archithese 5.05 - Schönheit / Qu'est-ce que la beauté?

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archithese Was ist Schönheit? – Qu’est-ce que la beauté?

Teppiche von TISCA TIARA Internationaler Seegerichtshof Hamburg Architekt: E. Freiin v. Branca Fotograf: Oliver Heissner

5.2005

Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur

Wiederkehr der Schönheit?

Revue thématique d’architecture

Die Zukunft des Schönen Interview mit Helmut Federle Städtevideos von Annelies Sˇ trba Reality-Shows perfektionieren den Menschen Ästhetisches Werturteil von Architekten und Laien Die architektonische Ästhetik des Neo-Liberalismus Bauten und Projekte: Sanaksenaho Architects, Diener & Diener, Gerold Wiederin, smarch Daniele Marques Haus am Vierwaldstättersee sauerbruch hutton Umweltbundesamt, Dessau

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September/Oktober archithese 5.2005

CONCEPTA SG

Preis: 28 CHF / 18 Euro

Was ist Schönheit? Qu’est-ce que la beauté?

mit


EDITORIAL

Was ist Schönheit? Ein seltsames Phänomen: Heutzutage gilt es in Fachkreisen als nachgerade degoutant, von «schöner Architektur» zu sprechen. Architekten und Kritiker sind sich einig darüber, dass Räume spannungsvoll oder interessant sind, kaum jemand aber nähme das Adjektiv schön in den Mund. Eine Kategorie, die als venustas über Jahrzehnte den architekonischen Diskurs geprägt hat, ist marginalisiert, wenn nicht tabuisiert. Ohne Zweifel ist dieses Phänomen ein Resultat fachinterner Diskurse, welche die Bestimmungen und Funktionszuweisungen von Architektur grundlegend verändert haben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann sich die architektonische Moderne in Abkehr vom Eklektizismus zu formieren. Und das bedeutete auch: in Abkehr von der bisherigen, von der Beaux-Arts-Tradition bestimmten Ausbildung. Die Universitäten, die nun zu den wichtigen Ausbildungsstätten avancierten, waren technisch ausgerichtet, und die Debatte um die Schönheit wich anderen Fragen – etwa der, wie Architektur auf die Anforderungen der Gesellschaft zu reagieren habe. Nicht, dass die Frage nach dem Schönen nicht weiterhin für den Entwurfsprozess von Bedeutung gewesen wäre – nur diskutiert wurde sie kaum. Schönheit war als Luxusphänomen verdächtig. Erst der Postmoderne gelang es, das alte Thema erneut aufzugreifen – wenn auch nunmehr ironisch gebrochen. Nachhaltig geändert aber hat sich nichts. Schönheit in der Architektur ist weiterhin ein Tabu. Ausgangspunkt für dieses Heft bildete die Erkenntnis, dass sich das, was für den Sektor Architektur zutrifft, in anderen Bereichen deutlich anders darstellt. Gerade in der Populärkultur ist die Suche nach dem Schönen derzeit virulent: Sendungen wie The Swan basieren auf der nicht in Frage gestellten Übereinkunft, dass ein breit akzeptiertes Schönheitsideal existiert. Webpages, bei denen Besucher die Fotos anderer Menschen bewerten, zeugen von dem fast manischen Wunsch, durch Zusicherung von Schönheit das Ego zu stabilisieren. Und, fragt man das breite Publikum, so besteht – wie Jörg Seifert schreibt – durchaus eine Vorstellung davon, was schöne Architektur sei, auch wenn das der Fachöffentlichkeit meist nicht gefällt. Wahrscheinlich ist es in der Kunst leichter, über Ästhetik zu sprechen, und so werden mit Annelies S˘ trba, Adrian Schiess und Helmut Federle in diesem Heft drei Künstler präsentiert, die sich in ihren Œuvres seit langem mit Schönheit auseinander setzen. Vor allem aber wird eines in den Farbflächen von Schiess und den Städtevideos von S˘ trba deutlich: dass Schönheit seit jeher mit Ambivalenz verbunden ist und bedrohlich werden kann. Die Kategorie des Erhabenen erhält hier neuerliche Aktualität. Die beiden Sakralbauten, die wir vorstellen, zeigen, wie unterschiedlich Schönheit bei einer identischen Bauaufgabe verstanden werden kann. Und wie unterschiedlich Schönheit im zeitgenössischen kulturphilosophischen Diskurs verortet wird, dokumentieren die beiden theoretischen Beiträge von Wolfgang Welsch und Beat Wyss, die das Gerüst dieses Heftes bilden. Dazu tritt der abschliessende Essay von Friedrich von Borries und Matthias Böttger mit dem Postulat eines Begriffs, den die Autoren Peter Weiss entlehnt haben: einer nötigen «Ästhetik des Widerstands», auch für die Architektur.

