace als virtuellen Raum aus Bits, welche die Fantasien beflügelte. Dennoch blieb die Sehnsucht des Architekten nach Greifbarem auch in Zeiten der digitalen Körper- und Schwerelosigkeit bestehen. Der Wille, die virtuellen Visionen zu realisieren, trieb die Entwicklungen voran. So verschob sich über die Jahre der Schwerpunkt vom Raum (space) zum Material: Seither wandelt das neue Feld der digitalen Fabrikation die schwache, unbestimmte Materialität des Digitalen zu einer neuartigen, starken und physischen Materialität um. Auf der Suche nach Referenzen für die neuen Produktionsmethoden beginnt auch bei der Einschätzung realer Phänomene das vermeintlich Schwache seine Stärken auszuspielen. So zum Beispiel, wenn die Falte eines Tuchs durch seine Härtung, sei es durch Gefrieren oder Betonieren, zu einer Optimierung des Tragsystems führt. War das Schwache früher nur durch Experimente zu erkunden – hier wäre Heinz Isler als einer der Protagonisten zu erwähnen –, so erlauben die digitalen Werkzeuge für Analyse und Herstellung dem Ingenieur und Architekten unerwartete Stärken zu entdecken, welche unser ästhetisches Empfinden für richtig und falsch zu verändern beginnen. Dennoch bleibt der technische Fortschritt im vorliegenden Heft nicht unhinterfragt, wird dem digital manufacturing das Handwerk gegenübergestellt. Dabei geht es weniger um ein Für oder Wider als um eine gegenseitige Befruchtung. Die Sandstein-3-D-Drucke von Michael Hansmeyer, welche unter Anleitung eines Kirchenrestaurators behandelt werden, zeigen, wie sich in einer post-digitalen Ära Disziplinen und Strömungen neu zusammenfügen. Dass dies gelingen kann, bedingt den Schutz und Erhalt des überlieferten Wissens, bedingt die Pflege der zumeist oral oder durch direkte Beobachtung tradierten Fertigkeiten der Mate­ rialbearbeitung. Dies hat in den aufstrebenden Länder Asiens besondere Bedeutung, denn die Geschwindigkeit der Industrialisierung treibt einen Kulturwandel

Zum Thema: archithese ist Partner der internationalen Kon-

an, der das schwache Wissen unter Druck setzt.

ferenz Fabricate, welche vom 14. bis 15. Februar 2014 an der

Wie im Leben, so hat es auch im Editorial das wahrlich Schwache schwer und kommt entsprechend zum Schluss. Doch inwieweit muss das Schwache zwingenderweise erstarken, um Eingang in die Architektur zu finden? Eine sehr persönliche Antwort mögen die Hauträume der Künstlerin Heidi Bucher geben, eine vergnügliche Antwort die Integration der Hüpfburg in den Kanon der Architektur. Die Redaktion

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ETH Zürich stattfindet. Der Call for Work ist noch bis zum 30. Juni 2013 offen.

www.fabricate 2014.org



ARCHITEKTUR AKTUELL

Vertical Sublime oder Festung der Einsamkeit

1

RENZO PIANO BUILDING WORKSHOP:

Zur offiziellen Eröffnung von The Shard im Mai 2012

traditionellen Vorstellungen des Prinzen angeglichen

THE SHARD, LONDON, 2013

war auch der Duke of York, Prinz Andrew, zugegen.

wurde (siehe archithese 5’2009). Wie hätte wohl die

In London wurde das höchste Gebäude in

Bis 2011 pflegte er als Abgesandter der englischen

Vision von Prinz Charles für The Shard ausgesehen?

Europa fertiggestellt und bringt den fernen

Handelskammer enge Kontakte zu den Arabischen

Glanz und die abstrakte Dimension der

Staaten, sah sich dann jedoch durch Freundschaf-

Ritter mit Glaslanze

Türme aus den Vereinigten Arabischen Emi-

ten zu zweifelhaften Figuren wie Jeffrey Epstein ge-

Das Hochhausprojekt Shard ist Bestandteil jener

raten in die Realität der englischen Metro-

zwungen, sein Mandat niederzulegen. Während

Hochhausdiskussion, die in London seit der Nach-

pole. Wie einst Seiferts Centre Point oder

Andrew bei den Feierlichkeiten für das neue Wahr-

kriegszeit bis heute geführt wird. Waren es in den

später Fosters Gherkin definiert das Bau-

zeichen Londons begeistert schwärmte, war sein

Fünfziger- und Sechzigerjahren noch die Tower

werk das visuelle Zentrum der Stadt neu und

Bruder Charles über den neuen Wolkenkratzer we-

Blocks, an denen sich die Gemüter erhitzten, galt

verlagert es in einem historischen Akt auf

nig erfreut. Seit den Achtzigerjahren führt er als ers-

es sich in den Achtzigerjahren zwischen den hori-

die Südseite der Themse.

