advertising, art & ideas
Zufall – Randomness
archithese
6.2010
Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur
Eine Suche in Kunst, Leben und Architektur
International thematic review for architecture
Wie das Neue in die Welt kommt Sou Fujimoto From convergence to emergence 27 Gedanken zum Thema Serendipity Die Karriere des Aleatorischen raumlaborberlin The curse of the surge towards authenticity weichlbauer / ortis Plädoyer für eine nicht-totalitäre Ästhetik Brutalism as found Philippe Schmit Villa Vauban Stefan Zwicky Restaurant uniTurm Karl Moser Special Interview Gigon / Guyer
ZEITLOS Wenn ein Teppich nicht nur schmuckes Accessoire, sondern modernes Design ist. Wenn seine Ästhetik Räume durchflutet und ein Gefühl von stiller Intimität schafft. Dann steht gewiss der Name TISCA TIARA dahinter. Mit aussergewöhnlichen Materialien und faszinierenden Strukturen. Für Teppich- und Stoffkreationen von bleibender Schönheit. www.tisca.ch THE TOTAL TEXTILE COMPANY Leserdienst 103
archithese 6.2010
November / Dezember
Preis: 28 CHF/18 Euro
Zufall Randomness
EDITORIAL
Zufall «Allein durch Unbestimmtheit, Zufall und Unfall lässt sich die Zukunft erkennen». Enric Ruiz Geli, Cloud 9 Wer das Jahresprogramm der archithese für 2010 sorgfältig studierte, wird feststellen, dass sich das vorliegende Heft als Ersatz für das angekündigte Heft über Emigration eingeschlichen hat. Der Zufall wollte es – und wurde sogleich zum Thema. Anfänglich motiviert durch die zunehmende Kultivierung einer zufälligen Ästhetik, wie im VitraHaus von Herzog & de Meuron beispielhaft vorgeführt, stellte sich heraus, dass der Zufall grundlegendste Konzepte des architektonischen Entwerfens berührt – denn Inspiration und Einfall sind letztlich nicht vorhersehbare und dem Kontingenzgedanken folgend auf Zufälligkeit beruhende Ereignisse. Selbst die klassizistisch-deterministische Entwurfshaltung ist in ihrer Ablehnung eine vermeintlich ordnende Reaktion auf die Zufälligkeit der Welt. Diese, ihr Entstehen wie auch das umgebende Universum werden spätestens seit dem Aufkommen der Quantenphysik als vom Zufall bestimmt verstanden. Während jedoch in der Kunst des 20. Jahrhunderts der Zufall zum entscheidenden Werkzeug avancierte, haftete dem Zufall in der Architektur lange der Makel des Unkontrollierten, Vagen und allzu Spontanen an. Der Dekonstruktivismus schliesslich ikonisierte just diese Eigenschaften, zeigte jedoch gleichsam die Herausforderung auf, den Zufall im langwierigen Prozess des Bauens zu erhalten. Heutzutage wird der Zufall in der Architektur vor allem dort vermutet, wo sich nicht auf den ersten Blick eine übergeordnete Struktur erkennen lässt und diskrete Kräfte, manchmal die des Computers, walten. Dass sich der Zufall nicht leicht bestimmen lässt, zeigt auch die im Heft vorgestellte Vielfalt verwandter oder ursprünglicher Begriffe: Kontingenz, Serendipität, Stochastik, Aleatorik, randomness, accident und hazard. Sie unterstreicht die Reichhaltigkeit des Zufalls und seiner Bedeutung für unser Leben, unsere Zukunft und für das Entstehen sowie die Weiterentwicklung von Architektur. Der Zufall – er steht für das Werdende in unserer Welt, für die Offenheit, sich auf das Neue einzulassen.
