Neue Medien – Nouveaux médias
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Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur Revue thématique d’architecture
Digitale Welten und Architektur-Wahrnehmung Mediale Konzepte am Beispiel des Pavillons Computergenerierte Entwürfe in der Stadtplanung Urbane Analyse im Internet Video als Werkzeug in der Landschaftsarchitektur «Ego-Shooter-Games» – Räume und Gemeinschaften
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Juli /August
Der Computer als Fachidiot und intelligentes Spielzeug
Leserdienst 143
Projekte Expo.02 Foreign Office Architects Jakob + MacFarlane Kas Oosterhuis Hani Rashid Architektur aktuell Diener & Diener Graber & Steiger mit
BAU DOC BAU BULLETIN
Neue Medien Nouveaux médias
Editorial
Neue Medien
Neue technologische Errungenschaften bleiben selten unkommentiert. Ob nach reiflicher Überlegung kritisch in Frage gestellt oder von vornherein ängstlich abgelehnt, ob blindlings angewendet oder gewissenhaft erforscht – sie polarisieren. Dies trifft insbesondere auf die Verbreitung digitaler Medien in der Architektur zu: Einerseits bleibt der Computer für die meisten, die sich seiner bedienen, eine weitgehend unverständliche, in seiner Opazität beinahe mystische Black Box und eignet sich daher ebenso gut als Verehrungsobjekt wie als Feindbild; andererseits reagieren Vertreter einer Architektur, die nicht nur technischen, sondern auch künstlerischen Ansprüchen gerecht werden soll, besonders empfindlich auf das Eindringen maschineller Entwurfshilfen in den kreativen Prozess. Fest steht, dass die Verbreitung der digitaler Medien nicht ohne Auswirkungen auf die Architektur geblieben ist. Und es ist auch nicht mehr zu übersehen, dass die neuen Möglichkeiten sich nicht auf die Erstellung nahezu perfekt anmutender, mit fotografischer Präzision operierender Projektvisualisierungen beschränken – oder auf die rechnerische Unterstützung bei der Fabrikation massgeschneiderter Bauteile. Der Computer ist heute mehr als eine Zeichnungsmaschine oder eine technische Hilfe bei der Realisation, das Video mehr als eine einfache Aufzeichnungsmaschine: Sie sind Instrumente der Analyse und generieren Entwürfe, sie erleichtern eine neuartige, fliessende Zusammenarbeit unzähliger am Entwurf Beteiligter und ermöglichen eine aktive Interaktion zwischen Mensch und Bauwerk. Doch welche Entwurfsstrategien bestimmen den Einsatz der neuen Medien, und welchen Einfluss üben diese umgekehrt auf die Gedankenwelt der Entwerfenden aus? Sind organisch geformte Blobs, biomorphe Stahlskelett-Konstruktionen und geschwungene Ebenen die logische Folge der neuen technischen Hilfsmittel? Und was bedeutet es, wenn die Entwurfsarbeit sich vom eigentlichen Objekt auf die Organisation des Projektablaufes, die Gestaltung der Software und die Auswahl eines der zahlreichen Ergebnisse der Iteration verschiebt? Wird die Autorenschaft des Entwerfers relativiert, oder wird im Gegenteil seine Subjektivität «wissenschaftlich» untermauert? Die Erfahrung digitaler Welten, die sich als totale virtuelle Erlebnisse präsentieren, verändert allmählich die Wahrnehmung der physischen Umgebung; die Verwischung der Grenze zwischen reellen und imaginären Welten kann zu grosser Verwirrung und zu inspirierenden Fragen führen. Dass die virtuelle Architektur die reelle verdrängen sollte, ist sehr unwahrscheinlich: Ein Dach über dem Kopf braucht der Mensch allemal. Dennoch bietet die Allgegenwart der neuen Medien Anlass genug, sich über veränderte Entwurfsmechanismen und die Architektur als Disziplin Gedanken zu machen. Redaktion
Ilona Lénárd, offenes FloriadePavillon, 2000
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Die rasante Entwicklung digitaler Technologien führt zu immer neuen Anwendungsmöglichkeiten im Bereich der Architektur. Inwiefern verändern sich dadurch die Entwürfe – und die Rolle des Entwerfers? Ein kurzer Überblick über neuartige technische Raffinessen und ein Planungsbeispiel, das eine konkrete Anwendung illustriert: Mittels einer Software handeln eine Vielzahl von Grundstücken in einem dynamischen Prozess ihre Koordinaten untereinander aus, um die spezifischen Wünsche möglichst vieler zukünftiger Bewohner zu erfüllen.
