archithese 6.02 - Architekt und Ingenieur / Architecte et ingénieur

Page 1

Architekt und Ingenieur – Architecte et ingénieur

Auswärtiges Amt Berlin Teppiche von TISCA TIARA Architekt: Prof. H. Kollhoff Fotograf: Ulrich Schwarz

archithese 6 02

Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur Revue thématique d’architecture

Die Ästhetik des Unterzugs Das technische Denken Wechselhaftes Verhältnis unter Baufachleuten Zusammenarbeit in Ausbildung und Praxis

TISCA Tischhauser + Co. AG ■ CH-9055 Bühler ■ 071-791 01 11 TIARA Teppichboden AG ■ CH-9107 Urnäsch ■ 071-365 62 62 TISCA/TIARA Objektberatung ■ CH-8021 Zürich ■ 01-241 97 10 info@tisca.com ■ www.tisca.com Leserdienst 106

archithese 6.02

CONCEPTA SG

November/Dezember

Nahtstellen der Disziplinen Aktuelle Bauten von: Kurt Ackermann mit Schlaich Bergermann und Partner Walter Bieler Jürg Conzett smarch mit Conzett, Bronzini, Gartmann Bollinger & Grohmann mit Coop Himmelb(l)au, Peter Cook und Colin Fournier Werner Sobek Yona Friedman Zaha Hadid mit Christian Aste Hubmann und Vass mit Peter Nigst Nicholas Grimshaw mit Antony Hunt Associates Toyo Ito mit Ove Arup

Architektur aktuell UN Studio Beat Rothen mit

BAU DOC BAU BULLETIN

Architekt und Ingenieur Architecte et ingénieur


Editorial

Architekt und Ingenieur

In der Antike waren Architekt und Ingenieur einfache Baumeister – der eine zuständig für die bauliche Gestaltung des friedlichen Alltags, der andere für Kriegsgeräte und -bauten. Die technologische Entwicklung im Kriegswesen und insbesondere in der Ballistik führte zu einer beschleunigten Differenzierung der beiden Berufe: Während sie sich bis anhin vor allem in den Objekten ihres Interesses unterschieden hatten, entwickelten sie zunehmend auch eigene Denkmuster und Entwurfstechniken. Nicht nur zum Nachteil der Baukunst – hervorragende Ingenieurwerke des 19. Jahrhunderts zeugen davon, welche ungeahnten, auch gestalterischen Möglichkeiten eine neuartige Betrachtungsweise eröffnen kann; doch die Scheidung der Disziplinen erschwerte zugleich auch das gegenseitige Verständnis und die Zusammenarbeit von «Künstler» und «Techniker». Seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts wird sowohl in der Lehre als auch in der Praxis immer wieder versucht, diese Entfernung zu überbrücken. Viele als architektonische Ikonen der Moderne gefeierte Bauten wären ohne die Leistung ausgezeichneter Ingenieure nicht entstanden. Nur eine gleichzeitige Erfüllung technischer und gestalterischer Anforderungen kann zu Bauten führen, in denen Konstruktion und Entwurf sich zu einer symbiotischen Einheit verdichten. Pier Luigi Nervi hielt gute Ingenieurkunst für eine notwendige, doch nicht hinreichende Bedingung für die Entstehung guter Architektur. In den letzten Jahrzehnten haben die Digitalisierung des Entwurfsprozesses, die Faszination für moderne Technologien und die Entwicklung neuer Baumaterialien das Verhältnis der beiden Disziplinen erneut beeinflusst. Ohne die enge Zusammenarbeit von Architekten, Ingenieuren und Herstellern könnten die im virtuellen Raum entwickelten, komplexen Formvorstellungen nur sehr bedingt in die Realität umgesetzt werden. Aus der Sicht der Architekten hat sich das Bild der Ingenieure in den letzten hundert Jahren immer wieder grundlegend geändert: heldenhafter Pionier, anregender Partner oder fantasieloser Technokrat? Auch das Selbstverständnis der Ingenieure blieb nicht unberührt. archithese 6.02 stellt die Frage nach dem heutigen Verhältnis der beiden Disziplinen. Denn trotz aller Unterschiede in der Denkweise haben die beiden Berufe auch einiges gemeinsam: die Technik des Entwerfens nämlich, eine eigenartige Synthese von Analyse und Empirie, die sich auch bei den mathematisch denkenden Ingenieuren nicht restlos auf eine exaktmethodische Herangehensweise reduzieren lässt. Oder, wie es Ove Arup seinerzeit formulierte: «Die Kunst besteht darin, Probleme zu lösen, die nicht formuliert werden können, bevor sie nicht gelöst sind. Die Suche geht weiter, bis eine Lösung gefunden ist, die als befriedigend betrachtet werden kann. Es gibt immer viele verschiedene Lösungen, und man sucht die beste – aber es gibt keine beste – nur mehr oder weniger gute.» Redaktion

