archithese 6.09 - Nachhaltigkeit / Sustainability

Page 1

advertising, art & ideas

Nachhaltigkeit – Sustainability

archithese

6.2009

Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur

Strategies for the Sustainable Turn

International thematic review for architecture

Minergie – Superlabel in Erklärungsnot Masdar City Energetische Sanierung von Altbauten Regimes of Waste Anzeichen einer «Physiologischen Architektur» «Tropical Architecture» Klimakapseln Minimum Impact House Medienhaus Marburg Thomas Schütte Haus in Südfrankreich Wiedemann /Mettler Wohnhaus Campodels, Chur

ZEITLOS Wenn ein Teppich nicht nur schmuckes Accessoire, sondern modernes Design ist. Wenn seine Ästhetik Räume durchflutet und ein Gefühl von stiller Intimität schafft. Dann steht gewiss der Name TISCA TIARA dahinter. Mit aussergewöhnlichen Materialien und faszinierenden Strukturen. Für Teppich- und Stoffkreationen von bleibender Schönheit. www.tisca.ch THE TOTAL TEXTILE COMPANY Leserdienst 106

archithese 6.2009

November / Dezember

Preis: 28 CHF/18 Euro

Nachhaltigkeit Sustainability


EDITORIAL

Nachhaltigkeit Seit der Klimakonferenz von Kyoto ist der Begriff der sustainability – zu deutsch Nachhaltigkeit – aus dem Architekturdiskurs nicht mehr wegzudenken. Kaum ein Haus, kaum eine Siedlung, kaum eine Stadtplanung, die nicht mit dem Label der Nachhaltigkeit versehen wäre. In der Schweiz setzt man auf Minergie, einen Standard, der ursprünglich von der Lüftungsindustrie erfunden wurde, inzwischen aber beinahe zu einer offiziellen Norm avanciert ist. Langfristiges Ziel in Zürich und anderswo ist darüber hinaus die 2000-Watt-Gesellschaft; erste Projekte wurden im November im Rahmen der Ausstellung Bauen für die 2000-Watt-Gesellschaft in Zürich vorgestellt. Konzepte wie Minergie oder 2000-Watt-Gesellschaft werden mitunter vorschnell auf die Frage des energetischen Einsparungspotenzials reduziert. Dabei muss Nachhaltigkeit komplexer, man könnte auch sagen ganzheitlicher gedacht werden. Nimmt man die berühmte Trias von Vitruv – utilitas, firmitas, venustas – als Grundlage, so liegen die Aufgaben einer zukünftigen Architektur auf der Hand: Es geht um nachhaltige Nutzungen, nachhaltige Baustoffe und Ressourcen, aber auch um eine nachhaltige Ästhetik. Daher widmet sich archithese in diesem Heft dem Thema Nachhaltigkeit aus verschiedenen Blickwinkeln. Konzepte wie Minergie werden ebenso einer kri-

Ausstellung Bauen für die 2000-WattGesellschaft, Zürich, November 2009, in einer Ausstellungsinstallation von Holzer Kobler Architekturen (Foto: Stadt Zürich)

tischen Betrachtung unterzogen wie die vorgebliche Öko-Stadt Masdar; Ideen der «Tropical Architecture» oder von Klimakapseln zeigen, dass das Postulat der Nachhaltigkeit keineswegs so neu ist, wie zuweilen behauptet wird. Schliesslich gelingt es zeitgemässer architektonischer Forschung – etwa von R&Sie(n) – Fragen der Nachhaltigkeit auf ungewohnte Weise neu zu stellen. Redaktion

In eigener Sache: Seit Anfang Oktober ergänzt Hannes Mayer das Redaktionsteam. Hannes Mayer studierte Architektur an der TU Cottbus, TU Eindhoven und der Bartlett School of Architecture in London, wo er sowohl sein Diplom wie auch seinen Master of Architecture erwarb. Er gründete M-A-O architecture and optimism in London und hat bereits mehrfach in archithese publiziert.

