Archithese 5.13 - Österreich / Austria

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archithese

5.2013

Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur

Wolf D. Prix: Rede über das Zwergpudelland Österreich

International thematic review for architecture

Die österreichische Architekturszene: Eine Bestandsaufnahme Kultur in innovativer Struktur: Das Ingenieurwesen Salzburg, Welthauptstadt des Provinziellen Politik und Architektur im Wiener Wohnbau ARTEC: Wohnmaschine oder Groundscraper Städtebau, Sklerose, Seeoase Alpine Erlebnislandschaften der Hypermoderne Wiener Würstelstände Räumliche Aspekte im österreichischen Film Die Massstäbe des Lois Renner Ironimus: Zwischen Ironie und Kritik Viel Literatur, wenig Theorie Wichtige Bauprojekte von 1960 bis 2013 Fast nicht drin und doch dabei: Vorarlberg Walter Angonese & Andrea Marastoni: Sammlung Dalle Nogare, Bozen BUSarchitektur et al.: Campus der Wirtschaftsuniversität Wien

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Bauen mit Begeisterung von Bauherren mit hohen Ansprüchen. Ob Neubau, Umbau oder Renovation: Jedes Projekt wird qualitätsbewusst, kostenoptimal und termingerecht realisiert. Von der Studie bis zur erfolgreichen Realisation – jeder Bau ist eine Referenz. Generationenprojekt «Im Vieri»: Als Totalunternehmer realisiert die ARIGON Generalunternehmung ein zukunftsträchtiges Wohnkonzept, das vielfältige Nutzungsformen mit sozialer Durchmischung kombiniert.

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archithese 5.2013  September/Oktober  Preis: 28 CHF/22 Euro

Die ARIGON Generalunternehmung steht im Dienst


EDITORIAL

Österreich – alles leiwand, oder eh wurscht? «Es fehlt […] an Alternativen», war im Vorfeld der österreichischen Parlamentswahl am 29. September in der Neuen Zürcher Zeitung zu lesen. Was auf die politischen Verhältnisse zutreffen mag, gilt nicht für die österreichische Architektur, die auch im internationalen Vergleich – wie der in Wien tätige Architekt Hannes Stiefel in «Die andere Möglichkeit» schreibt – oder zumindest für die Schweiz eine zwar selten wahrgenommene, jedoch existierende Alternative im nächsten Osten darstellt (vgl. archithese 5’2011, S. 72ff.). Natürlich wäre es möglich gewesen, eine Auswahl von Projekten aus der Feder von Riegler Riewe Architekten oder Adolf Krischanitz – dem Chipperfield von Österreich – zu treffen, oder durch die besondere Erwähnung der Bauten aus Vorarlberg eine Nähe zum «Schweizer Bauen» zu suggerieren, wie sie auf ganz anderer Ebene einmal zwischen Domenig / Huth und Walter M. Förderer bestand. Doch die Sedimente einer über Jahrhunderte praktizierten katholischen gegenüber einer calvinistisch-zwinglianischen Kultur, einer mächtigen Zen­ tralmonarchie gegenüber einer basisdemokratischen Eidgenossenschaft könnten in ihrer Polarität unterschiedlicher nicht sein. Nicht ein jeder wühlt in dieser Vergangenheit, doch die profane Humusschicht ist dünn, und noch heute spielt in der post-katholischen Zweiten Republik das Barocke – sei es als Staatskonstruktion, Gesamtkunstwerk oder in raumbildender Opulenz – eine prägende Rolle, wie auch der Körper als Gegenstand der architektonischen Auseinandersetzung ein wichtiges Motiv darstellt – oder die Verletzung desselben (beziehungsweise des in Konkurrenz stehenden Architekten). Das gilt besonders für Wien. All das sind gefährliche Thesen, doch auch die Provokation, der Widerstand, die dadurch entstehende Reibungsenergie, das nie vollständige Ordnen und damit Aushalten von Ambivalenzen, der theatralische Schwebezustand und natürlich das HERUMSCHREIEN spielen eine wichtige Rolle in einer Kultur der radikalen Schleichwege, in einem Land der sklerotischen Bürokratie. Die allgemeine Baukultur hingegen wird in Vorarlberg von der unbehandelten Holzlatte dominiert, der Rest des Landes – das eigentliche Österreich – von Voestalpine; nur so lässt sich der ausgeprägte und ungewöhnliche Hang zum Stahl erklären, der das österreichische Bauen prägt wie der Beton die Schweiz. Überhaupt weist die Baukultur klaffende Lücken zwischen den vereinzelten herausragenden Architekturprojekten auf und ähnelt in vielen Landstrichen der Vorstadtlandschaft, wie wir sie aus dem neueren österreichischen Film – etwa aus Ulrich Seidls niederösterreichischem Niedergangsepos Hundstage – kennen. Wobei Österreich just dort, im Zentrum des Totalversagens von Stadt- und Regionalplanung, schon einen Schritt weiter ist und mit der Wiedereinverleibung des Supermarkts in den architektonischen Kanon unerwartete Blüten fördert, die selbst Aldi/Hofer in die Pflicht nahmen. Der Fall Österreich ist folglich ein schwieriger und keineswegs geradliniger, und er wird auch mit diesem Heft nicht gelöst werden. Um dennoch eine genauere Analyse zu erlauben, wurden einige Aspekte aussen vor gelassen: So werden die zahlreichen Bauten – manchmal Meisterwerke – ausländischer Architekten in Österreich als «Schmuck mit fremden Federn» nicht vertiefend behandelt. Vermissen wird man auch die Bauten und Projekte der «österreichischen Utopien», denn hier wurde von Günther Feuerstein und Anselm Wagner bereits erschöpfende Arbeit geleistet; zudem verdeckt der Mythos vergangener Leistungen ähnlich dem Sisi-Mozart(-kugel)-Österreich-Image die schwierigen Verhältnisse, unter denen im Land derzeit Architektur entstehen muss. Das Heft versteht sich somit nicht als Produkt eines abgeschlossenen Prozesses, sondern spiegelt eine selektive Standortbestimmung wider, die jenseits der funkelnden Einzelbauwerke nach den Zwischenräumen und Hintergründen, aber auch nach dem grösseren Massstab fahndet, mit dem Ziel, durch den Trilog der deutschsprachigen Länder dem bedrohten Status von Architektur als Kunst dienlich zu sein. Und jetzt: «Aus dem Weg, du Trampel!» – Ferrari, Porsche und M5 für alle Architekten!

