Szenografie
Foto: Lena Amuat
archithese
4.2010
Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur
Eine kurze Geschichte der Szenografie
International thematic review for architecture
Szenografie – Eingrenzung und Aufweitung eines Begriffs Szenografie im urbanen Raum Bühnenbilder und Stagedesigns von Es Devlin Christoph Schlingensief und Francis Kéré Interview mit Peter Greenaway Szenogramme – Von Ausstellungen und Vorstellungen Display und Kontextproduktion – Kuehn Malvezzi Digitale Realitäten – Realer und virtueller Raum Szenarien der Macht – Italien unter Berlusconi Modeinszenierungen von Alexander McQueen Inszenierte Räume: Bettina Meyer Fritz Hauser mit Boa Baumann Graft Holzer Kobler Architekturen Tobias Klein
Kauf / Verkauf
Rem Koolhaas’ Theaterexperimente Architektur auf der Expo Shanghai 2010
Realisation
Interview Buchner Bründler
Juli /August
8005 Zürich: Hier plant Allreal das Wohnhochhaus Escher-Terrassen www.escherterrassen.ch
archithese 4.2010
Allreal-Gruppe: Zürich, Basel, Bern, St. Gallen
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Projektentwicklung
Szenografie
EDITORIAL
Szenografie Ein Wort hat seit geraumer Zeit Konjunktur – der Begriff der Szenografie. Allenthalben entstehen Studiengänge, die sich dem Thema widmen. Doch Berufsbild und Begriff sind nicht deutlich konturiert. Vielleicht ist es symptomatisch, dass das Internetlexikon Wikipedia unter dem Lemma «Szenografie» lediglich einen kargen Eintrag von gerade einmal vier Sätzen aufzuweisen hat. Dennoch geht es in diesem Heft der archithese nicht darum, Szenografie, ursprünglich auf das Theater bezogen, trennscharf zu definieren. Ziel ist es vielmehr, der Vielfalt und Vieldeutigkeit des Begriffs gerecht zu werden. So handeln die Beiträge von Ausstellungsgestaltung und Stage Design, von Bühnenbild und zeitgenössischen Formen des Theaters, von Innenarchitektur und urbanen Events. Von der antiken skene spannt sich der Bogen bis hin zu aktuellen Tendenzen der Generierung von Bildwelten, in der sich reale Räume mit virtuellen Elementen vermischen. Hybridisierung ist ein Charakteristikum der zeitgenössischen transdisziplinären Eventkultur. Symptomatisch für die Vermischung von Raum, Zeit und diversen Medien waren die beiden erfolgreichen Opernproduktionen des Schweizer Fernsehens in den Jahren 2008 und 2009: La Traviata im Hauptbahnhof und La Bohème im Hochhaus. Giacomo Puccinis berühmtestes Werk, dessen Libretto auf dem Roman Les scènes de la vie de bohème von Henri Murger fusst, wurde vom imaginären Paris des Jahres 1830 in das reale Berner Hochhausquartier Gäbelbach transloziert, dort – zum Teil unter der Mitwirkung von zufälligen Passanten – in einer Wohnung, einer Waschküche sowie im Einkaufszentrum Westside von Daniel Libeskind aufgenommen und live auf verschiedenen Fernsehkanälen sowie im Internet übertragen. Eine literarische Handlung, musikalisch transformiert, fand ihre durch verschiedene Drehorte zerstückelte szenische Realisierung in einer alltäglichen Wirklichkeit, um dann wieder im Fernsehen virtualisiert und zugleich als musikalisch-szenisches Kunstwerk komplettiert zu werden. Die Multiplikation als ubiquitär abzuspielende DVD stellte den letzten Schritt einer komplexen Verschränkung von Realität und Virtualität sowie Alltag und Kunst dar. Hybridisierung, und das belegen die Beiträge des vorliegenden Heftes, bedeutet mithin die Sprengung bisher gültiger Referenzrahmen und Rezeptionsmechanismen: Das Theater entgrenzt sich, Ausstellungen transzendieren die gewohnten Objektarrangements, Banales erhält als Event höhere Weihen. Ob auf diese Weise neue Gesamtkunstwerke entstehen oder modisch auffrisierte Samplings von Gewohntem, bleibt abzuwarten. Wie auch immer: Mit vier Sätzen wird der Wikipediaeintrag «Szenografie» in Zukunft nicht mehr auskommen können.