Ausserdem im Heft: Ein Special zu Karl Moser (1860 –1934), dem das Kunsthaus Zürich eine umfangreiche Retrospektive widmet (Karl Moser – Architektur und Kunst, 17.12.2010 – 27.02.2011). Die Beiträge über Moser entstanden in Kooperation
mit dem Institut gta der ETH Zürich. Hingewiesen sei überdies auf die aktuelle Ausstellung des Schweizerischen Architekturmuseums S AM in Basel: Im Raum und aus der Zeit. Anna Viebrock – Bühnenbild als Architektur (04.12.2010 – 06.03.2011). Auch hier wird das Thema
des Zufalls behandelt. Redaktion
4
archithese 6.2010
Jackson Pollock: P. P. S., Ausschnitt. Metropolitan Museum of Art (Foto: Christian Gänshirt)
ARCHITEKTUR AKTUELL
Zwischen Villa und Park
14
archithese 6.2010
1 Hauptansicht der Villa mit rßckwärtigem Anbau (Fotos: Lukas Roth) 2 Ansicht Parkseite 3 Situation und Grundriss Erdgeschoss 4 Grundriss Untergeschoss
3 4
PHILIPPE SCHMIT ARCHITECTS: VILLA VAUBAN –
der durch den Pariser Parc des Buttes-Chaumont
macher Gabriel Mayer und dessen Frau StĂŠphanie
MUSÉE D’ART DE LA VILLE DE LUXEMBOURG
bekannte franzÜsische Landschaftsarchitekt Édou-
Levy das Grundstßck erworben und 1871– 1873
Das in einer neobarocken Villa ansässige
ard AndrÊ zum Zuge, der – anschliessend an den
durch den franzÜsischen Architekten Jean-François
Kunstmuseum der Stadt Luxemburg wurde
die Kernstadt begrenzenden Boulevard du Prince
Eydt eine zweigeschossige Villa in der Formenspra-
mit einem rßckwärtigen Anbau grosszßgig
Henri – im Bereich des frßheren Festungsglacis
che des Neobarock errichten lassen. Schon 1874
erweitert. Das Projekt inszeniert auf ge-
zwischen 1871 und 1878 einen Park im englischen
wurden allerdings Park und GrundstĂźck an den
schickte Weise die Schnittstelle zwischen
Stil anlegte – mit ondulierender Wegefßhrung und
aus Lothringen stammenden, im HĂźttenwesen reich
dem Garten der Villa und dem anschliessen-
langen Sichtachsen.
den Ăśffentlichen Park. Der 11. Mai 1867 bedeutete einen wesentlichen Ein-
Wie Einsprengsel wurden in diesen Ăśffentlichen
gewordenen Baron Charles Joseph de Gargan und dessen Gattin Emilie Pescatore – Tochter des luxem-
Anlagen einzelne Privatvillen errichtet – so die Villa
burgischen Montanunternehmers Pierre-Antoine
Vauban, welche von der die Parkanlage in west-
Pescatore – verkauft. Die Villa blieb im Besitz der
schnitt fĂźr die neuzeitliche Geschichte des Gross-
Ăśstlicher Richtung querenden Avenue Emile Reuter
Familie, bis 1940 die NS-Besatzungsmacht das
herzogtums Luxemburg: Gemäss dem Londoner
aus erschlossen wird; die Gestaltung des Gartens
GrundstĂźck beschlagnahmte. Nach der RĂźckĂźber-
Vertrag wurde der Staat in die ewige Neutralität ent-
Ăźbernahm ebenfalls AndrĂŠ.
tragung versteigerten die Erben der Familie de Gar-
lassen – und das bedeutete fßr die Stadt den Abzug
Den Namen bezog die Villa vom Fort Vauban,
gan zunächst das Mobiliar und dann Grundstßck
der preussischen Garnison und die Schleifung der
Ăźber dessen geschleiften Substruktionen sie errichtet
und Haus selbst. Am 20. Januar 1949 wurde die
Ăźber Jahrhunderte gewachsenen Festung, aufgrund
worden war. Zwar hatte der franzĂśsische Festungs-
Stadt Luxemburg neue EigentĂźmerin des Anwesens.
