archithese 5.12 - Paris

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Paris

archithese

5.2012

Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur

49 aktuelle Bauprojekte und ein Stadtplan als Beilage

International thematic review for architecture

Stadtplanung in Paris: Île Seguin – Rives de Seine, Clichy Batignolles, Paris Rive Gauche, La Défense Seine-Arche Interviews mit: criticat, AWP + HHF, Philippe Rahm Gärtnerische Tradition und stadtplanerische Utopie Vier Projekte von Edouard François OMA: Le Dauphin Maison de verre: Living in a Glass House Französischer Kontextualismus Les Espaces d’Abraxas: Ricardo Bofill revisited Stéphane Maupin & Partners RATP Centre de Maintenance und M-Building Jakob + MacFarlane Les Docks A Walk in the Park: The London Olympics

Wasserschadentrocknung Leckortung Schimmelpilzbeseitigung Bautrocknung/-heizung Zelt-/Hallenklimatisierung Wäschetrocknung Luftentfeuchtung

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archithese 5.2012

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Paris


EDITORIAL

Paris Paris ist eine jener Städte, deren Mythos die Realität zu ersticken droht. Paris ist Louvre, Eiffelturm und Montmartre, ist Monet, Manet, Rodin, van Gogh und Picasso, ist Balzac, Flaubert und Walter Benjamin, ist Haussmann und Le Corbusier. Neben all den Gemälden, Büchern und Sehenswürdigkeiten kommen die unzähligen Fotos und Filme hinzu, welche ein bestimmtes Bild von Paris und seinen Bewohnern in die weltweite kulturelle Erinnerung einprägen. Doch gibt es ein anderes Bild? Die Ausgangssituation scheint zementiert; wenig war in den letzten Jahrzehnten von einer Architekturszene in der französischen Hauptstadt zu hören. Dennoch – zum einen gehört Paris nach wie vor zu den grossen globalen Metropolen, die sich am baulichen Kräftemessen beteiligen, zum anderen erreichten uns immer wieder die Arbeiten einzelner Architekten, welche unsere Neugierde weckten; in diesen Momenten vermuteten wir eine neue Szene. Diese unsere optimistische Idee wurde in Paris konsequent zurückgewiesen. Der französische Individualismus fordert seinen Tribut, und doch sind es nicht allein die (berühmten) «Überlebenden» – Nouvel, Portzamparc, Perrault … –, welche das Bild der Stadt verändern. Seismische Schwingungen sind spürbar. Bewusst ist das Heft somit kein Reader, der die historische Fülle dessen, was

In eigener Sache:

über Paris gedacht und geschrieben worden ist, zusammenträgt. Auch ist es kein

archithese sucht zum 1. Februar 2013 eine neue Redaktorin/

Stadtheft, das bildgewaltig das Pariser Architekturgeschehen zu einer Gruppe,

einen neuen Redaktor mit einem Arbeitspensum von 50 Pro-

einer Tendenz, einer nationalen Architektur oder einem Stil, ja zum letzten Schrei

zent. Aussagekräftige Bewerbungen senden Sie bitte zu

editiert. Die vorliegende archithese ist eine Auseinandersetzung mit den und

Händen von Hannes Mayer an die Redaktion.

Annäherung an die aktuellen Entwicklungen, die manchmal grossartig, häufig bunt, bisweilen billig und gelegentlich erschütternd sind, aber in Bezug auf den Zustand unserer Städte und die europäische Architekturproduktion oftmals paradigmatisch, symptomatisch. Das ist die Qualität der Weltstädte: Ihre Bedeutung geht weit über ihre Grenzen hinaus; sie bilden einen eigenen komprimierten Kosmos, dessen Studium tief blicken lässt. Paris endet in diesem Heft aber auch nicht an seiner Gemeindegrenze, welche durch den Boulevard Périphérique markiert wird. Wer sich der Problematik der Banlieue nicht stellt, verfiele dem romantischen Verständnis einer historischen, zentripetalen Stadt, die Paris auch, aber nicht nur ist. Die Aufsätze führen daher nach La Défense, in das städtebauliche Entwicklungsgebiet Billancourt oder in eine der postmodernen Grosssiedlungen in Marne-la-Vallée und vereinen somit städtebauliche Strategien der Sechziger bis hin zur Gegenwart. Dem Blick von aussen sind die kritischen Beobachtungen von innen hinzugefügt: Interviews mit criticat, AWP und Philippe Rahm überwinden das übliche Beschreiben der zeitgenössischen Zustände und ergänzen Positionen. Porträts einzelner Büros und Bauten verankern die Diskussion in der Praxis und geben Anhaltspunkte. Da letztlich auch ein solch engagiertes Heft nicht die eigenen Erkundungen ersetzen kann, hat die Redaktion ihren für die Recherchen verwendeten ParisPlan überarbeitet und stellt ihn für zukünftige Exkursionen unserer Leser zur Verfügung. Die Redaktion