2

archithese 6.2009

121904



ARCHITEKTUR AKTUELL

Balanceakt zwischen Kunst und Architektur

1

2

20

archithese 6.2009


3

1 Wohnbereich und Terrasse im 2. OG (Fotos: Wiedemann/Mettler) 2 Schlafzimmer 3 Aussenansicht 4 Schnitt

4

WIEDEMANN / METTLER: WOHNHAUS

Schallübertragung. Grundrisse und Fassaden waren

verschieben sich zueinander. Die Öffnungen lassen

CAMPODELS, CHUR

eher von visuellen denn von praktischen Aspekten

keinerlei Rückschlüsse auf die innere Raumauftei-

In der unmittelbaren Nähe des Spitals Chur steht

bestimmt, und so musste das Projekt mehrmals

lung zu, das Sichtbetonvolumen wirkt körperhaft und

inmitten einer heterogenen, lockeren Überbauung

überarbeitet werden, bis es in seiner heutigen Form

strahlt eine gewisse Anonymität aus. Der expliziten

auf einem steil abfallenden Grundstück ein monoli-

gebaut werden konnte.

thischer Körper aus Beton.

Neutralität widersetzt sich allerdings der polygonale

Geblieben sind immer noch zwei unabhängige

Grundriss – und der offene Abstellplatz mit den bei-

Das Künstler- und Architektenpaar Pascale Wie-

Geschosswohnungen, die sich um einen unsicht-

den Eingangstüren, die sich farblich von der zurück-

demann und Daniel Mettler hat sich mit dem Ge-

baren Mittelpunkt drehen, auch wenn sich das an

haltenden Gestaltung absetzen.

bäude an die schwierige Symbiose zwischen Kunst

Grundriss und Fassade nicht direkt ablesen lässt.

Über zwei gegenläufige, miteinander verschränk-

und Architektur gewagt – für eine Bauherrschaft

Es handelt sich um ein Haus, das auch an einem

te Treppen gelangt man von der Eingangsebene

mit einem hohen Gespür für Ästhetik und grosser

beliebigen anderen Ort stehen könnte; entscheidend

aus in die Wohnungen im ersten und zweiten Ober-

Erfahrung im Bauen und Einrichten. Eine banale Lö-

war der Wille zur Form, während der unmittelbare

geschoss. Nichts wurde dabei dem Zufall überlassen. Vier gleichwertige Räume bilden jeweils eine

sung kam zu keiner Zeit infrage; vielmehr sollte das

Kontext, die Topografie und die Orientierung des

geplante Haus das Resultat einer ungewöhnlichen

Gebäudes eher als nachrangig gewertet wurden. In

Wohneinheit. Der eigentliche Wohnraum öffnet sich

Zusammenarbeit sein: ein wagemutiges Experiment.

einem nur bedingt spezifischen Umfeld besteht eine

zur Treppe. Das Schlafzimmer, zur Strasse hin ori-

Anfänglich bestand die Idee eines Hauses mit

denkbare Lösung darin, sich von der städtebauli-

entiert, besitzt direkten Zugang zum Bad, das der

zwei Wohnungen, die über einen von zwei ineinander

chen Umgebung bewusst zu distanzieren. Hinzu

Eingangszone gegenüberliegt. Die Küche zeigt sich

verschachtelten Treppen gerahmten Lichtschacht

kam hier eine künstlerische Herangehensweise: die

grosszügig und weist im ersten Obergeschoss einen

verbunden sein sollten. Die geplanten Räume waren

Gestaltung eines Objektes, das nur für sich alleine

direkt angegliederten Gartensitzplatz auf. Ein weite-

offen gestaltet, die Nasszellen mit Ledervorhängen

steht und auf nichts Rücksicht zu nehmen hat.