der Luxemburg zum ÂŤGibraltar des NordensÂť avan-
baumeister selbst Teile der Festung Luxemburg er-
Doch die Idee, hier eine städtische Kunstgalerie
ciert war (vgl. archithese 4’2009). Besonders stark
richtet, doch das Fort Vauban war erst 1739 unter
einzurichten, scheiterte zu einer Zeit, da die Commu-
befestigt war die nicht von tief eingeschnittenen
Ăśsterreichischer Herrschaft erbaut worden. In einer
nautÊ EuropÊenne du Charbon et de l’Acier – Vorläu-
Flusstälern umgebene Westseite der Stadt. Hier kam
Auktion des Jahres 1868 hatten der Handschuh-
ferorganisation der EU – in Luxemburg Platzbedarf
15
FEINJUSTIERTER ZUFALL Sou Fujimoto: Kinderzentrum f端r psychiatrische Rehabilitierung, Hokkaido 2006
50
archithese 6.2010
N
0 1
1 Aus Zufall wird diskrete Ordnung – Sou Fujimoto: Entwurfsmodell (Sou Fujimoto Architects) 2 Ansicht von Westen (Fotos 2–4: Daici Ano) 3 + 4 Blick in den Essbereich 5 + 6 Grundrisse Erd- und Obergeschoss
Text: Hannes Mayer
5
10
Bestandteile miteinander in Beziehung stehen, voneinan-
Das Kinderzentrum war der letzte einer Reihe von Bauten
der abhängig sind und in vielen Iterationen einer Balance
für eine psychiatrische Einrichtung auf Fujimotos nordjapa-
entgegenstreben. Obwohl, wie schon im Tokyo Apartment,
nischer Heimatinsel Hokkaido. 24 doppelgeschossige Wür-
die Grundformen elementar sind, erhält das Projekt seine
fel lassen in loser Anordnung und keinem übergeordneten
Spannung aus der Entstehungsphase. Unterstützt durch die
System folgend eine Abfolge von offenen Innenräumen
detail- und gewichtslose Gestaltung der Wandflächen und
entstehen, die lediglich durch Fensterelemente in Gebäu-
der, angesichts der Raumhöhe, bescheidenen Wandmasse
dehöhe vom Aussenraum abgetrennt sind. Gearbeitet und
lösen sich die geschlossenen Volumen beim Umherwandeln
geschlafen wird in den geschlossenen Kuben, während das
in Winkel und Wände auf, die wie abstrakte Elemente einer
Leben, Mahlzeiten und Aufenthalt in den grosszügigeren
Theaterbühne parallele Handlungen begrenzen.
Freibereichen stattfinden und von dort in die dichteren Zwi-
Unmöglich ist es, diese Zustände in einem Wort zu be-
schenzonen einsickern. Drei schlichte Holzemporen erschlies-
schreiben, und dennoch herrscht weder Chaos noch Unord-
sen den oberen Stock der Würfel.
nung. Es ist ein Projekt von minimalistischer Anmut, des-
Das Kinderzentrum ist ein Zeichen der Skepsis Fujimotos
sen Grundspannung dadurch erzeugt wird, dass der eigene
gegenüber starr-totalitären Gitter- und Ordnungssystemen
menschliche Körper und die Wahrnehmung sich stetig neu
auf Basis kartesischer Koordinaten und linearer Notation.
in Beziehung zu den umliegenden Baukörpern setzen, der
Stattdessen ist es die klare Umsetzung eines zumindest
graduellen Kompression und Expansion eines Raumkontinu-
während der Entwurfsphase dynamischen Ökosystems im
ums ausgesetzt sind. Bei Erschöpfung bieten die «festen»
ursprünglichen Sinne, eines Haushalts, dessen einzelne
Volumina Zuflucht.
51
FORM FOLLOWS FAME The curse of the surge towards authenticity Architects are forever battling it out in the field of international competitions and their designs are increasingly selected for their promotional marketing value. The expectation, that good Architecture delivers beacons of idiosyncratic sincerity has inextricably bound the image of the celebrity Architect to the force of his works’ impact. With Architecture as the vehicle for the Architect’s ego, originality has turned into a key measure of authenticity. Creating something verifiably unique or verifiably ‘me’, has long become since a central ambition in the design process. Architects nervously guard their unbuilt or unpublished new designs as if awaiting a patent and willing to sue each other for plagiarism.