Die Redaktion dankt Résidence Nell und 9 Hotel für die Gastfreundschaft in Paris während der Exkursion zur Vorbereitung der Ausgabe.

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ARCHITEKTUR AKTUELL

It’s about pleasure, not about being funny

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ZWEI PROJEK TE VON STÉPHANE MAUPIN

Randbemerkung, denn der flüchtige Blick auf die

muss Mittagspause gemacht werden; das Essen

Das RATP Centre de Maintenance und das

vorgestellten Projekte RATP und M-Building mag

ist wichtig. Eine erste Einführung in den französi-

M-Building verdeutlichen: Nicht jedes in

das Büro in der Nähe von MVRDV oder BIG veror-

schen Architekturalltag.

zeitgenössische, frische Farben und Formen

ten lassen; Büros, die ein Vielfaches an Angestell-

Das Mittagessen war Gegenstand einer langen

gehüllte Bauwerk entbehrt tiefer gehende

ten haben und den «Generifikationen» unterliegen,

Verhandlung zwischen Autor und Architekt. Der

Qualitäten. Wer mit Freude entwirft, gibt sich

welche eine grosse firmenähnliche Struktur mit

zunächst bevorzugte «crappy Chinese» in der Nähe

nicht mit Fassaden zufrieden. Das zeigen

sich bringt. Demgegenüber liebäugeln Maupin und

von Maupins Büro hätte die Besichtigung des

zwei Beispiele, die innerhalb der eng ge-

Hugon nicht nur auf ihrer Website mit dem Bild ei-

RATP-Gebäudes im verfügbaren Zeitrahmen ver-

steckten Grenzen des Bauens in Frankreich

ner Band oder Gang, deren Mitglieder eingespielte

hindert, denn es liegt an der Porte de la Villette,

die Möglichkeiten ausloten und den Nutzer

Rituale besitzen. Eine «Firma» ist möglicherweise

wenige Meter ausserhalb des nord-östlichen Bo-

in den Mittelpunkt stellen.

die Zukunft; fürs erste sind die beiden Bandleader

gens des Boulevard Périphérique, von der aus das

beseelte Entwerfer, die mit sichtlichem Spass ihre

Gebäude als deutliches Zeichen wahrgenommen

AUTOR: HANNES MAYER

Gebäude entwickeln, voller Emotion hinter ihren

werden kann. Kritische Leser werden an dieser

Das 2010 fertiggestellte RATP Centre de Mainte-

Ideen stehen und darüber klagen, dass sie mit je-

Stelle aufhorchen, denn der Kritiker hat offensicht-

nance ist das erste grosse abgeschlossene Projekt

dem Projekt Geld verlieren. So verwundert es

lich gemeinsam mit dem Architekten Mittag geges-

des 1965 geborenen Stéphane Maupin. Aufge-

kaum, wenn Maupin mitunter vor seinen Gebäuden

sen. Wurde er dazu eingeladen, und ist daher die

wachsen in Marseille, ausgebildet in Frankreich

verharrt und stur den Eintritt verweigert, um den

Unabhängigkeit des kritischen Urteils infrage zu

und am SCI-arc in Los Angeles, mit Arbeitsetappen

Schäden und Veränderungen an den Gebäuden

stellen? Hier sei vorweggenommen, dass das Er-

bei Philippe Starck und Rudy Ricciotti, dem er bis

durch die Nutzer, ja um den Gefahren, welche wäh-

gebnis der Kritik positiv ausfallen wird. Wegen des

heute eng verbunden ist, leitet er heute mit seinem

rend des Bauprozesses in Frankreich stets lauern,

Essens? Auch damit hat es in überraschender Wei-

Partner Nicholas Hugon ein eigenes Büro. Erst we-

um den in zermürbenden Verhandlungen mit den

se zu tun, doch dazu später.

