Der Schatz der Abtei Saint-Maurice d’Agaune (extrait)

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Dieser Katalog erscheint anlässlich der Ausstellung «Le Trésor de l’abbaye de Saint-Maurice d’Agaune» Musée du Louvre, 14. März–16. Juni 2014

Diese Ausstellung wurde durch das grosszügige Mäzenat der Fondation Gandur pour l’Art (Genf ) gefördert und von der Kulturstiftung Pro Helvetia unterstützt.

Die deutschsprachige Fassung des Kataloges ist dank der grosszügigen Unterstützung durch die Kulturabteilung der Schweizerischen Botschaft in Paris entstanden.

Umschlagvorderseite: Kopfreliquiar des heiligen Candidus, Schatz der Abtei, Saint-Maurice d’Agaune (Kat. 20) Umschlagrückseite: Kanne Karls des Grossen, Schatz der Abtei, Saint-Maurice d’Agaune (Kat. 11) Dieser Katalog wurde auf einem von Arjowiggins Graphic hergestellten und von Antalis vertriebenen Recyclingpapier gedruckt.

Nach dem Gesetz vom 11. März 1957 (Art. 41) und dem Code de la propriété intellectuelle vom 1. Juli 1992 ist jegliche teilweise oder vollständige Reproduktion dieser Publikation für die kollektive Nutzung ohne die ausdrückliche Erlaubnis des Verlags strengstens verboten. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die unbefugte und kollektive Nutzung von Fotokopien das wirtschaftliche Gleichgewicht des Buchvertriebs gefährdet. © Somogy éditions d’art, Paris 2014 www.somogy.fr © Musée du Louvre, Paris 2014 www.louvre.fr ISBN Somogy éditions d’art: 978-2-7572-0800-7 ISBN Musée du Louvre: 978-2-35031-468-6 Ablieferung der Pflichtexemplare: August 2014 Gedruckt in Italien (Europäische Union)


Der

Schatz der Abtei

Saint-Maurice d’Agaune Herausgegeben von Élisabeth Antoine-König in Zusammenarbeit mit Pierre Alain Mariaux und unter Mitwirkung von Marie-Cécile Bardoz

Texte von: Diane Antille – Élisabeth Antoine-König – Charlotte Denoël Nathania Girardin – Germain Hausmann – Eberhard König – Pierre-Yves Le Pogam Pierre Alain Mariaux – Olivier Roduit – Regula Schorta Gude Suckale-Redlefsen – Daniel Thurre – Michele Tomasi – François Wiblé


Ausstellungsleitung

Autoren

Élisabeth Antoine-König Kuratorin, Hauptkustodin, Département des Objets d’art, Musée du Louvre

Diane Antille Kunsthistorikerin, Université de Neuchâtel (DA)

Pierre Alain Mariaux Co-Kurator für die Abtei Saint-Maurice d’Agaune

Élisabeth Antoine-König Hauptkustodin, Département des Objets d’art, Musée du Louvre, Paris (ÉAK) Charlotte Denoël Kustodin, Département des Manuscrits, Bibliothèque nationale de France, Paris (CD) Nathania Girardin Kunsthistorikerin, Université de Neuchâtel (NG) Germain Hausmann Archivar und Paläograph, École nationale des chartes, Paris (GH) Eberhard König Professor für Kunstgeschichte an der Freien Universität, Berlin (EK) Pierre-Yves Le Pogam Hauptkustos, Département des Sculptures, Musée du Louvre, Paris (PYLP) Pierre Alain Mariaux Professor für Mittelalterliche Kunstgeschichte und Museumskunde, Université de Neuchâtel (PAM) Kanonikus Olivier Roduit Bibliothekar und Archivar, Abtei Saint-Maurice Regula Schorta Direktorin der Abegg-Stiftung, Riggisberg (RS) Gude Suckale-Redlefsen Kunsthistorikerin (GSR) Daniel Thurre Kunsthistoriker und Kulturvermittler (DT) Michele Tomasi Lehr- und Forschungsbeauftragter, Université de Lausanne (MT)

Hinweis für den Leser Die Bibliographien der Katalogeinträge zu den einzelnen Werken beschränken sich bewusst auf eine Auswahl, da die genannten jüngsten Forschungsarbeiten jeweils ein umfassendes Literaturverzeichnis bieten. Das häufig genannte Archiv der Abtei Saint-Maurice erscheint unter der Sigle AASM, gefolgt vom Aktenzeichen des Schriftstücks.

