archithese
Teppiche von TISCA TIARA Trash
Auswärtiges Amt Berlin Architekt: Prof. H. Kollhoff Fotograf: Ulrich Schwarz
4.2005
Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur
Günstiges Bauen – Rationalisierung und Gefühl
Revue thématique d’architecture
Slums – Gewaltspirale und urbane Segregation Jenseits von Kitsch – Disneys Welten Baukunst für alle! Discounter bauen billig Betrachtungen über die Peripherie Countrytrash und Westernpop Bauten und Projekte: Cité Manifeste, Mulhouse Jean Nouvel, Shigeru Ban / Jean de Gastines, Lacaton & Vassal, Duncan Lewis / Potin + Block, Mathieu Poitevin / ART’M Herzog & de Meuron Allianz Arena, München Peter Eisenman Holocaust-Denkmal, Berlin Bünzli Courvoisier Siedlung Hagenbuchrain, Zürich
TISCA Tischhauser + Co. AG
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CH-9055 Bühler
TIARA Teppichboden AG
I
CH-9107 Urnäsch
TISCA TIARA Showroom
I
CH-8004 Zürich
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I
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071 791 01 11
071 365 62 62
archithese 4.2005
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Trash
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EDITORIAL
Trash In der USA werden Menschen weisser Hautfarbe, die sich auf den untersten Stufen der sozialen Leiter befinden, zynisch als White Trash bezeichnet. Marylin Manson hat sie besungen, Eminem trotzig verkörpert – und dann hat sich die Mode ihrer bemächtigt. Mittlerweile gibt es für alle, die es sich leisten können, WhiteTrash-Kochbücher, White-Trash-Sushi (für Speck-Maki nehme man Sushireis, Speck, Gurke, Mayonnaise und Nori), White-Trash-Wrestling mit Stars wie El Ninja, Yeti, Dr. Hercules und Educator, ein Berliner Lokal namens White Trash Fast Food und die belgische Band White Trash European Blues Connection. Trash ist Trend, auch in der Architektur. Spätestens seit Le Corbusier sind Künstler und Architekten von der tektonischen Wucht anonymer Industriebauten fasziniert; zunehmend entdeckt auch die urbane Partyszene die räumlichen Qualitäten von heruntergekommenen Silos, Bunkern und Tiefgaragen. Von da ist es nur noch ein kleiner Schritt zu Bars im echten oder falschen Stil einer wieder zum Leben erweckten Epoche. Der «gute Geschmack», von der Popkultur erschüttert und in der Postmoderne auf eine harte Probe gestellt, lässt sich in kulturell diversifizierten Gesellschaften ohnehin nicht mehr allgemein gültig definieren. Wer vor einigen Jahren vielleicht noch fürchtete, als Kulturbanause dazustehen, baut sich heute hemmungslos eine Villa nach eigenem Gusto – oder vielmehr nach dem Vorbild leicht konsumierbarer Themenparks, Moden und Fernsehserien. Ob geschäftstüchtige Promoter viel Geld mit billiger Ästhetik verdienen oder ob kritische Architekten ironisch-liebevoll darüber sinnieren, wie es die Londoner Gruppe FAT ( archithese 5.2004) oder die Analogen tun: An Trash kommt man kaum vorbei. Spaziergänge in Disneyland, in DDR-Western-Städten und im Schweizer Hinterland stimmen nachdenklich; die Normbauten grosser Discounter, die häufig sowohl im ökonomischen als auch im ästhetischen Sinn billig sind, ebenfalls. Nun gibt es aber neben den gut betuchten Bohemiens, die mit Industrieästhetik und trashy style kokettieren, und den naiven Häuslebauern, die sich ehrlich über gefällige Formen freuen, auch jene, für die günstige Wohnbauten eine Überlebensfrage bedeuten. Eine Milliarde Menschen weltweit lebt in Slums, nicht selten in unbeschreiblich elenden Behausungen, die notdürftig aus Abfall zusammengebastelt sind. Räumliche und soziale Segregation sind die Folge; Abhilfe kann nur in Zusammenarbeit mit den Betroffenen geschaffen werden. Gefragt sind in erster Linie Wirtschaft und Politik, aber auch die Architekten. Selbst in privilegierten Ländern ist der Bedarf nach Sozialwohnungen ungebrochen: Die Frage nach der Wohnung für das Existenzminimum ist noch lange nicht beantwortet. Besorgte Industrielle des 19. Jahrhunderts, die architektonische Avantgarde der Zwanzigerjahre, der Nationalsozialismus, der real existierende Sozialismus, westliche Sozialstaaten und zahllose engagierte Architekten haben sich des Problems angenommen; heute kommen Fertighausanbieter und Möbelhersteller hinzu, eine Tendenz, die viele als beunruhigend empfinden. Dennoch: Es entstehen immer wieder gelungene Beispiele, die zeigen, dass günstige Bauweise und mangelnde architektonische Qualität nicht unbedingt zusammenfallen müssen. Die soeben fertig gestellte Cité Manifeste in Mulhouse vereinigt gleich fünf Projekte, die trotz Sparzwang grosszügig und phantasievoll gestaltet sind. Billige Ästhetik, Slums und günstige Bauten in hoher architektonischer Qualität – die schimmernden Facetten des Begriffs Trash sind Thema dieses Heftes.