nige Jahre selbstständig, gibt es bislang kaum ein

Bauherren gemachten Konzessionen nicht ins

Immerhin: Der Autor hat das Gebäude letztlich

Dutzend Mitarbeiter – eine nicht unwesentliche

Auge sehen zu müssen. Und zudem: Um 13 Uhr

eingehend besichtigt – ein Verfahren, das in der

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1 RATP – Ansicht von Westen (Abbildungen 1–9: Stéphane Maupin & Partners) 2 RATP – Grundriss 5. Obergeschoss mit Kantine und Dachterrasse; Grundriss 4. Obergeschoss 2 2 RATP – Ansicht von Norden, links im kleinen Gebäude der Haupteingang; im Hintergrund der Boulevard Périphérique

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heutigen Zeit der digitalen Verbreitung von Bildern und kopierten Projektbeschreibungen aus Architektenhand ein wichtiges Korrektiv darstellt. Als Gegenbeispiel sei die Internetplattform Dezeen genannt, die das RATP-Projekt mit seinem markanten, weit ausladenden dreiblättrigen Propeller über dem Dach – nicht unähnlich der Werbetafelarchitektur entlang der Périphérique – publizierte und die stolzen, medienwirksamen Worte der Architekten für den Artikel schlichtweg kopierte. Hier wird der Propeller zum «strong element [as] a sign of the architect’s engagement with environmental convictions. It proves that the French <HQE> label can also be interpreted with fun».(1) So war es beabsichtigt, doch die geplanten Solarflächen wurden aus Kostengründen gar nicht installiert. Der verzinkte Stahlpropeller, der sich an die Achse der Abluftkamine klemmt, dient bislang allein der Bestrahlung der umliegenden Technik- und Parkierungsflächen mittels an seinen Enden befestigten Scheinwerfern. Das ist in diesem Fall nicht die Schuld der Architekten und macht das Gebäude auch nicht schlechter; es enttarnt lediglich die Realitätsverschiebungen durch den Copy-paste-Journalismus der digitalen Welt. Davon unbeeindruckt ist der Propeller tatsächlich ein Element, welches den Betrachter schmunzeln lässt. Es sagt: Wir haben Spass am Entwerfen, wir haben Spass an unserer Arbeit als Architekten. Das ist ein beruhigendes Gefühl, denn in der Architektur schränkt Lustlosigkeit schnell die Möglichkeiten der Nutzer ein. Während der Propeller vorläufig seiner vollständigen vorgesehenen Funktion nicht nachkommen kann, hat das Gebäude im Verlauf des Entwurfsprozesses etwas hinzugewonnen, was die Lösung der Mittags- und Besichtigungsmalaise zu lösen vermochte. Das Gebäude ist im Auftrag des staatlichen Betreibers der Pariser Metro RATP entstanden. Es sitzt im ehemaligen Gleisfeld von Waggonremisen und zentralisiert die zahlreichen über die Stadt verteilten Dienstgebäude. Bis auf die Management-Etage im vierten Stock dient es als Basis für die Arbeiter, die im Schichtbetrieb – insbeson-

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ÜBER DEN GLEISEN, AN DER SEINE ZAC Paris Rive Gauche

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2

B 1

A

D

3

C E

F G

H

1

1 Situationsplan der ZAC Paris Rive Gauche. Gare d’Austerlitz (1), Boulevard Périphérique (2), Bibliothèque Nationale de France von Dominique Perrault (3), Bercy mit dem zentralen Park und dem Palais d’Omnisports (4) A = Austerlitz Nord, B = Austerlitz Nord, C = Austerlitz Sud, D = Tolbiac Nord, E = Tolbiac Chevaleret, F = Masséna Nord, G = Masséna Chevaleret, H = Masséna Sud/ Masséna Bruneseau