ter Kritiker des Commonwealth einen medialen Feld-

zontal ausgerichteten Superblocks der «Ground-

zug gegen die Bauten der Nachkriegsmoderne und

scraper» und den vertikalen Landmarks der

Autor: Florian Dreher

die Hochhausbauten in der City of London; er sieht

Skyscraper zu entscheiden. Mit dem London Plan

Rechtzeitig zu Beginn der Olympischen Spiele in

sich als Verfechter von «Merry Old England». Im Fall

von 2002 zur Festlegung potenzieller Hochhauss-

London im Sommer 2012 wurde das Prestigeprojekt

von The Shard war er allerdings machtlos; an ande-

tandorte wurden Leitlinien formuliert, die neben der

The Shard (deutsch «die Scherbe») des italienischen

rem Ort jedoch konnte seine polemische Kritik an

Einhaltung wichtiger Sichtbezüge (sogenannte

Architekten Renzo Piano in Zusammenarbeit mit

der zeitgenössischen Architektur kombiniert mit kö-

conservation areas und strategic corridors) zu his-

Broadway Malyan Architects, der Investorengruppe

niglichen Kontakten ein weiteres Prestigeprojekt von

torischen Monumenten wie St Paul’s Cathedral

Sellar Property Group sowie dem Haupteigentümer

Qatari Diar massgeblich beeinflussen: Für die Chel-

auch sogenannte Abwägungszonen für Einzelob-

Qatari Diar fertiggestellt. So konnte es während des

sea Barracks überzeugte Charles 2009 den königli-

jekte oder Cluster wie Canary Wharf vorsahen

spektakulären Eröffnungszeremoniells mit einer

chen Immobilienentwickler, sich vom verantwortli-

(consultation areas). Vehementer Befürworter und

nächtlichen Speedbootfahrt von David Beckham

chen Architekten Richard Rogers loszusagen und

federführend in der politischen Diskussion für

auf der Themse prachtvoll in Szene gesetzt werden.

stattdessen ein Projekt zu verfolgen, das an die

die Errichtung zahlreicher Hochhäuser war Ken

10    archithese 3.2013


­L ivingstone, der langjährige ehemalige Labour-

der neuen Schienenhochtrasse des Thameslink-

Bürgermeister und Erzfeind von Margaret Thatcher.

Projektes, das den Ausbau der London Bridge

Im entscheidenden Jahr 2000 – mit Olympiabe-

­Station miteinschliesst, weichen. Für den 2012 be-

werbung und Vorstellung des damals noch «Lon-

gonnenen Umbau des Bahnhofs selbst wurde das

don Bridge Tower» genannten Projektes – nahm

Büro von Nicholas Grimshaw beauftragt, welches

Livingstone nach einer kleinen Unterbrechung als

bereits 1993 das durch den Umzug nach King’s

Kapitän der Greater London Authority die Ruder

Cross vakante International Terminal der Waterloo

und damit die Geschicke der Stadt wieder in die

Station für den Eurostar als einen der Höhepunkte

Hand und setzte seine Politik zum Umbau der

englischer Hightech-Architektur realisiert hatte.

­Metropole an der Themse fort. Für ihn waren die

Der aktuelle Entwurf für die London Bridge Sta-

Hochhäuser eine wirtschaftliche Notwendigkeit für

tion mit voraussichtlicher Fertigstellung im Jahr

den Finanzstandort London, um ausreichend

2018 sieht eine Vielzahl wellenförmiger Gleisüber-

­Büroflächen zu bieten. Das erhoffte Resultat sin-

dachungen vor, die im Gesamtbild eine topogra-

kender Mieten erwies sich im Nachhinein jedoch

fisch gestaltete Dachlandschaft ergeben und sich

als Trugschluss. Die ikonenhaften Grossprojekte

formal ­stärker an Grimshaws Entwurf für den Bahn-

waren gleichsam Ausdruck eines neuen Selbst­

hof Amsterdam Bijlmer (2007) als am Waterloo Ter-

bewusstseins, das – einhergehend mit der New-

minal orientieren. Dabei positioniert sich Renzo

Labour-Politik Tony Blairs – seine Formulierung in

Pianos angrenzendes Hochhaus The Shard als

«Cool Britannia» fand und für eine mit New York um

vertikaler Wellenbrecher und lässt einige Wellenfor-

die Krone der Weltstadt konkurrierende Metropole

mationen zur Herausbildung des zukünftigen

notwendig erschien. Dieser Aufschwung und die

Haupteingangs der London Bridge Station hervor-

dafür benötigten Investitionen in die Infrastruktur

wogen.

