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Gesellschaft: Migration im Wipptal

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Vor 100 Jahren

Vor 100 Jahren

Migration im Wipptal

„Für unsere Kinder ist das hier die Heimat“

Von Bettina Conci

Weitaus entscheidender als der Geburtenüberschuss, der in Südtirol dank späterer Heirat und schrumpfender Familiengröße eher schleppend vorangeht, ist der Einfluss der Migration auf das Bevölkerungswachstum hierzulande. Das Wipptal und insbesondere Sterzing nimmt dabei eine besondere Stellung ein.

Seit einiger Zeit ist es in Sterzing Brauch, einen sogenannten „Jahrgangsbaum“ zu pflanzen, der allen Neugeborenen, die im Laufe eines Jahres auf die Welt gekommen sind, gewidmet ist. Betrachtet man die Tafel mit den Namen der im Jahr 2019 Geborenen, fällt auf, dass ein großer Teil davon einen Migrationshintergrund aufweisen dürfte. Eine These, die von Armin Gschnitzer bestätigt wird: Der Leiter der Demografischen Dienste der Gemeinde Sterzing bemerkt, dass 60 Prozent der 34 Neugeborenen des Jahres 2022 (Stand: 7. September 2022) ausländische Staatsbürger sind. Noch vor 20 Jahren, nämlich zum 31. Dezember 2001, zählte die Gemeinde Sterzing 63 ausländische EU-Bürger und 135 Nicht-EU-Bürger. Zehn Jahre später, so Gschnitzer, waren es 190 EU-Bürger und 375 Nicht-EU-Bürger, und zum 31. Dezember 2021 234 EU-Bürger und 547 Nicht-EU-Bürger auf eine Gesamtbevölkerung von 7.048 Menschen, das sind 11,2 Prozent der Gesamtbevölkerung Sterzings. Im gesamten Wipptal beträgt dieser Prozentsatz laut ASTAT übrigens 9,9 Prozent, wobei Franzensfeste mit einem Anteil von satten 28,7 Prozent zu Buche schlägt, die Gemeinde Brenner mit 17,4 Prozent. Das Südtiroler Mittel liegt bei 10,6 Prozent. Es ist also ein deutlicher Anstieg der

© Anna Haidacher

Jahrgangsbaum der Gemeinde Sterzing von 2019 ausländischen Bevölkerung festzustellen, wobei angemerkt werden muss, dass die Menschen mit Migrationshintergrund, also jene, die hier geboren oder von klein auf aufgewachsen sind, nicht mitgezählt wurden, wenn sie die italienische Staatsbürgerschaft bereits haben, also Migranten der sogenannten zweiten Generation sind. Die Ausländer in Sterzing haben 58 verschiedene Nationalitäten. Das am meisten vertretene Herkunftsland ist dabei der Kosovo, gefolgt von Albanien und Pakistan. Gschnitzer weist darauf hin, dass der Anstieg von ausländischen Bürgern mit einer generellen Abnahme der Einwohner einhergeht: Zum ersten Mal seit vielen Jahren riskiert die Gemeinde Sterzing einen Rückgang der Einwohnerzahl. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es 20 Bürger weniger als im letzten Jahr. Die Bevölkerungsabnahme in Sterzing ist vermutlich auf die Wohnsituation zurückzuführen, wie Gschnitzer erklärt. Viele Einheimische wandern in die Nachbargemeinden ab, allen voran nach Wiesen, wo das Wohnen erschwinglicher ist als in Sterzing, aber auch nach Brenner, Gossensaß oder Ratschings.

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Brenner Hilfsdienst für Menschen auf der Flucht

Am Brenner steht Menschen auf der Flucht der Dienst „Humanitäre Hilfe am Brenner“ zur Verfügung. Engagierte Freiwillige des Vereins Volontarius bieten gemeinsam mit Caritas und River Equipe am Bahnhof und im Dienststützpunkt in der St. Valentinstraße Menschen, die sich auf der Flucht befinden, Unterstützung und ein Stück Menschlichkeit. Sie erhalten eine Erstversorgung mit Nahrung und Kleidung, Hygieneartikeln, Informationen über Rechte und Pflichten und interkulturelle Mediation. Insbesondere finden hier Menschen mit erhöhtem Schutzbedarf – schwangere Frauen, Mütter mit Kleinkindern und unbegleitete Minderjährige – eine Anlaufstelle. Der Dienst wird im Auftrag der Bezirksgemeinschaft Wipptal geführt; diese stellt auch die Räumlichkeiten zur Verfügung. Der Stützpunkt ist täglich von 7.00 bis 23.00 Uhr geöffnet und rund um die Uhr unter der Rufnummer 347 6626373 erreichbar.