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Autor: Hubertus Adam

Doktrin, spektakuläre öffentliche oder kulturelle Bauten als

Das Stadtentwicklungsgebiet ZAC (Zone d’Aménagement

Inkubatoren zu nutzen, wurde die neue Bibliothèque Natio-

Concerté) Paris Rive Gauche im 13. Arrondissement erstreckt

nale de France inmitten der ZAC platziert; ausserdem kam

sich über 2,7 Kilometer entlang dem Seine-Ufer von der Gare

noch die Université Paris VII Diderot hinzu. Dies erklärt auch

d’Austerlitz bis zum Boulevard Périphérique und umfasst eine

den Namen des Gebiets, der ja nicht nur auf das linke Seine-

Gesamtfläche von 130 Hektar. Ausgangspunkt war auch im

Ufer verweist, sondern mit dem auch auf die intellektuelle und

Vorfeld der Gare d’Austerlitz und die postindustrielle Trans-

universitäre Kultur des Quartier Latin – also des historischen

formation, die seit den Siebzigerjahren Industrie-, Lager- Ha-

Rive Gauche – angespielt wird. Die drei Teile der ZAC (Aus-

fen- und Güterbahnareale zu Brachen werden liess. Nachdem

terlitz, Tolbiac, Masséna) wurden noch einmal in einzelne

das Gebiet im regionalen Richtplan als Ort möglicher Inter-

Sektoren unterteilt, für deren Masterpläne und Koordination

ventionen definiert worden war, wurde 1991 der Entwick-

sich verschiedene Architekten verantwortlich zeigen. Das Ziel

lungsplan der ZAC Seine Rive Gauche (seit 1996: Paris Rive

besteht darin, durch heterogene Konzepte eine Monotonie des

Gauche) verabschiedet; die Umsetzung obliegt der SEMAPA

neuen Stadtquartiers zu verhindern. Insgesamt gliedert sich

(Société d’Economie Mixte d’Aménagement de Paris), als de-

die ZAC in neun Sektoren: Austerlitz Gare (Jean Nouvel), Aus-

ren Mehrheitsaktionärin mit 57 Prozent des Kapitals die Stadt

terlitz Nord (Christian Devillers), Austerlitz Sud (Reichen et

Paris fungiert; 20 Prozent werden von der SNCF, 10 von Régie

Robert), Tolbiac Nord (Roland Schweitzer), Tolbiac Chevaleret

Immobilière de Ville Paris, jeweils 5 Prozent vom Staat und der

(Pierre Gangnet), Masséna Nord (Christian de Portzamparc),

Région Ile de France sowie 3 Prozent von privaten Partnern

Masséna Chevaleret (Bruno Fortier), Masséna Sud und

gehalten. Gemäss der unter François Mitterrand verfolgten

Masséna Bruneseau (Yves Lion).


2

Die Umsetzung begann mit dem Quartier Tolbiac Nord, das

Selbstverständlichkeit hätte gut getan. Wesentlich zum Er-

Dominique Perraults Bibliotheksbau umgreift, und setzte

folg des Quartiers tragen aber zwei Faktoren bei: zum einen

sich mit Masséna Nord fort, das heute weitgehend fertig-

der zentrale Park von ah-ah paysagistes (vgl. den Beitrag von

gestellt ist; die Fussgängerbrücke über die Seine von Diet-

Frank Maier-Solgk), der den Kern des Quartiers bildet und

mar Feichtinger verbessert den Anschluss an den ebenfalls

dieses mit dem Seine-Ufer verbindet, zum anderen die Univer-

neu entwickelten Stadtteil Bercy am anderen Flussufer.