Das Heft wurde in Kooperation mit dem Postgraduierten-Studiengang Szenografie und Spatial Design MAS der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) (Leitung: Stephan Trüby) erarbeitet. www.masscenography.net Redaktion
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Es Devlin: Bühnendesign für Wire, Barbican, London 2003
ARCHITEKTUR AKTUELL
Architektur der Transformation
1
Wyly-Theater, Dallas
REM KOOLHAAS’ THEATEREXPERIMENTE
dem Boden verankert, sondern lässt sich wie ein
Obwohl Theaterbauten komplexe Mechanis-
Würfel um die eigenen Achsen drehen. Mit jeder
Das Thema der räumlichen Transformation stellt
men darstellen, die einen ständigen Umbau
Fläche tritt eine andere Form in Erscheinung, die
auch das zentrale Motiv des Wyly-Theaters in Dallas
der Bühne ermöglichen müssen, blieb das
sich von einem verändernden Programm im Inneren
dar, das OMA zusammen mit Joshua Prince-Ramus
klassische Guckkastensystem über Jahrhun-
ableitet. In einer tetraederförmigen Anordnung sind
entworfen hat. Während die meisten – alten wie
derte prägend. Im Gegensatz zur Dynamik und
vier unterschiedliche Grundrisse – für die Funktionen
neuen – Theaterbauten dem immer gleichen Typus
dem permanenten Wandel im Inneren schien
Modeausstellung, Kino, Modenschau und Kunstaus-
einer Reihung von Foyer, Zuschauerraum, Bühne
die Gebäudeorganisation kaum Abweichungen
stellung – zu einem unregelmässigen Gebilde zusam-
und Nebenräumen folgen, wurden die unterschied-
vom herkömmlichen Typus zuzulassen. Diese
mengeführt. Das durch Kräne ermöglichte Umrollen
lichen Bereiche hier übereinander gestapelt. Das
Starrheit des traditionellen Schemas auf-
führt zu einer ständig neuen Erscheinung – bei dieser
Publikum wird zunächst über eine Rampe nach
zubrechen haben sich Rem Koolhaas und das
mobilen Architektur sind die Kategorien «oben» und
unten ins Foyer geführt und dann über Treppen
Office for Metropolitan Architecture vorge-
«unten» irrelevant. Mit einer flexiblen Haut überzogen,
hinauf in einen flexiblen Universalraum. Indem der
nommen.
reagiert das Objekt auch auf einen Architekturtrend.
Bühnenturm den gesamten Raum überspannt, kann
Es ist ein Blob, erklärt Koolhaas, und gleichzeitig ein
er diesen komplett bedienen und vollkommen öffnen,
Auch wenn es sich nicht um ein Theater handelt, so
Antiblob. Dabei kommentiert es die gegenwärtige
denn auch die Zuschauertribünen lassen sich nach
stellt der von OMA entwickelte Prada-Transformer
Architekturentwicklung in einem weiteren kritischen
oben fahren. Eine klassische Guckkastenbühne
ein Experiment dar, das in Verbindung mit der Thea-
Sinne. Die konstruktivistisch anmutende Gestaltung
kann hier ebenso eingerichtet werden wie eine zen-
terarchitektur zu sehen ist. Bei diesem pavillonartigen
ist nicht individualistisch, sondern leitet sich unmit-
trale Bühne. Der Raum lässt sich in eine hermetisch
Objekt, das temporär in einem Park in Seoul installiert
telbar aus dem Programm ab, sodass die äussere
abgedunkelte Blackbox verwandeln, aber ebenso
wurde, handelt es sich noch nicht einmal um ein
Form nicht als etwas Unabhängiges, als eine ikoni-
zum Stadtraum hin öffnen. Laut Koolhaas hat sich
Gebäude im klassischen Sinne. Es ist nicht fest mit
sche Architektur dem Inhalt bloss übergestülpt ist.
das Theater von seiner eigenen Isolation befreit – mit
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DIE GESPRENGTE SKENE Eine kurze Geschichte der Szenografie Der Begriff Szenografie verweist auf die skene des antiken Theaters. Das einstige Lager für Requisiten mutierte im Laufe von 2500 Jahren zum Immersionsraum, der zunächst die Schauspieler und schliesslich auch das Publikum vereinnahmte. Für ein erweitertes Szenografieverständnis ist ein Rückblick auf die Geschichte der Bühne erhellend.
Text: Stephan Trüby
her auf der skene gelastet hat, nicht nur zu ihrer gründlichen
Wenn es immer so gut liefe, dann könnte die Architektur vor
Perforation, sondern auch zu ihrer Sprengung und, damit
lauter Erfolg kaum noch stehen! Die Geschichte der Szeno-
einhergehend, zu einer Verteilung der Skenen-Splitter jen-
grafie kann als die überaus bemerkenswerte Karriere eines
seits des antiken Skenen-Gevierts geführt – mit dem Resultat,
spezifischen Einzelraums beschrieben werden: der skene.
dass szenografische Praktiken längst nicht mehr nur auf der
Anfänglich kaum mehr als ein uneinsehbares, aber promi-
Bühne zu finden sind, sondern ebenso etwa im Museum oder
nent im Herzen des Theater platziertes Lager für Bühnenre-
im öffentlichen Raum. Kurzum: Während man in der Antike
quisiten, mauserte sie sich im Lauf einer über 2500-jährigen
noch vor der skene agierte, sind wir es nun gewohnt, uns in
Evolution zum Ereignisraum schlechthin. Es ist wohl nicht
Szenen zu bewegen.