schienen nur möglich, indem die Finanzierung von

Bevor jedoch die Vision des 1,5 Milliarden Pfund

der öffentlichen Hand auf die Privatwirtschaft um-

schweren vibrant London Bridge Quarter Realität

gelegt wurde. Public Private Partnerships und das

werden konnte, musste der von TP Bennet Ar-

Anlocken von Investoren wurden zum Signal der

chitects errichtete Southwark Tower – zur Zeit sei-

Akzeptanz des Marktes und kennzeichneten die

ner Fertigstellung 1970 ein technisch Massstäbe

«neue» Auffassung in der Labour-Partei. So kann

setzendes Gebäude – sowie das fünf Jahre ältere

auch das Projekt The Shard nicht alleinstehend be-

New London Bridge House mit seinem elegant

trachtet werden, sondern muss im Kontext der

skulpturalen Eingangsgeschoss von Richard Seifert

Strategie für die Modernisierung der London Bridge

weichen. Dies sind weitere Beispiele für das frag-

Station und die städtebauliche Neuarrondierung

würdige Schicksal, welches seit geraumer Zeit den

des südlich der Themse gelegenen Areals im

Bauten der Nachkriegsarchitektur widerfährt. Der

­Borough of Southwark gelesen werden. Das Areal

dritte Turm des ursprünglichen London-Bridge-Tri-

liegt in einem recht zentrumsnahen Teil der Stadt,

os – der Guy’s Tower, einst mit 143 Meter und einem

der seit dem Anschluss an die Jubilee Line 1999

markanten Betonauditorium als Bekrönung des Be-

Ehre könnte allein das Bild des stumpigen Ritters

sowohl kulturell wie wirtschaftlich verstärkt in den

tonkerns die dominierende Figur des Boroughs –

mit der glänzenden Lanze für den Guy’s Tower her-

Fokus geriet. Ein Wandel, der sich in der Entwick-

blieb aufgrund seiner Nutzung als Krankenhaus

beigezogen werden. Teil der neuen Anlage ist auch

lung des Borough Market auf der gegenüberlie­

einzig vom Abriss verschont und wird derzeit von

noch ein eher beschauliches Bürohaus mit der ein-

genden Seite der London Bridge Station zum

Penoyre & Prasad umgebaut wie auch seiner bruta-

fachen Titulierung The Place, das den Seifert-Bau

hochpreisigen Delikatessenmarkt abbildet. Dieser

listischen Ursprungsästhetik entkleidet.

ersetzt. The Place stammt ebenfalls aus der Feder

2 1  Luftansicht über die Themse mit Simulation der London Bridge Station und neuem Quartier (Fotos 1+6: © Sellar Group) 2  Ensemble des London Bridge Quarter: The Shard und The Place mit dem benachbarten Guy’s Tower Hospital (Foto: © Lumberjack)

Aufstieg bewahrte den Marktplatz, der einer der

Nach Fertigstellung des neuen Quartiers ist der

von Piano und gehört mit The Shard zu den ersten

ältesten Londons ist, allerdings nicht vor einer

einstige Riese zum kleinen Mann verkommen, und

beiden Projekten seines Büros Renzo Piano Buil-

grossräumigen Amputation. Zahlreiche rahmende,

The Shard zieht als weit sichtbares Zeichen nun die

ding Workshop (RPBW) für London; sie wurden

mitunter denkmalgeschützte Gebäude mussten

grösste Aufmerksamkeit auf sich. Zur Rettung der

jedoch erst nach dem Folgeauftrag des Bürokom11


1

2

FADENKONSTRUKTIONEN Vom armen Material zum starken Medium  Weben, knüpfen, stricken, häkeln – was aus Fäden gewonnen wird, trägt zumeist die Signatur des Kunsthandwerklichen oder des Designs. Doch gibt es auch die arachnischen Künstler, die einzelne Fäden ziehen oder flächige Muster aufhängen, die dreidimensionale Raumnetze aufspannen und kokonartige Innenaus­ kleidungen erstellen. Die Moderne hat eine Ästhetik des Fadens hervorgebracht, die raffinierte Wechselspiele zwischen Bild, Objekt, Installation und Architektur inszeniert.

1  Paule Vézelay, Lines in Space No. 34, Draht und Garn auf Karton in Holzrahmen, 1954 (© Tate, London 2013) 2  Fred Sandback, Untitled (Trapezoid), rotbrauner Acrylgarn, 2002 (© Akira Ikeda Gallery/Berlin)

Autor: Gunnar Schmidt

pulation von Materialien und Zeichen durch die Angehörigen einer weltumspannenden Design-Zivilisation» bezeichnet. 2

Trickle up

Die naive Freude an der Pulloverisierung der Stadtdinge ist

Seit Mitte der 2000er-Jahre hat sich eine neue Form der

jedoch nur die eine Seite einer Kultur, die auf der Suche nach

Street Art etabliert, die nicht mehr mit Farbe die Flächen der

materialer Expressivität ist. Entgegen der Sloterdijk’schen

Stadt gestaltend oder verunstaltend annektiert, sondern mit

trickle-down-Diagnose haben Künstler das Fadenmaterial

Strickfäden einzelne Stadtobjekte verkleidet und auf neue

sublimiert und variationsreich für künstlerische Praktiken

Weise sichtbar macht. Die Einstrickungen von Skulpturen,

benutzt. Die enorme Plastizität von Fadenmaterialien

Bäumen oder Verkehrzeichen sowie das Aufspannen von

­z wischen reduktiver Linearität und chaotischer Überfülle,

­Fadenarrangements durch die Strickguerilla folgen der in

zwischen angestrengter Aufgespanntheit und schlaffer An­

den Fünfzigerjahren von den Situationisten propagierten

tiform, zwischen verschwindender Beiläufigkeit und farben­

Strategie des Détournement: In der Öffentlichkeit vorfind­

prächtigem Expressionismus birgt das Reservoir für Raum­

bare Machtsymbole oder (un)ästhetische Behauptungen

verfügungen, welche die Disziplingrenzen zwischen Kunst,

werden durch Überformung, Umgestaltung oder Verfrem­

Design und Architektur durchlässig machen. Das kulturelle

dung parodistisch angegriffen. Da Wolle und Stricken das

Trickle-up transformiert das schwache Material in ein star­

Signum des Gemütlichen und Hausbackenen anhaftet, wird

kes Ausdrucksmedium.