sität, welche die Belebung des Quartiers garantiert. Anders

Christian de Portzamparc als Masterplaner (seit 1995) folgte

als die Universität Jussieu, die mit ihrem strukturalistischen

erneut – wie schon beim Konzept der ZAC Porte d’Asnières

Gitterraster von Edouard Albert aus den Sechzigerjahren

– seinem Konzept des îlot ouvert, also durchbrochenen

eine Insel innerhalb des städtischen Gefüges darstellt, ist

Blockstrukturen, welche die urbanistischen Vorteile der

die Université Paris VII Diderot auf mehrere Baukomplexe

Blockrandbebauung mit jenen des modernen Siedlungsbaus

verteilt, wobei es sich primär um Altbauten handelt, die

verbinden und deren jeweilige Nachteile vermeiden sollen:

Grands Moulins de Paris sowie die Halle aux farines. Damit

die Hermetik des Blockrands und die städtebauliche Bezie-

konnten in diesem Bereich von Paris Rive Gauche zwei wich-

hungslosigkeit moderner Siedlungen. Das hat cum grano

tige Zeugnisse der industriellen Vergangenheit erhalten

salis in Masséna Nord zu überzeugenden Ergebnissen ge-

bleiben. In die etwas weiter seineaufwärts gelegene und von

führt, auch wenn der Wunsch vieler beteiligter Architekten,

Frédéric Borel umgebaute und erweiterte Luftkompressions-

angesichts schematischer Grundrisslösungen zumindest die

fabrik SUDAC ist 2007 die Ecole d’Architecture du Val-de-

Fassaden individuell erscheinen zu lassen, mitunter leicht

Seine eingezogen, während in den übrigen Teilbereichen der

forciert wirkt. Etwas weniger Bauausstellung, etwas mehr

ZAC nahezu sämtliche bestehenden Strukturen bedenkenlos

2 Überbauung der zur Gare d’Austerlitz führenden Gleise mit Blick zur Avenue de France (Foto: Katharina Sommer)

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PATCHWORK UND PASTICHE Vier Projekte von Edouard François Die Standards des sozialen Wohnungsbaus in Frankreich sind rigide. Wie sich mit beschränkten Mitteln dennoch Massstäbe setzende Wohnbauten erzielen lassen, beweist der Architekt Edouard François mit mehreren Projekten. Er spielt dabei mit städtebaulichen Typologien und schafft intelligente Komplexität, wo sonst gedankenlose Uniformität herrscht. 66

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Autor: Hubertus Adam

Haussmann und des vom Strassenraster unabhängigen plan

Unter den derzeit in Paris tätigen Architekten ist Edouard

libre der (späten) Moderne. Der îlot ouvert vereint die Vorteile

François vielleicht der schillerndste. Zu den internationalen

beider Systeme: Indem die solitären Bauten sich an den

Topstars wie Jean Nouvel, Dominique Perrault oder Chris-

Strassenachsen ausrichten, ermöglichen sie die Anbindung

tian de Portzamparc zählt er nicht. Doch was immer er ent-

an den städtebaulichen Kontext – und zugleich optimieren

wirft und realisiert, provoziert – und zeigt Pfade auf ausser-

die Zwischenräume zwischen den einzelnen Bauten die Be-

halb des Gewöhnlichen. Berührungsängste scheint er nicht

lichtung und gewähren die Blickbeziehung zum Park.

zu kennen; offenkundig gut vernetzt mit finanziell und poli-

Der Sichtbetonbau des zehngeschossigen Tower Flower

tisch einflussreichen Kreisen in der französischen Kapitale,

mit seinen dreissig Wohnungen besetzt die nördliche Ecke

konnte er das traditionsreiche Luxusrestaurant Fouquet’s an

des Gesamtensembles und wird durch seine ringsumlaufen-

den Champs Elysées mit einem Hotelkomplex erweitern,

den und gegeneinander leicht versetzten Geschossplatten

zeitgleich aber einen Massstäbe setzenden sozialen Woh-

bestimmt, in welche überdimensionale, ebenfalls aus Beton

nungsbau mit hundert Wohneinheiten im 20. Arrondisse-

gegossene Blumenkübel eingelassen sind. Die insgesamt 380

ment realisieren. Und während der 1957 geborene François

Kübel wurden mit Bambus bepflanzt, sobald die ursprüngli-

ein exklusives Hotel für den Konzern LVMH in den Dachge-

che Idee, die Bewohner selbst über die Auswahl von Planzen

schossen des von Henri Sauvage errichteten ehemaligen

entscheiden zu lassen, verworfen worden war. Eine automa-

Samaritaine-Kaufhauses am Pont Neuf plant, ist in Cham-

tische Bewässerungsanlage macht die Pflanzen unabhängig

pigny-sur-Marne – also in der östlichen Banlieue – unter dem

vom gärtnerischen Talent der Bewohner. Ein grüner Filter,

Namen Urban Collage ein weiterer Komplex des sozialen

der sich mit seinem flirrenden Rauschen auch akustisch be-

Wohnungsbaus entstanden.