4    archithese 5.2013

Die Redaktion



ARCHITEKTUR AKTUELL

Verborgene Innenwelten

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SAMMLUNG DALLE NOGARE IN BOZEN VON

Autor: Florian Dreher

WALTER ANGONESE & ANDREA MARASTONI,

Die neue Architektur in Südtirol hat in den letzten

K ALTERN/ITALIEN

Jahren eine Reihe an beispielhaften Bauten her­

Ein Haus für einen Sammler und dessen

vorgebracht und setzt durchaus sichtbare Akzen­

Kunstwerke zu planen ist eine anspruchs-

te von internationaler Bedeutung. Dies stellt eine

volle Herausforderung. Im Fall der Samm-

­Besonderheit dar, weil sich die Region nach den

lung von Antonio Dalle Nogare ist den italie-

Boomzeiten der Siebzigerjahre in einer baukultu­

nischen Architekten Walter Angonese und

rellen Identitätskrise befand. Es machten sich

Andrea Marastoni ein opulentes Bühnenwerk

durchaus auch in der Baupolitik die gesellschaftli­

gelungen. Das Gebäude vereint Wohnhaus

chen Spätfolgen der Geschichte im kollektiven

und Kunstgalerie auf raffinierte Art und

Gedächtnis der nach dem Ersten Weltkrieg durch

arbeitet auf ambivalente Weise mit der

Italien annektierten Region bemerkbar – mit ihrer

Dramaturgie des Ortes.

Polarisierung zwischen Stadt und Region, Indust­


1  Eingangssituation mit Blick auf den oberen Wohntrakt (Fotos 1, 2, 10–17: © Günter Richard Wett) 2  Hofeinfahrt mit Skulptur von Antony Gormley 3  Künstlicher Berghang mit Atelierfenster (Fotos 3 + 4: Ansgar Staudt, 2012) 4  Ansicht vom Rafen­ steiner Weg

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rie und Landwirtschaft oder zwischen den Natio­

Kellerei Nals Margreid (2011) von Markus Scherer.

teil, denn die anfangs abwehrende Haltung erweist

nalitäten. Heute kann das baupolitische Klima als

Das Bündnis Wein.Kaltern aus Winzern, Touris­

sich nun als Willkommensgeste gleich einer offe­

halbwegs befriedet betrachtet werden. Seit den

musverband und Gemeindevertretern, dem auch

nen Umarmung, und das Gebäude bildet einen

Dreissigerjahren formierte sich durch die prägen­

Walter Angonese angehört, setzte auf qualitativ

­repräsentativen Hof aus.