res Zimmer, über die Küche erschlossen, dient als

von den Zimmern abgetrennt; das Konzept scheiter-

Eine eigentliche Hauptfassade existiert nicht,

Arbeits- oder Kinderzimmer. Im zweiten Geschoss

te an der Durchführbarkeit hinsichtlich Grösse und

Flächen und Fenster wechseln einander ab und

ist der Wohnraum zugunsten einer introvertierten

21


MISSION ERFÜLLT Verwaltungsgebäude der Stiftung Marburger Medien Die Stiftung Marburger Medien wünschte sich für ihr neues Domizil ein in jeder Hinsicht nachhaltiges Gebäude. In parkartigem Ambiente gelegen, überzeugt das Medienhaus nicht nur durch ein ausgeklügeltes energetisches und haustechnisches Konzept, sondern auch eine zeitgemässe Ästhetik, die weder Richtung Öko noch Richtung Hightech tendiert.

1 Südwestfassade (Fotos: Walter Mair) 2 Gesamtansicht 3 Büro mit Aussenraum

42

archithese 6.2009


2

3

Text: Hubertus Adam

Architekten Luca Deon aufzunehmen, zu dem persönliche

Mit der Zeit gehen, aber nicht blindlings dem Zeitgeist fol-

Kontakte bestanden. Und man entschied sich, mit Deon wei-

gen – so könnte man die Haltung der Stiftung Marburger

terzuarbeiten, was ohne Zweifel als ein Glücksfall zu wer-

Medien umreissen. Vor knapp hundert Jahren als Marburger

ten ist. Eines war den Verantwortlichen klar: Ein beliebiges

Blätter-Mission gegründet, erhielt die Organisation 2001 ei-

Renditeobjekt, das nach 25 Jahren abgeschrieben ist, sollte

nen neuen Namen. Billige Traktate unter die Leute zu brin-

auf dem Grundstück nicht entstehen. Die christliche Orien-

gen – mit diesem Image möchten die heutigen Verantwort-

tierung der Stiftung führte zu einem nachhaltigen Konzept:

lichen nicht mehr viel zu tun haben. «Verteilschriften» und

Ziel war ein langlebiges Gebäude mit adäquaten Materialien,

Karten, kleine Präsente, Broschüren und Losungshefte sind

niedrigen Unterhaltskosten und minimalen Energieaufwen-

die Produkte, welche über die Stiftung bezogen werden kön-

dungen. Ausserdem wünschte man sich ein Bauwerk, wel-

nen und christliche Werte im Alltag vermitteln. Der Verlag

ches das Selbstverständnis der Stiftung auch nach aussen

ist der evangelischen Kirche verbunden, bedient aber auch

kommuniziert: Offenheit, Modernität und Transparenz. Als

katholische oder freikirchliche Auftraggeber. Die Verteilung

Christ in der heutigen Gesellschaft zu agieren, so formuliert

erfolgt nach dem Solidarprinzip: Wer Artikel erhalten möchte,

es der Geschäftsführer der Stiftung, Jürgen Mette, bedeute,

erhält sie gratis, wird aber entsprechend seinen finanziel-

sich nicht abzuschotten, sich der Gesellschaft gegenüber zu

len Möglichkeiten um eine Spende gebeten. Dieses Prinzip

öffnen und zeitgemäss zu sein.

funktioniert offenkundig gut; in den vergangenen Jahren ist die Zahl der Produkte und daher auch diejenige der Mitar-

Innen und aussen

beiterInnen gewachsen. Die stiftungseigene Liegenschaft

Das Grundstück, das Deon vorfand, zeichnete sich durch ei-

in der Marburger Südstadt erwies sich als zu klein, und so

nen parkartigen Charakter aus, und so bildete der Gedanke

entschied man sich zu einem Neubau, der durch den Verkauf

eines «Hauses im Park» den Ausgangspunkt seines Entwurfs.