1

das Pathos monumentalisierter Semantiken durch Vernied­

26    archithese 3.2013

lichung erniedrigt und zuweilen entwürdigt. Unabhängig

Ästhetik des Leichten: Linien im Raum

vom jeweiligen Motiv zur Intervention, illustriert der haus­

Albrecht Dürers Holzstich Der Zeichner der Laute, der als

fraulich-handwerkliche Umgang mit dem Wollfaden einen

letzte Illustration in seinem Lehrbuch Underweysung der

generellen Kulturwandel, den Peter Sloterdijk als «Vermas­

Messung, mit dem Zirckel und Richtscheyt, in Linien, Ebenen

sung der vormaligen Avantgardequalitäten und die Überset­

unnd gantzen corporen (1525) publiziert wurde, zeigt eine

zung von einst pathetischer Kreativität in alltägliche Mani­

Methode zur perspektivischen Darstellung. Dieses Bild kann


künste ist jedoch vor allem der neue formale Ansatz der Lines in Space herauszustellen, denn mit ihm werden Erfindungen vorbereitet, die bereits im Dürer-Holzschnitt angelegt sind und in der Folge von einer Reihe Künstlern realisiert werden. Innerhalb des Vézelay’schen Tableaus ist die scheinbar mar­ ginale Funk­tionsänderung des Bilderrahmens von zentraler Bedeutung für die Bilderfindung. Georg Simmel hat in einem

3  Tomás Saraceno, Galaxies Forming along Filaments, like Droplets along the Strands of a Spider’s Web, 2009 (© Studio Tomás Saraceno, Foto: Alessandro Coco)

kurzen Essay die konventionelle Funktion des Bilderrah­ mens dahingehend bestimmt, das Bild als eigensinnige äs­ thetische Entität von der Umwelt abzugrenzen. Die Bildwelt 3

fällt gleichsam nach innen zu, der Rahmen macht aus ihr eine «Insel».4 Indem Vézelay ihre Fäden am Rahmen fixiert, be­ zieht sie diesen in die Bildwelt mit ein und unterminiert sub­

als Urszene der späteren Fadenkünste betrachtet werden:

til die Geschlossenheit. Die Grenze wird zum Teil des Bildes.

Zwar wird der Faden ausschliesslich zweckhaft als prakti­

Wie schon bei Dürer der Faden durch den Bilderrahmen läuft

sches Werkzeug dargestellt, doch gewinnt er seine Dignität

und auf dramatische Weise die zweite Dimension durch­

nicht nur durch den Kontext der Kunstproduktion, er wird in

stösst, so drängen auch die Fäden bei Vézelay virtuell nach

der Repräsentation mittels des gestalterischen Grund­

aussen. Es ist nur ein kleiner Schritt, die Rahmengrenzen

elements Linie dargestellt. Linie, Faden, Fläche – das sind

durch Wände, Decken oder Böden zu ersetzen, um vom For­

die grundlegenden Parameter, die vierhundert Jahre später

mat «Bild» zum Format «Raum» zu wechseln. Mit der Ver­

die englische Künstlerin Paule Vézelay (Pseudonym von Mar­

grösserung in das anthropomorphe Mass erfolgt gleichwohl

jorie Watson-Williams) dazu brachten, das zweidimensio­

ein entscheidender ästhetischer Wandel: Aus der ikonogra­

nale Bild aufzubrechen und die Räumlichkeit zu erschlies­

fisch fundierten Visualität erwächst ein Milieu, in dem der

sen. Vézelay kann als Pionierin im Bereich ästhetischer

Betrachter sich in einen bewegenden, körperlichen Vektor

Fadenexperimente betrachtet werden, denn bereits 1935

(griech. Fahrer) verwandelt; er wird zu jemandem, der etwas

beginnt sie mit ihrer Serie der Lines in Space, die sie bis in

er-fährt.

die Sechzigerjahre fortsetzt. 1964 schreibt sie über die An­

Der amerikanische Minimalist Fred Sandback ist nicht

fänge ihrer Werkgruppe: «I knew that any untrained hand

der einzige, doch konsequenteste Künstler, der in der zwei­

guided by borrowed knowledge could, with a minimum of

ten Hälfte der Sechzigerjahre den Impuls aus den Dreissi­

practice, make lines upon a twodimensional surface in such

gern aufnimmt und ein Œuvre aus räumlichen Bildwerken

a way that they create an illusion of three-dimensional space,

mittels farbiger Acrylfäden erarbeitet.5 So setzt er vertikale,

but was there any reason why artists should continue to con­

horizontale und diagonale Linien in den Raum, meist aber

fine Living ­L ines to a two-dimensional surface while ordi­

Konturen, die imaginäre Flächen oder Volumina andeuten.

nary lines outside the Realm of Art enjoyed freedom in

Die Strenge der Setzungen folgt nicht dem Dynamismus der

Space?»3 Anstatt Linien mit dem Stift zu ziehen, montiert

Vorgängerin, Sandbacks Objekte sind Statements der Entlee­

Vézelay schwarze und weisse Baumwollfäden an den Innen­

rung, Skulpturen, die auf ein Mindestmass an Visualität re­

seiten des Bilderrahmens und spannt diese über den weis­

duziert sind. Sandback hat mehrfach die Hinwendung zum

sen Leinwandgrund. Die materiellen Vektoren erzeugen

Faden als künstlerisches Material damit begründet, dass

durch ihre Überkreuzungen einerseits einen Eindruck von

ihm die Oberfläche und das Dekorative in der Skulptur ein

Dynamik, andererseits wird die Spatialität durch die auf die

Ärgernis war, weil er darin ein Verschliessen wahrnahm.