Programmieren statt zeichnen? Vom Einfluss digitaler Technologie auf den architektonischen Entwurf Oliver Fritz
Diskutiert man den Einfluss des Computers auf den architektonischen Entwurf, hat man schnell Echtzeit-Begehungen von virtuellen Räumen, 3-D-Interfaces und High-End-Renderings vor dem geistigen Auge. Tatsächlich waren vor wenigen Jahren diese Bereiche die wichtigsten Aspekte der CAAD-Forschung (computer aided architectural design). Bei nüchterner Betrachtungsweise stellt man jedoch fest, dass die Hollywood-Industrie diese Technologien heute mit grösster Selbstverständlichkeit benutzt – mit einer Geschwindigkeit und einem finanziellen Einsatz, mit denen die Hochschulforschung nicht mehr konkurrieren kann. Viele dieser Technologien gehören inzwischen zum Mainstream und haben erfolgreich Einzug in die meisten Architekturbüros gehalten. In Wettbewerbsausstellungen sind häufig übernatürlich wirkende Renderings zu sehen, welche die Architektur in einem Detaillierungsgrad und einer Materialität darstellen, die im eigentlichen Entwurf noch gar nicht erreicht sein können. Dieser sich auf Darstellungsmethodiken beschränkte Eklektizismus hat jedoch nur mittelbar mit den Inhalten oder der Gestaltung des Architekturentwurfs zu tun. Eine weitaus bedeutendere Rolle für den Entwurfsprozess spielt die Verbreitung des Internets. Die Vernetzung und Internationalisierung in der Architekturszene wird durch die Möglichkeit, Originaldaten unmittelbar und verlustfrei weltweit zu kommunizieren, stark gefördert. Gegenstand dieses Artikels ist die Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit der Computer durch seine Möglichkeit, viele Varianten zur Lösung eines definierten Problems zu liefern, Einfluss auf die Architektur hat. Oder – anders formuliert: Kann das Programm einer Architektur mit einer Software beschrieben werden? Welchen Einfluss hat diese Perspektive auf das gegenwärtige und zukünftige Entwerfen, auf das Bauen und auf die Architekturtheorie? Aktuelle Strömungen in der Architektur
Entwerfen nach Zahlen: Betrachtet man die aktuellen Veröffentlichungen von MVRDV oder von OMA, so fällt auf, dass statistische Analysen in der Bewältigung architektonischer Fragestellungen eine wichtige Rolle spielen. In unterschiedlicher Manier werden Statistiken zur Architektur in Verhältnis gesetzt: Sie dienen dazu, Entwürfe zu legitimieren (Stadtpla14 archithese 4.02
nung Euralille, OMA ), sie werden unmittelbar in Architektur übertragen (Functionmixer, MVRDV ), oder sie werden durch Architektur veranschaulicht (METACITY, DATATOWN, MVRDV, s. archithese 3.02). Das Ergebnis ist ein reizvolles Spiel, resultierend aus einem mehr oder weniger analytischen Umgang mit Zahlen und Diagrammen, deren Präsentation ästhetische Gesichtspunkte zu Grunde gelegt werden. Der Weg von der Analyse zum Gebäude wird vorexerziert, mit ihm wird für das Produkt geworben, und dessen zukünftige Nutzungen werden beschrieben. Raum und Excelsheets rücken näher zusammen, überschneiden oder bedingen sich zunehmend. Die Entwürfe zeigen ihre funktionalen und relationalen Zusammenhänge. Mathematische, physikalische oder biologische Experimente für die Formfindung: Durch die rasante Entwicklung der Computer (nach dem Moor’schen Gesetz verdoppelt sich deren Geschwindigkeit alle 18 Monate!) und der CAD-Systeme entstanden neue Möglichkeiten zur Generierung von Formen. Musste Frei Otto für den Entwurf der Überdachung des Münchener Olympiastadions noch Experimente mit Seifenblasen durchführen, um wissenschaftliche Erkenntnisse für die Findung einer guten Form zu erhalten, lassen sich diese Dinge mittlerweile in CAD-Programmen simulieren. Oberflächen hoher Komplexität können spätestens seit der Erfindung der Bezierkurve durch mathematische Zusammenhänge beschrieben werden. Prominenter Vertreter hierfür ist Greg Lynn, der auf CAD-Systemen Formen programmiert oder mit Programmen modifiziert, um diese sehr unmittelbar in computergesteuerter so genannter CNC-Fertigung herzustellen (archithese 2.02). Seine nichteuklidischen Geometrien sind auf keinem anderen Weg herstellbar – sie sind generiert. Freie Formen werden gerastert und beschrieben: Ungeachtet der modernen Fertigungsmöglichkeiten werden handwerklich Modelle hergestellt. Der nicht zu unterschätzende Einsatz des Computers liegt in der Strukturierung bisher nicht beschriebener mathematischer Formen: Ein 3-D-Scan des Modells digitalisiert den haptischen Entwurf und macht ihn in einem präzisen Transformationsprozess maschinenlesbar – und so mit computergesteuerten Maschinen (CNC ) produzierbar. Der Computer gibt die Möglichkeit, Formen frei von strukturellen und konstruktiven Überlegungen zu entwerfen: Die ange-