Skisprungschanze am Bergisel, Innsbruck Architektur: Zaha Hadid LTD, London Tragwerksplanung: Christian Aste, Innsbruck Modellaufnahme

archithese 6.02 3



Ingenieure, die ihre kulturelle Verantwortung vernachlässigen, Architekten, die elementare Gesetze der Statik nicht kennen, Baufachleute, die weder kommunizieren noch zusammenarbeiten, erweisen der Baukunst nur bescheidene Dienste; doch die kreative Kooperation, die zu einer Integration von Form und Struktur führen sollte, ist schwer zu definieren. Ausser dem gegenseitigen Unverständnis und Misstrauen zwischen Architekten und Ingenieuren bedroht vor allem das Streben nach kurzfristiger Gewinnmaximierung im Bauwesen die Daseinsberechtigung beider Disziplinen.

Die Ästhetik des Unterzugs Teamwork von Architekt und Ingenieur: Mutmassungen aus dem off Robert Kaltenbrunner

Dass die ästhetische Moderne nach wie vor und unwidersprochen regiert, erkennt man daran, mit welchem Enthusiasmus die zwar einprägsame, aber höchst problematische Devise Louis Sullivans «form follows function» überliefert wird. Ihre mitunter bedingungslose Umsetzung führte, beginnend mit dem Neuen Bauen in den Zehner- und Zwanzigerjahren, in der Architektur zu einer starken Einschränkung des Formenkanons und damit auch des Repertoires der Tragwerke. Kubische Bauformen, stab- oder scheibenförmige Tragglieder bestimmten fast ausschliesslich das Vokabular, das das Idealbild der sachlichen, industriell gefertigten, modular strukturierten Architektur vermitteln sollte. Gleichzeitig bewunderte man die grossen «reinen» Ingenieurbauten, bei denen die statisch-konstruktiven Gesetzmässigkeiten angeblich ohne ausdrücklichen Gestaltungswillen zwangsläufig zu zeitloser Schönheit und Expressivität führten. Klarheit und Ehrlichkeit der Bauform waren höchste Maxime. Die Form folgt der Funktion: Und keiner ist je darauf gekommen, einmal nachzufragen, von welcher Form und, vor allem, von welcher Funktion in diesem Satz denn die Rede sein soll. Dennoch – oder gerade deswegen – dürfte es keine andere Parole geben, in der sich Architekten wie Ingenieure gleichermassen so beheimatet, ja aufgehoben fühlen. Misstrauen und Selbstkritik

Dass endlich zusammenwächst, was zusammengehört: Dieses Verdikt zum deutschen Mauerfall 1989 wird man indes – ohne Umstände und mit Überzeugung – kaum auf das aktuelle Verhältnis von Architekt und Ingenieur anwenden wollen. Wenn dieser auf jenen guckt, dann mit sardonischer Distanz. Umgekehrt lassen sich die Architekten zumeist auch nicht lumpen, wenn es die Fähigkeiten und Leistungen der benachbarten Profession zu «würdigen» gilt: etwa als «Zahlenknecht», der über die Berechnung der Biegesteifigkeit die Komplexität der Entwurfsanforderungen aus den Augen verliert. Solche Zuschreibungen sind recht ernüchternd; gravierender ist, dass unter dem Stichwort Baukultur allenfalls der zweite Blick auf die grosse Zahl jener Bauwerke fällt, die als «Ingenieurbauten» subsummiert werden: Strassen, Eisenbahnlinien, Starkstromleitungen, Kraftwerke, Müllverbrennungsanlagen, Kläranlagen, Wasserwerke und Wassertürme, 8 archithese 6.02