Leinwand projizierten Schatten forciert. Der spatio-geomet­

Weder das Illustrative, noch der Illusionismus oder der Sinn

rische Konkretismus der «lebenden Linien» verabschiedete

sollten Vorrang vor der Form haben; wichtiger war die Situa­

den illusionistischen Perspektivismus lebensweltlicher

tivität, aus der eine Erfahrung folgen sollte. Zwar verweigern

Räumlichkeit zugunsten einer ästhetischen Eigenwelt, die

sich die Fadenkonfigurationen nicht der meditativen Be­

zum Träger eines utopischen Hoffnungskerns werden und

trachtung, doch befreit von jedwedem Sockel bieten sie sich

eine «neue Realität» zur Ahnung bringen sollte. Vézelay

vor allem für eine Durchquerung an: «Ich wollte etwas ma­

­gehörte in den Dreissigerjahren zur Gruppe der Abstraction-

chen, was keine abgegrenzte ästhetische Situation war, son­

Création, die das avantgardistische Ansinnen einer ästheti­

dern etwas, das fest im alltäglichen, fußgängerischen Raum

schen Weltveränderung verfolgte. Im Kontext der Faden­

blieb.»6 Die Skulpturen beinhalten die Aufforderung, nicht 27


1

GANZHEITLICHKEIT DES SEINS Die Eis-Versuche von Heinz Isler  Der Schweizer Bauingenieur Heinz Isler (1926–2009) gehört mit seinen über 1400 geplanten und realisierten Bauwerken zusammen mit Robert Maillart, Othmar ­A mmann und Christian Menn zu den wichtigsten Schweizer Bauingenieuren des 20. Jahrhunderts. International bekannt wurde er durch seine in dünnwandigem Beton ausgeführten expressiven ­S chalentragwerke wie der Raststätte Deitingen Süd oder dem Gartencenter Wyss in Zuchwil. Diese resultierten aus seinen experimentellen, physischen Formfindungsmethoden, wovon seine Eis-­ Versuche einen weniger bekannten, jedoch für das Verständnis von Isler umso bedeutenderen Teil darstellen.

2

44    archithese 3.2013


3

4

Autor: Toni Kotnik

aufweist. Wo sie eben ist, besitzt sie nur kleine Biegesteifig-

Mit wenigen Ausnahmen basieren Islers Schalenbauten auf

keit und bricht sofort.»2 Für Isler stellten die in den folgenden

der präzisen experimentellen Umsetzung von drei zwischen

Jahren durchgeführten Eisversuche ein technisches Expe­

1954 und 1958 beobachteten natürlichen Prozessen der

rimentierfeld dar, aus dem er Rückschlüsse auf das Verhalten

Formbildung: die eingespannte Membran unter Luftdruck,

von Baumaterialien wie Beton ziehen konnte. Mit beson­

entstanden aus der Betrachtung eines Kopfkissens, die

derem Interesse beobachtete er insbesondere den Schmelz-

­H ängeform, resultierend aus durchnässtem Jutegewebe,

vorgang, weil dabei sowohl die Eisschichten in minimaler

welches über einem Armierungsgitter hing, und die Fliess-

Dicke als auch Kriechvorgänge im Zeitraffertempo sichtbar

methode, inspiriert durch herausquellenden Polyurethan-

wurden.3

schaum aus einem Quadratrohr. Aufbauend auf diesen Be-

Isler dokumentierte seine Experimente in zahlreichen Fo-

obachtungen formulierte Isler seine grundlegende These,

tografien und in stichwortartigen Notizen, häufig auf losen

dass effiziente Schalenformen sich nicht aus der damals im

Blattsammlungen oder Karteikarten. Vereinzelt hat er bei

Ingenieurwesen üblichen Anwendung von mathematischen

Experimenten über Wetterdaten akribisch Buch geführt, den

Formeln ergeben, sondern sich direkt aus den Erscheinungs-

Versuchsaufbau skizziert und die verwendeten Materialien

formen der Naturgesetze entwickeln lassen.

und Werkzeuge aufgelistet. Eine systematische Zusammen-

1

Es waren dieses Verständnis von der Natur als wohlwol-

stellung der gewonnenen Erkenntnisse, oder eine Veröffent-

lende Lehrmeisterin und der spielerische Trieb zum Experi-

lichung im Rahmen seiner zahlreichen Vorträge oder Publi-

mentieren und Beobachten, welche den Ausgangspunkt

kationen hat Isler jedoch stets vermieden. Seine Experimente

bildeten für Islers jahrzehntelange Beschäftigung mit Eis

in Eis hatten so von Anbeginn den Charakter einer privaten

während der Wintermonate im Garten seines Privathauses

Konversation mit der Natur.

1  Heinz Isler beim Aufbau eines Versuchsbaus (1977) (Fotos: Heinz Isler Archiv, gta Archiv, ETH Zürich) 2  Eingespannte Membran (1978), gefaltete Zeltstruk­ tur (1980), Raum­ fachwerk (1985) «die Nonnen» (1979), «Eisblume» (1985), «Weih­ nachtsdorf» (1980) 3  Eisbildung an besprühtem Baum (1979) 4  Transparenz, Verdichtung und Akkumulation von Eis (1980)

in Zuzwil bei Bern. Erste Versuche führte er 1955 im Rahmen der Validierung seiner Entdeckung der Hängeformen durch.