de Schule eines Lois Welzenbacher – auch über

hochwertige Produkte der Region – dieser An­

Die Wahrnehmung des Gebäudes oszilliert zwi­

die Grenzen Innsbrucks und Tirols hinaus – sowie

spruch sollte sich letztendlich auch in der Archi­

schen Felsenspalte und Festungsbau, wobei letz­

durch Othmar Barth in Südtirol eine eigenständige

tektur widerspiegeln.

teres auf die massive und voluminöse Gestalt aus

Position vernakulären Bauens, die sich vor allem

grob behauenem Sichtbeton mit Porphyrzuschlag

im Tourismusbereich an Hotelbauten oder Infra­

Die Sammlung als Festung

– in einem Graubraun, das im Sonnenlicht bis Gold­

strukturen durchsetzte. Die Erneuerung, die sich

Nähert man sich dem Haus Dalle Nogare in Bozen-

braun changiert – zurückzuführen ist. Sollte das

nun seit den Neunzigerjahren ankündigt, lässt sich

Gries von der Sarntaler Straße aus, so erwartet

eine Referenz an die die Region bestimmenden

vor allem auf eine positive Entwicklung bei Ge­

­einen das Sammlerhaus mit einer auf Distanz hal­

historischen Militärbauten sein? Ein Schutzbau für

werbe- und Industriebauten und nicht so sehr im

tenden Geste in Form einer grossen, geschwunge­

die Kunst? Räumliche Erfahrungen aus anderen

Wohnungsbau ­ z urückführen. Besonders das

nen Wand, die wie ein Schutzschild förmlich aus

Arbeiten des Büros Angonese, wie die Revitalisie­

Segment der Weinarchitektur gab den entschei­

dem Berg herauszuwachsen scheint und einem

rungen der Festung Kufstein-Josefsburg (1999)

denden Impuls für ­einen neuen Architekturdiskurs

beim ersten neugierigen Blick die Sicht verwehrt.

oder das neue Museum für Kultur- und Landesge­

in Südtirol; dies zeigt sich am Bau des Weinguts

Dieser Eindruck kehrt sich aber bei weiterer Be­

schichte im Schloss Tirol in Meran (2003), können

Manincor (2004) von Walter Angonese oder der

trachtung und schrittweisem Annähern ins Gegen­

hier als Bezugspunkt dienen.

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KOOPERATIVE PROZESSE Innovative Strukturen in und aus Österreich  Die neuen digitalen Technologien spielen insbesondere im Umgang mit freien Formen jenseits der geometrischen Regelmässigkeit heute eine wichtige Rolle. Diese Entwicklung, teilweise beginnend bei der Generierung der Form und/oder der Darstellung und Berechnung komplexer Systeme, erfordert in der Kommunikation durch Datenaustausch bis hin zur Produktion nicht nur ungewohnte Arbeitsweisen bei allen Planungsbeteiligten, sondern interpretiert auch die Rolle von Architekt und Tragwerksplaner neu. Die enge Zusammenarbeit innerhalb digitaler Prozesse und die notwendige Entwicklung innovativer Software spielen dabei eine nicht unerhebliche Rolle.

34    archithese 5.2013

Autoren: Klaus Bollinger, Arne Hofmann, Susanne Nowak

lung und die Aufteilung komplexer Geometrien in ebene

Planen und Bauen ist auf die enge Zusammenarbeit zwi-

­F lächen eVolo (TU Wien).

schen Architekt und Ingenieur angewiesen. Mit Fortschrei-

Es gibt einige Beispiele, in denen die Ergebnisse dieser

ten der technischen und geometrischen Möglichkeiten wer-

Forschung und die Zusammenarbeit zwischen Architekt und

den die Planungsprozesse komplexer und das Zusammen-

Ingenieur nicht nur zu neuartigen Bauwerken führen, son-

wirken der Disziplinen immer wichtiger.

dern Entwurfsprozesse auch anders gestaltbar machen.

In den Bereichen Forschung und Entwicklung und insbe-

Der temporäre Kunstpavillon White Noise beherbergte

sondere in Bezug auf die Fachplanung wird in Österreich im

von März bis Juni 2011 im Rahmen der Salzburger Biennale

Umfeld der Universitäten spannendes Know-how und die

verschiedene Kulturveranstaltungen für circa 150 Besucher.