François Wiblé Kantonsarchäologe des Wallis (FW)


Inhalt 7

Vorwort

Mgr. Joseph Roduit Abt von Saint-Maurice d’Agaune 9

Vorwort

Jannic Durand Direktor, Département des Objets d’art 10

Einführung Élisabeth Antoine-König und Pierre Alain Mariaux

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Die Geschichte der Abtei und des Mauritiuskultes Olivier Roduit

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Der Schatz: von den Anfängen bis zur Kanonikerreform (1128) Pierre Alain Mariaux

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Der Schatz in der Gotik: von Abt Nantelm (1224– 1259) bis zum Gegenpapst Felix V. (1439–1449) Élisabeth Antoine-König

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Textile Reliquienhüllen im Schatz von Saint-Maurice d’Agaune Regula Schorta

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Katalog Den Nymphen geweihter Altar Kat. 1 Dem Gott Sedatus geweihter Altar Kat. 2 Grabaltar der Acaunensia Kat. 3 Den göttlichen Kräften der Kaiser und Merkur geweihter Altar Kat. 4 Avitus von Vienne, Homilien und Briefe Kat. 5 Grabstele des Mönches Rusticus Kat. 6 Schatzinventar des Abtes Jean Miles Kat. 7 Vase des heiligen Martin Kat. 8 Reliquienschrein des Theuderich Kat. 9 Bursenreliquiar Kat. Kat. 10 Kanne Karls des Grossen Kat. 11 Reliquienauthentiken Kat. 12 Urkunde König Konrads von Burgund Kat. 13

70 72 74 76 78 80 86 89 90 92 94 96 100 102 104 107 108 110 113 116 118 120 124 126 128 130 132 134

Diplom König Rudolfs III. von Burgund Kat. 14 Fragment der Confessiones des heiligen Augustinus Kat. 15 Regel des heiligen Augustinus und Kommentar des Hugo von Sankt Viktor Kat. 16 Privileg Papst Innozenz’ II. Kat. 17 Schenkung Humberts III. von Savoyen Kat. 18 Schrein des heiligen Sigismund und seiner Söhne Kat. 19 Kopfreliquiar des heiligen Candidus Kat. 20 Flakon Kat. 21 Armreliquiar des heiligen Bernhard Kat. 22 Relief eines Hirten Kat. 23 Abtsstab: Palmettenblume Kat. 24 Zentaurenkelch, genannt Kelch Karls des Grossen Kat. 25 Kelch des heiligen Sigismund Kat. 26 Reliquienkreuz des Wahren Kreuzes Christi Kat. 27 Der heilige Mauritius Kat. 28 Reliquienschenkung durch Ludwig den Heiligen Kat. 29 Reliquiar des heiligen Dorns Kat. 30 Littera clausa von Karl V., König von Frankreich Kat. 31 Zwei Bände der glossierten Bibel Kat. 32 Liturgischer Psalter für den Gebrauch von Sion mit Litanei für Saint-Maurice d’Agaune Kat. 33 Reliquienmonstranz der heiligen Apollonia Kat. 34 Sigismundschrein Kat. 35 Paxtafel mit der Vera Icon Kat. 36 Abtsstab des Guillaume Villien Kat. 37 Verwaltung des klösterlichen Vermögens unter Abt Guillaume Villien Kat. 38 Etui, Scheide und Schwert des heiligen Mauritius Kat. 39 Zwei Leuchter Felix’ V. Kat. 40 Reiterstatuette des heiligen Mauritius Kat. 41

Anhang 136 Bibliographie 140 Personenregister



E Vorwort

Giebelseite des Schreins des heiligen Sigismund und seiner Söhne (Detail Kat. 19): der heilige Mauritius