Phänomenologie des Eises

Hierzu besprühte er mit einer Rebenspritze ein grosses, aus

Mit dem Erfolg von Islers ersten gebauten Schalen und dem

Gärtnergaze erzeugtes Hängemodell und liess es gefrieren.

gesteigerten Auftragsvolumen in seinem Ingenieurbüro ka-

Nach Umdrehen der gefrorenen Gaze zeigte sich, dass durch

men die Eisversuche ab Ende der Fünfzigerjahre zum Erlie-

die Hängeformen dünnwandige Schalen mit effizienter Trag-

gen und wurden erst ab Mitte der Siebziger wiederaufge-

wirkung erzeugt werden können.

nommen. In dieser Phase löste sich Isler von den Hängeformen

Wie Isler richtig folgerte, ist die Effizienz der so erzeugten

und erprobte neue Formvarianten basierend auf eingespann-

Schalen in der Form begründet: «Es ist ausserordentlich in-

ten Membranen, pneumatischen Formen, Faltungsstruktu-

struktiv zu sehen, wie aus der schwingenden, beweglichen

ren und räumlichen Netzen, bis hin zu skulpturalen Objekten

Perlenwand plötzlich ein hartes tragfähiges Gebilde wird, im

wie Eisblumen. Häufig durch Beleuchtung in Szene gesetzt,

Moment da die einzelnen Eisperlen mit ihren Nachbarn

entwickelten sich die winterlichen Bauten zu lokalen Attrak-

schubfest zusammenwachsen. Voraussetzung ist natürlich,

tionen, die Besucher anlockten und über welche in Zeitun-

dass die nur wenige Millimeter dünne Eisschale an jeder

gen und Rundfunk berichtet wurde. Keine dieser Methoden

Stelle hinreichende – wenn möglich doppelte – Krümmung

der Formgenerierung war jedoch von grösserer Bedeutung 45


1

WEICHEN DER ARCHITEKTUR Die Raumhäutungen von Heidi Bucher  In den Siebziger- und Achtzigerjahren wurde die Künstlerin Heidi Bucher (1926–1993) durch ihre raumumfassenden Latexhäutungen von Innenräumen bekannt. Dabei begriff sie Räume als Träger von Erinnerungsspuren und Emotionen – die es abzuziehen und zu befreien galt: ein Transformationsprozess der stabilen Innenräume zu fragilen Raumhäuten. Welche Fragen wirft die Arbeit von Heidi Bucher für die Architektur auf?

48    archithese 3.2013

Autoren: Julia Höck und Hannes Mayer

schliesslich nach Kalifornien. Dort entstanden ihre ersten

Heidi Bucher wurde 1926 im schweizerischen Winterthur

dreidimensionalen Arbeiten, darunter die Bodyshells (1972)

geboren und wuchs dort in einem gutbürgerlichen Eltern-

– tragbare, grossformatige Schaumstoffobjekte. Der dazuge-

haus auf. Nach der Schule in Teufen besuchte sie in den Vier-

hörige Film zeigt, wie die ganze Familie einen eigentümli-

zigerjahren die Modefachklasse an der Züricher Kunstgewer-

chen Tanz der skulpturalen Hüllen am Strand von Venice

beschule und war unter anderem Schülerin bei Johannes

Beach aufführt. Diese elastischen Schaumstoffumhüllungen

Itten und Max Bill. Mit abstrakten Collagen und Illustratio-

waren erste Recherchen Heidi Buchers zur Grenze zwischen

nen startete Heidi Bucher nach dem Krieg ihre künstlerische

Körpern und deren Umgebung und spiegelten damit einen

Laufbahn. Ende der Sechzigerjahre zog sie mit ihrem dama-

Trend der damaligen Avantgarde-Kunstszene wider, die sich

ligen Ehemann, dem Bildhauer Carl Bucher, und den gemein-

verstärkt Installationen, Happenings und Performances zu-

samen Kindern Indigo und Mayo zuerst nach Kanada und

wandte.1


Vergangenhäute

Natur oder vom Kran hängend, frei in der Luft schwebend

Nach der Rückkehr in die Schweiz bezog Heidi Bucher eine

zeigte sich die Empfindlichkeit dieser Oberflächen, die sich

alte Metzgerei mit Ladenräumen an der Weinbergstrasse in

vom Untergrund und im Denken Buchers von der Geschichte

Zürich. Den Kühlraum im Untergeschoss nutzte sie als Ate-

emanzipiert haben – auf sich allein gestellt sind sie schwach

lier und nannte ihn «Borg», eine eigene Wortkreation, die

und fragil.

dessen Gefühl der Geborgenheit ausdrücken sollte. Im Borg 2

begann sie neue Werkstoffe zu erkunden und entdeckte Na-

Festung und Schwächung

turlatex für ihre Arbeiten. Sie fing an, verschiedenste private

1990 goss die britische Künstlerin Rachel Whiteread das

Alltagsgegenstände, Decken, Kissen, Kleidung bis hin zu

Zimmer eines Londoner Terrace House in Beton ab (Ghost),

Möbeln einzubalsamieren und sicherte so die Spuren indivi-

1993 wurde sie mit dem Abguss eines ganzen Haus weltbe-

dueller Gegenstandsgeschichten. Später fanden im Borg

kannt (House). Whiteread reduzierte die baufälligen «Scha-

Buchers erste Latexhäutungen statt – der Hautabzug ganzer

lungen» bewusst um Details und strebte nach einem festen,

Innenräume stellt für sie ihren persönlichen künstlerischen

formalen Ausdruck. Die im Vergleich zu Bucher gegenläufige

Durchbruch dar. Fortan «schälte sich [die Künstlerin] durch

Metamorphose hin zur Festigkeit erfreute sich in den vergan-

die Häuser ihrer Vergangenheit» . Es folgten die Häutungen

genen Jahren auch in der Architektur grosser Beliebtheit

Herrenzimmer ihres Elternhauses (1977–1979) und Ahnen-

und schien eine ideale Strategie, um mediale Aufmerksam-

3

1  Hautraum (Ahnenhaus), installiert im Garten, ca. 1982, Verbleib unbekannt (© The Estate of Heidi Bucher 2013) 2  Innenansicht Ahnenhaus (Boden), Arbeitsprozess, ca. 1980–1982 (Foto: Vladimir Spacek © The Estate of Heidi Bucher 2013)