Redaktion
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Trash à gogo: Gebäudesatz Discounter-Markt (Foto: Judit Solt)
ÄSTHETISCHES HEIMWEH
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Text: Robert Kaltenbrunner
zuschöne die Aura der Lügenhaftigkeit abgestreift und ist
Vom englischen Klerikalen und Schriftsteller G. K. Chesterton
zum Residuum des Authentischen geworden. Fraglos ist das
stammt der schöne Satz: «Was hatte man ‹dem kleinen
für die Moderne hart: Als die Avantgarde sich vor knapp hun-
Mann› nicht alles versprochen: das Land Utopia, den kom-
dert Jahren zu formieren begann, speiste sie sich aus der Kri-
munistischen Zukunftsstaat, das Neue Jerusalem, selbst
tik am sterilen und verlogenen Eklektizismus der akademi-
ferne Planeten. Er aber wollte immer nur eins: ein Haus mit
schen Baukunst. Steht also nun, an ihrem vermeintlichen
Garten.»
Ende, eben jener Kitsch, gegen den sie einst angetreten war?
Die Ironie kann den wahren Kern dieser Aussage kaum
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verdecken. Allzu offensichtlich ist, dass vor allem im Woh-
Ikea und die Identität nach Norm
nungsbau Zeitgeist, bildersprachliche Nostalgie und das ak-
Wenn die Architektur selbst darauf keine Antwort zu geben
tuelle Angebot im lokalen Baumarkt eine (un)heimliche Alli-
vermag – ein Möbelhaus immerhin hat eine formuliert. Als
anz eingehen. Hat die Postmoderne, wie sie Charles Jencks
kleine Versandfirma im Jahr 1943 in der schwedischen Re-
vor einem Vierteljahrhundert vollmundig propagierte, sich
gion Småland geboren und seitdem – unbeeindruckt von jed-
unseres Alltags bemächtigt «durch Erweiterung der Sprache
weder Wirtschaftskrise – steil expandierend, stellt Ikea ein
der Architektur [ . . . ] zum Bodenständigen, zur Überlieferung
Phänomen dar. Auf den ersten Blick ist es einfach der Aus-
und zum kommerziellen Jargon der Strasse»1 ?
druck mittlerer, utopieschwacher, aber pragmatischer Ver-
Zumindest scheint das Phänomen gesellschaftlich umfas-
nunft, an der jeder teilhat, auch derjenige, der die Teilhabe
send: Die Trash-Kultur blüht, der Unterschied zwischen
verweigert. Die Gründung der ersten deutschen Filiale 1974
Kunst und Kitsch lässt sich kaum mehr dingfest machen.
in München traf auf eine junge Generation, die sich auf der
Nachschöpfung, Fälschung und Simulation sind zu einem
Flucht befand aus dem elterlichen Ambiente von Schrank-
selbstverständlichen Teil der Alltagsästhetik geworden,
wänden in Eiche rustikal, orientalisierenden Sesselungetü-
Wiederaufbau und Rekonstruktion gelten als legitime und
men und Vertikos, die als unverrückbare Trutzburgen dem
anspruchsvolle Bauaufgaben. «Heimat» gehört zu jenen sen-
Sonntagsgeschirr Zuflucht boten. Hell, mobil, funktional,
timental aufgeladenen Vokabeln, die uns das 19. Jahrhundert
leicht zu säubern, transparent und nie eine Entscheidung
reichlich beschert hat; seither wurde sie als handfester Be-
fürs Leben: Ikea produzierte die idealen Möbel für die erste
sitz an Gut und Boden umgemünzt. Und als die Postmoderne
bewusst bindungsschwache Generation. In jedes Ikea-Möbel
das Sein zu einer Frage des Designs erklärte und mit der Ent-
ist die bevorstehende Trennung mit eingebaut, der klassi-
deckung der Lebenswelt das Banale nobilitierte, hat das All-
sche Kunde «besserer» Möbelhäuser dagegen besiegelte
Rationalisierung und Sentiment in der Architektur Von der idealistischen Wohnung für das Existenzminimum über die «totale» Wohnungspolitik der NS-Zeit und den Plattenbau des real existierenden Sozialismus bis hin zum heutigen Fertighaus: Rationalisierung und Publikumsgeschmack sind nicht ohne weiteres zu vereinbaren. Die Architektur tut sich mit den gegenläufigen Tendenzen Individualisierung und Standardisierung schwer.