Erstmals in seiner Geschichte verlässt der Schatz der Abtei von Saint-Maurice für eine Ausstellung im Louvre seine angestammten Mauern. Beim Durchzug der napoleonischen Truppen im Jahr 1800 konnten die kostbaren Reliquiare versteckt und dadurch gerettet werden und bieten heute den Besuchern eine eindrucksvolle Sammlung. Anlässlich des 1500-jährigen Bestehens unserer Abtei haben wir nach umfangreichen archäologischen Ausgrabungen, die rund zwanzig Jahre andauerten, unsere Bemühungen auf die Restaurierung zahlreicher Goldschmiedearbeiten der Abteisammlung sowie die Neugestaltung der Ausstellungsflächen gerichtet. Im Sommer 2009 führte Léonard Gianadda den damaligen Direktor des Louvre, Henri Loyrette, an diese Stätte. Henri Loyrette erkundigte sich nach dem Verbleib der Stücke während der Renovierungsarbeiten und eröffnete die Möglichkeit, sie in Paris auszustellen. Inzwischen hat Jean-Luc Martinez seine Nachfolge in der Leitung des Louvre angetreten. Ihm möchten wir an dieser Stelle dafür danken, dass er an diesem Projekt festgehalten und dafür den prachtvollen Richelieuflügel bereitgestellt hat. Somit sind von März bis Juni 2014 die in diesem Katalog präsentierten Stücke im Louvre zu besichtigen. Ein Jahrhundert nach dem Martyrium der Thebäischen Legion liess der heilige Theodor, Bischof im Wallis, vermutlich auf Anraten des heiligen Ambrosius von Mailand, Ende des 4. Jahrhunderts, die Gebeine aus dem Märtyrergrab zusammentragen und in eine erste Kirche überführen. Das Martyrium sollte nicht in Vergessenheit geraten oder gar geleugnet werden, deshalb wurden die kostbaren Gebeine der Märtyrer zu sichtbaren Zeichen ihrer tatsächlichen Existenz, die durch das Martyrium gekrönt worden war. Am Fusse der durch die Jahrtausende steil aufragenden Felswand erlebte die kleine Stadt Agaunum die Entwicklung der Märtyrerverehrung und die Entstehung eines Klosters im Jahr 515. Die Bewahrung der Heiligenreliquien bewirkte, dass im Laufe der Zeit verschiedene Reliquienschreine entstanden, die zur Auf bewahrung und Ausstellung der sterblichen Überreste der thebäischen Märtyrer für die Verehrung durch die Gläubigen bestimmt waren. Jahrhundertelang kamen die Pilger, um das Grab des heiligen Mauritius unter dem Chorraum der karolingischen Kirche zu verehren. Wegen des Anwachsens der Pilgerströme im Mittelalter sollten die Reliquien besser zur Verehrung dargeboten werden. Daher liess Abt Nantelm die sterblichen Überreste aus dem Grab des heiligen Mauritius erheben und einen Schrein dafür anfertigen, um ihn in der Kirche auszustellen. Diesem sollten zahlreiche weitere Reliquiare und liturgische Geräte wie Kelche, Schalen, Rauchfässer, Monstranzen und Kreuze folgen. Dank der langjährigen Treue der Mönche und dann der Kanoniker konnten die kostbaren Reliquien bewahrt werden. Denn hätte die Abtei ihre Pforten geschlossen, so wäre der Schatz nur wenige Jahre später verschwunden gewesen! Nicht nur in Jerusalem wurde ein leeres Grab zum Ausgangspunkt eines ununterbrochenen christlichen Lebens, das immer wieder ersteht. In Saint-Maurice ist das leere Grab noch immer sichtbar und die Reliquiare sind für die Gläubigen zur Verehrung ausgestellt. Die Künstler schufen die beeindruckenden Goldschmiedearbeiten, um das Zeugnis der Vergangenheit auch für die Gegenwart zu bewahren. Die spirituelle Bedeutung dieser Reliquiare soll dadurch aufgezeigt werden, indem einige von ihnen noch vor Beginn der Ausstellung im Louvre an einem Wochenende für die Gläubigen zur Verehrung in Notre-Dame de Paris ausgestellt werden. Möge die Verehrung in Notre-Dame de Paris und die Ausstellung im Louvre auch im 1500. Jahr des Bestehens der Abtei von Saint-Maurice neue Zeugen der langen christlichen Treue hervorbringen! Joseph Roduit, Abt von Saint-Maurice d’Agaune

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D Vorwort

Linke Giebelseite des Schreins des heiligen Sigismund und seiner Söhne (Detail Kat. 19): der heilige Sigismund