Redaktion

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archithese 5.2005

Miss Germany, reales Bild Das entsprechend durchschnittlichen Schönheitsnormen idealisierte Bild findet sich auf S. 4



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VEREDLUNG UND VERWANDLUNG Diener & Diener Architekten, Helmut Federle und Gerold Wiederin: Forum 3, Basel Das erste Bauwerk des neuen

Novartis Campus ist diesen Sommer eingeweiht worden. Die Fassade – unterschiedlich intensiv getönte, verschieden farbige Gläser, die in drei Schichten angeordnet sind und sich zum Teil überlagern – erhält durch ihr farbiges Leuchten eine erhabene, fast sakrale Qualität.

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archithese 5.2005


1 Ansicht Nordfassade

ments in der Kunst – vor dem sich gerade die Autoren des

2 Ansicht Nordosten

Helmut Federle, eigentlich eher scheuen – wurde ausgiebig

Werkes, das Basler Büro Diener & Diener und der Künstler

gehuldigt. «Das Haus als Bild» betitelte die NZZ ihren Artikel zur offiziellen Einweihung. Tatsächlich bestimmt das künstlerische Konzept der Fassade, eine Überlagerung von Glasscheiben unterschiedlicher Grössen und Farben, die Helmut Federle mit dem Architekten Gerold Wiederin entwickelt hat, massgeblich den Ausdruck des Gebäudes, in welchem die Abteilungen Development und Technical Operation demnächst ihren Sitz haben werden. Ohne bestimmte kompositorische Prinzipien wurden handelsübliche Gläser in drei Schichten auf einer Konstruktion aus Zugstangen vor den etwa zwei Meter tiefen Loggien verteilt. Sie sind sowohl vertikal als auch horizontal ausgerichtet und überlagern sich zum Teil. Der Farbton und die Farbintensität der Gläser wechseln je nach der Nutzung der dahinter befindlichen Räume. Vor den Zonen mit den Arbeitsplätzen sind eher getönte oder klare Gläser angeordnet, in den Nebenraumzonen Gläser mit kräftigeren Farben. Die Darstellung der Fassade im Katalog zur Ausstellung zeigt in schwarz-weissen Grafiken die jeweiligen «Zustände»: «Alle Gläser Südfassade», «Alle Leerräume und Klarglasbrüstungen», «Alle intensiv farbigen Gläser» erscheinen wie Deklinationen der Black Series, die der Künstler in verschiedenen Reihen über die Jahre entwickelte. Die Fassade begreift sich als Form von verschiedenen geschichteten und doch verknüpften Bildern. Jeder Versuch, das Konstruktionsprinzip zu entschlüsseln, scheitert. Keine mathematisch erfassbare, rationale Ordnung trägt die Struktur; die Fassade ist keine abstrakte Komposition farbiger Flächen in der Tradition der Malerei der Zwanzigerjahre. Das Material selbst trägt zur Mehrdeutigkeit des Werkes bei: Die Filterung und Spiegelung des Glases generiert ein ständig wechselndes Erscheinungsbild. Die Fassade wird zu einer Trenn2

schicht, die durch ihre Filterung Inneres und Äusseres verwandelt und dabei selbst verwandelt wird. Sie spiegelt sich selbst und ihre Umgebung. Die Umkleidung des Volumens ist porös. Die Struktur des gläsernen Vorhanges ist durch Leerstellen und die weiten Abstände der Schichten zueinander sehr offen und wirkt auf dem prägnanten Gestänge eher wie eine nachträgliche Applikation. Die Glasplatten bilden in ih-

Text: Christiane Gabler

rer Feinheit und Immaterialität ein eher fragiles Gebilde.