WIPPTAL Geburten- und Wandersaldo in Südtirol 2021

Geburtenbilanz Wanderungssaldo

3,1 3,9

© ASTAT/vorläufige Daten

Wie also können wir uns die Zukunft vorstellen, wenn bereits jetzt 60 Prozent der geborenen Kinder Ausländer sind? Wie gestaltet sich das aktuelle Zusammenleben, welche Herausforderungen (und Chancen) erwarten uns in Zukunft, wie schaut es im Bildungssektor aus, wie gestaltet sich das Arbeitsleben? In einer Provinz, in der das Zusammenleben der drei „traditionellen“ Sprachgruppen sich manchmal bereits schwierig gestaltet, von Diskussionen am Wirtshaustresen bis hin zu Landtagsdebatten, drängt sich die Frage auf, wie man denn eine multikulturelle(re) Gesellschaft gestalten soll. Eine Frage, mit der sich die „Einheimischen“ nur ungern auseinandersetzen, wie Arta (Name von der Redaktion geändert) feststellt, die vor 15 Jahren aus dem Kosovo nach Sterzing gekommen ist und heute wie damals eine gewisse Arroganz gegenüber Ausländern wahrnimmt. „Manche Leute werden ungeduldig, wenn wir sie nicht gleich verstehen. Und das, obwohl ihr Dialekt für jemanden, der Standarddeutsch gelernt hat, schwer zu verstehen ist. Das empfinde ich als arrogant. Ich ärgere mich auch über Ungerechtigkeiten, Vorurteile und Verallgemeinerungen: Es gibt überall gute und schlechte Menschen – hier wie anderswo. Kein Grund, alle in einen Topf zu werfen.“ Und dann sagt sie etwas, woran wir „Hiesigen“ vielleicht nicht immer denken: „Auch wir hängen an unserer Heimat und vermissen sie. Du kannst hier noch so gut integriert sein und dich nicht als Ausländer fühlen – und

„Bildung als Schlüssel“

Als der Schlüssel für Integration und Teilhabe an allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens gilt die Bildung. Sprachliche und kulturelle Diversität ist eine Herausforderung für das Schulsystem: in Südtirol betrifft dieser Umstand allerdings eine Sprachgruppe mehr als die andere. Laut den Schülerdaten aus der Datenbank „popcorn“ der Schulen und Schulämter, ausgewertet vom ASTAT, liegt der Anteil der ausländischen Schüler an der Gesamtschülerzahl in Sterzings deutschsprachigen Schulen je nach Sprengel zwischen zwei (SSP II) und 19,1 Prozent (SSP I). Allerdings muss dazugesagt werden, dass ungefähr die Hälfte davon aus dem deutschsprachigen Ausland kommt. Anders sieht die Situation an der italienischsprachigen Schule aus. Ein Umstand, der vor allem Möglichkeiten birgt, wie Direktorin Raffaella Lauria findet. Der Erker hat bei ihr nachgefragt, wie sich das schulische Zusammenleben von Schülern aus unterschiedlichen Kulturkreisen gestaltet.

Erker: Frau Lauria, woher stammen die Schüler mit Migrationshintergrund an Ihrer Schule?

Raffaella Lauria: Die Schüler mit Migrationshintergrund, die unsere Schule besuchen, haben größtenteils Wurzeln in Pakistan, Bangladesch, Albanien, dem Kosovo und Mazedonien. Einige stammen aus dem Maghreb.

Wie finden sich die Schüler, die noch nicht so lange hier sind, zurecht? Wie geht es denen, die hier aufgewachsen sind?