Das Musée du Louvre schätzt sich glücklich, nach dem Klosterschatz von Conques im Jahr 2001 nun für drei Monate einen der wertvollsten Schätze des abendländischen Mittelalters beherbergen zu dürfen: den Schatz der Abtei von Saint-Maurice d’Agaune, einer der ältesten monastischen Einrichtungen des Abendlandes, in der das klösterliche Leben seit Anfang des 6. Jahrhunderts niemals abgerissen ist. Dieses seltene Privileg verdanken wir den Arbeiten, die im Rahmen der derzeitigen Umgestaltung der Abteigebäude durchgeführt werden, in denen der Stiftschatz normalerweise ausgestellt ist, und vor allem der Grosszügigkeit von Mgr. Joseph Roduit und den Ordensgeistlichen, die zugestimmt haben, dass einige der bedeutendsten Werke ihres Schatzes in diesem Zeitraum in Paris dem Publikum zugänglich gemacht werden, anstatt die Übergangszeit in einem Depot zu fristen. Die Umbauarbeiten wiederum sind Teil der Vorbereitungen der 1500-Jahr-Feier der Abtei, die im Jahr 515 durch den heilig gesprochenen Burgundenkönig Sigismund zu Ehren des heiligen Mauritius und der Märtyrersoldaten der Thebäischen Legion errichtet wurde. Ebenso wie im Schatz von Conques finden sich im Stiftschatz von Saint-Maurice Meisterwerke der Schatzkunst des Mittelalters, die teilweise in sehr frühe Epochen zurückreichen. Jenseits von jedem Mythos künden in Saint-Maurice die «Vase des heiligen Martin» und die «Kanne Karls des Grossen» – wie das Reliquiar Pippins und das «A» Karls des Grossen in Conques – von einer ehrwürdigen Antike und einem einzigartigen Charakter, während das farbenfrohe kleine Reliquiar Theuderichs eines der ansprechendsten und fesselndsten Werke der Goldschmiedekunst bleibt, die aus der Zeit der Merowinger erhalten sind. Eine Vielzahl anderer Schreine und Reliquiare wie auch liturgische Geräte haben sich im Laufe der Jahrhunderte in Saint-Maurice angesammelt. Die bis heute erhaltenen Stücke, deren schönste hier versammelt sind, zeugen von den weitreichenden geistigen und künstlerischen Verbindungen, die zwischen der Abtei in den Alpen und der gesamten Christenheit – und mitunter auf indirekten Wegen auch weit darüber hinaus – bestanden. Hierfür sprechen Gemeinsamkeiten des Schreins des heiligen Sigismund und seiner Söhne oder des Kopfreliquiars des heiligen Candidus mit Schöpfungen, die für die romanische Kunst ihrer Zeit besonders beispielhaft sind. Dies gilt ebenfalls um das Jahr 1200 für den «Kelch Karls des Grossen», wahrscheinlich aus deutschsprachigem Gebiet, sowie für den «Sigismundkelch», der noch rätselhafter und möglicherweise mongolischen Ursprungs ist, oder auch im 13. Jahrhundert für den heiligen Dorn, der in seinem kostbaren Goldreliquiar von Ludwig dem Heiligen aus Paris übersandt wurde. Diese einzigartigen Werke bekunden in ihrer Art eine ähnliche Vielfalt wie die Textilien, die – zweifellos seit frühester Zeit – als Hülle für kleine Stücke oder winzige Fragmente der Reliquien des Schatzes gedient haben; verschiedene Beispiele sind hier neben den Reliquiaren zu sehen, denen sie entnommen wurden. Nahezu tausend Jahre trennen die Fassung der «Vase des heiligen Martin», die auf das 5. oder 6. Jahrhundert datiert werden kann, von dem grossen Bischofsstab aus dem 15. Jahrhundert, der lange als Schenkung Papst Felix’ V. galt, und von der Reiterstatuette des heiligen Mauritius, einem Geschenk Emanuel Philiberts von Savoyen aus dem 16. Jahrhundert, das deutliche Züge der neuen Ästhetik der Renaissance verrät und mit dem die Ausstellung endet. Mit diesem letzten Stück findet das so glänzend veranschaulichte «Mittelalter» in Agaune endgültig seinen Abschluss. Wir möchten an dieser Stelle all jenen danken, die in Saint-Maurice d’Agaune und im Wallis, in Paris sowie im Musée du Louvre, mit der Unterstützung der Schweizerischen Botschaft und der Fondation Gandur pour l’Art, diese Ausstellung möglich gemacht haben und uns nun einladen, einige der Werke zu bewundern, die sinnbildlich für das abendländische Mittelalter stehen. Jannic Durand, Direktor, Département des Objets d’art