des bisherigen Grundstücks sowie durch Spenden finanziert

Mit seinen unterschiedlich weit auskragenden Vordächern

wurde. In der Strasse Am Schwanhof, unweit des bisherigen

und mit seiner zurücktretenden Verglasung – sämtliche

Domizils, hatte die Stiftung ein Grundstück erworben und

Fassaden sind in Glas aufgelöst – wirkt das dreigeschos-

von einem ortsansässigen Architekten ein Bauprojekt erar-

sige Gebäude, dessen Sockelgeschoss zu zwei Dritteln im

beiten lassen. Als Zweifel an dessen Qualität laut wurden,

Boden versenkt ist, eher wie ein Pavillon als ein klassisches

begann die Stiftungsleitung, Gespräche mit dem Luzerner

Bürogebäude. Dazu passt, dass die Unterseiten der Dach-

43


MASDAR The City of the Future Like many Middle-Eastern states, Abu Dhabi built its modern economy on oil production. However, it has recognized that we must develop alternative energy models if we are to reduce the environmental impact of our contemporary lifestyles. The Masdar Initiative was established in order to create a model for future energy security within a wholly sustainable framework.

Text: Norman Foster

in an industrialised society, and look at energy consumption,

Masdar has far reaching significance in global terms, in that

you find that transport represents some 35 per cent of the

it tackles design in a holistic sense. It is not specific in terms

total and buildings 44 per cent. There is a critical interac-

of individual buildings, important though they may be. In-

tion between the two in design terms. As we look at global

stead it looks at the bigger picture. If energy consumption

population and its redistribution, it is also important to note

is a consequence of demand, then you could argue that de-

that that process of urbanisation is changing rapidly. Today,

mand is a consequence of design – and that everything in our

more people live in cities than in the whole history of civil-

world is the result of a conscious act of design. In that sense,

isation and that pattern is accelerating. What took two hun-

you cannot divorce the issue of energy from architecture

dred years in Europe or North America is now taking twenty

and urban planning. But really architecture comes down to

years in countries such as China – acceleration by a factor of

buildings, and urban planning comes down to infrastructure.

ten. It was not that long ago, in 1939, that London was the

Those two elements are normally considered separately, but

most populous city in the world, with a population of 8.6

Masdar brings them together as its central thesis – and you

million, but it has been overtaken by a number of megacities

can only do that at the level of community planning. That is

around the world, with populations in excess of 15 million.

what makes Masdar so critically important and progressive

That raises several questions: what are the models for these

in a global context. Another way of describing this process is

new cities; and how do we adapt existing communities to

‘urbanisation’. If we look at what urbanisation really means,

46

archithese 6.2009

accommodate rising populations?


A better world

ent terms. However, even if we could reach the point where

First, as an optimist, I would say that to believe in a sustain-

we could design a building that consumed zero energy, we

able future is to trust that it will result in a better world. The

would still have a problem. This is because we also have to

city of the future has to be a more attractive place in which

look at transport. If you analyse that energy figure of 35 per

to live and work. If Masdar or any sustainable initiative does

cent, you find that a large majority of it – some 26 per cent

not result in a great place to be, if it isn’t a city that you real-

of the energy total – is consumed by people commuting on a

ly want to live in or visit, if it does not lift the spirits, then it

daily basis. Add that to the 44 per cent figure for buildings

is not fulfilling a central part of its function. Second, to be

and you see that some 70 per cent of all the energy we use is

sustainable, we have to build for the long term. Flexibility

accounted for by the daily interaction between buildings and

is a key consideration. Masdar is being planned in 2008 and

transport systems. Obviously we have to look at this pattern

will be finished in 2018, so it has to be able to respond to new

of consumption in an integrated way if we are to shrink that

technologies that will have an impact on the way we live in

figure. (There are complicating factors at play too: you can

the next ten years and beyond – things which have yet to be

have a beautifully designed car that operates on a thimble

invented and that we can only dream about now.

full of petrol, but you can still be stuck in a traffic jam.)