Fernsehtürme und Sendemasten – und natürlich Brücken. In diesen Bauwerken steckt ein Investitionsvolumen, das dem in Architektur und Hochbau zumindest ebenbürtig ist. Sie stehen zumeist unübersehbar in der Landschaft und werden doch kaum wahrgenommen: Das Auge hat sich an ihre Belanglosigkeit gewöhnt. Das sind «Zweckbauten», lautet die stille Übereinkunft, und es verbietet sich fast, an sie besondere Ansprüche zu stellen. Warum eigentlich? Nur wenige Ingenieure stellen sich augenscheinlich diese Frage mit ähnlich selbstkritischer Distanz wie Jörg Schlaich: «Nehmen wir hier die Brücken stellvertretend für den gesamten Ingenieurbau, ohne damit die Türme, grossen Dächer, Industriebauten, Flughäfen, Wasserbauten etc. aus dem Auge zu verlieren. Die grosse Zahl der heutigen Strassen- und Bahnbrücken ist eher monoton, funktional, vorwiegend lediglich einem selbst auferlegten technischen und ökonomischen Standard verpflichtet. Weil in Zeiten hoher Löhne und zu billig verschleuderter Ressourcen die plumpe Massenproduktion wohlfeiler ist als der individuelle, geistreiche Entwurf, wurden Standardplanungen mit einheitlichen Spannweiten und Querschnitten entwickelt, die höchstens noch bei der Gestaltung der Pfeiler Spielraum lassen oder ‹bestenfalls› an irregeführte Architekten zur Dekoration mit peinlichen Kinkerlitzchen freigegeben werden. Nein, die Besonderheit einer Brücke ist ihr jeweiliger Ort, den sie selbstbewusst markieren oder respektvoll reflektieren soll. In jedem Fall entwickelt sich ihre Gestalt aus ihrem Wesen, ihrer Funktion, ihrem Kraftfluss und ihrer Herstellung, über die sie dem interessierten Betrachter berichtet, ohne Camouflage und unnötiges Beiwerk. Sie erzählt von der Fortentwicklung der Technik, der Freude am Konstruieren, macht Verbinden bildlich. Jeder verantwortungsbewusste Ingenieur begrüsst den Zwang zur Wirtschaftlichkeit als Zuchtmeister im Hinblick auf eine effiziente, schöne und natürliche Konstruktion. Ingenieurbauten, seien sie technisch oder funktionell noch so perfekt, werden nur durch Kultur zur Zivilisation, sonst bleiben sie Technokratie, die die Menschen durchs Leben schleust, geistund wesenlos, wie Hühner in Legebatterien.»1 Die Härte dieses Urteils mag überraschen, wenn man an die Fortschritte gerade beim Brückenbau denkt, etwa an Chris Wilkinsons neue, schwenkbare Fussgängerbrücke über den


1– 3 Foster & Partners mit Büro Happold, The Great Court, British Museum, London 2000 1 Innenansicht 2 Sicht auf The Great Court vom Centre Point Building aus 3 Lüftungsdiagramm

1

3

2

archithese 6.02 9


In den Bauten und Projekten der jüngsten Zeit wird deutlich, dass Zaha Hadid von ihrer gewohnten kristallin-zersplitterten Formensprache Abstand nimmt und sich einer eher organisch anmutenden Entwurfshaltung nähert. Beispiel dafür ist die Sprungschanze am Bergisel oberhalb von Innsbruck. Funktionale, ästhetische und konstruktive Aspekte in Einklang gebracht zu haben, ist nicht zuletzt ein Verdienst des beteiligten Ingenieurbüros.