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Einführung Im Jahr 1872 machte Édouard Aubert (1814–1888), Mitglied der wissenschaftlichen Société nationale des antiquaires de France, der gelehrten Öffentlichkeit den Schatz der Abtei von Saint-Maurice d’Agaune (Wallis) bekannt. Als Frucht von fünf Jahren Arbeit in der Abtei ist sein Werk, Trésor de l’abbaye de Saint-Maurice d’Agaune, illustriert mit Kupferstichen nach seinen eigenen Zeichnungen, nach beinahe 150 Jahren immer noch der einzige Überblick über den Gesamtbestand des Abteischatzes. Unter allen Spezialisten mittelalterlicher Kunst berühmt geworden, blieb der Schatz von Agaune dennoch dem grossen Publikum unbekannt, trotz der Meisterwerke, die er umfasst. Die Abtei, an einem Engpass zwischen dem Rhôneufer und der hinter ihr aufragenden Felswand gelegen, scheint heute in der Tat von Touristenströmen weitgehend unberührt. Früher war dieser Durchbruch durch die Felsen jedoch sehr stark besucht, führt er doch zum Pass des Grossen Sankt Bernhard: Diesen Weg nahm man ebenso gut zur Römerzeit wie im Mittelalter, ob römische Legionen oder Pilger, die sich auf der Via Francigena zwischen Rom und Canterbury bewegten, oder die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, die von einem zum anderen Teil ihres Territoriums zogen. Als Schutzpatron grosser europäischer Dynastien war der heilige Mauritius kein wirklicher Volksheiliger, und obwohl er und seine Gefährten von den grössten Herrschern verehrt wurden, zog der Kult, wiewohl auch im Abendland verbreitet, niemals Pilger in Massen nach Agaune. Die Abtei ist insgesamt ein zurückgezogener Ort geblieben, was wahrscheinlich die bemerkenswert gute Erhaltung des Schatzes trotz Bränden und Naturkatastrophen gefördert hat. Um diese Isolierung zu durchbrechen, bedurfte es eines einzigartigen Ereignisses, der Feier des 1500-jährigen Bestehens der Abtei (22. September 2014–22. September 2015). 515 gegründet, ist die Abtei von Agaune die einzige im Abendland, die auf fünfzehnhundert Jahre ununterbrochener Anwesenheit einer religiösen Gemeinschaft zurückblicken kann. Diese Gemeinschaft hat zwar im Laufe der Jahrhunderte unterschiedliche Formen angenommen; aber das Mönchsgebet wurde nie unterbrochen. Der Schatz von Agaune bietet überdies die Besonderheit, dass es sich um einen immer noch lebendigen sakralen Schatz handelt, einen der sehr wenigen, die noch an demselben Ort aufbewahrt werden, für den sie eingerichtet wurden. Die vollständige museographische Neueinrichtung des Schatzes anlässlich des Jubiläums hat die ganz und gar ungewöhnliche Reise der Hauptwerke in den Louvre ermöglicht. Diese Ausstellung ist für das Publikum eine wahre Offenbarung: In der Tat haben die berühmtesten und verehrungswürdigsten Stücke des Schatzes – die so genannte Vase des heiligen Martin, ein Sardonyxgefäss, und die so genannte Kanne Karls des

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Grossen – Agaune niemals verlassen, seit sie vor mehr als einem Jahrtausend der Abtei geschenkt worden sind. Deshalb richten wir mit ausserordentlicher Verbundenheit unseren Dank an die Gemeinschaft der Kanoniker, die eingewilligt hat, sich für einige Monate von diesen Werken zu trennen, um sie den Blicken der Besucher im Louvre darzubieten. Die Absicht dieser Ausstellung richtet sich zunächst auf den Schatz selbst; die Auswahl der Werke, in erster Linie der Goldschmiedekunst, erfolgte unter der Leitung von Monseigneur Joseph Roduit, Abt von Saint-Maurice; ihm standen Pierre Alain Mariaux und Denise Witschard, die für diese Gelegenheit die Werke restauriert hat, zur Seite. Erst danach wurde entschieden, einen Teil der kostbaren Textilien, die die Gebeine der Heiligen einhüllten, zu zeigen, um alle Aspekte des Reliquienkultes im Mittelalter besser vor Augen führen zu können. Diese Stoffe waren in der Abtei bisher nie ausgestellt; so werden zum ersten Mal die in der Kanne Karls des Grossen gefundenen Textilien und jene aus dem Schrein des heiligen Sigismund und seiner Söhne neben diesen Behältern gezeigt. Mit einer Auswahl weiterer Textilfragmente führen sie den Reichtum der Geschenke vor Augen, die der Abtei gemacht wurden, und ebenso die Reichweite des Austauschs zwischen Okzident und zuweilen weit entferntem Orient im Mittelalter. Hier finden sich nämlich ebenso Seidenfragmente aus kaiserlichen Werkstätten in Konstantinopel wie Textilien, die koptischen Stoffen vergleichbar sind, wie man sie in Ausgrabungen auf dem Gelände von Antinoë in Ägypten gefunden hat, oder, noch seltener, Seidentaft aus Zentralasien, der im Kloster von Dunhuang an der Seidenstrasse gefundenen Textilien ähnelt. Aber den Schatz gäbe es nicht ohne die Abtei. So wurden, in Zusammenarbeit mit den für das Archiv Verantwortlichen, dem Kanoniker Olivier Roduit und dem Archivar Germain Hausmann, die unsere Leihgesuche mit aller Grosszügigkeit erwogen haben, einige Dokumente ausgewählt, um die seltene historische Kontinuität dieser Institution zu veranschaulichen, die von der Protektion der Könige von Burgund zu den Päpsten und den Grafen von Savoyen reicht. Das Archiv ist wie der Schatz auf wundersame Weise den Katastrophen entgangen, die das Kloster heimgesucht haben; und dieser sehr reiche Fundus ist seit kurzem unter www.aasm.ch zugänglich, nachdem die Fondation des Archives historiques de l’abbaye de Saint-Maurice das Material vollständig digitalisieren liess. Hingegen wurde die Bibliothek der Abtei, die im Stockwerk über der Küche untergebracht war, 1693 ein Raub der Flammen. Bände, die diesem Desaster entgangen sind, werden in der Ausstellung gezeigt. Man fragt sich, ob der Reichtum der Bibliothek auf gleicher Höhe wie der des Schatzes war. Eine vertiefte Beschäftigung mit der glossierten Bibel