It would be wrong, however, to focus wholly on technology in this context. There is a very simple pyramid diagram

Density

that says the biggest environmental gain really comes from

There is a crucial relationship in urban terms between energy

the least financial investment: it rests on primary decisions

consumption and density. The lowest density cities, those

about the city’s orientation and form. This is equally true of

that sprawl, are huge per capita energy consumers. At the

the buildings that separately comprise the city. As you move

other end of the scale, very high density cities have low levels

closer to the apex of the pyramid – to more active controls –

of energy consumption. Somewhere in the middle there is an

the environmental gains reduce. However, somewhere in the

interesting balance – a city that is high density, economical

middle through passive controls such as responsive shading,

and civilised. That city has a mixture of uses; it is socially

the use of daylight and natural ventilation, you will find very

diverse; people live and work in the same environment; it

good value for money. Currently the smaller contributions for

is well served by public transport and the pedestrian experi-

the higher cost are coming from emerging systems such as

ence is enjoyable. Such cities – Zurich, Geneva, Copenhagen –

photovoltaics. That situation will change of course. In five or

become destinations or tourist attractions. In any quality-of-

ten years this diagram may very likely be described in differ-

life survey they come out on top. Interestingly, Hong Kong, one of the highest density cities, has the greatest life expectancy

1 Visualisierung Masdar (Foster + Partners)

of any city. Monaco, which is very high density, also sustains one of the most affluent communities in the world, even if a significant proportion of its residences are second homes. You could polarise it and say that there are traditional cities that have taken one thousand years to evolve and newer cities that are perhaps less than one hundred years old – roughly the same age as the car. What can we learn from these models? If you take a new city like Detroit and compare it with an old one like Copenhagen, you find that the old is twice the density of the new, and the difference in fuel consumption is a factor of ten. You also have to factor in the quality of life in terms of downtown Detroit and downtown Copenhagen. Interestingly, if you look at densities you find that Monaco has just over 16,000 people per square km; Hong Kong has 17,000. The most desirable areas of London – Mayfair, Chelsea, Knightsbridge – are of remarkably similar densities. Yet, if one says that the answer is high density, people tend to assume that they are going to have to make sacrifices, that it is a poverty driven future scenario. That is why it is critical to learn lessons from the past. Look at the most desirable areas of London and you find that they are built to higher densities than the poorer parts of the city and significantly higher than typical modern developments. People that live there have access to public transport; they can walk to a restaurant or theatre; there are parks and generous public spaces. These attributes have a value, which is reflected in property prices.

47


NATÜRLICHE FASZINATIONEN Anzeichen einer «Physiologischen Architektur» Nachhaltigkeit wird als das Wirtschaften im Hinblick auf zukünftige Generationen definiert. Der Begriff steht für die Akzeptanz der natürlichen Gesetze und damit für einen Wandel unseres Technikverständnisses als Gestalter des Fortschritts. Eine Betrachtung möglicher und erster Auswirkungen auf die Architektur.

nomes, sondern ein im höchsten Masse von der Natur abhängiges; eine zumeist zweitklassige Verlängerung mit schlechtem Energie- und Kräftefluss. Über lange Zeit schien man dennoch, geblendet durch den von der Natur geborgten und in doppelter Hinsicht von ihr angetriebenen Erfindungsreichtum, die Technik der Natur als ebenbürtig, wenn nicht gar als besser gegenüberzustellen. Vorhandene Abhängigkeiten traten angesichts dieses Fortschritts in den Hintergrund, und es galt die Welt entsprechend menschlicher Imitate umzugestalten – man wähnte sich autonom. Dennoch ist die Menschheit weit davon entfernt, die natürlichen Prozesse in ihrer Komplexität und ihren Wirkungsebenen vollständig zu durchdringen, und es ist noch stets die Natur, welche das Handeln des Menschen lenkt und seine Innovationskraft speist. In diesem Sinne ist das Thema der Nachhaltigkeit weniger ein Paradigmenwechsel als vielmehr eine neue Stufe von integrierter Intelligenz, ein Fortschritt auf dem Weg, die Technik als menschliches Imitat wahrlich natürlich zu machen. Mit dem Nachdenken über das Wirtschaften für zukünftige Generationen verliert das Autonomieprinzip seine Legitimität und die Natur wird der Technik wieder als Autorität und Korrektiv übergestellt. Die damit einhergehenden Untersuchungen zur Rohstoffknappheit und der Klimaerwärmung durch Emissionen verdeutlichen die Grenzen eines linearakkumulativen Denkens und des Ideals einer Unveränderlichkeit auf Basis eines fiktiven autonomen Wirtschaftens. In Reaktion auf die Auflösung genannter Prinzipien ge-