Für die Eröffnung des Forum 3 auf dem Gelände des Pharma-

Höchstens in der Fernsicht ergibt sich so noch das Bild, wel-

konzerns Novartis – im linksrheinischen Quartier St. Johann

ches die Animation suggerierte – die grünlich schimmernde,

in Basel gelegen – wurden diesen Sommer alle Register der

kompakte Box mit farbigen Akzenten. Ausschliesslich in der

modernen Vermarktung von Architektur und Kunst gezogen.

Flächenprojektion entwickelt sich die gewünschte Wirkung,

Eine parallel laufende Ausstellung im Architekturmuseum

also doch das Haus als Bild?

Basel feierte die Fertigstellung des ersten Bauwerks auf der Grundlage des Masterplans, den Vittorio Magnago Lampug-

Erhabenes Leuchten

nani 2002 für den Novartis Campus entwickelt hatte. Auch

Farbiges Glas als Baustoff ist ein Thema, das sich immer wie-

das Buch zum Haus ist bereits erschienen, und sogar die Bas-

der in Projekten wiederholt, welche Helmut Federle gemein-

ler Bevölkerung durfte an einem Tag das Gebäude besichti-

sam mit Architekten bearbeitet. Inwieweit es sich um Archi-

gen, allerdings nur nach Voranmeldung. Ansonsten bleibt

tektur handelt oder doch möglicherweise um Skulptur und

das Firmengelände von Novartis auch mittelfristig unzu-

Kunst, wird gern diskutiert; etwa in Bezug auf die Nacht-

gänglich. Dem derzeit weit verbreiteten Geist des Entertain-

wallfahrtskapelle Locherboden, das Erstlingswerk von Ge-

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GLÜCKSGEFÜHLE DER SCHÖNHEIT Helmut Federle im Gespräch mit Hubertus Adam

HA : Wie man hier in deinem Wiener Atelier sieht, hast

den Begriff der Schönheit zu fassen. Je mehr Wollen, je mehr

du – als Sammler – eine Neigung zur angewandten

Absicht bei der künstlerischen Arbeit bestimmend ist, desto

Kunst. Zum Beispiel zu ostasiatischer Keramik. Was fas-

schwieriger wird es, an diese Qualität heranzukommen.

ziniert dich daran?

Im Grunde besteht keine gesellschaftliche Kondition mehr,

HF : Das hat mit dem Begriff der Schönheit zu tun. Im Westen

uns mit dem Begriff der Demut überhaupt zu identifizieren,

herrscht die Vorstellung, die Schönheit könne absolut er-

speziell im Westen. Seit der Moderne wurde die ästhetische

reicht oder erschaffen werden, auf Grund der Umsetzung

Konzeption sehr stark über den Kopf gesteuert und unterlag

eines intellektuellen Konzepts. Schönheit in Asien beruht

immer einem analytischen Vorwärtsschreiten. Auf Grund

dagegen auf Demut und Achtung. Die Menschen in Asien

dessen haben wir vergessen, dass es einen Wert der Schön-

hören besser in die Dinge hinein, sie lassen den Zufall – oder

heit gibt, der unabhängig davon ist, was wir selbst dazu bei-

das Schicksal – Anteil nehmen am Begriff des Schönen. Dabei

tragen. Wir müssen den Begriff der Schönheit losgelöst von

gibt es in Japan auch eine Vorstellung von der Schönheit des

unserem Wollen verstehen. Aber wir leben in einer Kultur des

Unperfekten. Der Becher hier beispielsweise war beschädigt

Wollens.

und wurde mit Gold repariert. Das zeigt: Das Kaputte kann noch viel schöner sein als das Ganze.

Demut ist ein Begriff, der vor allem im Bereich des Religiösen Verwendung findet. Wie verhält es sich mit

Was bedeutet Demut im Bereich der Kunst für dich?

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archithese 5.2004

Schönheit und Spiritualität?