merkbar macht, bildet die vegetabile Hülle des Gebäudes, die

Bekannt in Paris wurde François 2004 durch den Tower

wie eine Verlängerung des Parks in die Vertikale wirkt. Ab-

Flower im 17. Arrondissement, der auf einem früher von Gü-

wechselnde Schüttungen aus hellem und grauem Beton ver-

terschuppen besetzten Bahnareal nahe dem Périphérique

leihen dem Tower Flower ein scheckiges Aussehen, welches

entstanden ist. Der Masterplan für die ZAC Porte d’Asnières

den erdigen Charakter des Betons verstärkt.

stammt von Christian de Portzamparc, der hier das Prinzip

Auf ganz andere Weise nutzte François Beton als Fassa-

des von ihm propagierten îlot ouvert umsetzen konnte: Zum

denmaterial beim Hotel Fouquet’s Barrière. Das Edelrestau-

Teil in Doppelreihen umstehen Wohnbauten den inmitten

rant Fouquet’s gilt seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert als

des Gevierts gelegenen, öffentlich zugänglichen Park Hauts

Pariser Institution; zuletzt feierte Nicolas Sarkozy hier seine

de Malesherbes. Portzamparc versteht den îlot ouvert als

Wahlsiege. 1999 wurde es von der im Kasino- und Hotelbe-

Synthese zweier für Paris typischer urbanistischer Modelle

reich tätigen Group Lucien Barrière übernommen und zu ei-

– der geschlossenen Blockrandbebauung aus der Ära von

nem Hotel mit 107 Zimmern und 55 Suiten erweitert. Dieses

1 Blick vom Parc des Hauts Malesherbes auf den Tower Flower, 2004 (Fotos 1– 4, 6 + 7: Hubertus Adam) 2 + 3 Hotel Fouquet’s Barrière, 2006 Eckansicht der Erweiterung und Fassadendetail

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OCCUPY LA MAISON DE VERRE A User’s Guide for Living, Literally, in a Glass House How does one be an occupant of a historic house without being an occupier? How to make it a living place, rather than a museum, or, worse yet, a mausoleum? Let us briefly consider the past, present, and future of the Maison de verre.1

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Author: Robert Melvin Rubin

ings offsite and fled. Shortly before the Vichy government

Originally intended to replace the rear building of an eigh-

fell, the Maison de verre was sold as a ‘Jewish asset’ to a real

teenth century hotel particulier, the gestation of the Maison

estate speculator at auction. Litigation was necessary for the

de verre reflects the conflictual nature of modern architec-

family to recover it. Ironically, the avant-garde design of the

ture itself. Plans to tear down the structure completely to

house preserved it during the occupation from German inter-

make way for Pierre Chareau’s house of tomorrow were

ventions, if not from the ravages of time and neglect. Its vast

thwarted by the premises’ first occupier, the tenant of the

translucent expanses of glass blocks could not be curtained

top-floor apartment, who had other ideas than to yield to

to black for curfew. The Maison de verre sat empty.