übertrieben zu behaupten, dass die Aufwertung der skene zur Szene einer Art architektonischen Vom-Tellerwäscherzum-Millionär-Geschichte gleichkommt: vom Abstellraum
Die ersten Skenengebäude werden auf die zweite Hälfte
zum feierlichen Ort sublimer Spektakel, vom Dunklen zum
des 6. Jahrhunderts v. Chr. datiert.5 Sie stellten kaum mehr
kalkuliert Erhellten, vom Raum des «Off» zum Raum des per-
als temporäre, mit Segeln bespannte Holzgerüste dar und
fekt ausgeleuchteten «On», und vom Exlusiven zum Inklusi-
dienten als Umkleideräume und Requisitenkammern für die
ven. Denn die Szenografie, einstmals lediglich die Kunst der
Akteure des Dionysoskults – jenes religiösen Theatervorläu-
Bemalung (graphein) der skene, bietet seit geraumer Zeit
fers zu Ehren des Gottes der Freude, des Weines und der
Künstlern und Akteuren unterschiedlicher Provenienz ein
Fruchtbarkeit. Mit der Emanzipation des Theatralischen vom
Betätigungsfeld, auf dem sich nach und nach die Konturen
Kultischen gegen Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. gingen auch
einer Hyper-Disziplin aus Architektur, Theaterwissenschaf-
aufwändigere und feste Bühnengebäude einher, die mit ein-
ten, Bühnenbild, Installationskunst, Eventmanagement
fachen Mitteln den Handlungsort andeuteten.6 Die entschei-
und kuratorischer Praxis abzeichnen: «Die szenografischen
dende Revolution führte insbesondere Aischylos herbei, der
Künste, genealogisch allesamt Künste zeitgebundener
in seinen Tragödien – erstmals in der Orestie 458 v. Chr. – den
Spiel- und Raumgestaltung, wachsen [...] zusammen. Aus-
Ort der Handlung genau festlegte und damit räumliche
stellungsmacher inszenieren Musiktheater, Choreografen
Identifikationsmittel benötigte. Diese Revolution führte am
die Eröffnungsveranstaltungen eines Sportevents, Kommu-
Zentralort abendländischer Theaterkunst, dem athenischen
nikationsdesigner Expo-Pavillons, Bühnendramaturgen den
Dionysostheater, zum Bau eines festen, hölzernen Skenenge-
Christopher Street Day.»1 Als Schlüsselwort, das die Karriere der skene auf den Begriff bringt, hat sich in den letzten Jahren die Immersion etabliert. Immersionsräume sind Räume, in denen Körper und Bilder sich optisch überblenden.2 Entsprechend kann Immersion als eine «Ästhetik des Eintauchens» definiert werden, mit der sich eine Verwischung von Bildraum und Realraum vollzieht.3 In der Geschichte der Szenografie lassen sich zwei Immersionsphasen unterscheiden: In der ersten taucht der Bühnenakteur in die Szene ein, in der zweiten auch noch der Zuschauer. Letztere Phase korreliert mit einer allgemeinen kulturellen Verschiebung weg vom play und hin zum game und kann an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden.4 Jedenfalls: Betrachtet man die Geschichte der Szenografie, dann scheint es, als hätte der Immersionsdruck, der seit je-
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Von der skene zur Kulissenbühne
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bäudes.7 Nicht zufällig ist aus dieser Zeit auch der legendär
1 Dionysostheater Athen, Modell (sämtliche Bildvorlagen: Archiv Stephan Trüby)
schnelle Maler Agatharchos als erster Skenograph, als erster Bemaler des Skenengebäudes überliefert. Die Immersionswirkung der griechischen skene war –
2 + 3 Skenedarstellung auf einem Kraterbruchstück aus Tarent, 4. Jh. v. Chr.; Umzeichnung und Rekonstruktion durch Heinrich Bulle
mit heutigen Augen betrachtet – von äusserst bescheidener Wirkung. Dies lag vor allem an der Tatsache, dass das griechische Theater stets an einem Hang errichtet war und der panoramatische Blick in die umliegende Landschaft eine grosse Konkurrenz für eine etwaige Tiefenillusion der Skenographie darstellte. Diese beruhte in vorhellenistischer Zeit, also vor circa 340 v. Chr., fast ausschliesslich auf bemalten und oftmals wandelbaren Türprospekten, den sogenannten
2
4 + 5 Theater von Aspendos, 161–180 n.Chr.
Periakten. Mit dem Hellenismus trat häufig die Reliefwirkung der offenen, Proskenien genannten Seitenrisalite der Skenengebäude hinzu. Letztere sind auf einer griechischen Gefässscherbe gut dokumentiert: Das tarentinische Kraterbruchstück aus dem vierten Jahrhundert v. Chr., das im Würzburger Martin von Wagner Museum aufbewahrt wird und mit grosser Sicherheit ein reales Gebäude darstellt, zeigt in der Rekonstruktion von Heinrich Bulle eine Skenen-Schauwand mit fünf ionischen Halbsäulen.8 An beiden Enden der Wand sind deckenhohe Flügeltüren zu erkennen, die in die dahinter liegenden und durch einen Hintereingang erschlossenen
3
Requisitenraum aufschlagen. Geht man davon aus, dass vieles an dieser Gefässscherbe repräsentativ für das restliche Baugeschehen des Hellenismus ist (wofür es gute Gründe gibt),9 dann beruht der Immersionseffekt der griechischen skene lediglich auf der Tiefe der Proskenien und einiger mehr oder weniger tiefenillusionistisch dekorierten Türen, die bei Auf- und Abtritten kurze Blicke ins Off des Bühnenhauses erhaschen liessen. In der römischen Antike entwickelte die Schauwand des Skenenhauses ein stärkeres Eigenleben – und damit auch mehr Tiefe. Die im griechischen Theater noch weitgehend getrennten Bauteile der skene, des theatron (Zuschauerrund) und der orchestra (zentrale Bühne) «wuchsen» nun zu einem grossen Gebäude zusammen, und, um der Gefahr einer psychologisch zu einschliessenden Wirkung des Theaterinnenraums zu begegnen, geriet die Bühnenschauwand –
4
die scenae frons – wesentlich elaborierter und prächtiger. Eines der schönsten und am besten erhaltenen römischen Theater vermag diese Entwicklung deutlich zu zeigen: Das
5
Bühnenhaus von Aspendos, errichtet 161 bis 180 n. Chr., ist in vollständiger Höhe erhalten geblieben. Die hinter der Bühne sich erhebende Innenseite des Bühnenhauses war mit reichhaltigem Säulenschmuck, Balkenwerk, Friesen, Rosetten und Ornamenten verziert, wovon die heutigen Reste noch einen guten Eindruck geben. Es überwiegt ein körperhafter Gesamteindruck. Die Anzahl der Perforationen der scenae frons durch Fenster und Türen nahm gegenüber den griechischen Vorläufern stark zu. Der zentrale Giebel in der Wandmitte zeigt ein Relief des Dionysos. Unterhalb der Mauerkrone sind noch die Einlassungen erkennbar, auf denen eine schräge Holzkonstruktion ruhte, welche die Bühne überspannte und die Akustik optimierte.