Demut war über lange Zeit von zentraler Bedeutung. Auch im

Ich verbinde den Begriff Schönheit mit existenziellen Kom-

Kulturbegriff am Anfang der Moderne gab es die Demuts-

ponenten. Für mich ist er ganz klar gekoppelt mit dem Begriff

qualität in starkem Masse, etwa bei Mondrian oder Kan-

des Todes. Auch andere Erregungsmomente sind Impulsge-

dinsky. Ohne den Demutsbegriff ist es ziemlich schwierig,

ber, um Schönheit zu sehen. So gibt es Schönheit in der Ver-


zweiflung, Schönheit in der Tragik. Aber es gibt keine Schön-

haber von Autos: das ist profane Schönheit. Bei Maserati

heit in der Überheblichkeit, der Selbstgefälligkeit, in einer

oder Ferrari kann ich entscheiden, was mir besser gefällt.

fordernden, offensiven Haltung.

Hingegen bei der Beurteilung von Schönheit im höheren Sinn – Regen, Blumen, Steine – habe ich dazu nichts beizu-

Ist Schönheit relativ oder absolut?

tragen. Ich kann keine Vergleiche ziehen. Ich kann nicht sa-

Schönheit ist relativ, denn für mich ist Schönheit gebunden an

gen, dass der Regen in Norwegen schöner ist als der auf Bali.

Glauben. Das meine ich nicht religiös, sondern als Glauben

Der Regen ist der Regen. In der Kunst- und Architekturge-

generell. Schönheit ist für mich nicht ein Kommunikations-

schichte sind wir wiederum eher bei der profanen Schönheit,

mittel, sondern eine Erfüllungsqualität in meinem Seinszu-

die wir vergleichend interpretieren. Wenn mir beispielsweise

stand. Wenn ich Schönheit begegne, erfahre ich so etwas wie

Rothko besser gefällt als Max Bill.

Glücksgefühle, die aber wieder von anderen Emotionen abgelöst werden. Man kann nicht in einem hundertprozentigen

Urteile über profane Schönheit lassen sich nicht verallgemeinern. Es gibt letztlich keine Objektivierungen.

Schönheitsideal leben.

Damit könnte ich leben. Nicht leben kann ich aber mit der Tat-

Aber das, was schön ist, unterliegt doch auch der kultu-

sache, dass wir keine verbindliche Schönheit mehr besitzen

rellen Prägung . . .

– ausserhalb derjenigen, die wir selbst definieren. Natur zum

Gewiss definiert der Grundkonsens einer Kultur, was wir ge-

Beispiel: Ich kann nicht verstehen, dass sich Leute vom Vo-

meinhin unter Schönheit verstehen können. Mein Schön-

gelgezwitscher gestört fühlen.

heitsbegriff ist unabhängig von dem der breiten Masse. Für

Traditionen unterliegen immer der Veränderung. Es sind

mich ist es kontraproduktiv, was die Masse als Schönheit

Adpationen der Vergangenheit an die Gegenwart. Damit

empfindet.

habe ich kein Problem. Ich habe nur ein Problem mit der ab-

Mich interessiert insbesondere der völlig andere Umgang

soluten Enttabuisierung und Überheblichkeit.

damit in Asien. Asiatische Höflichkeit auf der einen, asiatische Brutalität auf der anderen Seite. Das ist etwas anderes

Du hast eben das Thema des Todes angeschnitten. In

als unsere amerikanisierte Form von Höflichkeit und Bruta-

der Tat scheint es mir bei vielen deiner Arbeiten der Fall

lität. Erregungsbefindlichkeiten definieren, was wir als

zu sein, dass sie von den letzten Dingen handeln. Der

schön empfinden. Ich habe eine grosse Faszination für

Tod ist deren absolutestes.

Kampfsport, vom Boxen bis hin zu den harten asiatischen

Schönheit, wie ich sie verstehe, ist gekoppelt mit dem Tod

Kampfsportarten.

und mit Phänomenen, die uns zutiefst beunruhigen. Für mich

Schönheit kann ich in vielem empfinden: beim Regen, in

ist der wesentliche Antrieb für künstlerische Betätigung die

der Sonne, angesichts von anonymer Architektur. Ich reise

Auseinandersetzung mit dem Sein, die Suche nach der Sinn-

viel auf der Welt, und überall sehe ich Gebäude, die keinen

haftigkeit. Ich öffne mich Erregungsmomenten gegenüber:

Autoren kennen. Und trotzdem sind sie schön: irgendeine

Es hat viel mit dem Staunen über das Sein zu tun. Das ist ein

Hütte, ein Unterstand. Es gibt sicher auch das profane

anderer Zugang als der des Schöpfungsgedankens aus intel-

Schöne. Nehmen wir die Automobilindustrie. Ich bin ein Lieb-

lektueller Vernunft. Ich glaube, es ist nötig, unsere überintel-

1 Seto-Ware Muromachi-Periode, Japan, 14.–16.Jhdt. (Sämtliche Abbildungen zeigen Objekte aus der Sammlung Federle)

2 Anthroposophische Vase, Kupfer gehämmert (W. Heydebrand, Dornach 1951)

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smarch: Neuapostolische Kirche Solothurn-Zuchwil, 2002–2005 Wie das Frühchristentum lehrt, bedarf es aus liturgischen Gründen keiner aufwändigen Räume. Doch als Orte der Transsubstantiation und Transzendenz verweisen Kirchen gemeinhin auf die Schönheit einer höheren Ordnung. Auch für heutige Architekten ist der sakrale Raum eine Bauaufgabe, welche die Frage nach dem Ästhetischen aufwirft.

1

nur wenige neue Kirchen. Zum Teil handelt es sich dabei um Ersatzbauten – Peter Zumthors Meisterwerk Sogn Benedetg in Sumvitg (1988) trat ebenso wie Mario Bottas Kapelle von

SPRÖDE ELEGANZ

Mogno (1996) an die Stelle durch Lawinenabgänge zerstörter Vorgängerbauten. Zum Teil sind es aber auch Bauten, die in einer neuen überkonfessionellen Spiritualität wurzeln. Dazu zählen die kleine, an ein archaisch-reduziertes Haus anmu-

Text: Ahmed Sarbutu

tende Kapelle, die Christian Kerez 1993 in Oberrealta im

In einer Zeit, in der die Kirchen Mitteleuropas unter dem Pro-

Domleschg errichtete, aber auch der «Ort der Besinnung»

blem schrumpfender Gemeinden leiden, ist der Sakralbau für

(1998) von Guignard & Saner an der Gotthard-Autobahn. Im

Architekten zu einer raren Bauaufgabe geworden – diskutiert

weiteren Sinne mag man zu dieser Gruppe auch Mario Bottas

wird in besonders betroffenen Regionen, beispielsweise dem

katholische Kapelle auf dem Monte Tamaro rechnen, mit der

Osten Deutschlands, nicht der Bau neuer, sondern die Profa-

vor allem die Erhabenheit der Bergwelt inszeniert wird.

niesierung oder Umnutzung bestehender Kirchengebäude. In der Schweiz erlebte der Sakralbau in den Sechziger-

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archithese 5.2005

Bergendes Gefäss

jahren im Zuge sich ausbreitender Siedlungsgebiete mit

Einer der bemerkenswertesten sakralen Neubauten der ver-

wegweisenden Bauten von Walter M. Förderer, Franz Füegg,

gangenen Jahre ist nun in Zuchwil bei Solothurn fertig ge-

Ernst Gisel oder Ernst Studer eine neuerliche Blütezeit –

stellt worden. Auftraggeberin ist die Neuapostolische Kirche,

nachdem Architekten wie Karl Moser das erste und Fritz

die seit 1895 auch in der Schweiz ansässig ist, inzwischen als

Metzger das zweite Drittel des 20.Jahrhunderts geprägt hat-

grösste freikirchliche Gemeinschaft der Schweiz gilt und

ten. In den vergangenen beiden Jahrzehnten indes entstanden

derzeit mit mehreren Bauvorhaben befasst ist – schon vor


1 Eingangsfront (Fotos: Thomas Jantscher) 2 Gesamtansicht

2

zwei Jahren konnte ein von dem Zürcher Architekturbüro

die Nachbargemeinde Zuchwil, und genau an dieser Stelle ist

Dürig + Rämi entworfener Kirchenneubau in Bülach einge-

die neue Kirche entstanden. Die Gegend erweist sich als

weiht werden.