Text: Fenna Haakma Wagenaar / Photos: Charlie Koolhaas
60
“Protect us from what we want”, seemed Jacques and Rem’s
In 1999 star Architects Jacques Herzog and Rem Koolhaas,
collective motto and the Architects rejected an insane amount
both weary of this never ending competitive playing field,
of proposals; too Mies, too beautiful, too SMLXL, too sexy, NO
tired of their own stardom expectations, sick of always being
blobs, too expensive, too big, too Manhattan, too Herzog & de
on the same competition shortlist and always second guess-
Meuron, too OMA, too Architecture, you know we don’t want
ing what the other one would do, decided to work together. It
Architecture. The design team, of which I was part, confused
was Jacques who convinced Ian Schrager that this collabora-
by the Architects’ increasingly scatterbrained instructions,
tion could turn his new Manhattan Hotel into something more
decided to just fool around. It was an incredible messy zone
unique and unexpected than anything done before. What
in the tidy Herzog & de Meuron office. We did everything to
followed I remember as a ridiculously unpredictable design
lose control of all our own preconceptions, set models on fire,
process, which resulted in an extremely awkward project,
played cadavre exquis with rejected schemes, made pictures
mocking the sensibilities typical of an Architect – honesty,
of our spaghetti dinners, turned old models upside down and
simplicity, lightness and elegance.
let glue dissolve styrofoam models. One day we sprayed a
archithese 6.2010
61
MIT DEM ZUFALL ENTWERFEN Für eine nicht-totalitäre Ästhetik Im Umgang mit dem Zufall in der Architektur lassen sich zwei Ansätze beobachten: Der eine ist bestrebt, durch strenge Ordnung, Geometrie und Wiederholung den Zufall im Ausdruck zu unterdrücken, der andere bezieht sich auf Vorgefundenes und schafft daraus ein Einzelwerk.
1
Text: Christian Gänshirt Die Welt ist alles, was der Fall ist. Aber was ist der Fall ? Vieles scheint tatsächlich Zufall zu sein, und zwar zunächst einmal im negativen Sinn – wie Vorfall, Abfall, Unfall, Überfall, Verfall, Zerfall. Hasard, das französische Wort für Zufall, bedeutet zugleich Unglück; der deutsche Begriff wiederum ist eine Lehnübersetzung des lateinischen accidens, was in vielen europäischen Sprachen Unfall heisst. Seiner Definition nach bezeichnet das Wort Zufall «diejenigen Ereignisse, die sich weder als gesetzmässige Folge eines objektiven Kausalzusammenhangs noch als intendierte Folge subjektiv-rationaler Planung erklären lassen» (Jörg Hardy). Subjektiv-rationale Planung, das Entwerfen also, und Zufall werden in dieser Definition als Gegensätze vorgestellt. Stimmt das? Auf den ersten Blick scheinen Zufall und Architektur tatsächlich Widersprüche zu sein. Das Zufällige gilt als das Formlose, Ungeformte. Es steht im Gegensatz zur kunstvollen, unter grossem Aufwand erarbeiteten und hergestellten architektonischen Form. Vergleicht man indessen die Ergebnisse eines Architekturwettbewerbs, stellt sich nicht selten die Frage, welche Zufälle wohl zu den höchst unterschiedlichen Entwürfen geführt haben mögen. Auch wenn alle Teilnehmer versuchen, dieselbe Aufgabe zu lösen, und bestimmte Lösungsansätze sich regelmässig wiederholen, wird bei Wettbewerben meist ein breites Spektrum verschiedener Lösungen eingereicht. Ist das glückliche Entwerfen letzten Endes etwa doch dem Zufall zuzuschreiben? Eingang in die Architektur fand der Zufall so-
66
archithese 6.2010
2