Schauplatz der Helden Zaha Hadid: Sprungschanze am Bergisel, Innsbruck Eva Maria Froschauer

Wie soll man bloss von diesem Monument zu berichten beginnen? Der Bergisel, ein Moränenhügel im Süden Innsbrucks, ist so eingehüllt in Historie und Geschichten, dass man ihn erst wie eine Zwiebel entblättern muss, um das Wesen eines Bergs, eines Begriffs und eines Memorialhügels annähernd freizulegen. Soll man mit der vaterländischen Geschichte beginnen? Der Berg ist darin das Symbol des Freiheitskampfs, auf dem der Tiroler Übervater Andreas Hofer 1809 seine Mannen wider Napoleon I. und die französisch-bayerischen Divisionen führte. Dieser Mythos Hofer mit seinen Idealisierungen und Heroisierungen ist seitdem nicht mehr vom Bergisel zu trennen, das Militärische sollte der Berghöhe anhaften bleiben: Sie wurde Schiessplatz der Garnison Innsbruck und später Erinnerungsort an die Gefallenen beider Weltkriege, wurde Ehrenhain der Kaiserjäger, Denkmalgarten und mit ihrer Terrassierung und Erschliessung eine prächtige Aussichtsstelle über der Stadt. Mit dem öffentlichen Café-Restaurant und der Plattform setzt das neue Schanzenbauwerk das panoramatische Erlebnis des Bergisel in Szene, eine Qualität, die dem alten Schanzenturm verwehrt blieb. Der grandiose Aussichtspunkt über Innsbruck liegt näher als die umgebenden Bergketten und doch hoch genug, um Schönheiten und auch städtebauliche Scheusslichkeiten offen zu legen, um die Autobahnbänder des Innund des Wipptals, die den Berg stetig umfliessen, zu zeigen. Oder soll man mit den modernen Helden beginnen?

In dieser Geschichte ist die Berghöhe ein Schauplatz der Springerlegenden. Seit den Zwanzigerjahren steht dort eine Schanze, auf der die Sportler im Flug einen einzigartig schaurigen Blick haben, den auf den Wiltener Friedhof. Seit 50 Jahren ist der Bergisel Station der Vierschanzen-Tournee und mit kaum weniger berühmten Namen von Sepp Bradl bis Sven Hannawald verbunden. Die alte Schanzenanlage wurde mit den beiden Olympischen Winterspielen 1964 und 1976 erwachsen und zu einem Bauwerk, das bis zur Sprengung im vergangenen Jahr immer schon markanter Blickpunkt in Innsbrucks Weichbild war. Der Bergisel ist allerdings nicht nur eine Schanze, sondern auch eine Veranstal54 archithese 6.02

tungs-Arena in einer landschaftlichen Kuhle, künstlich angelegt und doch natürlich wirkend, die den Papstbesuch würdig erlebte oder Herbert Grönemeyer auftreten liess. Zum modernen Heldentum – auch am Bergisel – zählt vielleicht noch die Geschichte, dass beim Skispringen heute ohnedies nichts mehr ist wie früher, seit das Privatfernsehen aus dem spröd-faszinierenden Sport eine muntere Sprungshow machte und bislang unbekannte Perspektiven auf den Schirm zaubert. Verfolgt man die Geschichte der alten oder der neuen Helden, so hat man noch nicht von der wechselvollen Chronologie des Schanzenbauwerks selbst gesprochen. Und auch nicht die Meinung der Anwohner gehört, die mit den Spektakeln rund um den Turm nicht immer glücklich sind. Monument der Dynamik

Es schien, dass dieser Berg und dieser Name an Überhöhungen und Mystifikationen nicht mehr zu übertreffen waren, als im Jahr 1999 die Stadt Innsbruck, die damalige Schanzenbesitzerin, in Handlungsdruck geriet. Die gesamte Anlage mitsamt dem Turm der Olympiade von 1976 (Planer Prachensky und Passer) war baulich wie sprungtechnisch marode. Die FIS, die oberste internationale Wintersportbehörde, legt längst Standards für Schanzenprofile fest, die ideale Sprungparabeln garantieren; für den Österreichischen Skiverband (ÖSV ) als neuen Schanzenbetreiber galt keine Ausnahme, sollte der Bergisel weiterhin Tournee-Station sein. Der Stadt gelang die Durchsetzung eines eilig durchgeführten und beschränkt ausgelobten Architekturwettbewerbs. Neben Dominique Perrault zum Beispiel, der sich seit längerem im Land engagiert, oder dem Tiroler Altmeister Hubert Prachensky bemühten sich noch fünf Planungsteams um Ideen zu einer wahrhaft sportlich-architektonischen Aufgabe. Aber es kam noch unerwarteter: Zaha Hadid erhielt den Zuschlag – sie liess mit einer bekannt elegant gezeichneten, doch auch realisierbaren Lösung die Mitbewerber hinter sich. Kurz danach holte noch ein Verhängnis die Bergisel-Arena ein, als dort bei einer Grossveranstaltung fünf junge Mädchen im Ausgangsgedränge zu Tode gedrückt wurden. Die Überholung der gesamten Anlange war nun nicht mehr aufzuschieben.