Entwicklung von innovativer Software generiert, die diesen

Eine Aluminiumkonstruktion erzeugte ein räumlich oszillie-

intensiven Austausch zwischen den Metiers auch innerhalb

rendes Bild, das je nach Lichtsituation und Blickwinkel so-

digitaler Prozesse möglich macht. Für die parametrische

wohl als Anordnung einzelner Elemente als auch als ver-

Tragwerks- und Klimaanalyse sind hier beispielsweise

schmelzende Masse wahrgenommen werden kann. Um die

­karamba3d (Universität für Angewandte Kunst, Wien) und

Idee des «Weissen Rauschens» umzusetzen, war es notwen-

GECO (TU Innsbruck) zu nennen; für die Geometrieentwick-

dig, einen digitalen Prozess zu gestalten, in dem viele ver-


1  Temporärer Pavillon White Noise, Salzburg (2010), Architekt: SOMA-Architecture, Wien (Foto: © Florian Hafele) 2+3  Nordkettenbahn Hungerburg, Innsbruck (2007), Architekt: Zaha Hadid, London (Foto 2: © Thomas Mayer, Foto 3: © Bollinger + Grohmann)

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schiedene Varianten des unregelmässigen, ungeordneten

einem iterativen Prozess zwischen Architekten und Ingeni-

Tragwerks automatisiert berechnet wurden. Hier schliesst

euren konnte das Dach im digitalen 3-D-Modell so weit ent-

sich der Kreis zu den österreichischen Softwareentwicklun-

wickelt werden, dass es nicht nur den statischen Notwendig-

gen. Mit der generativen Modellierungssoftware Grasshop-

keiten genügte und konstruktiv umsetzbar wurde, sondern

per wurde gemeinsam mit den Architekten ein parametri-

die Idee weiter konkretisierte.

sches Modell entwickelt, in dem die Position und Ausrichtung

Auch die frei geformten Stationsdächer der Nordketten-

der einzelnen den Pavillon bildenden Stäbe variabel ist. In

bahn von Zaha Hadid wurden in enger Zusammenarbeit von

­k aramba3d konnte dann sehr schnell eine Vielzahl unter-

Architekten, Tragwerksplanern und ausführender Firma

schiedlicher Varianten berechnet werden. Erst durch den

umgesetzt. Die Planungsdaten wurden aus digitalen 3-D-

Einsatz dieser Software war die Entwicklung einer solch

Modellen gewonnen und direkt in die Fertigung beziehungs-

komplexen Struktur mit emergentem Tragverhalten möglich.

weise Montage integriert. Die glatte Aussenhülle besteht

Die Struktur bestand aus 1500 Aluminiumstäben – alle

aus 1100 Glaspaneelen. Jedes einzelne ist ein zweisinnig

mit der gleichen Länge von zwei Metern in parallelen Schnitt­

gekrümmtes Unikat, das jeweils mittels einer eigenen Nega-

ebenen organisiert. Um aus den einzelnen Stäben, die sich

tivform aus gebogenen Stahlrohren hergestellt wurde. Dank

innerhalb einer Ebene nicht berühren sollten, ein tragendes

der konsequenten Verwendung von modernen Fertigungs-

Ganzes zu formen, mussten sie notwendigerweise konstruktiv miteinander verbunden werden. An projizierten Schnitt-

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punkten – zwei Profile führen knapp aneinander vorbei – wurden sie über Rundrohre aneinandergeschweisst. Die Daten für die dafür notwendigen Löcher konnten aus dem generierten digitalen Modell gelesen und direkt für die Fertigung genutzt werden. In einem fruchtbaren Umsetzungsprozess entsteht eine Synthese zwischen den Disziplinen; die Anforderungen stärken sich dabei gegenseitig. Das Sichtschutzdach im Garten eines Privathauses in Gmunden transferiert die Typologie des Jägerzauns in eine dreidimensionale nestartige Konstruktion. Dabei folgt die Geometrie nicht strengen geometrischen Regeln, sondern dem physikalischen Modell der Architekten Heri & Salli. In 35


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BIG AND COOL Wohnmaschine oder Groundscraper  Die städtische Grossform feiert in den Projekten von ARTEC Architekten von Bettina Götz und Richard Manahl ihre Wiederentdeckung innerhalb der Wiener Wohnbauszene. Dabei sind in den letzten Jahren beispielhafte Vorzeigeprojekte entstanden, die nicht nur den neuen und oft schwierigen Anforderungen des Marktes und der Wohnbauförderung gerecht werden, sondern auch architektonisch überzeugen.