Modernity’s presumption of tabula rasa. Her recalcitrance

Five years after the Dalsace family re-occupied the house

forced Chareau to slide a translucent box under her. The ge-

in 1946, Dalsace’s son-in-law, Pierre Vellay – also a gynecol-

nius of the house lies in this constraint.

ogist – took over the by then vacant upstairs apartment and

Completed in 1932, the Maison de verre was the home of

service rooms. He renovated and duplexed them to achieve

Dr. and Mrs. Jean Dalsace (née Bernheim) until the Second

more space and light for his growing family. In doing so, they

World War, when its Jewish proprietors moved its furnish-

also modernized the upstairs façade. Today, of course, we


position. The stubborn remnant of the eighteenth century

1 Shelf detail, grand salon (all photos: Adam Bartos)

which sheltered the house was cropped or whited out of all

2 Kitchen

would prefer the juxtaposition of succeeding styles to be accretive and unresolved, but this is a distinctly contemporary

published images, even by those firmly in Chareau’s orbit, such as René Herbst. 2 Dr. Vellay took over the medical offices from his father-inlaw and maintained a flourishing gynecological practice until the nineties. I say ‘flourishing’ because we have met many of his patients over the years, as well as several of their offspring, who may thus claim that their first visit to the house was in vitro. The medical office remained open after the house was inhabited in any meaningful way by the family. After the passing of les Dalsace in 1968 and 1970, one of their granddaughters and her children occupied the house, which also sporadically received various family members, cousins and friends of the family (including New Yorker writer Adam Gopnik whose profile of the house, “The Ghost of a Glass House,” characterized it as difficult to live in, and made of it a symbol of the end of modernism. 3) Marc Vellay, the youngest of the five children, assumed the burden of institutional memory in the seventies, when ‘modernism’ and ‘preservation’ were not usually found in the same sentence. Working with architect Bernard Bauchet and Iñigo de Castro, the trio developed an ‘archaeology’ of the house and its component materials in the absence of any plans other than cursory ones filed with the mairie of the seventh prior to construction. Comprehensive plans were hand-drawn by Bauchet and eventually digitized by de Castro.4 Funds for a series of planned interventions to stabilize the house were raised via the Association des Amis de la Maison de verre, which conducted visits to the house through a network of architects and professors of architecture. As Dr. Vellay’s medical practice wound down, various long-term solutions to the preservation of the house were explored, with no satisfactory outcome. On occasion, the house was made available for location ‘shoots’ – most famously an ‘Opium’ commercial for Yves St. Laurent directed by David Lynch – and rented out for public relations events to help finance the work on the house. The experience strengthened the family’s resolve to find an alternative to selling to a luxury goods concern. In a word, they wanted someone to inhabit rather than occupy – or, in other words, to exploit – the house. My wife Stéphane and I were introduced to the Vellays in 2004, after a mutual friend saw the restoration we undertook of Jean Prouvé’s Tropical House (1950). Of course, the Tropical House is as much about occupation (of the colonial kind) as it is about habitation. There was never any question of restoring it as something to inhabit in the present. It is a prototype of an unrealized building system for an extreme tropical climate. The Maison de verre, while also a prototype of sorts, is, first and foremost, someone’s house. The only reason we acquired it was to live in it. By doing so, we hoped to bring it back to life, demonstrate its continuing relevance to the practice of architecture in the twenty-first

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INTERIEURS DES 21. JAHRHUNDERTS

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1 Ricardo Bofill: Wohnhaus Le Théâtre im Stadtzentrum von Noisy-le-Grand, Marne-la-Vallée (Fotos 1–3: © Epamarne, 1982/1984/1983) 2 Stadtzentrum Noisy-le-Grand, Marne-la-Vallée 3 Viertel Mont d’Est und du Pavé Neuf im Stadtzentrum von Noisy-leGrand, Marnela-Vallée Folgenden Seiten: Eine Erkundung der Espaces d’Abraxas (restliche Fotos: © Anne Kockelkorn)

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Ein Ausflug nach Marne-la-Vallée Les Espaces d’Abraxas heisst die monumentalste der drei neohistoristischen Siedlungen, die Ricardo Bofill zur Blütezeit der Postmoderne in den Pariser Villes Nouvelles realisierte. Auf die Euphorie der Anfangsjahre folgte in den Neunzigerjahren der sukzessive Niedergang – Abraxas wurde ähnlich den Grosswohnsiedlungen der Sechziger in der Banlieue als gescheitertes Modell stigmatisiert. Heute steht das Projekt in der Schwebe zwischen den Abrisswünschen des Bürgermeisters und den beschleunigten Gentrifizierungsphänomenen in der Innenstadt – mit offenem Ausgang. Autorin: Anne Kockelkorn