3 1 Zaha Hadid: Wettbewerbsmodell der Schanze 2 Seitenansicht Das Wettbewerbsmodell beschränkte sich auf die architektonische Form und blieb hinsichtlich der konstruktiven Lösung der Anlauframpe unklar. Zunächst war an Stützen gedacht, schliesslich wurde ein Fischbauchträger als Unterspannung gewählt. (Fotos 2, 4 + 5: Gerald Huber) 1

3 Konstruktive Skizze des Schanzenkopfs

2

archithese 6.02 55


Wohl nicht ganz zufällig entstand das Eden Project in England, der Heimat Joseph Paxtons: Das in der Nähe der Stadt St. Austell in Cornwall gelegene Gebäude ist das grösste Gewächshaus der Welt, dient aber wie sein illustrer Vorfahre, der Kristallpalast, in erster Linie als Ausstellungsraum – in diesem Fall für die Pflanzenvielfalt der Erde. Die riesigen, ineinander übergehenden Kuppeln sind modular aufgebaut. Das mit Kunststoff-Folie überzogene, räumliche Fachwerk aus regelmässigen Sechs- und Dreiecken konnte mit einem minimalen Materialaufwand erstellt werden.

Himmel auf Erden Nicholas Grimshaw mit Anthony Hunt: Eden Project, Bodelva, 1996 – 2001 Simone Korein

Das Gemeinschaftswerk von Nicholas Grimshaw & Partners und Antony Hunt Associates ist nicht zu übersehen: Acht riesiege, blau schimmernde, teilweise ineinander übergehende Kuppeln schmiegen sich wie riesige Seifenblasen in die bewegte Topografie einer ehemaligen Kaolingrube in Cornwall. Die so genannten Biome bedecken insgesamt ein 23 000 Quadratmeter grosses Areal, wobei sie – ganz gemäss Buckminster Fullers Traum – ein maximales Volumen bei einer minimalen Oberfläche umschliessen. Ihre Radien betragen zwischen 18 und 65 Meter; der Innenraum misst maximal 55 Meter Höhe und 240 Meter Länge und ist stützenfrei. Die Wände der Biome bestehen aus zwei zu einer räumlichen Struktur verbundenen Ebenen. Die äussere Ebene ist wabenförmig aus gleichseitigen, sechseckigen Modulen mit einem Durchmesser von 5 bis 11 Metern aufgebaut. Jedes Modul ist aus 6 galvanisierten Stahlröhren zusammengesetzt, also aus kleinen, relativ leichten und problemlos transportierbaren Elementen: Dadurch war es möglich, jedes Modul vor Ort zusammenzustellen und mit dem Kran an seine vorbestimmte Position zu hissen, wo es mit gewöhnlichen Kno-

ten (ebenfalls aus Stahl) an die benachbarten Module befestigt wurde. Die innere Ebene ist mit der gleichen Technik zusammengestellt, besteht aber aus gleichseitigen Sechs- und Dreiecken: Jede Seite eines Sechsecks ist auch die Seite eines Dreiecks. Die beiden Ebenen liegen so übereinander, dass die Eckpunkte der äusseren Sechsecke über die Mitte der inneren Dreiecke zu liegen kommen; die Verbindung der Knotenpunkte durch diagonal angeordnete, runde Hohlprofile bildet daher Tetraeder, als deren Basis die Dreiecke der inneren Ebene fungieren, während die Spitze an die Eckpunkte der äusseren Sechsecke zu liegen kommt. So entsteht ein räumliches Fachwerk aus regelmässigen geometrischen Formen und platonischen Körpern, das trotz seiner Komplexität relativ einfach wirkt und an natürliche Gebilde erinnert. Digitalisiertes Öko-Paradies

Die Struktur von Eden wurde von den Architekten Nicholas Grimshaw & Partners und den Ingenieuren Anthony Hunt Associates in enger Zusammenarbeit entwickelt und stellt eine Verfeinerung einer Idee dar, die bereits bei einem früheren