1

62

archithese 6.2009

Text: Hannes Mayer

winnen Konzepte der Lebensdauer, Zersetzung, zu Verfall

Seit jeher überwältigt die Natur die Menschheit und zieht

und Spaltung sowie Mutation und Veränderung an Bedeu-

sie in ihren Bann. Das Streben, ihre Phänomene verstehen

tung und untergraben die Relikte einer klassizistisch–mo-

zu wollen, führte zur Entwicklung der Naturwissenschaften,

dernen Weltvorstellung. Dessen Stelle nimmt ein Konzept

das Streben, dieses Wissen zu nützen und von Menschen-

ein, welches bereits im frühen 19. Jahrhundert mit dem Auf-

hand auf die Welt zu übertragen, zur Technik. Die Technik

kommen der Biologie als Wissenschaftsgebiet beschrieben

wurde das menschliche Imitat von Natur, jedoch kein auto-

wurde: die Ökologie (ecology). Bereits im Jahr 1800 schrieb


der Naturforscher Georges Cuvier hierzu: «tout être organisé forme un ensemble, un système unique et clos, dont les parties se correspondent mutuellement, et concourent a la même action définitive par une réaction réciproque. Aucune des ces

1 R&Sie(n), Things which Necrose, Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk, Dänemark 2009

parties ne peut changer sans que les autres changent aussi; et par conséquent chacune d’elles, prise séparément, indique 1

et donne toutes les autres.» Noch heute gilt die Ökologie im Kern als das Feld der Wissenschaft, welches die Strukturen der Beziehungen zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen zueinander und zur Umwelt untersucht. Grundlage ist also ein dynamisches System poly-direktionaler Wechselwirkungen (Abhängigkeiten), das die statische, klassizistische Idee einer linearen Verkettung (Konkatenation) ablöst. In der Folge verlor im 19. Jahrhundert die reine Naturbeobachtung an Bedeutung und man begann die Funktionsweise von Organismen zu studieren. Innere Prozesse wurden in Beziehung

2 R&Sie(n), Things which Necrose, Stockholm 2010. Visualisierung des geplanten Pavillons 3 R&Sie(n), Things which Necrose, Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk, Dänemark 2009 und Stockholm 2010. Zersetzungstest des Biopolymers aus Maisstärke

zu den äusseren Wechselwirkungen im Lebensraum, dem Habitat oder Milieu, gesetzt – gemäss dem romantischen Diktum des Mikrokosmos, welcher den Makrokosmos reflektiert. Mit den Ausweitungen der Analyse, angetrieben durch die Wissensfortschritte in Chemie und Physik, wurden die inneren Gesetzmässigkeiten der Organismen zum Gegenstand der Physiologie.