zusagen an höchster Stelle – durch den griechischen Architekten Kallimachos, der, wie Vitruv berichtet, im Vorübergehen auf dem Grab eines Mädchens einen mit einem Ziegelstein abgedeckten Korb bemerkte, der zufällig auf eine Bärenklauwurzel gesetzt war, «und, bezaubert von der Art und Neuigkeit der Form, schuf er nach diesem Vorbild die Säulen bei den Korinthern […]» (Vitruv IV, 1, 9 –10, nach der Übersetzung von Curt Fensterbusch). Dieser Bericht kann als eine Parabel über das architektonische Entwerfen gelesen werden. Dies versteht sich hier nicht als eine genialische creatio ex nihilo, auch nicht als das Realisieren vorgegebener, pla-
tonisch reiner Ideen. Vitruv vermittelt hier eine Auffassung des Entwerfens als eine Tätigkeit in zwei Schritten: erstens das Erkennen und zweitens das schöpferische Übertragen von strukturellen Zusammenhängen aus dem Bereich des Todes (Grab, Korb mit Grabbeigaben) in das Leben (Akanthusblätter, Architektur). Vorraussetzung sind die hohe gestalterische Kompetenz, die Vitruv Kallimachos zuschreibt, und dessen Fähigkeit, sich von einer zufällig vorgefundenen Situation bezaubern zu lassen. Doch statt sich die Strategie des schöpferischen Übertragens zu eigen zu machen, hat die Nachwelt das von Kallimachos entworfene Kapitell zum Symbol erhoben und endlos wiederholt.
Grenzen des Entwerfens
1 Kallimachos, aus: Roland Fréart 1650: Parallèle de l’architecture antique avec la moderne. Paris, 1650, zitiert nach Laugier 1753, S. 83 2 Tristesse nicht nur im Herbst: Bauten von David Chipperfield (links im Bild) und Hilmer & Sattler am Potsdamer Platz (Fotos 2 – 4: Carsten Krohn) 3 Max Dudler: «Grim» Zentrum Berlin 4 «Entwerfen hat weniger mit Erfinden als mit dem Neukombinieren von gespeicherten architektonischen Erinnerungen zu tun» (Hilmer & Sattler); Ritz Carlton von Hilmer & Sattler (links im Bild) und Gebäude von Hans Kollhoff am Potsdamer Platz
Alle Versuche, das Entwerfen in Methoden zu fassen, sind daran gescheitert, dass der Moment des glücklichen Einfalls, der oft zum entscheidenden Qualitätssprung in einem Ent-
4
67
FUNDSTÜCKE DES ALLTÄGLICHEN New Brutalism as found Seit einigen Jahren geniesst der New Brutalism eine differenzierte mediale Präsenz: latente Faszination in den Fachblättern und verzerrter Abgesang in den Massenmedien. Sein Comeback steht aber nicht im Zusammenhang mit den aktuellen Auseinandersetzungen zur Nachkriegsmoderne, noch liegt es an seiner gestiegenen Popularität, bezeichnet doch der New Brutalism den Wendepunkt in der Nachkriegsmoderne und Grossbritanniens Wiedereinstieg in die internationale Architekturdiskussion. Das Augenmerk richtet sich vielmehr auf die anhaltenden Abrissdiskussionen, so über Alison und Peter Smithsons Robin Hood Gardens oder Andrew Derbyshires Castle Market in Sheffield.
Text: Florian Dreher
sich über die Jahre hinweg mehr oder weniger verfestigt ha-
Woran mag es liegen, dass der New Brutalism auf so viel
ben oder zum Mythos aufstiegen. Alison und Peter Smithson
Unverständnis stösst? In Fachkreisen gilt er seit jeher als
verwenden den Begriff 1953 erstmals in Zusammenhang mit
Insidertipp, und in der allgemeinen Wahrnehmung tritt stets
ihrem nicht realisierten Entwurf für ein Haus in Soho. In die-
grosse Skepsis gepaart mit völliger Ablehnung zutage. Der
sem Entwurf manifestieren sich die Grundgedanken eines
New Brutalism verträgt sich anscheinend nicht mit Jeder-
New Brutalism, und wäre es gebaut worden, so ein Kommen-
manns Geschmack und schlägt hart aufs Gemüt. Betrachtet
tar der Architekten, wäre es das erste Haus in England in des-
man seine theoretische und baugeschichtliche Entwicklung,
sen Sinn geworden. Die Gesamterscheinung sollte im Inneren
mag darin der Keim der Verwirrung sowie der Schlüssel zur
wie im Äusseren einer gewünschten «Lagerhausästhetik»
Erkenntnis enthalten sein.