Unser Institut heißt bereits seit vielen Jahren Schüler mit Migrationshintergrund willkommen, für welche die Schule der Hauptort ist, an dem eine Sozialisierung und gleichzeitig Verringerung der Ungleichheiten stattfindet. In der Provinz Bozen gibt es Sprachenzentren, die in Abstimmung mit den Schulen zielgerichtete Programme für die Akzeptanz und Integration dieser Schüler durchführen. Ich möchte hinzufügen, dass die Anwesenheit von „ausländischen“ Schülern oder Schülern aus anderen Kulturkreisen an den Schulen nichts Besonderes mehr ist, sondern bereits eine strukturelle Dimension erreicht hat. Deshalb war es auch absolut notwendig, Maßnahmen und Berufsbilder einzuführen, die sie im Integrationsprozess unterstützend begleiten: Sprach- und Kulturmediatoren, Alphabetisierungskurse in der Un-

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terrichtssprache der jeweiligen Schule, an der sie eingeschrieben sind, Sommerkurse und -camps und sogar Personen innerhalb des Schulsystems wie Stützlehrer für die jeweilige Sprache, die einen beträchtlichen didaktischen Beitrag leisten, weil sie speziell dafür ausgebildet sind. Die Schüler mit Migrationshintergrund, die hier geboren oder unter Gleichaltrigen aufgewachsen sind, sind gut integriert und werden aufgrund ihrer Familiengeschichte nicht von der Klassengemeinschaft ausgeschlossen. Nach der Schule kann es sein, und das betrifft vielleicht vor allem die Mädchen, dass es nur wenige Berührungspunkte oder gemeinsame Aktivitäten mit Gleichaltrigen gibt.

Welche sprachlichen bzw. kulturellen Vorteile ergeben sich für Schüler mit

Migrationshintergrund?

Manchmal ist den Schülern mit Migrationshintergrund gar nicht klar, welche Vorteile sie vor allem langfristig von der Mehrsprachigkeit an einer Schule haben. Ich denke dabei vor allem an den Eintritt ins Arbeitsleben. Die kognitive Flexibilität, die sie beim Lernen einer Fremdsprache lernen, die Anpassungs- und Mediationsfähigkeit, die sie fast unbewusst entwickeln, weil sie am Berührungspunkt zweier Kulturen leben, die es zu vereinen gilt.

Inklusion ist Ihnen sehr wichtig. Welche Art von Projekten und Maßnahmen wurden bereits durchgeführt oder schweben Ihnen vor?

Inklusion in der und durch die Schule ist ein wichtiges und grundlegendes Merkmal der Schule, die ich aufbauen möchte. Inklusion betrifft alle, auch Kinder aus Migrantenfamilien. Die Schule muss multikulturell sein und Vielsprachigkeit fördern und dabei vermeiden, angleichend und selbstbezogen zu wirken. Erst wenn das geschieht, können wir von einer wirklich inkludierenden Schule sprechen. Eine Strategie könnte sein, die Schüler beim Lernen der eigenen Muttersprache und der Kultur ihres Herkunftslandes zu unterstützen, sie während der regulären Unterrichtszeit mit sprachlich integrativen

doch Sehnsucht nach deinem Herkunftsland haben. Du atmest dort anders, weil es dein Zuhause ist.“

Auch Binnenwanderung ein Thema

Zu allem Überfluss wird die Skepsis gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund von einem ganz bestimmten Typ Politikern auch noch mehr oder weniger intensiv befeuert. Die Interessen dahinter sind fraglich, die ins Feld geführten Fakten erweisen sich bei näherer Betrachtung oft als urbane Legenden und/oder populistisches Geschrei. Dabei birgt die Präsenz anderer Kulturen, Religionen und Bräuche immer auch neue Möglichkeiten für eine Gesellschaft, sich weiterzuentwickeln.

Ansätzen aufzuwerten – und somit zugleich die Mehrsprachigkeit zu fördern und den Mitschülern andere Sprachen näherzubringen. Ich glaube auch, dass es sehr wichtig ist, die gesamte Familie miteinzubeziehen und aktiv teilhaben zu lassen. Und natürlich müssen die Lehrpersonen von Grund auf und kontinuierlich weitergebildet werden, was die Themen Interkulturelle Kompetenzen und Migrationsproblematik im Allgemeinen betrifft.