1 1 Entwerfen nach Zahlen: MVRDV, «Metacity Datatown» 2 Freie Formen werden gerastert und beschrieben: Frank O. Gehry, Guggenheim Museum Bilbao, Computermodell
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wandte Technologie ermöglicht erst die Formenvielfalt und befreit von den Beschränkungen der Rasterung. Aktuelle Strömungen in der Informatik
Neue Progammiersprachen: Aus den ursprünglichen, prozeduralen Programmiersprachen haben sich objektorientierte Beschreibungsformen entwickelt. Objekte sind informationstechnische Konstrukte, die sowohl Eigenschaften als auch Verhalten (Methoden) umfassen. Einige Programmierungsumgebungen haben grafische Benutzerführungen, in denen die gezeichneten Elemente als Objekte formuliert sind und ihre Methoden in einem Menü anbieten. Ihre Grösse, Farbe oder Position kann zum Beispiel programmiert werden. Ein wesentliches Merkmal von Objekten ist die Möglichkeit der Typisierung. Die gemeinsamen Eigenschaften und Verhalten verschiedener Objekte werden in hierarchischen Typenbeschreibungen zusammengefasst und von den Individuen (Instanzen) geerbt. Dabei können die Individuen von ihrem Typ abweichende Eigenschaften und Verhalten durch «Überschreiben» ausprägen. Auf diese Art und Weise ist es relativ leicht, sehr kompakte und dennoch anpassungsfähige Strukturen aufzubauen, die sowohl beschreibend als auch operational genutzt werden können. Diese Art des Programmierens kommt dem architektonischen Entwurf entgegen, da Strukturen im Detail beschrieben werden können, ohne dass ein übergeordnetes Problem bereits endgültig gelöst zu sein braucht.
Software-immanente Skriptsprachen: Inzwischen bieten alle guten CAD- und Multimediaprogramme leicht erlernbare und gut dokumentierte Skript- oder Programmiersprachen an. Sie ermöglichen es, Zeichnungselemente mit einer «Intelligenz» oder einem «Verhalten» zu versehen. Während bei professionellen Multimediaprogrammen (z. B. Macromedia Flash oder Macromedia Director) die User selbstverständlich Grafiken programmieren und auf diese Weise interaktiv machen, wird diese Möglichkeit bei CAD bisher kaum genutzt. In diesem Bereich steht ein weites Feld für neue Fantasien bislang ungenutzt offen. Programmierte Architektur
Im Spannungsfeld dieser architektonischen und informationstechnischen Phänomene stellt die neue Professur für CAAD an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich unter der Leitung von Ludger Hovestadt eine Produktionskette für Architekten auf und erforscht die einzelnen Elemente sowie deren Zusammenspiel systematisch. Ziel ist es, Architektur mit Informationstechnologie zu beschreiben, zu generieren, zu verwalten, zu bewerten und zu produzieren. Bei den bisherigen Versuchen, Software zu programmieren, die Architektur einigermassen selbstständig generiert, stiess man auf ein sehr allgemeines Problem von Architekturentwürfen: die Objektivierbarkeit. Inwiefern können die generierten Lösungen objektiv beurteilt werden? Fragen funkarchithese 4.02 15
«Ego-Shooter-Games» berühren verschiedene Themen, welche im Zusammenhang von Architektur, neuen Medien sowie Informations- und Kommunikationstechnologien von Brisanz sind. Zum einen zeigen sie Räume und Welten, die nur virtuell existieren. Zweitens sind dank der Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnologien grosse Spielergemeinschaften entstanden. Drittens schliesslich werden gemäss dem modernen «Open source»-Ansatz Informationen und Kreationen frei zugänglich gemacht und weiterverteilt.