mit gewöhnlichen, rohen Backsteinmauerwerken und klar sichtbaren Betonträgerstrukturen entsprechen, gepaart mit
72
archithese 6.2010
New Brutalism versus New Empiricism
einer Aufhebung der traditionellen Raumdisposition, die sich
Wenn wir mit der Begriffsherleitung anfangen, so stolpern
nun nach den sozialen Erfordernissen einer zeitgemässen
wir bereits zu Beginn über unterschiedliche Definitionen, die
Wohnumwelt orientieren möge. Es mag Reyner Banhams
2
Verdienst gewesen sein, dass er 1955 mit seinem Artikel «The New Brutalism» in der Architectural Review die Ideen und Ansätze einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machte und damit den Begriff medial lancierte. Er opportunierte mit seinem Artikel gegen die damaligen Postulate eines New Empiricism – Skandinaviens romantischer Beitrag zu einer pittoresken Moderne –, und positionierte den New Brutalism als legitimen bzw. wahren Vertreter seiner Zeit. Dem Kanon legte er eine ethische Haltung zugrunde und fasste diesen mit der Sichtbarkeit und Ablesbarkeit von Grundriss und Konstruktion («image») sowie der Materialauswahl nach «as found»-Qualitäten zusammen. In seiner späteren Publikation New Brutalism: Ethics or Aesthetics? von 1966 zieht er dann jedoch neue, anderweitige Traditionslinien zur Begriffsentwicklung auf. Unter der Herausgeberschaft von Jürgen Joedicke erschien eine deutsche Fassung des Banham-Klassikers Brutalismus in der Architektur. Banham verfolgt darin die Spur nach Skandinavien und kommt auf einen Brief von Hans Asplund an Eric de Maré zu sprechen, welcher behauptet, dass er 1950 beim Besuch eines Kollegen diesen als «Neobrutalisten» bezeichnete. Danach soll sich der Begriff nach Grossbritannien ausgebreitet haben und von jungen Londoner Architekten vereinnahmt worden sein. Die Smithsons hingegen widersprachen 1966 Banhams Sicht in ihrer Buchbesprechung von Banhams Bumper Book on Brutalism im Architects Journal. Demnach bezieht sich der Begriff, basierend auf einer Kritik über die Unité in Marseille, auf die grobe Materialbeschaffenheit eines bé-
3
ton brut im Sinne Le Corbusiers. Sollten aber die Smithsons für ihre Argumentation erst zu diesem Zeitpunkt auf ein Verdikt Le Corbusiers der Zwanzigerjahre zurückgreifen haben müssen? Im Lauf der Zeit hat sich dennoch die letztere Interpretation durchgesetzt – wahrscheinlich auch deshalb, weil die Bezüge der Heroischen Moderne (Alison Smithson) eines Mies van der Rohe oder Le Corbusier im Werk der Smithsons so offenkundig nachzuweisen sind. Man denke an Entwürfe wie für Golden Lane Estate mit einer Revision der Unité oder an das Economist Group Building mit seiner Verneigung vor der Mies’schen Interpretation eines modernen Klassizismus.
1 Independent Group, Group Six (Henderson, Paolozzi, Smithsons), Installation Patio and Pavilion, Ausstellung This is Tomorrow, London, 1956 (Abb. 1 – 3 aus: David Robbins, The Independet Group: Postwar Britain and the Aesthetics of Plenty, Cambridge / Massachusetts / London 1990)
2 Eduardo Paolozzi, Real gold, 1949 3 Eduardo Paolozzi, Dr. Pepper, 1948
73