eine Heirat mit dem langjährigen Ratenvertrag für Küche,
beitung der privaten Umwelt, sondern in konsumierender
Wohn- und Schlafzimmer. Indem Ikea auf Fachverkäufer ver-
Aneignung ästhetischer Identitätsangebote.
zichtet, eliminiert es gleichsam den Agenten einer Ge-
Die dann allerdings schnell unter Kitsch-Verdacht fallen.
schmackskonvention. Dem Individualismus wird viel Raum
Doch von welchem Standpunkt werden Ramsch, Tand und
gegeben, der Tendenz zur Abschottung Vorschub geleistet.
Trash als solche definiert? Oder, in Wolfgang Welschs Wor-
Der junge Mensch, der in den Siebzigern den Mann im Mö-
ten: «Die gesellschaftliche Zuweisung spezifischer Orte und
belhaus für eine Art Erziehungsinstanz hielt, ist auch heute
Terrains setzt einen Standard von Normalität voraus. Wie klar
noch allergisch auf Beratung in Stilfragen.
ist dieser heute noch? Besteht er überhaupt noch in einer Ge-
Bei Ikea gibt es, grob gesagt, eine domestizierte Variante
sellschaft, von der man gesagt hat, sie habe keine einheitliche
der Bauhausästhetik zu kaufen. Deren Nüchternheit ist abge-
Form mehr, sondern sei durch die lockere Verknüpfung nicht
mildert durch die skandinavische Wohnfolklore, die auf einem
nur unterschiedlicher, sondern geradezu heterogener Grup-
sorgsamen Umgang mit Farben und Licht setzt. Inzwischen
pen, Lebensformen und Sprachspiele
gekennzeichnet?»2
wird der ursprünglich auf Kiefernholz basierende Ikea-Look
Von einem «Komfort des Herzens», der die Kunst erst zum
durch Hartschaum, PVC, Metall, Nylon und Leder ergänzt, der
Gebrauch qualifiziere, sprach einst Walter Benjamin: «le-
hölzerne Minimalismus um poppigere Artikel erweitert.
bendige Formen» gibt es für ihn nur um den Preis, dass sie in
Das Ikea-Design ist weltanschaulich scheinbar neutral; es
sich etwas Erwärmendes, Brauchbares, Beglückendes ha-
ist weder esoterisch angehaucht wie die Futon- und Ost-
ben, dass sie dialektisch den «Kitsch» in sich aufnehmen,
asienmode, idyllisiert nicht wie der Landhausstil und protzt
sich selbst damit der Masse nahe bringen und ihn dennoch
nicht wie das aktuelle amerikanische Art-déco-Revival. So ist
überwinden können.
1+2 Bruno Taut, Martin Wagner: Siedlung Britz, Berlin, 1925 –1927 Von der Stadtkrone zum Pragmatismus – der Kostendruck erzwang einfache Grossformen (Peter Gössel, Gabriele Leuthäuser, Architektur des 20. Jahrhunderts, Köln 1994, S. 157) 1 Ansicht 2 Plan
Ikea zum Umschlagplatz einer Wohnlichkeit geworden, die – paradox genug – Vereinzelung und Vermassung vereint.