Game in Progress Virtuelle Räume und Gemeinschaften am Beispiel von «Ego-Shooter-Games» Maia Engeli
Die Bezeichnung Ego-Shooter oder auch First-Person-Shooter sagt einerseits, dass die perspektivische Darstellung der Sicht der eigenen Spielfigur («Ego») entspricht, und andererseits, dass es sich um ein Ballerspiel («Shooter») handelt. Das Thema EgoShooter provoziert gegenwärtig sehr vehemente Auseinandersetzungen und bietet deshalb eine Intensität, welche hilft, interessante Phänomene zu identifizieren und zu illustrieren. Die Auseinandersetzung hat zudem deutlich aufgezeigt, dass es auch eine Ebene der Hilflosigkeit gibt – aufgrund einer Reihe von Fragen, die mit dem momentanen Stand der Erfahrung nicht beantwortet werden können. Mit diesem Phänomen sind wir im Bereich neuer Medien immer wieder konfrontiert und werfen ein Hauptaugenmerk nicht nur auf die Technologien per se, sondern auch auf mögliche Strategien für deren effiziente Aneignung. Im Folgenden werden deshalb historische und technische Aspekte behandelt, kreative Möglichkeiten erläutert und soziokulturelle Aspekte betrachtet. Vom 2 D zur 3-D-Ego-Perspektive
Die ersten grafischen Darstellungen in den späten Siebziger- und den Achtzigerjahren waren zweidimensionale, anfangs nur zweifarbige Übersichten. Die Aktion wurde von oben beobachtet, man spielte von einem sich nicht verändernden Blickpunkt aus. Beispiele dafür sind Asteroids, Pacman oder Space Invaders. Anfang der Neunzigerjahre kam die Scrolling-Technologie auf und erlaubte längere Reisen durch Welten, in denen die Komplexität der zu bewältigenden Aufgaben stetig anwuchs, wie zum Beispiel in Super Mario. Im Vergleich zur Gesamtübersicht der ersten Spiele entstand nun das Gefühl, das Spiel mehr von innen zu spielen. Mit der Entwicklung der 3-D-Perspektive wurden zuerst Spiele geschaffen, in denen der Spieler hinter der Spielfigur steht. Schliesslich kam dann die Ego-Perspektive auf, welche es erlaubt, die Aktion direkt aus der Perspektive der Spielfigur mitzuerleben. Diese Sicht wurde 1993 mit dem Shooterspiel Doom, das auch vernetzt via Internet gespielt werden konnte, im grossen Stil verbreitet. Douglas Rushkoff schreibt dazu: «Der beängstigende, revolutionäre Aspekt der Doom-Spiele ist nicht, dass sie aggressiver sind als die Spiele zuvor. Sie sind ganz einfach realer.»1 24 archithese 4.02
Die Entwicklung der Akteure ist ein weiterer interessanter Aspekt von Computerspielen. Begonnen hat es mit einem Punkt, welcher sich als Ball des stilisierten Tennisspieles Pong auf dem Bildschirm hin- und herbewegte2. Später kamen abstrakte Raumschiffe, verschiedene Arten von Fallen und Bösewichte dazu. In den heutigen Games gibt es Actors, Monsters oder Bots (von Robots), welche auch als AI (Artificial Intelligence) bezeichnet werden. Die AI-Elemente sind so programmiert, dass sie sozusagen nach eigenem Willen reagieren und handeln. Die AI geht in Spielen wie Creatures oder Black+White sogar so weit, dass man seine eigenen Kreaturen aufziehen kann und diese sich je nach Pflege und «Erziehung» unterschiedlich entwickeln. Akteure sind im Hinblick auf virtuelle Architekturen und Architekturrepräsentationen interessant, weil Räume mit ihnen belebt werden können. Das Arbeiten mit den Spielakteuren und ihrem AI-Aspekt erlaubt auch die Formulierung von Architekturen mit eigener AI-Komponente, die sich dann im Dialog mit den Benutzern entwickeln. In der Entwicklung der Architekturdarstellung nehmen die Computer-Games den nächsten Schritt vorweg. Sie erlauben die Erforschung belebter Räume nach eigenem Willen. Die Akteure in den virtuellen Welten stellen eine neue Ebene für die Vermittlung der architektonischen Vision dar und erlauben eine zusätzliche Intensivierung des Erlebnisses für die Betrachter. Die interaktive, aktionsgeladene Ego-Perspektive wird auch, wie vergangene Erfindungen, einen Effekt auf die Formulierung architektonischer Ideen haben. Medium + Message
Typisch für Computerspiele sind massive Steinbauten mit übertrieben dramatischen Beleuchtungen. Dies ist durch die Entwicklungsschwerpunkte des Mediums bedingt. Die Verbesserung der grafischen Qualität und der Geschwindigkeit der Darstellung ist von der Computerspiel-Industrie stark vorangetrieben worden, dabei wurden bei der Darstellung von Oberflächentexturen und Lichtern erstaunliche Fortschritte erzielt. Von diesen neuen Möglichkeiten wird ausgiebig Gebrauch gemacht, wodurch im eigentlich licht- und schwerelosen digitalen Raum das schwerste Material mit einer fantastisch bis kitschigen Lichtdramaturgie in Szene gesetzt wird.