1 Situationsplan 2 Innenansicht 3 Längsschnitt 4 Aufbau des Fachwerks 5 Ansicht von aussen 1

62 archithese 6.02

2


gemeinsamen Projekt, dem Internationalen Terminal der Waterloo Station, zur Anwendung gekommen war. Eden entstand vorerst als dreidimensionales, digitales Modell, das laufend von den am Projekt Beteiligten revidiert und modifiziert wurde. Als Ausstellungsgebäude für die globale Biodiversität ist das Eden Project auf möglichst ökologische Weise gebaut. Jedes sechseckige Modul ist mit einer dreifachen Schicht transparenter Kunststoff-Folie bedeckt, die die Wärme im Innern der Biome zurückhält. Ethylen-Tetra-Fluoro-Ethylen ist für ein weites Lichtspektrum durchlässig, widerstandsfähig, antistatisch und recyclierbar; weil es auch etwa zehn Mal leichter ist als eine entsprechende Menge Glas, konnte die Tragstruktur weiter minimiert werden. Die exakte Situierung der Biome innerhalb des zur Verfügung stehenden Areals erfolgte unter anderem gemäss energetischen Kriterien: Der gewählte Standort ermöglicht eine optimale passive Nutzung der Sonnenenergie. Das aktive Heizsystem dient lediglich als Ergänzung für die Feinjustierung des Klimas. Auch Lüftung und Bewässerung wurden möglichst sparsam gestaltet; das an den Kuppeln gesammelte Regenwasser wird für die Bewässerung eingesetzt. Die entsprechend ausgeklügelte Haustechnik ist ein Werk von Ove Arup & Partners. Ein Heer von Besuchern

Die Anlage besteht gegenwärtig aus einer Tropen- und einer Trockenzone, die von je vier Biomen unterschiedlicher Höhe gebildet werden – dem Wachstum der Pflanzen entsprechend,

die die einzelnen Raumteile beherbergen. Ein Verbindungstrakt zwischen den beiden Zonen dient als Eingang des gesamten Komplexes sowie als Restaurant. Ein Besucherzentrum mit lehrreichen Multimedia-Shows sowie einem Souvenir- und Pflanzenladen runden das Angebot ab: Das Projekt soll das Verständnis für die Bedeutung der pflanzlichen Artenvielfalt fördern und ist sehr pädagogisch aufgebaut, ohne jedoch auf Ähnlichkeiten mit einem Erlebnispark zu verzichten. Eden hat insgesamt 86 Millionen Pfund gekostet, für deren Hälfte die englische Millenniumslotterie aufkam. Es wurde im März 2001 eröffnet und ist seither ein erstklassiger Publikumsrenner. Bis zu 14 000 Besucher pro Tag wurden gezählt; neue Parkplätze mussten in aller Eile bereitgestellt werden, ein halbes Jahr nach der Eröffnung waren es bereits 2000. Jetzt soll die Anlage erweitert werden, wobei die Bausumme die ursprünglichen Erstellungskosten deutlich übersteigt: Geplant sind eine dritte, rund 50 Meter hohe Kuppel mit einer Sandwüste und Kakteen sowie ein Konferenzzentrum und ein 200-Zimmer-Hotel. Simone Korein ist Architekturkritikerin und lebt zurzeit in Paris. Architekten: Nicholas Grimshaw & Partners, Mitarbeit: Andrew Whalley (Leitung), J. Brewis, D. Kirkland (Projektarchitekten), J. Ahmed, V. Bartulovic, D. Boston, C. Brieger, V. Chang, A. Davis, F. Eckhardt, A. Haw, P. Hooper, W. Horgan, O. Kon-

rath, A. Kovacic, Q. Lake, R. Morrell, T. Narey, M. Niggemeyer, M. Pirnie, M. Salman, K. O’Sullivan, D. Penn, M. Pawlyn, J. Porral Hermida, T. Su Ling; Tragwerksplanung: Anthony Hunt Associates; Haustechnik: Ove Arup & Partners; Landschaftsarchitektur: Land Use Consultants; Auftraggeber: The Eden Project Ltd.