Sozialpolitisch engagierte Avantgarde Aneignung dessen, was in Serie hergestellt wird, ist längst
Konsum, Kitsch und Moral
eine grundlegende Forderung an die Architektur. Relativie-
Damit hat Ikea geschafft, was der Architektur bislang trotz al-
rend wäre also auf ein Jahrhundert zurückzublicken, in des-
ler Anstrengungen verwehrt blieb. Kaum je hat diese einge-
sen höchst unterschiedlichen Phasen Massenfertigung und
sehen, dass es einer persönlichen Ausgestaltung von Iden-
Industriekultur, Verbilligung und Entgrenzung, Rationalisie-
tität und Geborgenheit bedarf – und sei es in immergleichen
rung und Publikumsgeschmack nicht nur institutionalisiert
Schablonen. Der Möbelkonzern hat verstanden, dass Mas-
wurden, sondern auch Hand in Hand gingen. Viele Akteure
senkultur eine Angebotsökonomie darstellt. Die ethisch-mo-
mussten unter dem Druck der Verhältnisse darauf hinarbei-
ralische Haltung der Architektur scheint dem nach wie vor
ten, günstige Behausungen in ausreichender Menge verfüg-
entgegen zu stehen – obwohl es dem Konsumenten nicht um
bar zu machen: Weite Kreise der Bevölkerung natürlich, aber
den Nachvollzug eines vom Architekten erfundenen Inhalts
auch Politiker und Parteien – zur Legitimation ihrer selbst –
geht, sondern um die eigene Findung von Bedeutung im Kon-
und die (Bau)Industrie, weil sich mit solchen Modernisie-
text des alltäglichen Lebens. Denn Heim und Heimat entste-
rungsimpulsen Geld verdienen und die Voraussetzung für
hen heute nicht mehr beim Häuslebauen als aktiver Durchar-
künftige Absatzmärkte schaffen liess. Die Avantgarde hatte
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DUNCAN LEWIS, ANGERS UND BLOCK, NANTES
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Duncan Lewis, Angers und Block, Nantes
1 Ansicht von der historischen Cité aus; im Hintergrund ist die Häuserzeile von Matthieu Poitevin / ART’M zu sehen (Fotos: Jean-Michel Landecy)
Die Architekten liefern mit ihren zwölf Zweibis Vierzimmerwohnungen eine spannende Neuinterpretation des carré mulhousien, wobei sie sowohl die ursprünglich strenge Grundrissdisposition als auch die wuchernden An- und Umbauten geschickt aufgreifen. Drei freistehende Einheiten werden kreuzweise in Viertelhäuser geteilt, ein Block mit der Küche und den Nassräumen aller vier Wohnungen bildet das Rückgrat des Erdgeschosses. Der ebenerdige Wohnraum ist 5 m hoch; die Zimmer werden wie Kuben ange-
2+3 Strassenansichten 4+5 Grundrisse Erd- und Obergeschoss 1: 500
dockt, zum Teil innerhalb und zum Teil ausserhalb des ursprünglichen Baukörpers, sei es im Erd- oder Obergeschoss. Die Vegetation und der Luftraum über der Parzelle werden ebenfalls als Volumina verstanden und mit Zäunen räumlich gefasst: Dadurch entstehen Gärten, Lauben, gedeckte Vorzonen, Autoabstellplätze, Veranden und Terrassen. Die vielfältigen Innen- und Aussenräume sind miteinander verbunden Architektur: Duncan Lewis, Angers und Block, Nantes; Ausführung: Agence Scape mit Block; Bauherrschaft: SOMCO, Mulhouse
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SLUMS, URBANE SEGREGATION Zonen der Inklusion und Exklusion Wie eine
«Die im Dunkeln sieht man nicht.» Bertolt Brecht, 19301
kürzlich veröffentlichte Studie der Vereinten Nationen nachweist, bahnt sich seit geraumer Zeit eine Entwicklung an, deren Folgen kaum einschätz-
Text: Marc Angélil Nahm sich in den Siebzigerjahren die Architektengilde vor, vom billigen Städtebau Las Vegas’ zu lernen, so stellt sich
bar sind. Während gegenwärtig weltweit eine
heute die Frage, ob die Entwicklung der Slums nicht umso
Milliarde Menschen in Armen- und Elendsvierteln
dringlicher eine Neuausrichtung des Fachgebiets erfordert.
leben, weisen Prognosen darauf hin, dass sich
Wohin man auch in den Städten der Dritten Welt blickt, wird
diese Zahl in den nächsten Dekaden – sollten die
unser Verständnis dessen, was Urbanismus bedeutet, kom-
erforderlichen Massnahmen ausbleiben – verdoppeln könnte. Bislang vom Architektur- und
promittiert. Armut, Müll, Regellosigkeit bestimmen den Lebensraum Abertausender von Menschen – sei es in Bombay, Caracas, Dhaka, Kairo, Lagos oder São Paulo. Verheerend
Städtebaudiskurs ausgeklammert, wird sich
sind die sozialen Bedingungen, desolat die ökonomischen
die Auseinandersetzung mit Fragen der urbanen
Verhältnisse, trostlos ist die physische Umwelt. Und dennoch
Behausung für Minderbemittelte zukünftig
scheinen diese Städte zu funktionieren. Zeugt der verwerfli-
dieser Herausforderung kaum verwehren können.