Von der Ökologie zum Oikos In der Architektur tut man sich schwer mit dem Ephemeren und Veränderlichen. Die für die Natur kennzeichnenden Kreisläufe, Wechselwirkungen und Umwandlungen sind der Architektur weitgehend fremd. Im Bauen sind Zersetzung und Verrottung unerwünschte Erscheinungen, deren Werk es mit Lacken und Pestiziden zu verhindern gilt. Die Architektur der Romantik zelebrierte zwar die Ruine, doch sie war als perfekt inszeniertes Ideal eines Stimmungsbildes keineswegs dem Verfall bestimmt. Cedric Prices mittlerweile abgerissenes Inter-Action Centre in Londons Kentish Town von 1976, das als kleiner Bruder des Fun Palace von 1961 und veränderliche Spielwiese die englische Tradition der Kybernetik abbildete, kommt dem Ephemeren und Transformativen nahe. Doch eigentlich widerspricht zuviel gestalterische Selbstverwaltung der Profession der Architektur.

2

Mit den Möglichkeiten des Computers und damit einhergehenden Steuerungsmechanismen eigneten sich die Archi-

3

tekten im ausgehenden 20. Jahrhundert jedoch ein Mittel an, das Gestaltungshoheit über mutative Systeme versprach. Gleichzeitig entstanden Schnittstellen mit den Natur- und Ingenieurswissenschaften, denn Daten und digitale Modelle waren plötzlich austauschbar. Simulationsprogramme für Wind, Wasser, Kräfte und Strömungen, welche die Erkenntnisse der Naturwissenschaften zusammenfassen, bilden überschaubare Erweiterungen zur herkömmlichen Zeichensoftware. Diese selbst verabschiedet sich langsam von koordinatenbasierten Systemen (Linie von x/y/z zu x/y/z) und erlaubt namens- und relationsbasierte, also koordinatenunabhängige, dynamische Arbeitsweisen (Linie AB). Mathematisch, physikalisch und geometrisch fassbare Phänomene lassen sich auf diese Weise direkt in den Entwurf integrieren.

63


KLIMAKAPSELN Fünf Thesen zu Architektur und Klimawandel Wenn Einsparen nicht mehr hilft, heisst es Anpassen. Anpassungsmassnahmen führen in letzter Konsequenz zu Kapselräumen, in denen strikt zwischen drinnen und draussen getrennt wird. Ist der Preis für die Klimaadaptation am Ende die Aufgabe der eigenen Freiheit?

Text: Friedrich von Borries

Und auch wenn im öffentlichen Diskurs nur wenig über

1. Die Rhetorik des Verzichts: Die Mitigationsblase

Anpassung gesprochen wird – in Forschung und Politik wird

Fast immer, wenn es heute um Klimawandel geht, reden wir

daran gearbeitet. In Deutschland möchte das Umweltminis-

über Einsparungen – im Fachdiskurs Mitigation bezeich-

terium bis 2011 einen «Aktionsplan Anpassung» entwickeln,

net. Meistens sollen die CO2-Emissionen reduziert, manch-

«um Risiken für die Bevölkerung, die natürlichen Lebens-

mal auch Baumaterial eingespart, zumindest aber recycelt

räume und die Volkswirtschaft vorzubeugen». Bereits 2006

werden. Aber wenn wir ehrlich sind, geht es nicht nur ums

wurde Kompass, das Kompetenzzentrum Klimawandel und

Einsparen, sondern auch um etwas anderes: Geldverdienen.

Anpassung eingerichtet. Ziel ist es, «rechtzeitig und aktiv

Schliesslich ist nachhaltige Architektur ein Wachstumsmarkt,

auf Klimaänderungen zu reagieren, die bereits nicht mehr

und bei steigenden Energiepreisen kann natürlich durch Op-

vermeidbar sind». Letztlich hat man in unserer Gesellschaft

timierung von Wärmeverbrauch auch Geld verdient werden.

mit Anpassungsmassnahmen mehr Erfahrungen als mit Einsparungen. Jeder Deichbau ist nichts anderes als eine Anpas-