3

4

5

archithese 6.02 63


Ein Gebäude als Verkörperung einer Option unter vielen, Öffnungen und geschlossene Flächen als Variationen eines Themas, Architektur als Zwischenstadium eines theoretisch unendlichen mathematischen Algorithmus: Der diesjährige Serpentine Gallery Pavilion hätte ohne die Zusammenarbeit des Architekten Toyo Ito und des Ingenieurs Cecil Balmond von Ove Arup & Partners weder gedacht noch realisiert werden können. Gebaut wurde der Pavillon als verkleidetes Fachwerk aus Stahl – also in einer Technik, die im Vergleich mit dem theoretischen Überbau eher bodenständig anmutet.

Flächen für Körper Toyo Ito mit Ove Arup & Partners: Serpentine Gallery Pavilion, London, 2002 Simone Korein

Als Beitrag zur Diskussion über Gegenwartsarchitektur beauftragt die Londoner Serpentine Gallery jährlich ein Architekturbüro, für rund drei Sommermonate einen Gartenpavillon in den Kensington Gardens zu erstellen. Nach Zaha Hadid (2000) und Daniel Libeskind mit Ove Arup (2001) konnte Toyo Ito den dritten Pavillon der Reihe konzipieren, auch er gemeinsam mit Cecil Balmond von Ove Arup & Partners, der regelmässig mit Architekten wie Rem Koolhaas, Daniel Libeskind und James Stirling zusammenarbeitet. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern, die beide sehr bewegte Volumen aufwiesen, präsentierte sich der diesjährige Bau als einfacher Quader, auf einem quadratischen Grundriss von 18 Metern Seitenlänge basierend und mit einer Höhe von 4,5 Metern. Seine Komplexität steckte im Aufbau: Hülle und Struktur waren zu einer Einheit verschmolzen, in der sich auch architektonische Kategorien wie Boden, Decke, Wand und Öffnungen auflösten. Äusserlich präsentierte sich der Pavillon als eine raumhaltige Hülle, als ein Mosaik flacher Volumen, die entweder als volle oder als hohle Körper ausgebildet waren. Ein scheinbar zufälliges Muster sich kreuzender Linien, die sämtliche sechs Flächen des Quaders überzogen, bildete die Grenzen der Mosaikelemente. Der Verlauf der Linien basierte auf einem von Cecil Balmond und Daniel Bosia von Ove Arup entwickelten Algorithmus. Die dadurch definierten dreieckigen und rhomboiden Flächen lagen entweder in einer Ebene, oder sie wurden über die Ecken und Kanten des Volumens «gefaltet». Mit Glas oder Aluminium ausgefacht oder einfach leer gelassen, bildeten sie offene und geschlossene Bereiche, die als

64 archithese 6.02

Ergebnisse eines einzigen spielerischen, mathematischen Verfahrens verschiedene Variationen des gleichen Themas waren. Der Entwurf bestand weitgehend in der Entwicklung eines Prozesses, von dem das fertige Gebäude ein ausgewähltes Stadium darstellte: Der Pavillon war in der Form, in der er realisiert wurde, einerseits ein materielles Gebilde, andererseits verkörperte er lediglich eine Option unter vielen – eine theoretische Relativierung seiner Existenz, die bei einem provisorischen Bau nicht unangemessen sein mag. Die Möglichkeit, den Algorithmus beliebig weiterzuführen, verlieh dem Pavillon eine virtuelle Dimension; Toyo Itos langjährige Auseinandersetzung mit den Aspekten der Offenheit und des Fliessens in der Architektur – und insbesondere in öffentlichen Bauten – wurde hier spürbar. Interessant ist, dass das Gebäude in diesem Fall nicht nur für verschiedene Nutzungen und Interpretationen offen war und einen fliessenden Bewegungsraum darstellte, sondern durch seine Entstehung gleichsam selbst im Fluss blieb – was nicht zuletzt auch dem Beitrag der Ingenieure zu verdanken war. Die statische Stabilität gewährleistete ein Fachwerk von klingenartigen, flachen Stahlstäben. Die Konstruktion des Pavillons erforderte eine enge Zusammenarbeit mit den Stahlherstellern (Hare Ltd.): Um die Präzision der Ausfachungen zu garantieren, wurden in den Berechnungen auch die Verformungen berücksichtigt, die während des Aufbaus durch das Schweissen entstehen würden: das Gewicht der Paneele des Daches beträgt 5 bis 10 Tonnen, das grösste Wandelement misst 20 auf 4,5 Meter.