haus (1980–1982) – die Obermühle in Winterthur als ehema-

liges Haus ihrer Grosseltern väterlicherseits –, welche sich an der eigenen Biografie abarbeiteten. Andere historisch aufgeladene Gebäude wurden ebenfalls gehäutet, wie das Hotel Grande Albergo in Brissago (1987), das Bellevue (1988), eine psychiatrische Heilanstalt in Kreuzlingen am Bodensee,

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oder die Villa Bleuler in Zürich (1991), in der sich heute das Schweizerische Institut für Kunstgeschichte befindet. «Ich sehe die Villa zum ersten Mal von der Terrasse aus. Nun gehe ich in das Haus hinein. Ich schaue die Wände an, die Türen, die Fenster, die Decken und die Böden. Ich berühre sie. Ich betrachte sie lange. Ich muss allem näherkommen. Ich komme, wir kommen noch zur rechten Zeit, mit Gaze. Wir bekleben die Räume und lauschen. Wir betrachten die Oberfläche und beschichten sie. Wir hüllen und enthüllen.»4 Mit feinen Gazestoff und dickflüssigem, milchigem Naturlatex arbeiteten die Künstlerin und ihre Helfer sorgfältig den Räumlichkeiten und all ihren Struktur- und Materialunterschieden entlang. Nach Verfestigung des Materials folgte die Häutung, welche die technische Sorgfalt des Auftrags aufkündigt. Bucher zerrte unter erheblichem körperlichen Einsatz die Häute von ihrem Untergrund, denn es galt, die eigenen Spannungen zu überwinden: «Das Abreissen der Häute ist Ablösung von der Vergangenheit, von geprägter Materie, von Konventionen und anderen Zwängen», schrieb Bucher über diesen Akt der Materialbefreiung, und Armin Wildermuth verweist im Hinblick auf das Werk auf das bereits im Jugendstil beliebte Symbol der Libelle, jenes schillernde hautartige Wesen, das seine alte Hülle in Metamorphosen abwirft.5 «Der gehäutete Raum ist transparent. Die Häute sind weich, dünn und leicht.»6 Um diese Erscheinung zu verstärken, rieb Bucher die Latexhäute mit Perlmuttpigment ein, um ihnen eine ­irisierende und schwer zu fassende Licht- und Material­ wirkung zu verleihen.7 Aufgestellt und alleingestellt in der 49


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PUTZ Eine vielfältige Gebäudehülle  Putz als alltäglicher und einer der wohl am häufigsten angewendeten Baustoffe ist ein Material des Hintergrundes. Ganze Städte, Dörfer und Vorstadtsiedlungen sind verputzt. Putz hat sich bewährt, ist praktisch und kostengünstig. Die verputzte Aussenwärmedämmung gehört heute längst zum Standard des alltäglichen Bauens und ist aus der Baupraxis nicht mehr wegzudenken. Bei genauerer Betrachtung lassen sich jedoch schnell grosse Unterschiede in der Oberflächenbearbeitung einzelner Putze feststellen: Putze sind vielfältiger, als sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Zwar sind sie ein alltäglicher, doch aber auch ganz besonderer Baustoff.

Autoren: Hartmut Göhler und Pinar Gönül

und Zemente oder Kalkzemente verantwortlich, die je nach Einsatz verschiedene Festigkeiten des Putzes erzeugen

Zusammensetzung von Putzen

Eine Besonderheit ist noch immer die Verwendung von

tel entsteht erst durch die Mischung von Zuschlagstoffen,

Kalk als Bindemittel: Lokale Kalksteingruben liefern unter-

Bindemitteln, Wasser und weiteren Zuschlägen.

schiedliche Kalksteinsorten wie Dolomit- oder Jurakalk,

Den Hauptbestandteil bilden Zuschlagstoffe wie Sande

Marmorkalk, Muschelkalk und Kreide. Jede dieser Kalkstein-

und Kiese, die neben den Bindemitteln die besonderen Ei-

arten besitzt eine besondere Materialeigenschaft und Farb-

genschaften von Putzen wie Dichte, Porosität, Druckfestig-

gebung und beeinflusst damit unmittelbar die Anwen-

keit sowie Witterungs- und Frostbeständigkeit bestimmen.

dungsmöglichkeiten und die Farbgestaltung eines Putzes.