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1
KEINE BAYREUTHER IN LAONGO Christoph Schlingensief und sein Operndorf für Afrika Der Architekt Francis Kéré und der Regisseur, Filmemacher und Künstler Christoph Schlingensief im Gespräch mit Stephan Trüby über ihr Operndorf für Afrika – und Reinhard Brembecks kritische Anmerkungen zum Aufeinandertreffen von Nord und Süd in Schlingensiefs jüngster theatralischer Aktion.
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Stephan Trüby: Christoph Schlingensief und Francis Kéré,
Trüby: Kannst du mir etwas über deine erste gemeinsame
ihr beide plant derzeit ein Operndorf im afrikanischen
Reise mit Francis Kéré nach Burkina Faso erzählen?
Laongo, einem Dorf in der Nähe von Ouagadougou, der
Schlingensief: Das war 2009. Bei mir war ja ungefähr ein
Hauptstadt von Burkina Faso. Wie kam es zu diesem Pro-
Jahr zuvor Lungenkrebs diagnostiziert worden. Als wir nach
jekt? Wie habt ihr euch kennengelernt?
Burkina fuhren, ging es zunächst an den Ort, wo Francis’
Christoph Schlingensief: Ich war 1983 in Simbabwe, wo
Vater lebt, der ja Dorfhäuptling ist. Beim Essen sagte er mir:
ich mich sehr wohlgefühlt habe. Dort habe ich entdeckt, dass
«Da sind Millionen von Bakterien im Essen, und sie wer-
unser übliches Bild eines Afrikas der Krisen und des Elends
den dir nichts tun.» Und ich habe allgemein wirklich Angst,
einfach nicht stimmt. Ich habe ein Land, einen Kontinent
bei Leuten zu essen. Ich ass trotzdem, und es war super,
voller Kulturschätze entdeckt. Nach und nach entstand die
und wir sind da rumgelaufen und ich habe eine grosse Ruhe
Idee eines Opernhauses in Afrika.
gespürt. Und ich habe auch die Kinder gesehen, die dort in
Francis Kéré: Ich habe zum ersten Mal im Herbst 2008
der Schule sitzen. Wenn da ein Buchstabe ankommt, das ist
von Christophs Idee gehört. Nach einem Vortrag von mir
wie eine Explosion. Mir wurde in Burkina ziemlich schnell
in Johannesburg kam Peter Anders, der Afrika-Koordinator
klar, dass der Schlüssel zum Projekt dieses «Wir werden das
des Goethe-Instituts, auf mich zu und berichtete mir, dass
nur zusammen schaffen» ist, diese spirituelle Situation, et-
Christoph einen Architekten für das Projekt eines Opern-
was gemeinsam auf die Beine zu stellen. Es war immer mein
hauses in Afrika suche. Ich solle mich bei ihm melden. Zu-
Traum – auch beim Drehen, auch beim Theater –, dass man
nächst hielt ich das Ganze für eine Spinnerei, meldete mich
die Dinge zusammen macht, dass eine soziale Architektur
erst zwei Monate später bei ihm, Weihnachten 2008. Ich
entsteht. Alleine wäre ich der Gutmensch und der Entwick-
erreichte ihn im Krankenhaus, und Christoph erzählte mir,
lungshelfer, der irgendwelchen Blödsinn macht.
dass er an Krebs erkrankt sei. Er hustete zwar viel, aber
Kéré: Ich habe auf unserer Reise Christoph natürlich auch
er erzählte mit einer unglaublichen Dynamik. Mir wurde
meine architektonische Arbeit gezeigt: meinen Schulbau in
sehr schnell klar, dass es keine Spinnerei war.