disparat, alles andere als attraktiv: Gleis und Strasse, Gewer-

Zwar existierte in Zuchwil ein Kirchengebäude, doch die-

beflächen, vorstädtische Wohnbauten – eine Situation, die

ses war räumlich und architektonisch unbefriedigend. So ent-

keinerlei Inspiration vermittelt. Und so suchten Beat Mathys

schied sich die Neuapostolische Kirche zu einem Neubau –

und Ursula Stücheli auch nicht krampfhaft nach Kontextua-

und schrieb Anfang 2002 einen Wettbewerb aus. Als privat-

lität, sondern entwarfen eine markante, bildhafte Form aus

rechtliche Organisation sei man zu einem architekonischen

Beton. Das parallel zur Strasse über einer Geländesenke er-

Wettbewerb nicht verpflichtet gewesen, erklärt Daniel

richtete Volumen wirkt skulptural und lässt vielfache Asso-

Schrepfer, Leiter der Immobilienabteilung. Weil eine Kirche

ziationen zu – als Wal oder Fisch verstehen manche Passan-

aber ein öffentliches Gebäude sei und die Neuapostolische

ten die Kirche. Der Ausgangspunkt der Architekten war ein

Kirche eine kulturelle Verpflichtung empfinde, habe man sich

anderer: «Hand in Hand» hiess das Projekt, mit dem smarch

für eine Konkurrenz entschieden. Prämiert und zur Ausfüh-

im Herbst 2002 den Wettbewerb gewann, und die ersten

rung bestimmt wurde schliesslich der ungewöhnlichste und

Entwürfe von Beat Mathys zeigen zwei in bergender und

zugleich spannendste Entwurf: der des Berner Büros smarch

schützender Geste zusammengeführte Hände. Dieser Grund-

von Beat Mathys und Ursula Stücheli.

gedanke wurde in eine Betonstruktur übersetzt. Die auskra-

Vom Bahnhof Solothurn aus sind es nur wenige Schritte zu

gende Plattform des Kirchensaals schwingt hinter dem Altar

dem ungewöhnlichen Bauwerk. Allerdings wählt man nicht

in die indirekt von oben beleuchtete Rückwand ein – eine

den zur Innenstadt führenden Nordausgang der Unterfüh-

Bewegung, die von der geschwungenen Decke aufgegriffen

rung, sondern den auf der Südseite, und geht dann Richtung

wird. Zum Eingangsbereich im Osten hin senkt sich die

Osten. Mit dem Gleis der Regionalbahn nach Bern beginnt

Decke: Die nach hinten ansteigende Ebene der Sitzreihen,

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1

NICHT EINFACH NUR EIN FISCH Sanaksenaho Architects: St. Henry’s Ecumenical Art Chapel, Turku, 1995–2005 Zwischen Wettbewerb und Fertigstellung der Kapelle lagen zehn Jahre. Nun wurde «Ichthys» – der Fisch eingeweiht und bietet seither Raum für Gottesdienste, Konzerte und Kunst. Man fühlt sich an Formen aus der Natur erinnert, welche für die Architekten mit dem Begriff der Schönheit verbunden sind.

Text: Tarja Nurmi

ebenso der durch die Einweihung der Kapelle entstandene

Die finnische Insel Hirvensalo liegt südlich der Stadt Turku, ei-

Medienrummel. Das Museum für Finnische Architektur hatte

ner der bis ins frühe 19. Jahrhundert wichtigsten Städte Finn-

gerade seine ursprünglich für die Biennale in Venedig konzi-

lands. Seit Anfang diesen Jahres kann man dort eine neue Ka-

pierte Ausstellung über das Bauen mit Holz um die St. Henry’s

pelle mit dem Namen «Ichthys» – der Fisch besichtigen.

Ecumenical Art Chapel erweitert.

Dem Entwurf der Architekten Matti und Pirjo Sanaksenaho

Der Name der Kapelle, «Ichthys» – der Fisch, ist das alter-

für die St. Henry’s Ecumenical Art Chapel war seiner Zeit der

tümliche Symbol der Christen. Die Form der Kapelle erinnert

erste Preis bei dem Wettbewerb für die Kirche zuerkannt wor-

daran, mit ihrer Kupferverkleidung aussen und der Holzkon-

den. Es dauerte jedoch über zehn Jahre, bis alle finanziellen

struktion im Inneren, welche Assoziationen an Fischgräten

Probleme überwunden und dieser Entwurf umgesetzt werden

hervorruft. Die Idee zu dieser Form kam Matti Sanaksenaho

konnte. Die Eröffnung fand im Mai 2005 statt.

während eines Urlaubs in Lappland. Das war vor nunmehr

Während die Kapelle sich aussen ganz in Kupfer präsen-

zehn Jahren, und der Weg von der ersten Skizze bis zur ge-

tiert, wird der Innenraum von honigfarbenem Holz dominiert.

bauten «Grossform» war zwar zäh, hat sich aber – sieht man

Dort sollen in Zukunft nicht nur Gottesdienste, sondern auch

das gebaute Ergebnis – gelohnt.