54    archithese 5.2013

Autor: Florian Dreher

masses hatte die Krise verursacht. Auch die Einstellung des

Die Stadt Wien zählt seit Beginn des 20. Jahrhunderts neben

sozialen Wohnungsbauprogramms war die Folge; es über-

der produktiven Bautätigkeit des ehemaligen Londoner

lebte jedoch in neuer Aufstellung als geförderte Wohnungs-

Stadtplanungsamtes, des London County Councils LCC, zu

baumassnahme für gemeinnützige Bauträger.1

den innovativsten Vorreitern für die Entwicklung moderner

Es scheint, dass Wien die gesellschaftspolitische Vision

Wohnmodelle im Bereich des sozialen Wohnungsbaus. Nach

seit den Sechzigerjahren abhandengekommen ist. Wie kann

den legendären Bauten des Roten Wiens in der Zwischen-

man das «Wohnen morgen» bestimmen, wenn einem die

kriegszeit und den experimentellen Grossstrukturen der

Antworten auf die Frage nach dem «Wohnen heute» fehlen?

Sechziger- und Siebzigerjahre mit ihren verheissungsvollen

Die Frage besitzt eine gewisse Brisanz, wenn man weiss,

visionären Wohnbauprogrammen wie «Wohnen morgen» ge-

dass bis zu sechzig Prozent der städtischen Bevölkerung

riet die Baupolitik des Gemeindebaus bis weit in die Neunzi-

Wiens in geförderten Wohnhaushalten leben und dies euro-

gerjahre in eine lange Krise. Der Paradigmenwechsel mit der

paweit seinesgleichen sucht.

Abkehr von den räumlichen und sozialen Qualitäten und der

Seit Gründung des geförderten Wohnungsbaus ist im Lauf

Hinwendung zur rein ökonomischen Massenware des Mittel-

der Zeit durch das gute Zusammenwirken der einzelnen Be-


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teiligten wie den gemeinnützigen Bauträgern, Gemeinde

senliegende Laubengänge mit Aufenthaltsqualität; dies

und Architekten sowie durch die Rückbesinnung auf quali-

zeigt einen neuen Standard mit Rückbesinnung auf die Er-

tative Standards für die Architektur – unter anderem durch

rungenschaften des sozialen Wohnungsbaus der Sechziger-

Wettbewerbe – eine Laborsituation entstanden, die auf eini-

jahre. Die noch bewusst offen gehaltene Erdgeschosszone im

gen Feldern beachtliche und beispielhafte Lösungen für zeit-

Gebäuderiegel zur Tokiostraße kann als erweiterter Stadt-

gemässe Wohnmodelle hervorgebracht hat. Hierzu zählen

raum betrachtet werden, der sich ins Hausinnere hineinzieht

die Arbeiten des Wiener Büros ARTEC Architekten von Bet-

und die Laubengänge als gestapelte streets in the sky auch

tina Götz und Richard Manahl. Ihre Projekte lassen sich der

als dazugehörigen städtischen Raum neu deutet. Dies wird

reflexiven Moderne zuordnen und führen den Diskurs zum

durch seine Rohbau-Materialästhetik sowie mit dem durch-

Thema Wohnen – eines der Hauptanliegen der Moderne –

laufenden Teerbelag von Strasse, Gehweg und Erschlies-

und zur städtischen Grossform fort. Eine neue, konstruktiv-

sung versinnbildlicht. In seiner Zweideutigkeit zwischen

räumliche directness ist ihren Projekten als Grundhaltung

öffentlichem und privatem Charakter erlaubt dieser Möglich-

eingeschrieben und verweist auf eine konzeptionelle Reduk-

keitsraum in gewisser Weise ein geschütztes Spielfeld und

tion auf die wesentlichen Elemente eines präzisen Raumge-

besitzt das Potenzial, mit einer nachträglichen baulichen

dankens. Dabei können Bezüge zu den strukturalistischen

Intervention als Ladengeschäftszone zu fungieren. Die In­

und grossmassstäblichen Arbeiten von Roland Rainer, Werk-

frastruktur bildet ein eigenständiges Raumelement und ist

gruppe Graz oder arbeitsgruppe 4 hergestellt werden, und

Rückgrat für den Gesamtentwurf, was zur Identitätsbildung

sie erinnern an die grossen Wohnutopien der österreichi-

und zur Aneignung durch die Bewohner beiträgt. Trotz

schen Architektur-Hochphase des 20. Jahrhunderts.