Sie stammen ursprünglich aus Süditalien. Wie erleben Sie persönlich die

Aufnahme durch die lokale Bevölkerung und das Zusammenleben mit ihr?

Darauf antworte ich kurz und bündig: Sterzing ist meine Stadt, mein Zuhause.

Das Wipptal wird – wie viele andere Gegenden – in 30 Jahren etwas anders aussehen, was die Bevölkerungszusammensetzung angeht. Was sind die

Vorteile, was die Nachteile?

Das ist eine komplexe Frage. Einer der Vorteile des Zusammenlebens in einem multikulturellen Kontext ist sicher der, dass es uns toleranter macht, offener dafür, fremde Sprachen zu lernen. Auch werden wir uns der Probleme der Menschen in anderen Teilen der Welt deutlicher bewusst. Ein möglicher Nachteil könnte sein, dass eben diese kulturellen Unterschiede die Gesellschaft spalten könnten. Was die Schule angeht: Wenn Kinder mit Migrationshintergrund nicht richtig wahr- und ernstgenommen werden, können ihre Leistungen darunter leiden.

Was können wir konkret tun, um uns auf diese Veränderung vorzubereiten – wir, die wir noch in einer Welt aufgewachsen sind, wo es Stereotypen zwischen „Deutschen“ und „Italienern“ gab, die noch vom Zweiten oder gar Ersten Weltkrieg herrührten?

Auf diese Frage möchte ich mit einem Zitat von Alexander Langer, dem Namensgeber unserer Schule, antworten: „Je mehr Dinge wir zusammen machen, umso besser lernen wir uns kennen.“

Multikulti sind wir schon längst Neben den Migranten, die aus den

, Heizen mit Hackgut • Soloronlogen , Sanitäre Anlogen • Heiwngsonlagen

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oben genannten Ländern eingewandert sind, den ausländischen Spielern der Hockeymannschaft, die zwar keinen großen Prozentsatz ausmachen, aber doch einen kleinen Teil zur Erweiterung des Horizonts im recht kleinen Wipptal beitragen, leben auch zahlreiche Angehörige des Militärs mit ihren Familien hier. Drei Viertel des Migrationsüberschusses betreffen die Wanderungsbewegungen vom und ins Ausland, ein Viertel die Binnenwanderungen. In Sterzing, wo laut Armin Gschnitzer gut 95 Prozent der Truppenangehörigen (131 Militaristen der Menini-Kaserne sind als in Sterzing ansässig eingetragen) aus Süditalien zugewandert sein dürften, spielt dieser letzte Faktor durchaus eine Rolle, vor allem was den kulturellen Einfluss, die Mentalität und die Gegensätze, aber auch Gemeinsamkeiten zwischen Nord und Süd angeht. Schaut man sich die statistische Entwicklung an, lässt sich mit einiger Sicherheit prophezeien, dass der Anstieg an ausländischen Mitbürgern kontinuierlich ansteigen wird, so wie er es in den letzten Jahrzehnten bereits getan hat (insbesondere in der Dekade zwischen 2002 und 2012). 2021 verzeichnete das Wipptal den höchsten Wanderungssaldo (Differenz zwischen Zu- und Abwanderung ohne Berücksichtigung der Geburten und Todesfälle) der gesamten Provinz (3,9), Franzensfeste hatte mit knapp 50 Prozent die höchste Wachstumsrate. Ob sie denn wieder zurück in ihre Heimat möchte, irgendwann? Arta lächelt etwas gequält. „Natürlich möchte ich das. Diesen Gedanken haben die meisten von uns. Aber ich kenne niemanden, der zurückgekehrt ist. Für unsere Kinder ist das hier die Heimat. Ihretwegen bleiben wir hier.“

WIPPTAL Ausländeranteil auf 100 Einwohner

(1990 – 2022)

0,8 0,8 0,9 1 1,3 1,8 1,9 1,9 2,2 2,6 2,9 3,3 3,2 3,6 4,2 4,9 5,4 6,2 6,7 7,1 7,6 8,1 8,3 8,2 8,2 8,6

8,4 8,6 8,8 9,4 9,5 9,9

Quelle: Melderegister der Gemeinden, Ausarbeitung ASTAT

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