Ausstellungen und Konzerte stattfinden. Nicht zuletzt soll die

Die Kapelle wurde in Finnland ausserordentlich gut auf-

Kapelle ein Ort der Ruhe und Besinnung sein, an dem die Men-

genommen, was um so erstaunlicher ist, da die finnischen

schen zu sich selbst finden oder Beistand erhalten können.

Medien in letzter Zeit moderner Architektur eher feindselig begegneten. Wie gross die Akzeptanz gegenüber dieser

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archithese 5.2005

Über Einfachheit und Literatur

Kapelle ist, zeigt schon allein die Tatsache, dass Hochzeits-

Ich traf die Architekten Matti und Pirjo Sanaksenaho Anfang

termine an Wochenenden bis in das Jahr 2007 hinein ausge-

August in ihrem neuen Büro. Die Ferien waren vorüber,

bucht sind.


1 Ansicht von Südosten (Fotos: Jussi Tiainen) 2 Westfassade 3 Blick zum Eingang entlang der beiden Servicekörper

2

3

Im Gespräch zum Thema Schönheit in der Architektur er-

Ausserdem, so Pirjo Sanaksenaho, stehe Holz im Ver-

klärte die Arcchitektin Pirjo Sanaksenaho: «Die grundlegen-

ständnis der Finnen für Wärme, Sicherheit und Schutz; wie

den Elemente dieser Kapelle sind Licht und die Höhe des

bei einer Sauna oder einem alten Bauernhaus. Zusätzlich

Raums. Schönheit empfinden hat ebenso etwas mit Natur zu

spielten der Duft und die Akustik des Holzes eine Rolle.

tun. Wir haben uns um einen universellen Ausdruck bemüht, um etwas, das jeden berühren kann.»

Matti Sanaksenaho über die Dimensionen: «In einem Gebäude dieser Grösse ist es leicht die Dimensionen der Holz-

Die Kapelle wurde in traditionellen Materialien errichtet.

konstruktion zu erfassen. Die Kapelle ist stark auf das Hand-

Die Kiefernträger im Inneren bestehen aus Brettschichtholz,

werk ausgerichtet – vom ersten handgefertigten Modell bis

Wände und Boden sind ebenfalls in Kiefer gehalten, die Möb-

hin zum fertig gestellten Bau.

lierung wurde aus Erlenholz gefertigt. Aussen dominiert, ne-

Die Art und Weise, in der die Kapelle errichtet wurde, ist

ben Glas, der Werkstoff Kupfer, der das komplette Gebäude

am fertigen Gebäude erfahrbar. Der Rhythmus der Träger

umhüllt – auch das ein bei Kirchen in Finnland häufig zur

und der ausfüllenden Flächen sowie der Einfall des Tages-

Dachdeckung verwendetes Material.

lichts hängen ebenso mit den verwendeten Materialien wie

Matti Sanaksenaho bezieht sich auf die Literatur: «Der Gedanke war, auf unaufdringliche Weise zu kommunizieren,

auch mit der Art des Zusammenfügens der einzelnen Elemente zusammen.»

vergleichbar mit einem einfachen Gedicht. Ein paar wenige

Die Kapelle ist entlang ihrer Längsachse symmetrisch auf-

Worte können ein Erlebnis manchmal besser ausdrücken

gebaut, aber der Blick auf Grundriss und Schnitt verrät den

als ein ganzer Roman voll komplizierter Formulierungen.

gestalterischen Einfluss der Natur. «Diesbezüglich spricht

Vertrautheit kann man mit einigen wenigen, einfachen Wor-

das Gebäude das Unterbewusstsein an: Die vertikale Kon-

ten ebenso erreichen wie mit verständlichen, einfachen Ma-

struktion kann an einen Wald aus alten, rötlichen Kiefern er-

terialien.»

innern, deren Schräglage auf der Kraft des Windes beruht.»