A

B

C

1 Axonometrie A: Äussere Oberfläche: Doppelverglasung B: Äussere Oberfläche: AluminiumPaneele C: Struktur: Fachwerk von stählernen Flachprofilen D: Innere Oberfläche: Aluminium-Paneele E: Innenraum F: Innere Oberfläche: Aluminium-Paneele

G: Struktur: Fachwerk von stählernen Flachprofilen H: Äussere Oberfläche: AluminiumPaneele I: Äussere Oberfläche: Doppelverglasung J: Boden: Sperrholz, Rasen K: Fundation: Stahlgitter, Holzunterzüge 2 Aussenansicht 3 Innenansicht

D

E

F G H I

J

2

K

1

3

archithese 6.02 65


Architektur aktuell Beat Rothen: Einfamilienhaus am Hammerweg, Winterthur, 2000 – 2002

Bewohnter Metallquader Das zweite Einfamilienhaus von Beat Rothen steht in einem gewöhnlichen Wohnquartier in Oberwinterthur. Ganz in Metall gehüllt, grenzt sich der Neubau durch seine strenge und einfache kubische Gestalt von den Ein- und Mehrfamilienhäusern der Nachbarschaft ab, sucht aber gerade in seiner Radikalität auch eine Verbindung zu ihnen. Ein präzise und sorgfältig formulierter Beitrag zum Bau von Privathäusern.

1

76 archithese 6.02


3 1 Ansicht von Süden: Die speziell für dieses Gebäude entwickelten Schiebe-Falt-Läden brechen die formale Strenge des Baukörpers auf.

2 Situation 3 Ansicht von Norden: Die weitgehend geschlossene Fassade weist einzelne horizontale Schlitze auf.

2

Das Einfamilienhausquartier am Fuss des Lindberges in Oberwinterthur, als Wohngebiet in den letzten Jahrzehnten entstanden, sieht aus wie viele andere hierzulande auch: Es konkurrieren dunkle Holz- mit glatten Putzfassaden, es stehen Steil- neben vereinzelten Flachdächern. Eine Ansammlung gut schweizerischen Durchschnitts, was die architektonische Gestaltung betrifft; als hätte sich der individuelle Wohnstil nach aussen gekehrt. Mehr oder weniger zusammengehalten wird das heterogene Quartier durch die längs zum Hang verlaufenden Erschliessungsstrassen, die Ausrichtung der einzelnen Parzellen und das grosszügig vorhandene Grün, welches das Gebiet durchsetzt. Vereinzelt ist ein Grundstück noch unbebaut und bietet Weidefläche für Schafe. Zuoberst am Hang, im Übergang zur unbebauten Zone, führt ein Spazierweg zu einem beliebten Aussichtspunkt von Oberwinterthur. Von hier fällt der Blick über die kleinteiligen Wohngebiete hinunter zur Stadt mit ihren zum Teil

grossflächigen Industriestrukturen und schweift – bei schönem Wetter – in die Ferne, bis hin zu den Alpen. Aufgebrochene Strenge Wie eine riesige Dachlukarne steht das von Beat Rothen dieses Jahr fertig gestellte Haus inmitten der anderen Privathäuser an der Ecke Hammerweg/Kurlistrasse, grenzt sich ab und sucht doch Verbindung. Der kompakte Baukörper, vollständig mit vorbewittertem Kupfer-Titan-Zink-Blech eingekleidet, scheint förmlich aus der Neigung des Hangs heraus zu wachsen. Bei näherem Hinsehen bestätigt die Art, wie der Übergang vom Volumen zum Terrain gelöst wurde, diesen Eindruck: Eine grabenartige Vertiefung umgibt den Quader, die Metallverkleidung läuft bis unter das Terrain – gleichsam ein nach innen gestülpter Sockel. Zwar ist die Wahl des Materials für den Ort ungewöhnlich, doch in seiner Verarbeitung mit den unterschiedlich hoch ausgebildeten Stehfälzen reagiert es auf schon vorgefundene Elemente wie Dachlukarnen archithese 6.02 77


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.