(Kat. 32) lässt das vermuten; aber da sich kein Bibliothekskatalog aus der Zeit vor dem Brand erhalten hat, kann man sich vom einstigen Bestand kein genaues Bild machen. Alessandra Antoninis Ausgrabungen konnten die Kenntnis des archäologischen Grabungsfeldes erheblich über das hinaus bereichern, was die vom Kanoniker Bourban geleiteten Kampagnen im frühen 20. Jahrhundert erbracht hatten. In den Jahren 2012 und 2013 hat man faszinierende Entdeckungen gemacht, die unsere Vorstellungen von den Anfängen der Abtei weitgehend umwerfen. Aber da sich unsere Ausstellung im Wesentlichen auf den Schatz der Abtei konzentriert und nicht auf die Baudenkmäler, werden die Ergebnisse dieser Ausgrabungen hier nur kurz umrissen (S. 14 und 15) und erst gegen Ende des Jubiläumsjahres in Buchform publiziert (2015). Allerdings führen einige auf dem Klostergelände gefundene Stelen in der Ausstellung die altrömische Vergangenheit Agaunes vor Augen, die zum Martyrium des heiligen Mauritius und der Thebäischen Legion zurückreicht. Da der Anlass der Ausstellung die Tatsache ist, dass der Schatz die Abtei verlassen durfte, umfasst unsere Auswahl nur vier Leihgaben aus anderen Institutionen: Es sind das Manuskript mit der Homilie des heiligen Avitus bei der feierlichen Weihe der Abtei im Jahre 515 (Kat. 5), der Schrein mit den Gebeinen des Abteigründers, des heiligen Sigismund (Kat. 35), das so genannte Schwert des heiligen Mauritius, das früher zum Schatz gehörte (Kat. 39), und die unerhörte Statue des heiligen Mauritius aus dem Magdeburger Dom (Kat. 28), die auf monumentale Weise in der Ausstellung die Gegenwart des Ritterheiligen verkörpert, wie er als Schutzpatron des Heiligen Römischen Reiches wirkte. Die Ausstellung gibt ihren Besuchern damit einen allgemeinen Überblick über die Abtei, indem sie zum ersten Mal gemeinsam mit den Reliquiaren und darin enthaltenen Textilien auch Beispiele aus dem Lapidarium, Dokumente und Monumente zeigt, die das Leben der Gemeinschaft veranschaulichen. In der Geschichte des Abteischatzes bildet sie einen Meilenstein: Nach den Veröffentlichungen von Édouard Aubert (1872) und Pierre Bouffard (1974) war eine Aktualisierung nötig. Diese Ausstellung ist damit ein erster Schritt, dem andere folgen werden: Zwei Bände, einer zur Abteigeschichte und Archäologie (unter Leitung von Bernard Andenmatten und Laurent Ripart), ein zweiter zum Schatz (unter Leitung von Pierre Alain Mariaux), werden 2015 erscheinen. Die Wiederaufnahme der Forschungen über die Werke war fruchtbar, denn sie erlaubte neue Hypothesen: So könnte die so genannte Vase des heiligen Martin, deren Fassung ins frühe 6. Jahrhundert zurückgeht, ein Geschenk des Abteigründers Sigismund sein; das Relief des «Guten Hirten» ist kein Rest