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ARCHITEKTUR AKTUELL

Gelenkte Blicke

1

1 Blick vom Schlafzimmer am Ende des Haupttraktes in die Einganshalle und auf den Nebentrakt, in dem sich Angestelltenzimmer und ein Sitzungsraum befinden (Fotos: Ignacio Martinez) 2 Situation 3 Eingangshalle mit Aussicht auf den See – der Blick wird durch drei Glasschichten, eine private Terrasse und das Schlafzimmer am Ende des Haupttraktes wieder nach aussen gelenkt

2

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archithese 5.2005


DANIELE MARQUES: HAUS AM VIERWALD-

In den letzten Jahren hat Daniele Marques mit

STÄTTERSEE, 2003 – 2005

Bauten Aufmerksamkeit erregt, denen trotz unter-

Fein dosierte Ein- und Ausblicke, durchdachte

schiedlicher Nutzung und Typologie ein öffent-

Raumfolgen und spannende Wechsel der

licher Charakter gemeinsam ist. Die Frauenklinik

Perspektive: Die luxuriöse Villa am Vierwald-

des Kantonsspitals Luzern, der in Zusammenar-

stättersee, die Daniele Marques diesen

beit mit Morger & Degelo entstandene Messeturm

Sommer fertig gestellt hat, thematisiert

in Basel und der Werkhof in Münsterlingen ( archi-

unterschiedliche Grade der Privatheit.

these 1.2002, 3.2003 und 1.2005) sind drei solche Beispiele. Die Auseinandersetzung mit dem privaten Wohnungsbau, eine Konstante in Marques’ Werk, ist indes nicht abgebrochen. Auch beim jüngsten Bau des Luzerners handelt es sich um ein Wohnhaus – und um eine bemerkenswerte Studie zur räumlichen Definition der Privatsphäre.

Subtile Inszenierung Der Neubau befindet sich am Vierwaldstättersee in der Nähe von Luzern. Wie vielerorts in der Schweiz ist die Umgebung geprägt von einer kurvenreichen Gemeindestrasse entlang dem Seeufer, einer wunderbaren Aussicht auf die Berge und einem trostlosen Kontrast zwischen vereinzelten Einfamilienhäusern und übrig gebliebenen landwirtschaftlichen Betrieben. Das Grundstück, auf dem das Haus steht, ist attraktiv: Direkt an der Gemeindestrasse gelegen, fällt es leicht bis zum See ab, wo es abrupt in eine bewaldete Steilküste und einen lauschigen Kiesstrand übergeht. Der alte Baumbestand ist Teil einer ehemaligen Parkanlage. Auf den ersten Blick erscheint das Haus als eingeschossiges Volumen von bescheidenen Dimensionen. Der Garten ist dahinter verborgen, die abstrakte Sichtbetonfassade lässt wenig vom Innenraum erahnen: Zu sehen ist eigentlich nichts. Grösse und Form der Anlage begreift man erst von innen – und auch dort erst allmählich. Unaufdringlich, aber präzis werden das Eintreten und die Grenzen, die man dabei überschreitet, inszeniert; die unterschiedlichen Grade der Privatheit sind so fein abgestuft, die Ein- und Ausblicke so subtil dosiert, dass der Weg ins Innere zu einem Wahr3

nehmungsereignis wird. Das Haus, obwohl keineswegs labyrinthisch, vermag bis zuletzt einen Rest von Geheimnis zu bewahren. Von der Strasse aus gelangt man über ein Schiebetor auf einen Vorplatz und zu einem leicht abgesenkten, geschützten Bereich vor der Haustüre. Von hier aus erhält man durch eine grosse Festverglasung erstmals Einsicht ins Haus: Doch anstatt eines Innenraumes sieht man den See, denn der Blick wird durch die Eingangshalle wieder hinaus gelenkt. Erst in der Halle selbst wird die räumliche Organisation verständlich. Das Gebäude ist L-förmig: Orthogonal zu jenem Trakt, der parallel zur Strasse verläuft und von dort aus sichtbar 73


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