che Ton der flüchtig gefällten Urteile nicht von der Unfähigkeit, andere Formen sozialer, ökonomischer und räumlicher Organisation in Betracht zu ziehen? Oder stehen die Phänomene uns vielleicht doch so nahe, dass wir sie nicht für wahr erachten möchten? Weder Überheblichkeit noch Hilflosigkeit sind angebracht. Denn die Städte entstehen, wachsen und
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nehmen in zunehmender Geschwindigkeit Form an: «quick, loose, and dirty », wie sich der Architekturkritiker Robert Somol angesichts der Zustände der unmittelbar an den Vereinigten Staaten angrenzenden mexikanischen Stadt Tijuna ausdrückt.2 Wo immer ein Stück Land nicht formell beansprucht wird, kann es in Beschlag genommen werden. Kaum wird ein Gebiet besetzt, entstehen Formen urbaner Strukturen, mit Pfaden, Hütten, Gehegen, Ständen, Material- und Abfalldeponien. Diese mögen im Nu wieder verschwinden und in veränderter Gestalt andernorts auftauchen. Dass wir es hier mit einem beinahe unbezähmbaren Biest zu tun haben, wird in einem Dokumentarfilm über Lagos deutlich, der kürzlich unter der Leitung von Rem Koolhaas und in der Regie von Bregtje van der Haak gedreht werden konnte.3 Die Wahl des Untersuchungsobjekts überrascht nicht, denn Nigeria weist – gemäss einer Statistik der Vereinten Nationen – weltweit den tiefsten Human Development Index auf. Der Film behandelt das Getriebe der Stadt, ihre vermeintlich ungeregelten, gleichwohl funktionierenden Mechanismen urbaner Produktion. Für viele stellt die Metropole mit ihren 15 Millionen Einwohnern ein Rätsel dar, insoweit ihre Ordnung grundlegenden Prinzipien tradierter Planung widerspricht. «Was sich auf den ersten Blick als eine dem Zufall überlassene Entwicklung präsentiert, erweist sich bei genauerer Betrachtung als eine hoch strukturierte Situation.»4 In vielen Belangen zeugen die getroffenen Massnahmen von einer bemerkenswerten Ingeniosität – betreffend des Umgangs mit Dichte, der Festlegung von Ad-hoc-Verfahren ausserhalb formeller
2b
Strukturen, der ökonomischen Selbsthilfe, der Mehrfachnutzung der zur Verfügung stehenden Flächen und des elementaren Einsatzes von Baumaterialien und Konstruktionsmethoden. «Der Eindruck, den die Stadt hinterlässt, ist der eines sehr armen Lebensraums, der allerdings sehr reich ist an Intelligenz und Kreativität, der – aus einer Mischung von Optimismus und Improvisation – sich auf unglaublich produktive
Weltbevölkerung anzustreben. Dass sich die Organisation
So-
der Völkergemeinschaft vornahm, die Probleme der zuneh-
nach die Beobachtungen überzeugen, deuten sie ferner da-
menden Urbanisierung anzugehen, deutete schon damals auf
rauf hin, dass diese Stadt weniger ein Sonderfall als eine ex-
die Dringlichkeit der Sachlage hin. Trotz unzähliger bemer-
treme Manifestation einer sich weltweit abzeichnenden Ten-
kenswerter Projekte – Kooperationen mit lokalen Behörden,
denz darstellt. Stellvertretend für andere Städte weist Lagos
soziale Beihilfe und Unterstützung bei der Erstellung techni-
auf eine Entwicklung hin, die in ihren prototypischen Eigen-
scher Infrastrukturen –, die vornehmlich zur politischen Sen-
schaften zur Regel werden könnte. Sollte sich diese Voraus-
sibilisierung für die Komplexität der Problematik beitrugen,
sage bewahrheiten, wäre es nicht mehr eine Frage, «ob La-
scheint sich die Situation kaum gemildert zu haben. Der kürz-
Weise komplizierten Verhältnissen annehmen
kann.»5
gos mit dem Westen Schritt halten kann, sondern ob wir in
lich publizierte Bericht The Challenge of Slums legt dies auf