aus römischer Zeit mehr, sondern dürfte die Existenz eines romanischen Ambos in der Abtei beweisen; den so genannten Sigismundkelch mit seinem klingenden Deckel wird man als Werk eines mongolischen Goldschmieds ansprechen; und was die glossierte Bibel betrifft, so mögen es einfach zwei gewesen sein… Doch weiterhin bleiben Unklarheiten in der komplexen Geschichte des Schatzes. Trotz der ergebnisreichen Studie von Daniel Thurre (1992) ist die Existenz einer romanischen Goldschmiedewerkstatt in Saint-Maurice immer noch eine offene Frage; insbesondere bleibt ungeklärt, was mit der «Goldenen Tafel» geschah, die von Graf Amadeus III. von Savoyen 1147 geborgt wurde (Kat. 18): Hat sie wenigstens fragmentarisch überlebt, auf den «romanischen» Schreinen im Schatz, oder wurde sie unrettbar eingeschmolzen? Die zahlreichen Fragen, die deren uneinheitlicher Charakter stellen lässt, regen an, die Rolle des Abtes Nantelm in Bezug auf den Schatz noch einmal zu überdenken. Hinsichtlich der letzten Frage haben die beiden für die Ausstellung Verantwortlichen unterschiedliche Ansichten: Für Élisabeth Antoine-König hat die Erhebung der Gebeine des heiligen Mauritius zu Beginn der Amtszeit von Abt Nantelm (1225) nicht nur zur Schaffung eines neuen Schreins über dem Hochaltar der Abteikirche und daneben zu zahlreichen Reliquiengeschenken an andere Kirchen geführt, sondern war auch Anlass einer grossen Kampagne von Umarbeitungen an Werken im Schatz, was zur Schaffung zweier «romanischer» Schreine führte; diese sehr kompositen Arbeiten, die Nantelm fertig stellen liess, scheinen aus Fragmenten von Werken der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts (Antependien und/oder Schreinen wenigstens teilweise aus der Stiftung Humberts III.) zusammengesetzt; ebenfalls in Nantelms Amtszeit scheint stilistisch das Armreliquiar (Kat. 22) zu gehören. Schliesslich könnten emaillierte Platten auf mehreren Reliquiaren des Schatzes erst in einer viel späteren Restaurierungsphase, vielleicht im 17. Jahrhundert, hinzugekommen sein. Pierre Alain Mariaux sieht hingegen in den beiden «romanischen» Schreinen ebenso wie im Kopfreliquiar des heiligen Candidus und im Armreliquiar ein Ensemble aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, das der Silberstiftung Humberts III. verdankt wird; diese Objekte wären dann am Ende des ersten Viertels des 13. Jahrhunderts insbesondere durch die Anbringung der emaillierten Platten in memorialer Absicht umgearbeitet worden. Mithin eröffnet der Reichtum dieses Schatzes ebenso wie der oft einzigartige Charakter der darin enthaltenen Werke immer noch neue Forschungsperspektiven. So wünschen wir denn, dass seine Präsentation im Louvre zahlreichen Besuchern ermöglicht, die zeitlose Schönheit zu entdecken. Élisabeth Antoine-König und Pierre Alain Mariaux

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Die Geschichte der Abtei

und des Mauritiuskultes O R

Welch wunderbare Fügung wurde Saint-Maurice d’Agaune zuteil! Agaune, das schon in der keltischen Antike eine Kultstätte war, wurde an der Wende zum 4. Jahrhundert in Erinnerung an das Blutbad, das die thebäischen Märtyrer dort erlitten hatten, in Saint-Maurice umbenannt. Seit der Gründung eines Klosters im Jahr 515 geniesst der kleine Ort internationale Ausstrahlung und die Verehrung der Märtyrer verbreitete sich bis in ferne Gegenden. Der Name Agaune leitet sich von dem keltischen Acaunus ab und erinnert an die Felswand, die den Ort überragt, oder an die das Rhônetal umschliessenden 3000 Meter hohen Bergketten der Cime de l’Est und der Dent de Morcles. Der Engpass, den sich die Rhône zwischen den beiden Bergen geschaffen hat, war der einzig mögliche Weg für Reisende, die die Alpen über den Grossen Sankt Bernhard (in der Antike Mons Jovis oder Jupiterberg) überqueren wollten. Im 5. Jahrhundert schildert Eucherius von Lyon die Märtyrerstätte des heiligen Mauritius und seiner Gefährten folgendermassen:

«Acaunum ist etwa sechzig Meilen von der Stadt Genf entfernt (tatsächlich 120 Kilometer) und etwa vierzehn Meilen (25 Kilometer) vom oberen Ende des Genfer Sees, in den die Rhone mündet. Der Ort selbst liegt in einem Tal, aber bereits zwischen den Bergrücken der Alpen. Wer hinkommen will, dem öffnet sich ein rauer, enger Weg und gewährt mühsamen Durchlass. Die wilde Rhone lässt nämlich für den Reisenden nur einen kaum gangbaren Uferdamm am Fuss von Felswänden übrig. Hat man aber den Engpass glücklich hinter sich, so tut sich zwischen den Felskämmen unvermutet eine ziemlich weite Ebene auf.»