Dichte und hoher Anzahl an Wohneinheiten besticht die An-

1  «Bremer Stadtmusikanten», Ansicht Tokiostraße (Abbildungen 1, 4, 5, 9–12, 14: © ARTEC) 2  Zwischenraum mit LaubengangErschliessung (Foto 2 + 3: © Margherita Spiluttini) 3  Rückfassade, Typologiemix als vertikale Stapelung 4 + 5  Standard­ geschoss und Querschnitt

lage durch einen beträchtlichen Grad an IndividualisieTerrassenhaus Bremer Stadtmusikanten, Tokio-

rungsmöglichkeiten, statt auf monotone Standardisierung

straße (2006, 2008/2009), Wien, 22. Bezirk

zurückgreifen zu müssen. Dies drückt sich aus in der Gestal-

Die Wohnanlage Tokiostraße auf den ehemaligen Vorstadt-

tung der Zwischenräume in kräftigen gelben und roten Farb-

gärten in Wien-Kagran ist Teil eines neuen, mit städtischen

tönen, in der Aneignung als erweiterter Wohnraum durch die

Grosskörpern in der Peripherie nachverdichteten Stadtquar-

Bewohner als auch in der differenziert ausgeführten Fassa-

tiers. Die Benennung der Bauten nach den Heldenfiguren im

denabwicklung. Entlang der Tokiostraße entwickelt sich

Märchen «Die Bremer Stadtmusikanten» der Gebrüder

über die gesamte Fassadenbreite eine kristalline Stahlstruk-

Grimm lässt sich auf die räumliche Stapelung der unter-

tur, die die versetzten Wohnungen und Balkone miteinander

schiedlichen Wohntypologien zurückführen. In der Vertika-

verbindet und optisch zusammenzieht. An den Fassaden zur

len schichten sich ein- bis zweigeschossige Wohn- und Mai-

Hofseite wird die konzeptionelle räumliche Stapelung der

sonetteeinheiten, die durch Terrassen, Loggien und Höfe die

unterschiedlichen Wohnungstypen klar ablesbar. Durch ihre

dreibündige Anlage gliedern. Von besonderer Qualität sind

spielerische Leichtigkeit erzielen die abwechselnd versprin-

die Gemeinschaftsflächen – wie der öffentlich begehbare

genden grau verputzten Raumkörper eine plastische Ausfor-

Hof, die Dachterrasse mit Schwimmbad sowie die grosszü-

mulierung. Innerhalb der Quartiersbebauung Tokiostraße

gig angelegten Erschliessungsbereiche als innen- oder aus-

nimmt die Wohnanlage von ARTEC einen besonderen Stel55


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JUNK-SPACE FÜR JUNKFOOD Die Wiener Würstelstände  Obwohl Würstelstände nicht nur charakteristischer Bestandteil, sondern auch eine viel besuchte touristische Attraktion des Wiener Stadtbildes sind, haben sie – anders als etwa das Wiener Kaffeehaus – bislang nur wenig kulturhistorische Aufmerksamkeit bekommen. Zeit sich dieser architektonischen Besonderheit der Stadt Wien zu widmen. 70    archithese 5.2013


Autor: Sebastian Hackenschmidt «Typisch Wien» heisst es, wenn von Würstelständen die Rede ist. Imbissstände gibt es in vielen Städten, aber die Wiener Würstelstände geniessen Weltruf – sie sind eine ge­ radezu legendäre Institution. Nicht nur gelten sie als inte­ graler Bestandteil der kulinarischen Landschaft Wiens, sie

1  Mariahilfer Gürtel (Fotos: Stefan Oláh) 2  LandstraßerHauptstraße 3  Julius-TandlerPlatz

gehören gewissermassen auch zum sozialen Inventar der Stadt: Hier – so ein verbreiteter Gemeinplatz – disputieren Hackler mit Prominenten bei einer «Haaßen», verbrüdern sich Direktoren mit Taxifahrern bei «Woidviatla» und «Käse­ kraina», tauschen Hausfrauen, Akademikerinnen und Hof­ ratsgattinnen über einem Paar «Frankfuata» Klatsch und Tratsch aus. Weit über die Befriedigung flüchtiger Bedürf­ nisse hinaus stehen die Würstelstände damit für ein charak­ teristisches Lebensgefühl, das in immer neuen Geschichten und Anekdoten, Legenden und Gerüchten seinen Ausdruck findet – bis hinein ins Phrasenhafte. So hat die fortwährende Beschwörung der Imbissstände als nationales beziehungs­ weise spezifisch Wienerisches Kulturgut schon einen erheb­ lichen Anteil an ihrem Mythos. Vom kulinarischen Standpunkt aus betrachtet besitzt Wien ganz fraglos eine eigene ausdifferenzierte Würstel­