der Lage sind mit Lagos Schritt halten zu können».6
unmissverständliche Weise dar.7 Die Zahl der Menschen, die in Slums leben, ist seit den
UN-Habitat
Neunzigerjahren drastisch gestiegen. Verschiedene Fakto-
Die Instanz der Vereinten Nationen, die sich der urbanen Um-
ren haben zur Beschleunigung der Entwicklung beigetragen:
welt und deren Entwicklung annimmt, ist das United Nations
Die Zunahme der Weltbevölkerung, kombiniert mit der un-
Human Settlements Programme, gemeinhin unter der Be-
aufhaltsam fortschreitenden Migration der ländlichen Ein-
zeichnung UN-Habitat bekannt. Die an der Weltkonferenz in
wohnerschaft in städtische Gebiete, sowie auch das sich
Istanbul 1996 angenommene Erklärung gab in der so ge-
weiterhin verschärfende Gefälle zwischen armen und reichen
nannten Habitat Agenda den Vorsatz kund, im internationa-
Gesellschaftsschichten haben zur unkontrollierbaren Aus-
len Raum nachhaltige Urbanisationsprozesse zu fördern und
breitung minderwertiger urbaner Behausungen geführt –
eine Verbesserung der Wohnbedingungen der mittellosen
nicht nur in den Entwicklungsländern, sondern zunehmend
1 Caracas, Venezuela, 2003 «Venezuela’s Economy Down 29 Percent in First Quarter» (Foto: Kimberly White/Getty Images) 2 a Lagos/Kollhaas, Filmstill Videofilm, 2002 Leitung: Rem Koolhaas, Regie: Bregtje van der Haak 2 b Lagos Wide & Close; an Interactiv Journey into an Exploding City, Filmstil CVD-Film, 2005 Leitung: Rem Koolhaas, Regie: Bregtje van der Haak
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Eine architektonische Reise durch Berlin Verschiedene Westerndörfer und Westernclubs in und um Berlin wurden und werden als Gegenwelten zur Alltagsrealität genutzt. Ob im alten WestBerlin, im alten Ost-Berlin oder nun in der wieder vereinigten Hauptstadt: Der Cowboy, der der untergehenden Sonne entgegen reitet, steht für den Helden, den es in der Stadt nicht geben kann.
1
COUNTRYTRASH UND WESTERNPOP Text: Friedrich von Borries, Torsten Fremer
Cowboy, stark und männlich. Wir träumen vom Helden in
«Der Mythos verklärt den einfachen Viehtreiber zum Ritter
uns, doch die Stadt lässt keine Helden zu, hier sind alle gleich.
und entzaubert ihn zugleich. Der Cowboy hütet nicht nur die
Der Wilde Westen ist eine Fiktion, eine Gegenwelt zur All-
Herde, er stiehlt sie auch. Er schiesst sie zusammen oder ver-
tagsrealität, der Wilde Westen ist der Traum von Freiheit,
kauft sie und macht sie zu Geld. Der Cowboy ist gut und böse.
Weite, Abenteuer. Aber den Wilden Westen gibt es nicht nur
Er spaltet sich in Held und Verbrecher. Sein Zwitterwesen er-
im Kino, der Wilde Westen ist ein Stück Realität, der Wilde
zwingt das Duell am Ende jedes Westerns. [ . . . ]
Westen ist überall, direkt um die Ecke, neben der eigenen
Der Cowboy beschützt seine Herde, er gibt ihr Halt. Er selbst hat Haltung. Er hält sich zurück und zügelt seine Lei-
Haustür. Westernclubs, Countrybands, Bull-Riding-Festivals. Im Radio, im Schrebergarten, im Freizeitpark.
denschaft. [ . . . ] Der Westernheld treibt seine Herde in die
Auch Berlin ist Wilder Westen. Der Wilde Westen in Berlin
neue Welt, Ritter in Cowboystiefeln, in Rinder verwandelte
ist eine mehrfach gebrochene Gegenwelt, weil Berlin nicht
Menschen. Federngeschmückte Naturwesen, grausam und
eins ist, sondern vieles: Das alte West-Berlin, das alte Ost-
gut, hocken am Wegrand. Der Zauber verschwindet. Der Irr-
Berlin, das hippe Berlin-Mitte, das verarmte brandenburgi-
garten der Prärie ist graue Grossstadt geworden.»1
sche Umland. Überall Wilder Westen, überall eine andere Bedeutung, überall ein anderer Traum von Freiheit.