Gando, den ich 2001 fertigstellen konnte. Damals war ich
Kurz zur Rekapitulation: Zürich, Mitte des 19. Jahrhunderts. Gottfried Semper und Richard Wagner, die verhinderten 2
Polit-Aktivisten der Deutschen Revolution von 1848/1849, fliehen nach Zürich, stehen unter Beobachtung des Geheimdienstes und hecken Pläne aus. Und zwar Pläne für ein Festspielhaus. Dabei werden Sie umgarnt von König Ludwig II. von Bayern, der das Haus finanzieren will. Wie wir jetzt wissen, mündete diese Story nicht in ein Happy End. Denn nach und nach verfestigt sich bei Richard Wagner die Überzeugung, dass Gottfried Semper kein Glücksfall für die Festspielhausidee ist, sondern dass er sich als der grösste Feind für die Wagner'sche Idee des «Gesamtkunstwerks» entpuppen könnte. Denn ab einem bestimmten Moment befürchtet Wagner, dass Sempers Architektur schlicht zu gut für die Musik und das Festspielkonzept des Komponisten ist. Ab dann versucht Wagner seinen ehemaligen Freund Semper gegenüber Ludwig II. zu beschädigen. Diese Geschichte macht für mich Zürich zum vermutlich besten Ort der Welt, um über Festspielhausprojekte und ihre Gefahren zu sprechen. Christoph Schlingensief und Francis Kéré, um auf euch beide zurückzukommen: Gibt es Streitpunkte zwischen euch? Gibt es Punkte bei eurem Festspielhausprojekt, über die ihr euch nicht einig seid? Schlingensief: Das ist ja eine Frage! Naja. Also gut. Ich will jetzt keine Namen nennen, aber es gibt da eine Dame, die hat sehr viel Geld, und wir hofften, dass sie das Festspielhausprojekt vielleicht zum grössten Teil finanzieren würde. Wir sind mit der Dame nach Burkina gereist; natürlich wurde sie dort gleich von einem Minister hofiert. Sie raste permanent herum, sagte «dies ist toll» und «das ist toll» und hier noch und da noch, und Francis und ich mussten beide immer mitlaufen. Wir dachten: Wenn die das jetzt gut findet, dann
1 Christoph Schlingensief und Francis Kéré in Burkina Faso (Foto: Michael Bogar) 2 +3 Bildcollagen Operndorf in Burkina Faso
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müssen wir noch mal nachdenken. Das Ganze endete in
noch Student an der TU Berlin. Die Baukosten von umgerech-
einem Desaster: Sie hat uns angegriffen und auch infrage ge-
net fünfzigtausend Euro trieb ich über Spendengelder auf.
stellt – durch Mätzchenmacherei. Danach waren Francis und
Hierzu hatte ich den Verein Schulbausteine für Gando e.V.
ich sehr im Keller. Wir haben uns über alle Massen geärgert.
gegründet. Während unserer vielen Gespräche erzählte mir
Wir nennen die Dame nur noch «Hexe». Aber sowas kann uns
Christoph vom Beuys’schen Konzept der «Sozialen Plastik».
nicht auseinanderbringen! Es ist uns klar, dass das Projekt et-
Ich erkannte, dass sich dieses Konzept mit meinen Vorge-
was Reines haben muss. Und wenn da jemand vorbeikommt
hensweisen weitgehend deckt.
und das Ganze in eine Zweckgemeinschaft überführen oder
Schlingensief: Francis ist meine Lebensversicherung bei diesem Projekt. Er «legalisiert» das Projekt, weil er erstens
in ein Raster drängen will, dann geht das gar nicht. Kéré: Das sehe ich auch so.
aus Burkina stammt und zweitens weiss, dass sich das Ganze lohnt, auch für sein Land. Ohne Francis würde ich das Projekt
Trüby: Euer Projekt hat sich von einem Opernhausprojekt
vermutlich nicht machen. Er ist ein Glückfall nicht nur für das
zu einem Operndorfprojekt weiterentwickelt. Wie kam es
Projekt, sondern auch für mich.
zu dieser Entwicklung? Schlingensief: Ich habe das Wort «Opernhaus» anfänglich
Trüby: Es ist frappierend und auch schön zu sehen, wie
bewusst gewählt, um die Leute auf das Projekt aufmerksam
gut ihr euch versteht. Trotzdem möchte ich – nur zur Un-
zu machen. Alle dachten: Aha, der Krebspatient will's noch
terhaltung – die Harmonie für einen Moment stören. Und
mal wissen und kurz vor seinem Tod noch eine gute Tat voll-
ich möchte dies tun, indem ich kurz zu einer Anekdote, zu
bringen. Schlingensief, der Irre, auf den Pfaden von Kinski
einem geschichtlichen Ereignis aushole, in dem ich eine
alias Fitzcarraldo. In der Tat sprechen wir seit einiger Zeit
gewisse Parallele zu eurer Zusammenarbeit sehe. Kurzum,
nicht mehr von einem Opernhaus, sondern von einem Opern-
ich versuche mir gerade vorzustellen, nicht mit Francis
dorf. Aber auch das wird nur ein Übergangsbegriff sein, bis
Kéré und Christoph Schlingensief zu sprechen, sondern
sich etwas spezifisch Afrikanisches findet. Wir schleppen
mit Gottfried Semper und Richard Wagner. Warum das?
keine Bayreuther nach Laongo.