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standkultur, die – bei allen Unterschieden – ihre offensicht­ lichste Parallele wohl im reichhaltigen Angebot an Kaffee­ spezialitäten in den noch um einiges sagenumwobeneren Wiener Kaffeehäusern hat: «Kaffee ja, aber welchen?», wie es dort so schön heisst. Und wie beim Kaffee ist dies auch bei der Wurst keine einfache Frage: Mögen die Würste im Ein­ zelnen auch nicht besser oder schlechter sein als jene, die etwa an deutschen oder schweizerischen «Wurstbuden» of­ feriert werden, so ragt doch das für die Stadt Wien repräsen­ tative Assortiment der Würstelstände im Vergleich der ver­ schiedenen Imbisskulturen deutlich hervor. Burenwurst, Debreziner, Waldviertler, Käsekrainer, Bratwurst, Frankfur­ ter und Leberkäse gehören zum Standardrepertoire der meis­ ten – neben Zugeständnissen an den Zeitgeschmack wie Hot-Dog-Variationen oder Currywurst; dazu werden diverse Zutaten gereicht, wie frisch geriebener Kren (zu deutsch: Meerrettich), süsser und scharfer Senf, eingelegte Gurken, Pfefferoni und Perlzwiebeln sowie verschiedene Gebäckop­ tionen und eine reichhaltige Auswahl an Getränken. Verführung und sozialer Gebrauch Interessant sind die Würstelstände allerdings nicht nur unter gastrosophischen, sondern vor allem unter stadtethnologi­

3

schen und konsumsoziologischen Gesichtspunkten: Sie sind funktionelle Gehäuse, die mit Botschaften versehen sind – weithin lesbare Schriftzüge, Reklametafeln und Produktwer­

Space-Junk – Weltraummüll – der von Menschen stammende

bungen, bebilderte Speisekarten, Preisschilder und neonbe­

Schrott ist, der das Universum zunehmend verschandelt, so

leuchtete Firmenlogos. Tatsächlich scheint die kommunikative

ist Junk-Space das, was die Menschheit auf unserem Plane­

Botschaft der Werbetafeln die formal-architektonischen Ele­

ten hinterlassen wird. Das gebaute […] Resultat der Moder­

mente der Würstelstände zu dominieren: eine «Heraldik der

nisierung ist nicht moderne Architektur, sondern Junk-Space.

Verführung»1, die keinen Zweifel daran lässt, dass es hier

Junk-Space ist das, was nach der Modernisierung übrig­

heisse Würstel gibt. Gebilde wie diese haben einen nicht zu

bleibt, oder, genauer gesagt, das, was gerinnt, während die

knappen Anteil an dem, was der niederländische Architekt

Modernisierung stattfindet, ihr Fallout.»2 Gewiss wollte

Rem Koolhaas einmal als Junk-Space bezeichnet hat: «Wenn

­Koolhaas in seinem Essay eher auf «die Summe unserer heu­ 71


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FRAGMENTE DES DENKBAREN Raum und Architektur im frühen österreichischen Film  There are many reasons for the strangeness of the knight’s move, the main one being the conventionality of art, about which I am writing. The second reason lies in the fact that the knight is not free – it moves in an L-shaped manner because it is forbidden to take the straight road. Knight’s Move, Viktor Shklovsky

74    archithese 5.2013

Autor: Thomas Ballhausen

Begriffs, auf weniger prominente Quellen des frühen Kinos

Die Beschäftigung mit der Kategorie des Raums und der me-

verwiesen werden. Gegenwärtige Beispiele sind – diese

dialen Darstellung beziehungsweise Reflexion von Architek-

seien auch im Sinne einer Seh-Einladung genannt – die Re-

tur – sei es als konkrete gebaute Umwelt oder auch als

flexion von gated communities in Weisse Lilien (2007), das

­imaginativer Entwurf – hat innerhalb der geisteswissen-

symptomatische Ausstellen einer horriblen Stadt/Land-Dif-

schaftlichen Disziplinen im letzten Jahrzehnt einen unleug-

ferenz in Hotel (2004), die Frage nach Sozialbau und (soge-

baren Aufschwung erfahren. Die weit gestreute Auseinan-

nannten) sozialen Verhältnissen in Nordrand (1999) oder die

dersetzung mit dem Medium Film und seiner Projektionskraft

Darstellung Wiens als Noir-Krimikulisse in Den Tüchtigen

stellt da keineswegs eine Ausnahme dar. Im Folgenden

gehört die Welt (1982). Räumliche beziehungsweise architek-

möchte ich auf unter diesem Aspekt viel diskutierte und

tonische Aspekte sind in all diesen Filmen, ohne den Unter-

wohlbekannte Beispiele des international erneut sehr erfolg-

suchungsgegenstand überbelasten zu wollen, zu finden.