1 Frühe Beispiele: «Pong» (1972), «Space Invaders» (1978), «Asteroids» (1979), «Pacman» (1980), «Super Mario» (1983) 2 «Linx3d», Ego-Shooter Level bestehend aus Text, Margarethe Jahrmann, Max Moswitzer (1999) Abstrakte Levels von « Jodi»
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In der Bucht von Yokohama liegt ein neuer Fähranleger, der gleichzeitig avantgardistisch ist und von der Geschichte Yokohamas erzählt. Über 420 Meter lang und 70 Meter breit ragt der neue Osanbashi-Pier in den Hafen. Die Londoner Foreign Office Architects errichteten mit der Anlage ihr erstes grosses Werk. Rechtwinkligkeit scheint ausser Kraft gesetzt; die Struktur ist aus Bewegungslinien abgeleitet. Laut Alejandro Zaera-Polo entsteht die Form aus der Manipulation des Materials – auch wenn dieses immateriell ist.
New Non-Cartesian Geometry Foreign Office Architects: Fährterminal Yokohama, 1995–2002 Ulf Meyer
Zur Vorgeschichte
Yokohama hat in der jüngeren japanischen Geschichte eine entscheidende Rolle gespielt. Im Hafen von Yokohama nahm die Verwestlichung Japans ihren Lauf, die das gesamte Inselreich verändert und schliesslich Auswirkungen auf die ganze Welt gehabt hat. Hier durften die ausländischen Mächte erstmals ihre Schiffe anlegen lassen. Die Öffnung des Hafens 1859 läutete eine neue Ära in Japan ein. Heute ist Yokohama nach Tokio und Osaka die drittgrösste Stadt Japans, aber ihre Identität hat sie teilweise verloren, seitdem sie mit dem benachbarten Tokio zu einem einzigen Siedlungsbrei in der Kanto-Ebene zusammengewachsen ist. Im Innenstadtviertel Kannai gibt es deutlich mehr Altbauten, ein regelmässigeres Strassennetz und eine stärkere städtebauliche Tradition als im wild wuchernden Tokio. Obwohl die Innenstadt einen spürbar anderen Charakter als die Hauptstadt aufweist, hat Yokohama den Identitätsverlust nie verkraftet. Die Ambition, sich von Tokio abzusetzen und das eigene Profil als Hafenstadt am Meer zu stärken, macht sich besonders im neuen Stadtviertel «M21» bemerkbar. Dieses riesige Stadterweiterungsgebiet liegt zum Teil auf neu aufgeschüttetem Land, zum Teil auf ehemaligen Gewerbeflächen für Werften und Schwerindustrie, die wie überall auf der Welt die Innenstadtlagen schon lange aufgegeben haben oder angesichts der ausländischen Konkurrenz ganz verschwunden sind. Wie viele andere Städte in den Achtzigerjahren auch hat Yokohama seine waterfront in ein neues Geschäfts- und Amüsierviertel verwandelt. Der sichtbarste Ausdruck des neuen Selbstbewusstseins von Yokohama ist der Landmark Tower von dem amerikanischen Architekten Hugh Stubbins, der auch das Citicorp Center in New York und die Kongresshalle in Berlin entworfen hat. Es ist das derzeit höchste Gebäude Japans, das Kenzo Tanges Rathausdoppeltürmen in Tokio den Rang abgelaufen hat – ein wichtiger Prestigegewinn für die kleinere Schwesterstadt. Yokohama besitzt eine lange Tradition als Eingangstor nach Japan für Ausländer – die grösste Attraktion Yokohamas ist nicht zufällig seine Chinatown. Das Zentrum hat sich durch «M21» nach Norden verlagert, und die traditionelle Innenstadt droht zu stagnieren, wenn alles Wachstum und die Kaufkraft in das neue Stadtviertel fliessen, welches zudem 46 archithese 4.02
besser erschlossen ist. Vor diesem Hintergrund wird die Geschichte des neuen Fährterminals verständlich. Das Projekt