dieses Muster wiederholt sich. Südwestlich der königlichen

Im Anflug wache ich auf. Durch das Bullauge scheint Paris

Parkanlage tauchen im Stadtgefüge zwei Epigonen der Acht-

wie eine barocke Spielzeugstadt zum Greifen nahe, während

zigerjahre auf: die neobarocke Firmenzentrale für den Bau-

das Flugzeug scheinbar bewegungslos westlich der Büro-

unternehmer Bouygues von Kevin Roche (1983–1988) und die

türme der Défense in der Luft hängt. Wenige Minuten weiter

Wohnsiedlungen von Ricardo Bofill für die Neustadt St. Quen-

südlich wechseln hinter dem Bois de Boulogne die Strassen

tin-en-Yvelines (1972–1986).1 Im Überflug ebnet das Luftbild

und Häuserblöcke der Haussmann-Stadt zum urbanen Fli-

die Formen aus dem 17. und 20. Jahrhundert ein in dieselbe

ckenteppich des Pariser Grossraums – mit Grands Ensemb-

formale Geste der geometrischen Unterwerfung des Territo-

les, Einkaufs- und Logistikzentren, Autobahnen, Campusan-

riums.

lagen und Einfamilienhaussiedlungen. Darin – genauso

Von einem etwas nüchterneren Standpunkt der Ge-

unvermittelt – der Schlosspark von Versailles, dessen geome-

schichtsschreibung aus gesehen, sind Versailles und die

trische Reinheit und Dominanz dem ungezügelten Wachs-

Extrembeispiele der französischen Postmoderne unver-

tum der Stadtentwicklung klare Grenzen setzt. Doch auch

wechselbar. Letztere gilt als dunkles Kapitel der Architek-


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3

turgeschichte, vor deren Formen- und Materialansammlungen die damals bauenden Architekten heute oft genauso ratlos stehen wie die Historiker selbst. Tonnenförmige Blechdächer, Stahlgerüstpyramiden oder Fliesenfassaden passieren dabei als melancholisches Zeugnis der Desillusionen, mit denen die Zeit der Architektur- und Gesellschaftsexperimente vorüberging, für die die Staatskassen Anfang der Siebzigerjahre noch mit vollen Händen austeilen konnten. Schwieriger zu akzeptieren ist der Neohistorismus, als dessen schillerndster Vertreter Ricardo Bofill und sein Büro Taller de Arquitectura zählen kann. In den Siebzigerjahren entwickelte der damals dreissigjährige Katalane für vier der fünf Pariser Villes nouvelles Stadt- beziehungsweise Wohnungsbauprojekte, deren Stadtimplantate aus Betonfertigteilen die urbanen Formen von Barock und Aufklärung in anderem Massstab, anderer Funktion und anderer Technik neu interpretierten. Diese eigenwillige Formensprache positionierte sich in offensiver Opposition zu modernen Entwurfsdoktrinen; der Rückgriff auf die historische Form lässt sich allerdings auch als Zeichen der politischen Macht der französischen Monarchen lesen, auf deren leeren Thron nun wahlweise Architekt oder Bauherr rücken. Mit diesem Argument werden die Projekte vom Taller de Arquitectura zu bemerkenswerten Vorläufern eines New Urbanism privater Investoren, der seit den Neunzigerjahren nicht nur die Stadtentwicklung Asiens oder Südamerikas prägt, sondern durch die Niederlassung von Disneyland Paris auch den Osten des Pariser Grossraums. Die Touristenattraktionen und die von Disney entwickelten Quartiere wie Val d’Europe erfreuen sich bis heute bei Publikum, Bewohnern, Kunden und Investoren ungebrochener Beliebtheit. Der Ursprung in der Technokratie des Wohlfahrtsstaates und die gleichzeitige Ausrichtung am postmodernen Simulacrum machen die Projekte vom Taller de Arquitectura aus den Siebziger- und Achtzigerjahren schwer verständlich. Diese widersprüchliche Verbindung verdichtet sich in einem Projekt: in Les Espaces d’Abraxas, einem Grosswohnungs-

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