Die Stadt ist ein Moloch. Dreckig, verrucht, gefährlich. Die
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Stadt ist das Böse, die Welt des Gangsters. Sein fiktives
Old Texas Town
Gegenüber ist der Cowboy, der Held, der Ehrenhafte, der
«Old Texas Town, die Westernstadt, liegt mitten in Berlin.
aber immer auch ein Gangster sein kann. Jeder von uns ist
Cowboys feiern überall, egal wohin sie zieh’n.
ein Gangster, geprägt von der Gier nach mehr, mehr Geld,
Sie haben Spass am Feiern und einem neuen Spiel.
mehr Macht, mehr Ruhm, mehr Liebe. Wir alle träumen vom
Old Texas Town, die Westernstadt, liegt mitten in Berlin.»2
West-Berlin, umgeben von der Mauer, bedroht vom Kalten
Fargo, Fort Steuben mit dem Alamo-Denkmal und das Block-
Krieg. West-Berlin, der Vorposten der freien Welt im Kommu-
haus. Aus dem märkischen Sand wurde ein Canyon aufge-
nismus. Hier erlangt der Mythos von Freiheit, Weite und
schüttet, in dem sich die mexikanische Cantina versteckte,
Abenteuer eine besondere Bedeutung. In Spandau, im ame-
und am Lagerfeuer konnte man der Musik lauschen.
rikanischen Sektor von Berlin, gründet sich 1950 der Cowboy
Einiges davon ist leider Vergangenheit, da die Firma
Club Old Texas Town. Auf der Suche nach einer neuen Welt,
Siemens einen Teil des Geländes eingeplant hatte für die
die in einer fiktiven Vergangenheit liegt, wird eine eigene
Werner von Siemens Mehrzweckhalle.»3
Stadt gegründet. «Mitte der fünfziger Jahre verfügte dann der Cowboy Club
rikanischen Wilden Westen des 19. Jahrhunderts war Freiheit kein abstrakter Begriff, sondern eine Handlung. Freiheit war
schön gelegenes Gelände. Hier entstand in mühevoller Klein-
die Beweglichkeit der Grenze. Die Frontier, die sich nach
arbeit die Lone-Star-Ranch, die 1956 eingeweiht werden
Westen verschiebt, bedingt eine Kultur des Wachstums,
konnte. Das Clubhaus auf der Lone-Star-Ranch war im alten
schafft eine Freiheit, die neue Räume erobert. Doch die mo-
Texasstil erbaut, mit der typischen Porch vor der Front. Das
derne Stadt lässt keine Freiheit zu. Der Lonesome-Cowboy ist
Innere diente als Versammlungsraum und beherbergte eine
eine Fiktion. In der modernen Stadt bleibt der Cowboy ein
kleine Texasbar, das Marshal’s Office und einen Küchenraum.
Verlierer. Erst muss er dem Kraftwerk weichen, der moderne
Die Wände waren so stilecht dekoriert, dass dem Western-
Mythos der Industrialisierung holt ihn ein. Er zieht weiter
freund das Herz lachte. [ . . . ] 1968 musste der Verein der Kraft-
nach Westen und baut sich eine neue Stadt, doch auch diese
werkserweiterung weichen. Dank der Verhandlungen des
wird zerstört durch die Mehrzweckhalle, die postindustrielle
1. Vorsitzenden Fritz Walter verpachtete die Firma Siemens
Kultur der Eventisierung.
dem Cowboy Club Old Texas Town 14000 qm Brachland. [ . . . ]
Doch der Cowboy weiss sich zu wehren. «Dies ist eine
Es begann der Aufbau der Town Old Texas. Es wurden viele
friedliche Stadt, Fremder», lautet die Begrüssung am Ein-
Entwürfe gemacht und wieder verworfen, bis der richtige
gang der Stadt, «wer Ärger macht, kriegt eine Ladung Blei in
Plan der Stadt geboren war. Der Abriss der alten Ranch und
den Bauch.» Stacheldraht und Videoüberwachung schützen
der Neuaufbau auf märkischen Sand konnte beginnen.
vor den Gefahren der Aussenwelt. Der Traum von Freiheit,
Mit dem Pioniergeist, mit dem einst die Amerikaner ihren
2 +4 Silverlake City
Berlin, das ist die Frontier des 20. Jahrhunderts. Im ame-
Old Texas Town dicht neben dem Kraftwerk Reute über ein
Westen erschlossen hatten, karrten die Grossstadt-Cowboys
1+3 Old Texas Town (Fotos: Lars Nickel)
Weite, Abenteuer verkehrt sich in sein Gegenteil. Er braucht Grenzen und Schutz, Stacheldraht und Videoüberwachung.