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SZENARIEN DER MACHT – EIN ITALIENISCHES BÜHNENSTÜCK Über die Rolle der Architektur im populistischen Italien unter Berlusconi Aufwendige Inszenierungen von Ereignissen und die sorgsame Wahl von Orten sind im Populismus wichtige Träger der einfachen Botschaften für das Volk und die Welt. Während die Propagandamaschine des Dritten Reiches in Deutschland die offensichtliche Szenografie im Dienste der Politik weitgehend diskreditierte, knüpft Berlusconi unverfroren an die Selbstdarstellung des Faschismus an.
1– 4
Text: Florian Dreher
übrig gebliebenen Mussolini-Brigaden im Bewusstsein der
Italien erfährt seit 1994, dem Amtsantritt Silvio Berlusconis,
Gesellschaft ankommen. Unterfüttert werden all diese Re-
dem Cavaliere und seiner Mitte-rechts-Koalitionen, eine
klamationen durch aktive Beteiligungen von Regierungsmit-
anhaltende «Entfaschistisierung des Faschismus»1. Jedoch
gliedern, wie der Ministerin für Jugend, Giorgia Meloni, die
muss festgehalten werden, dass eine konsequente Aufar-
2009 öffentlich Kränze für Neofaschisten niederlegte oder der
beitung des Ventennio nero, der Ära der Mussolini-Diktatur,
Tourismusministerin Michela Brambilla, die auf Wahlveran-
selbst in der Nachkriegszeit nie stattgefunden hat.
staltungen ihren Arm zum «Römischen Gruss» gen Himmel
Mag diese Grund- und Verweigerungshaltung den Nähr-
streckt. Selbst die Duce-Verehrung erfreut sich seit Jahren
boden für das Wiederaufkeimen faschistischen Irrglaubens
wieder höchster Beliebtheit. Neben beliebten «I Mussolini-
bereitet haben, geht es heute vor allem um die Meinungs-
Apps» fürs Telefonino, einem Taschenführer to go, werden
und Deutungshoheit politischer Bilder und Orte – Szenarien
die Ducerufe, mit denen sich Berlusconi auch von seinen
der Macht. Die Bilder der Vergangenheit werden wiederbe-
Parteianhängern hochfeiern lässt, immer lauter. Grund für
lebt und nachgestellt, in ihrem Inhalt entkernt und neu co-
die ansteigende Faszination des Duce, nicht nur der Apps
diert. Dabei, aus Gründen der Legitimation und ihrer Rück-
wegen, sei die Neugier, wie diese Person es geschafft habe,
verankerung in der Gesellschaft, spielt der öffentliche Raum
ein Volk zusammenzuhalten und Italien an den Fortschritt
als Bühne eine entscheidende Rolle. Bild und Raum sind we-
anzubinden. Bei der historischen Rekonstruktion ginge man
sentlicher Bestandteil dieser Handlung.
eben nicht nur die traditionellen Wege, so Michele Pigliucci
Für die rechte Szene in Italien ist der öffentliche Raum Wiederentdeckung und Laboratorium zugleich. Ihre Aktio-
archithese 4.2010
Im italienischen Fussball, unter anderem bei AS und ins-
nen werden geduldet und wahrgenommen. Um sich dauer-
besondere Lazio Rom, gehört der Rechtsextremismus zur
haft im kollektiven Gedächtnis einzunisten, wird der Helden-
etablierten Fankultur. Mit eigenem Merchandising- und De-
kult und Märtyrertod, also die Erinnerungskultur, gefordert
votionalienhandel zeigt sich der Duce-Warenkatalog äusserst
wie bespielt.
konsumfreudig und absatzstark – ein wahrer Kassenknüller.
Jugendverbände, wie die zum rechten Spektrum zuzuord-
92
von Azione Giovani im Interview mit Kulturzeit.
Spieler wie Cannavaro, Buffon oder Di Canio brüsten sich,
nende Berlusconi-Bewegung Azione Giovani in Rom, verlan-
mit Begeisterung für den grossen italienischen Führer zu
gen öffentlich für ihre im «Kampf gefallenen Kameraden» die
schwärmen, kunstfreudige Sammler von Duce-Büsten zu sein
Umbenennung von Strassenzügen. Letztlich ist das bereits
oder ihre Überzeugung mit einem Dux-Tattoo (lat. Führer)
gang und gäbe, selbst wenn der vorherige Namensträger
zur Schau zu stellen. Der Rechtsextremismus wird zum sa-
aus den Kreisen der Resistenza, des faschistischen Wider-
kralen beziehungsweise göttlichen Moment erhoben, wenn
standes kam. Die Grabenkämpfe zwischen Links und Rechts,
Mannschaft und Publikum im gefassten Raum des Stadions
den Veteranen der Resistenza und den Sympathisanten der
unter der speziellen Dramaturgie und Atmosphäre mitein-
letzten Mussolini-Regierung von Salò, werden immer noch
ander verschmolzen und zu einem Volkskörper geschmiedet
offen ausgetragen. Als ebenso gute Patrioten sollen die
werden.