Bei dem grossen internationalen Wettbewerb, der 1995 von der Stadt Yokohama zum Bau des neuen Fährterminals veranstaltet wurde, gewann das damals noch weitgehend unbekannte Londoner Büro Foreign Office Architects. Es wird von dem Spanier Alejandro Zaera-Polo und der Iranerin Farshid Moussavi geleitet und ist von daher auf doppelte Weise foreign in Japan. Beide Architekten sind noch unter vierzig Jahre alt. Das neue Fährterminal besitzt mehrere Funktionen. Es trägt zur weiteren Aufwertung der waterfront von Yokohama bei, es ist ein neues Wahrzeichen der Offenheit gegenüber Ausländern, es verbindet «M21» mit dem beliebten Yamashita-Park und es soll Yokohama als Reiseziel für Kreuzfahrten aufwerten und damit den örtlichen Tourismus fördern. Die Star Cruise Company aus Singapur ist eine der Hauptinteressenten. Zusätzlich sollte eine Fährverbindung zwischen den traditionell verfeindeten Nationen Japan und Korea (zumindest während der WM ) eingerichtet werden. Bis zum Baubeginn des Fähranlegers vergingen vier Jahre. Dass zwischen dem Wettbewerb und der Eröffnung des Gebäudes am 2. Juni insgesamt fast sieben Jahre liegen, lässt auf die Schwierigkeiten schliessen, die dieses Projekt durchstehen musste. Zwischenzeitlich wäre das Vorhaben fast gescheitert. Nicht nur die Rezession und das Platzen der Bubble Economy kam dem Projekt in die Quere, auch der Bedarf an dem Riesenbau wurde (und wird) in Zweifel gezogen. Die jungen Architekten galten als unerfahren, denn das Fährterminal ist das mit Abstand grösste Projekt, das das Büro bisher verwirklicht hat. Als Retter in der Not erwies sich ausgerechnet die Fussballweltmeisterschaft. Weil Japan zusammen mit Südkorea als Gastgeber der WM bestimmt wurde und Yokohama zu einem der Austragungsorte der Spiele wurde, stieg die Bereitschaft der örtlichen Politiker, zu diesem Anlass ein Prestigeprojekt vom Stapel laufen zu lassen. Das Terminal ist der erste Punkt, von dem aus viele Ausländer Japan betreten werden. Wie schon Renzo Pianos Kansai-Flughafen in Osaka zuvor wurde ein solches Tor nach Japan von einem ausländischen Architekten entworfen.
1 Grundriss Dachund Parkebene 2 Grundriss Hallenebene 3 L채ngsschnitt 4 Querschnitte
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Das Restaurant «Georges» im Centre Pompidou in Paris ist ein Beispiel für einen Entwurf, der ohne moderne Computertechnologie nicht hätte entstehen können und dies auch zelebriert. Wie beim Centre selbst handelt es sich einerseits um eine Ode an den jeweils aktuellen Stand der Technik und andererseits um eine Beschäftigung mit der Tiefe von Oberflächen. Dabei wird der Computer nicht nur als Hilfsmittel bei der Darstellung, der Formfindung und der Fabrikation eingesetzt; die Architekten sehen in ihm auch ein willkommenes Mittel, ihre eigene Autorenschaft zu relativieren.
Subkutaner Eingriff Jakob + MacFarlane: Restaurant «Georges», Paris, 2000 Judit Solt
Das 1971–77 von Richard Rogers und Renzo Piano erbaute Centre Pompidou in Paris zählt trotz flexibler Raumeinteilung in den einzelnen Geschossen nicht gerade zu jenen Bauten, die eine nachträgliche bauliche Veränderung erleichtern. Umso bemerkenswerter ist das im Jahr 2000 eröffnete Restaurant «Georges» im fünften Obergeschoss, Ergebnis eines im Frühling 1998 ausgeschriebenen dreistufigen Wettbewerbs, den die Pariser Architekten Dominique Jakob und Brandon MacFarlane für sich entscheiden konnten. Es handelt sich um eine Intervention, die in respektvoller, doch sehr eigenständiger Weise auf den besonderen architektonischen Kontext reagiert. Trotz offensichtlicher Bezüge vermeidet sie sowohl eine formale Anbiederung an die moderne Ikone als auch eine vollständige Abkehr vom Bestehenden. Dennoch handelt es sich nicht um einen diskreten Eingriff, der angesichts des besonderen Umfeldes bescheidene Zurückhaltung übt: Das Projekt basiert vielmehr auf der radikalen – und selbstbewussten – Umdeutung eines bestehenden Elementes, des Bodens. Eine Haut mit Taschen