Mutterboden heran, pflanzten hunderte von Bäumen und
2
Sträuchern und gründeten ihre Stadt. Holz und Steine wurden
American Western Saloon
aus Abrisshäusern organisiert. Am 5. Mai 1973 konnte Mary’s
Old Texas Town ist nicht der einzige Ort in Berlin, an dem der
Saloon eröffnet werden. Mit seinen 160 Plätzen ist er das kul-
Mythos versucht, Wirklichkeit zu werden. Und nicht nur
turelle Herz von Old Texas Town.
Brachflächen werden besiedelt, als Neuland erkannt, son-
Wie einst in Amerika wuchs die Stadt ständig. Viele origi-
dern auch vorhandene Räume besetzt und in eine fiktive Welt
nalgetreue Häuser entstanden wie zum Beispiel das Court-
verwandelt. Berlin-Reinickendorf, direkt an der Grenze zur
house, Jail, Bank of Texas, die Postkutschenstation Wells
DDR: Von 1963 bis 1974 wird das Märkische Viertel gebaut,
3
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ARCHITEKTUR AKTUELL
Unspektakul채re Grossz체gigkeit
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1 Mit Holz ausgekleidete Loggia 2 Situationsplan 3 Bauvolumina am Hagenbuchrain (Fotos: Hannes Henz)
2 3
BÜNZLI & COURVOISIER ARCHITEKTEN :
Im Gegensatz zu anderen ehemaligen Vorortge-
stand in der Zwischenkriegszeit nur eine derartige
SIEDLUNG HAGENBUCHRAIN, ZÜRICH,
meinden hat das 1934 von Zürich eingemeindete
Siedlung auf dem Gemeindegebiet von Albis-
2000 – 2005 Zürich ist eine Stadt des genossen-
Albisrieden seinen historischen Kern recht gut be-
rieden – die 1931 errichtete Anlage der Bauge-
schaftlichen Wohnungsbaus. Doch Klein-
wahren können. Rings um die klassizistische Kir-
nossenschaft Limmattal von Karl Egender und
wohnungen, wie sie in den Dreissiger- bis
che steht eine stattliche Anzahl von Fachwerkge-
Wilhelm Müller am Letzigraben.
Siebzigerjahre entstanden, entsprechen heute
bäuden, die von der dörflichen Vergangenheit
Die Bautätigkeit, die Albisrieden mit der Stadt
kaum noch den Bedürfnissen. So suchen
zeugen: Gasthaus, Bauernhäuser und Scheunen.
Zürich zusammenwachsen liess, setzte nach 1945
die Genossenschaften nach neuen Strategien,
Im 19. und frühen 20. Jahrhundert, als Zürich suk-
deutlich verstärkt ein, und als Träger der Bauvor-
um eine mittelständische Klientel anzuziehen.
zessive mit seinem Umland zur grossstädtischen
haben wirkten nun vornehmlich die Genossen-
Die Siedlung Hagenbuchrain ist ein Muster-
Agglomeration verschmolz, blieb das Dorf abge-
schaften. Ausser in Schwamendingen war 1970 in
beispiel für die Neuorientierung genossen-
legen. Die wichtige, aber steil geführte Strassen-
keinem Quartier der Stadt die Zahl der Genossen-
schaftlichen Bauens.
verbindung ins Knonauer Amt verlor nach dem
schaftswohnungen so hoch wie in Albisrieden.
Bau der sanfter steigenden Birmensdorfer Strasse
Nicht mehr geöffnete Blockrandstrukturen wie am
1848 an Bedeutung, und die Eisenbahntrassen
Letzigraben fungierten nun als Leitbild, sondern
wurden weit von Albrisrieden entfernt im Limmattal
Zeilenbauten, in den Siebzigerjahren auch mode-
angelegt. Das Bevölkerungswachstum begann
rate Hochhäuser.
merklich erst nach dem Ersten Weltkrieg, und während in anderen Teilen der Zürcher Agglome-
Neue Strategien der Genossenschaften
ration – beispielsweise im Quartier Friesenberg –
Als Anbieter preisgünstiger Wohnungen haben
gemeinnützige Wohnbaugenossenschaften für
Genossenschaften auf dem überhitzten Woh-
Wohnanlagen im grossen Massstab sorgten, ent-
nungsmarkt der Stadt Zürich zweifelsohne weiter-
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