reichen österreichischen Films eingehen; zudem soll auch

Wenn – um zwei gegensätzliche Beispiele ins Gedächtnis zu

ausführlich, unter Einrechnung des vielschichtigen Archiv-

rufen – in 1. April 2000 (1952) der Heldenplatz oder in Im


2

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Museum (1993) ein noch nicht gebautes Museum der deut-

das das sehende Auge zu reagieren bereit ist, spielt mit der

schen Geschichte filmisch ins sprichwörtliche Bild gerückt

Trägheit des Organs, das zur freundlichen Täuschung der

werden, ist die Historie stets Teil des aufgerufenen Diskur-

vermeintlichen Bildbewegung beiträgt. Schon die Beginne

ses. Das Archiv, das dabei auch als philosophische Praxis

der österreichischen Filmproduktion – die Filme der Firma

einer intellektuellen Logistik mit politisch-ethischem Unter-

­Saturn – sind vom Stempel des Erotischen und vom Vorwurf

bau mitgelesen werden muss, ermöglicht dabei aber nicht

des Pornografischen gekennzeichnet. Eine solch zweifach

nur das Aufschliessen eines zu sensibilisierenden Bild­

adaptive Bindung sollte schliesslich auch ganz wesentlich

depots: Unter Bezugnahme auf David L. Martins Studie

zum Ende des Betriebs beitragen. Der Begriff des Herren-

­Curious Visions of Modernity, in der ein Neudenken des aktiv

abends wurde in Bezug auf den Film aber schon vor der

gesetzten Archivs aus der Dreifaltigkeit von Institution,

­S aturn geprägt, wenn etwa 1903 der Wiener Praterkino-­

Sammlung und Techne gefordert wird, stehen nicht nur

Besitzer Josef Stiller medizinische Filme nur unter der Auf-

­Momente der Sammlung und des Körperlichen (etwa auch

lage der Publikumseinschränkung zeigen konnte: Der für die

im Sinne eines medialen Trägers) im Vordergrund, sondern

einschlägigen Aufführungen der Filme des französischen

auch eine Kartografie von Räumen und Orten. Diese Valenz-

Chirurgen Eugène-Louis Doyen entsprechende Aufdruck

verschiebung schliesst die Optionen einer archivgestützten

«Nur für Herren» auf den Werbeplakaten gewährleistete eine

Denkarbeit und die Kritik an linearen, progressionsgerichte-

zweifache Erfolgsgeschichte: die des Begriffs und die der

ten Geschichtsvorstellungen mit ein. Geschichte erzählt sich

damit unscharf bezeichneten Titel. Die Verkoppelung des

in Geschichten und ist weniger durch Geradlinigkeit denn

Erotischen beziehungsweise Pornografischen mit dem Me-

durch Brüche und Überlappungen gekennzeichnet. Die hier

dizinischen geht hier den üblichen Weg über den weiblichen

unternommene Andeutung einer Geschichte von Architek-

Körper. Ein Beispiel dafür ist etwa Doyens 1898 entstande-

tur und Raum im frühen österreichischen Film, die weder

ner und vor der British Medical Association in Edinburgh

vollständig sein kann noch will, soll deshalb in Form und

präsentierter Filmbeitrag Maniement de la table d’opération

Ansatz – so mein Ansinnen – auch dies spiegeln.

imaginée par Doyen, in dem der Arzt und ein Assistent wenig

1  Jessica Hausner, Hotel, 2004 (Abbildungen 1–3, 5, 6, 8–11, 13: Filmarchiv Austria) 2  Barbara Albert, Nordrand, 1999 3  Niki List, Café Malaria, 1982 4  Filmstills aus Peter Patzak, Kottan – Den Tüchtigen gehört die Welt, 1980 (Quelle: Youtube)

überraschend anhand einer sich tot stellenden, unbekleideEröffnung: Saturn-Film

ten Frau die Positionierungsmöglichkeiten des beworbenen

Auch die österreichische Filmgeschichte ist in die Schau­

OP-­T isches demonstrieren.

manie verwoben, die das Medium Film und das Auffüh-

Auch der Katalog der Saturn-Film und die erhaltenen

rungssystem Kino mit sich bringen. Das visuelle Primat, auf

Filmbestände, die vom Filmarchiv Austria aufwendig neu

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