2. Adaptation: Worüber zu wenig geredet wird Doch ist Mitigation wirklich der Königsweg im Umgang mit

archithese 6.2009

Dementsprechend wird gerade in europäischen Küstenre-

dem Klimawandel? Liest man die Zeitungen, wachsen die

gionen intensiv an adaptativen Strategien gearbeitet, da hier

Zweifel, ob in Kopenhagen tatsächlich ein tragfähiger Ent-

die Gefahren des Klimawandels aufgrund von Überschwem-

schluss über Klimaziele erreicht wird. Und selbst wenn – ob

mungen besonders präsent sind. So forscht beispielsweise

im Kontext globaler ökonomischer Entwicklungen tatsächlich

das Projekt Klimzug-Nord disziplinen- und institutsübergrei-

die vielfach beschworenen zwei Grad maximale Erwärmung

fend an Lösungsansätzen, mit denen künftig Folgen des Kli-

bis zum Jahr 2050 eingehalten werden können, steht in den

mawandels in der Metropolregion Hamburg begegnet wer-

Sternen. Nun könnte man sich den sogenannten Klimaskep-

den kann.

tikern anschliessen und der Meinung sein, der Klimawandel

72

sungsmassnahme an eine klimatisch «feindliche» Umgebung.

Auch in den USA wird über Adaptationsmassnahmen

werde ohnehin überschätzt. Ist man aber etwas vorsichtiger,

nachgedacht; die US Environmental Protection Agency

stellt sich die Frage, was passiert, wenn die vorhergesehe-

schreibt: «Adaptation to environmental change is not a new

nen Folgen des Klimawandels tatsächlich eintreten, und wie

concept. Human societies have shown throughout history a

man darauf reagieren muss. Denn dann reden wir nicht mehr

strong capacity for adapting to different climates and envi-

nur über Einsparung, sondern über Anpassung – für Archi-

ronmental changes. For example, farmers, foresters, civil en-

tekten übrigens auch ein attraktiver Wachstumsmarkt.

gineers, and their supporting institutions have been forced


1

2

3

1– 3 Klimakapseln in China (Fotos: Flickr / Archiv von Borries)

to adapt to numerous challenges to overcome adversity or

ness of any specific adaptation requires consideration of the

to remove important impediments to sustained productivity.

expected value of the avoided damages against the costs of

Examples of adaptation and coping strategies with current

implementing the adaption strategy.»

climate fluctuations include farmers planting different crops for different seasons, and wildlife migrating to more suitable

3. Die Ökonomie des Klimawandels: Klimasegregation

habitats as the seasons change.»

Genau so, wie die Vermeidungsstrategien einer wirtschaft-

Dementsprechend werden auch in den USA Anpassungs-

lichen Logik folgen – wir können weitermachen wie bisher,

strategien entwickelt. Sie reichen von (praktischen) Ideen

nur etwas grüner – haben auch die Anpassungsstrategien

für eine bessere Gesundheitsversorgung bis hin zu Mass-

einen ökonomischen Hintergrund: Wir müssen aufpassen,

nahmen zur Sicherung wichtiger Infrastrukturen gegen Zer-

dass die Schäden nicht teurer sind als die vorauseilenden

störung durch extreme Klimaereignisse, also Stürme, Über-

Anpassungen. Eine entscheidende Frage bleibt dabei aber

schwemmungen, Hitzewellen.

ausgeklammert: Wer kann sich Anpassungsmassnahmen ei-

Da wir in einem wirtschaftlichen System leben, in dem alle Handlungen in finanzielle Werte übersetzt werden, wird

gentlich finanziell leisten? Vermeidungsstrategien folgen einem globalen Ansatz.

hierbei auch der ökonomische Aspekt des Klimawandels

Denn dem Klima ist es relativ egal, wo das CO2 eingespart

betrachtet: «For humans, adaptation is a risk-management

oder nicht eingespart wird. Deshalb sind Vermeidungsstra-

strategy that has costs and is not foolproof. The effective-

tegien abhängig von Vereinbarungen der Weltgemeinschaft.

73


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.