5
7
uns, dass unter Mussolini ein gewaltiges Bauprogramm in Italien vonstatten ging. Bis in die letzten Winkel des Landes sollte durch den Bau von Infrastrukturen und vor allem Erinnerungsstätten die Herrlichkeit und Macht der Diktatur demonstriert werden. Die Bauten der Macht sollten Präsenz zeigen, und Mussolini wusste nur zu gut die Suggestivkraft der Architektur zu nutzen. Die Architekten zeigten sich kooperativ. Beide Hauptströmungen in der Architektur, die Architettura razionale und die Scuola Romana mit den Protagonisten Guiseppe Terragni und Marcello Piacentini, ohnehin vehement überzeugte Faschisten, gingen mit dem Regime 6
einen «Faustischen Pakt» ein. Hierbei durfte Piacentini die glücklichere Hand gehabt haben, denn er stieg wie später
Die Rolle der Architektur
Speer unter Hitler zum «Reichsarchitekten» (architetto del
Politik und Architektur gingen seit jeher ein symbiotisches
regime) auf. Dennoch baute er in der Nachkriegszeit unge-
Verhältnis miteinander ein. Kein Medium ist prädestinierter,
hindert weiter. Terragni hingegen opferte sich für seinen
die Klaviatur des Symbolischen zu bespielen und als Bedeu-
Duce in den Vierzigerjahren an der Ostfront.
tungsträger zu fungieren. Seit den Neunzigerjahren gilt die
Neben Sabaudia, dem Mussolini-Forum oder den südlich
Architektur, so Michael Mönninger, als kulturelles Leitme-
von Rom gelegenen Agrarstädten auf dem trockengelegten
dium in unserer Mediendemokratie. Allerdings sind es nicht
Agro Pontino, zählt das heutige EUR-Gelände (Esposizione
die Ikonen der Stararchitekten wie Zaha Hadid mit ihrem Mu-
Universale di Roma oder Quartiere XXXII. Europa) zu den
seo Nazionale delle Arti del XXI Secolo (MAXXI) oder Richard
bedeutendsten in Stein manifestierten Überlieferungen des
Meiers Ara-Pacis-Schutzbau in Rom, die der Medienjongleur
Ventennio nero. Ursprünglich als Weltausstellungsgelände
Berlusconi für seine Staatsreklame rekrutiert. Gehen von den
E 42 (Esposizione Universale 1942) nach den Veranstaltungs-
neueren Architekturikonen möglicherweise die falschen Sig-
stätten Paris (1937) und New York (1939) auserkoren, tritt hier
nale aus, jetzt, da sich in Zeiten der Krise erste Ermüdungs-
das fatalistische Verhältnis von Repräsentationsarchitektur
erscheinungen beim Ikonenkult abzeichnen? (Kramer, NZZ,
und politischer Propaganda am Deutlichsten hervor. Eigent-
19.04.2010). Diesem Gedanken folgend, strahlen sie den Ma-
lich sollte Rom 1941, gemäss zweijährigem Turnus, Austra-
kel einer Modeerscheinung mit dem Label des Vergänglichen
gungsort der Weltausstellung werden, doch das Regime sah
aus und sind mit dem politischen Ewigkeitsanspruch somit
in der Grossveranstaltung die Möglichkeit, den Faschismus
nicht kompatibel.
1 I Mussolini-App mit Bildern und Reden fürs iPhone 2 Filmstill aus dem Werbespot zum Berlusconi-Wahlkampf 2008 mit dem Lied Meno male che Silvio c’è 3 – 4 Filmstills aus dem Werbespot der Jugendorganisation der Alleanza Nationale Azione Giovani – Monumento Vittorio Emanuele II (3), Aufzug vor dem Siegesdenkmal in Bozen von Piacentini (4). 5 Genio dello Sport, eigentlich Genio del Fascismo, mit übergestülptem Boxhandschuh von Italo Griselli am Palazzo degli Uffici, EUR, Rom 6 Tattoo eines radikalen LazioRom-Fussballfans mit dem Colosseo quadrato (Palazzo della Civiltà Italiana) 7 Ansicht des Colosseo quadrato von Guerrini, La Padula und Romano (Fotos 7+11: Florian Dreher)
und seinen Machtanspruch Hand in Hand mit dem techni-
Die historischen Bauzeugnisse der Mussolini-Diktatur
schen Fortschritt zu präsentieren. So wurde aus Propagan-
sind, mangels Kriegszerstörungen, weitgehend erhalten ge-
dazielen die Eröffnung der Weltausstellung um ein Jahr auf
blieben und erfahren im Rahmen der Wiederaufwertung des
das zwanzigjährige Jubiläum des «Marsches auf Rom» ver-
Faschismus ihre kosmetische Revitalisierung. Erinnern wir
schoben. Bereits 1932 hatte Mussolini mit einer gewaltigen
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DRAMATURGIE DES ERWEITERTEN LAUFSTEGS Die Modeinszenierungen von Alexander McQueen Wenn Mode den Laufsteg verlässt, wird sie banal, heisst es in der Modewelt. Dass aber der Laufsteg selbst in Verruf gerät, ist neu. Gerade junge Modedesigner experimentieren mit neuen Showkonzepten, welche den Catwalk infrage stellen und die Mode den Menschen näherbringt. Vorreiter war der jüngst verstorbene englische Modedesigner Lee Alexander McQueen mit seinen pompösen wie hoch ästhetischen Inszenierungen.