Das Restaurant zählt 250 Plätze und besetzt die nord-östliche Ecke des Gebäudes. Dabei tangiert der Eingriff weder die vollständig verglaste Aussenfassade noch die Decke mit ihren wuchernden Röhren und Leitungen. Die Tische für die Gäste sind an der Glasfront aufgereiht; in der Mitte und an der Rückwand des Raumes wachsen neue, pilzartige Gebilde buchstäblich aus dem Boden. Der Bodenbelag besteht aus gebürstetem Aluminium und ist in Quadrate von 80 Zentimetern Seitenlänge unterteilt, die wiederum auf das Strukturraster des Gebäudes von 12,8 auf 12,8 Metern zurückgehen. Stellenweise scheint er gigantische Blasen zu werfen oder Falten zu bilden wie ein Teppich, wobei das quadratische Raster heftig verzerrt und verzogen wird. Dadurch entstehen unregelmässige, organisch geformte Volumen, in denen Küche, Toiletten und Garderoben sowie zwei abtrennbare Säle untergebracht sind. Im inneren Bereich zwischen den Volumen windet sich die Erschliessungszone für Gäste und Angestellte, erhellt durch das matte, gleichförmige Licht, das die kaum spiegelnde Aluminiumoberfläche in diese Raumtiefe trägt. Auf diese Weise wird der 52 archithese 4.02
Raum in offenere und privatere Bereiche gegliedert; von keinem Punkt aus ist er ganz zu überblicken. Ausgangspunkt für den Entwurf war die Auffassung des Bodens als eine Art dehnbare Haut, unter die sich einzelne Volumen schieben. Diese Transformation des Bodens, der die gewohnten zwei Dimensionen verlässt und sich in den Raum aufbäumt, führt zu einer Relativierung der Begriffe innen und aussen, die mit gewöhnlichen Einbauten kaum hätte erreicht werden können. So werden die räumlich stark gefassten Zirkulationsbereiche zwischen den Volumen als Innenräume empfunden und liegen doch unübersehbar ausserhalb der Aluminiumhaut. Aber auch die Volumen selbst sind sowohl Innen- als auch Aussenräume – ähnlich wie die Taschen eines Kleidungsstücks, die in Bezug auf das Kleidungsstück selbst innen liegen, in Bezug auf den Körper, den es umhüllt, dagegen aussen. Diese Ähnlichkeit wird dadurch unterstrichen, dass die «Raumtaschen» innen mit farbigem Kautschuk ausgeschlagen sind, das gleichsam als Futter fungiert. Und weil Boden, Wände und Decke dieser Gebilde aus einer einzigen Fläche bestehen und die gleichen Leuchten in die Decke und in den Boden eingelassen sind, büssen auch die Kategorien oben und unten an Eindeutigkeit ein. Raum- und Darmstülpungen
Formal gesehen ist der Kontrast zwischen den biomorphen Kurven des Restaurants und den von der Gebäudetechnik geprägten Fassaden des Centre kaum zu überbieten. Dennoch mutet die neue Anlage nicht besonders fremdartig an. Dies mag zum einen daran liegen, dass auch der ahnungslose Besucher im Rahmen eines Museums für moderne Kunst auf eine Konfrontation mit ungewöhnlichen plastischen Formen gefasst ist; zum anderen aber auch daran, dass Bestehendes und Neues thematisch immer wieder zueinander finden. Trotz aller Maschinenästhetik ist das Centre wiederholt mit einem lebenden Organismus verglichen worden; die technoide, gerasterte Aluminiumoberfläche der neuen Gebilde wiederum relativiert erheblich den Eindruck des natürlich Gewachsenen. Der konzeptionelle Bezug auf das bestehende Gebäude erschöpft sich indes nicht in der Aufnahme des Rasters. Das Centre Pompidou zeichnet sich unter anderem dadurch aus,
1 1 Blick über die Dachterrasse des Centre Pompidou ins Restaurant «Georges» (Foto: Nicholas Borel) 2– 3 Entwurfsskizzen
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Architektur aktuell Diener & Diener: Sammlung Rosengart, Luzern, 2000–2002
Kunst statt Geld Die Sammlung Rosengart ist nicht systematisch entstanden. Sie spiegelt vielmehr das Leben und Wirken der Luzerner Galeristen Siegfried und Angela Rosengart, besitzt also eine stark persönliche Prägung. Nun hat die Kollektion eine dauerhafte Bleibe im ehemaligen Gebäude der Nationalbank nahe dem Luzerner Hauptbahnhof gefunden. In sensibler Weise haben Diener & Diener drei Geschosse des früheren Geldinstituts zu einem Museum umgebaut – Alt und Neu finden unprätentiös zusammen. Nicht die Sterilität des «White Cube» herrscht im Inneren, sondern eine beinahe privat wirkende Atmosphäre. Goldfarbene Versalien schmücken seit jüngstem dezent, aber unübersehbar das ehemalige Gebäude der zentralschweizerischen Filiale der Nationalbank. Der Künstler Peter Suter hat den goldbronzefarbenen Fries entworfen, der das Sockelgeschoss auf allen vier Seiten beschliesst; neben die brand labels der Werbewelt, welche an einer der Hauptgeschäftsstrassen Luzerns vorherrschen, treten die Namen von Künstlern, ob Klee, Picasso oder Matisse, und der Titel der neuen kulturellen Institution in vier Sprachen: Sammlung Rosengart. Dies sind die einzigen Hinweise auf die neue Nutzung des viergeschossigen neoklassizistischen Gebäudes mit Art-déco-Anklängen, welches der Zür-