Zudem beeinflussen sie die Oberflächenstruktur, Farbe und

Die dritte Stoffgruppe bilden die Zuschläge, durch deren

Haptik eines Putzes: Zuschlagstoffe wie beispielsweise

Zugabe die Putzmischung vor allem farblich beeinflusst wer-

Trass und Puzzolanerde sind hydraulisch wirksam, schwar-

den kann: natürliche oder künstliche Pigmente, Steinsplitter

zer Basalt, Schiefer oder farbiger Quarzsand sind farbge-

aus Marmor, Ziegelsplitter und farbiger Kies sorgen für eine

bend.

spezielle Farbgebung; Glas, Muschel- und Perlmuttanteile

Die Zuschlagstoffe wurden früher aus den lokalen Sand-

sowie Glimmer geben der Putzoberfläche durch Lichtreflexi-

und Kiesgruben oder am nächstgelegenen Flussufer, See

onen Glanz. Je nach Anwendung kann das «einfache Mate-

oder Gebirge gewonnen. Rein äusserlich unterscheiden sich

rial» Putz somit nobilitiert werden. Besonders bei Wasch-

die Sande zunächst kaum, erst beim Zerreiben zwischen den

und Kratzputzen, deren «Putzinneres» durch subtraktive

Fingern zeigen sich im noch ungewaschenen Zustand grosse

Bearbeitung sichtbar gemacht wird, können Zuschläge die

Unterschiede in Textur und Beschaffenheit. Konsistenz,

Oberfläche beleben. Zuschläge können zudem auch Kunst-

Kornoberflächen, Korngrössen, Dichte und die Farbgebung

stoff- oder Pflanzenfasern sein, die den Putzen als «Beweh-

der verschiedenen Sande erzeugen später unterschiedliche

rung» und Rissverhinderer beigegeben werden.

Oberflächenstrukturen.

68    archithese 3.2013

­können.

Putz ist kein natürlich vorkommendes Material. Ein Putzmör-

Jede Putzrezeptur ist eine eigene Kombination aus Zu-

Für den Erhärtungsprozess des Putzes sind Bindemittel

schlagstoffen, Bindemitteln und weiteren Zuschlägen und

wie Kalkhydrat, hydraulische oder hochhydraulische Kalke

erzeugt einen anderen Putz. Die Besonderheit des Putzes,


den Mörtel mit verschiedenen natürlichen Rohstoffen «anzu-

1  Baustellenein­ richtung Kalkputz (Foto: Hans-Jörg Walter)

machen» und ihn handwerklich zu bearbeiten, hat daher zu einer einzigartigen Vielfalt an Putzen und Putzoberflächen geführt.

2  Lehmsand (Fotos 2–6: Ursula Ochsenbein)

Regionaler Baustoff

3  Sand

In Abhängigkeit von natürlichen Kalk- und Sandvorkommen

4  Sand

waren Putze traditionell regionale Baustoffe. Sie entstanden

5  Perlmut

durch das Zusammenspiel von lokalen Rohstoffen und Witte-

6  Glimmer

rungsverhältnissen sowie das Wissen über Techniken wie der des Kalkbrennens. Durch die industrielle Herstellung von hydraulischen Bindemitteln wie Zement und Kalkzementputzen sowie den durch die Bahntechnik möglichen Transport von Baustoffen über lange Distanzen fand eine «Entregionalisierung» der Putze statt. Die industriell hergestellten Putze egalisieren heute alle Eigenschaften eines ehemals regionalen Putzmörtels: Zuschlagstoffe werden in Sieblinienkurven standardisiert, künstliche Pigmente und Zusatzstoffe homogenisieren die Materialeigenschaften. Putze werden heute mehrheitlich als fertige Sackware geliefert und ihre Zusammensetzung ist, von Regionen unabhängig, standardisiert. Neben mineralischen Putzen kommen organische Putze heute vor allem in Form von verputzten Aussenwärmedämmungen zur Anwendung. Verarbeitung von Putzen am Beispiel der Kalkputze Durch die Zugabe von Wasser werden die Bestandteile des Putzes zu einem verarbeitungsfähigen Putzmörtel «angemacht». Das Wasser setzt im Bindemittel Kalk einen Hydratationsprozess in Gang, der auch als «Kreislauf des Kalks» bekannt ist. Natürlicher Kalkstein wird in einem Brandofen gebrannt, CO2 und Wasser werden dabei ausgetrieben. Das Produkt ist Branntkalk, welcher durch Zugabe von Wasser und unter Freisetzung von Wärme zu Löschkalk aufbereitet wird. Es entsteht eine pastöse Löschkalkmasse, die mit der Zugabe von Sand, weiteren Zuschlagstoffen und Wasser zu einem verarbeitungsfähigen Putzmörtel wird. Beim Aushärten des Putzmörtels (Hydratation) und der erneuten Aufnahme von CO2 (Karbonatisierung) entsteht wieder ein Kalksteinkonglomerat. Damit ist am Ende dieses Prozesses chemisch wieder Kalkstein entstanden – Kalkputzfassaden können somit als hauchdünne Steinfassaden verstanden werden. So wie das Löschen des Kalkes früher durch den Handwerker auf der Baustelle geschah, lag auch die Verarbeitung des Putzes damals in der Hand des örtlichen Handwerkers. Er bestimmte neben der Zusammensetzung des Putzes auch die richtige Menge «Anmachwasser». Das «Anmachen» des Putzes geschieht üblicherweise auf der Baustelle. In handwerklicher Manier werden dort die Bestandteile Kalk und Sand im Verhältnis 1:3 unter Hinzufügen von Anmachwasser zu Kalkmörtel vermengt. Industriell hergestellte Fertigmörtel werden ebenfalls mit Wasser angemacht und anschliessend, oftmals maschinell, aufgetragen. Die Mischung erfolgt nach den Angaben der Putzhersteller und lässt daher kaum Raum für Variationen.

2–6

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