1
sellschaftskritischen Grundhaltung zwar provokant und unangepasst, zugleich aber von absoluter Professionalität und Perfektion geprägt waren.
Provokation und Perfektion Im vermeintlichen Widerspruch zwischen Schockieren und Perfektion steckte der eigentliche Kern Alexander McQueens künstlerischer Integrität. Seine Kollektionen sprachen Urängste der Menschen an und verschmolzen immer wieder kontrastierende Themen wie Mensch und Maschine, Text: Steffen Hägele
Erotik und Brutalität, Vulgäres und Ästhetisches, oder, wie
Unsicher betrachten die Zuschauer den gläsernen Bühnenku-
eingangs beschrieben, Krankheit und Voyeurismus. Dabei
bus, auf welchem sich ihre reflektierten Blicke treffen. Des-
dienen Quellen wie Hitchcocks The birds oder Joel-Peter Wit-
sen Inneres multipliziert sich an den verspiegelten Seiten in
kins schaurige Fotografien als Inspiration und werden teils
ein schizophrenes Raumkontinuum. Begleitet von düsterer
grotesk übertrieben, teils ästhetisiert.
Musik betreten aufwendig gekleidete Frauen dieses voyeu-
Diese Dialektik fand sich wiederum in der Verarbeitung und
ristische Spiegelkabinett. Mal zögerlich, mal zielstrebig wan-
Detaillierung der Kleider wieder. Mal überlagerte Alexander
deln sie umher, brechen in hysterisches Lachen aus, drehen
McQueen CAD-generierte Laserdrucke mit traditioneller Sti-
sich lasziv im Kreis – bis in einem Moment der Stille ein im
ckerei, mal schuf er Strukturen und Volumen durch Raffung
Raum stehender Kasten aufbricht, um eine opulente Nackte
unterschiedlichster Materialien. Immer wurden alte Techni-
mit Gasmaske sowie einen flatternden Insektenschwarm zu
ken mit neuen Elementen konfrontiert. Gleichzeitig wurde
entblössen.
der künstlerische Anspruch Grenzen zu verschieben in sehr
Wider Erwarten ist dies keine Beschreibung einer zeitge-
korrekter Schnittführung und durch klassisches Handwerk
nössischen Theaterinszenierung, sondern von der Moden-
umgesetzt. Dies kam nicht von ungefähr – Alexander Mc-
schau Voss, die Alexander McQueen im Jahr 2001 in Paris
Queen absolvierte vor seinem Modestudium am Central Saint
präsentierte. Seine provokanten Modenschauen lebten von der ganz-
Martins College eine Ausbildung bei renommierten Schneidern aus der legendären Savile Row in London.
heitlichen Theatralik einer hyperästhetisierten Welt, in wel-
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archithese 4.2010
che die eigentliche Mode eingebettet war. Dieser Anspruch
The McQueen Culture
steht im Kontrast zur klassischen Catwalk-Choreografie, bei
Alexander McQueens Modenschauen waren kein Beiwerk
der die Models nacheinander den Laufsteg entlangschrei-
zur Kollektion; sie ergänzten die detaillierte Verarbeitung
ten. Auch andere Designer haben ihre Mode durchaus mit
der Kleidung und erhöhten so die Komplexität der Kollektion.
aufwendigen Inszenierungen präsentiert – doch blieben
Oft sprach die Presse von «The McQueen Culture» – es ging
Alexander McQueens Shows einzigartig, da sie in ihrer ge-
um mehr als Kleidung. Im Entwurfsprozess war von Beginn
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an nicht nur die Modelinie wichtig, sondern die gesamte modische Inszenierung, in der Bühnenbild, Film, Animation und Musik das Thema der Kollektion vertieften. Hierfür griff Alexander McQueen auf verschiedene Akteure zurück, die
1 Sommerkollektion 1999: Shalom Harlow im Tanz mit zwei Roboterarmen (© Alexander McQueen)
eine ähnliche Perfektion und Innovationskraft ausstrahlten und gleichzeitig eine Massentauglichkeit der Inszenierung anstrebten. So brachten beispielsweise der Produktionsdesigner Joseph Bennett, die Produktionsfirma Gainsbury & Whiting oder der Bühnenbildbauer Souvenir Scenic Studios
2 Sommerkollektion 1999: Farbpistolen vollenden das Kleid auf der Bühne (© Alexander McQueen)
Einflüsse aus der Theater-, Film- und Popwelt mit ein. Dadurch ergänzten die Präsentationstechniken der Bühnengestaltung die eigentliche Mode in der Gesamtkomposition der Shows: Filmsequenzen als Intro, Hologrammeinspielungen, Roboterarme, welche die Models umspielen, oder Projektionen auf Nebelschwaden. Zum wichtigsten Kollaborationspartner wurde in den letzten Jahren der ehemalige Vogue-Fotograf Nick Knight, der, lange bevor Fashionblogs die Modewelt beeinflussten, im Jahr 1999 die Internetplattform www.SHOWstudio.com gründete. Hier setzte er die Erkenntnis um, dass Mode kein starres Medium ist, sondern Bewegung einen essenziellen Bestandteil von ihr darstellt und folglich nicht durch die übliche frontale Fotografie transportiert werden kann. Mit SHOWstudio hatte er die Möglichkeit, dank Filmclips, Interviews und Reportagen,
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