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cher Stadtarchitekt Hermann Herter 1924 errichtete und das sich an der viel befahrenen Pilatusstrasse erhebt, mithin in unmittelbarer Nachbarschaft des Hauptbahnhofs. Roger Diener oblag die Aufgabe, dort, wo früher Geld und Gold verwahrt wurden, der Kunst ein Domizil einzurichten. Leidenschaft des Sammelns Die Vorgeschichte beginnt 1937: Als Justin Thannhauser, die Emigration in die USA vorbereitend, seine Galerien in München und Berlin schliesst, schenkt er seinem Cousin und Geschäftspartner Siegfried Rosengart (1894–1985) ein mit 10 000 Franken taxiertes
Stillleben von Cézanne – als Dank für dessen seit 1920 währende Tätigkeit als Leiter der Dépendance der Galerie Thannhauser in Luzern. Die Stadt am Vierwaldstättersee galt – ihrer Lage in der neutralen Schweiz und ihrer internationalen, vor allem amerikanischen Besucher wegen – seit längerem in der Kunstszene als wichtige Adresse, und so setzte der wie Thannhauser aus München stammende Rosengart seine Galeristentätigkeit fort, seit 1948 unterstützt von seiner 1932 geborenen Tochter Angela. Konzentrierte man sich ursprünglich auf die Impressionisten, so rückten mehr und mehr die Meister der klassischen Moderne ins Blickfeld, besonders Pablo Picasso und Paul Klee. Dabei war es vor allem der persönliche, freundschaftliche Kontakt der Galeristenfamilie zu den von ihnen vertretenen Künstlern, welcher das Profil der Kunsthandlung bestimmte; neben Daniel Henry Kahnweiler hatten nur die Rosengarts nahezu ungehinderten Zutritt zu dem Atelier von Picasso. Was mit dem Cézanne von 1937 angefangen hatte, setzte sich im Laufe der Zeit fort: Manche der zum Verkauf bestimmten Arbeiten sammelten sich im Haus der Rosengarts. Bisweilen waren es Bilder, die als unverkäuflich galten, bisweilen Werke, die man nicht aus der Hand geben wollte; hinzu kamen Arbeiten mit persönlichem Bezug, darunter eine Reihe von Porträts, die Picasso von der jungen Angela Rosengart anfertigte.
Gerade die fehlende Systematik macht den Reiz der Kollektion aus – ein Abriss der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts war nicht das Ziel der Sammler. Nicht interesseloses Wohlgefallen, sondern die private Leidenschaft geriet hier zum Massstab. 1978 schenkten die Galeristen acht grossformatige Arbeiten Picassos der Stadt Luzern, die daraufhin im unmittelbar am Reussufer gelegenen «Huus am Rhyn» ein Picasso-Museum eröffnete. Ein weiterer Schritt in Richtung einer öffentlichen Präsentation der verbleibenden Sammlung ereignete sich 1992 mit der Gründung der «Stiftung Rosengart». Während andere Mäzene sich aufwändige Häuser für ihre Sammlungen seitens der Öffentlichkeit finanzieren lassen, erklärte sich Angela Rosengart angesichts des durch das Jahrhundertprojekt von Jean Nouvels Kultur- und Kongresszentrum über Gebühr beanspruchten Kulturhaushalts dazu bereit, das als zukünftiges Sammlungsdomizil auserkorene frühere Gebäude der Nationalbank für 13 Millionen Franken selbst zu erwerben und den Umbau weitestgehend durch Spenden zu finanzieren. Zehn Jahre nach Gründung der Stiftung konnte die Sammlung Rosengart in Luzern eröffnet werden. Wider den «White Cube» Dem Basler Büro Diener & Diener, welches in Luzern zuvor das Hotel Schweizerhof zurückhaltend renoviert
1 Fassade zur Pilatusstrasse 2 Blick vom Ausstellungsumgang in den zentralen Saal des Erdgeschosses (Fotos 1+ 2: Christian Voigt)
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