Abb. 1. Glockenturm der Abtei Saint-Maurice d’Agaune

Als die Römer um 15 v. Chr. die Gegend eroberten, stiessen sie in Acaunum auf die Siedlung des Keltenstammes der Nantuaten, den Cäsar schon in De Bellico Gallico (III, 1 und 5) erwähnt hatte. Die Inschriftensammlung der Abtei vermittelt eine Vorstellung von der Organisation Acaunums in der Antike. Die Nantuaten verehrten eine Gottheit, die versöhnlich stimmte und befriedete; der Weihaltar, den der Duumvir Titus Vinelius Vegetinus dem «DEO SEDATO» (Kat. 2) stiftete, belegt, dass die Römer diese Gottheit übernahmen. Auch die Wassergottheiten, die durch die Inschrift «NYMPHIS SACRUM» bezeugt werden, scheinen auf die Einheimischen zurückzugehen (Kat. 1). Die Inschriften auf zwei Altären aus dem 3. Jahrhundert verweisen auf die Existenz einer Zollstelle in Acaunum, die vermutlich aus der Zeit der Gallier datiert und von den Römern ausgebaut wurde. An der statio Acaunensis wurde die Vierzigstelsteuer (quadragesima Galliarum) erhoben, ein Zoll in Höhe von 2,5 % des Wertes der Waren, die über die unausweichliche Engstelle von Saint-Maurice transportiert wurden. Die Altäre wurden von zwei Sklaven des Kaisers errichtet, die für die Eintreibung dieser Steuer zuständig waren. Den ersten Altar (Kat. 3) errichtete Amaranthus (das Wort kommt aus dem Griechischen und bezeichnet die Pflanze Amarant, «die Unsterbliche») gemeinsam mit seiner Frau Chelidon («Schwalbe») als Andenken an ihre verstorbene Tochter Acaunensia («Agaunenserin»), den zweiten Altar weihte Montanus Merkur, dem römischen Gott des Handels und der Reisenden, für den er einen baufälligen Tempel wieder aufbauen liess (Kat. 4). 13


DE R SC H A T Z DE R A BT E I S A I N T-M AU R IC E D’AG AU N E

Das Martyrium der Thebäischen Legion Ende des 3. Jahrhunderts erhält die Gegend von Agaune durch das Massaker an der Thebäischen Legion eine neue Bedeutung. Dieses für die Geschichte von SaintMaurice so wesentliche Ereignis wird uns durch zwei Fassungen der Passio Acaunensium martyrum überliefert; eine wurde zwischen 443 und 451 von Bischof Eucherius von Lyon verfasst, die andere, vermutlich ältere, stammt von einem unbekannten Autor. Beide schildern jeweils aus ihrer Sicht die Grausamkeit des Massakers, das um 285 oder 302 auf Befehl Kaiser Maximians vollzogen wurde. Die Soldaten, die Mauritius anführte, waren zur Verstärkung der kaiserlichen Armee aus dem oberägyptischen Theben (heute Luxor) geholt worden, um die Gallier zu bekämpfen. Nach der Überquerung der Alpen widersetzten sie sich den kaiserlichen Befehlen, da sie mit ihrem christlichen Glauben nicht vereinbar waren. Rasend vor Zorn befahl der Kaiser, die von Mauritius und seinen Offizieren Exuperius und Candidus angeführten Rebellen zu töten. Die Passio erwähnt auch die Hinrichtung des Veteranen Viktor, der sich zufällig dort aufhielt. Dem unbekannten Verfasser zufolge erschien Viktor gegen 380 dem heiligen Theodor (Theodul), dem ersten Bischof des Wallis, im Traum und offenbarte ihm den Ort, an dem sich die Gebeine der thebäischen

Abb. 2. Die Stadt Saint-Maurice d’Agaune. Überreste aus dem Hochmittelalter. A: Martolet-Kirche (rot: erste Kirche aus dem 4. Jahrhundert; orange: romanischer Glockenturm); B: Parvis-Kirche; C: Baptisterium; D: Empfangsgebäude (Aula); E: Grosses Gebäude mit Hypokaustum; F: Gebäude mit Hypokaustum; G: Kirche Saint-Sigismond; H: Gebäude mit Hypokaustum; I: Antike Strasse. Grau: Katasterplan der heutigen Stadt mit der Abteikirche aus dem 17. Jahrhundert (braun)

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Die Geschichte der Abtei und des Mauritiuskultes

Archäologische Forschungen

Abb. 3. Ansicht der archäologischen Ausgrabungen mit der antiken Martolet-Kirche und dem Reliquiengrab des heiligen Mauritius

Im Rahmen der vor rund hundert Jahren begonnenen und seit 2001 unter der Leitung der Archäologin Alessandra Antonini durchgeführten Grabungsarbeiten wurde eine erste Kirche aus dem 4. Jahrhundert freigelegt; sie ist mehrmals vergrössert und wiederaufgebaut worden. Dank Erdarbeiten vor der heutigen Basilika und im Keller, in dem die neue Schatzkammer eingerichtet werden soll, entdeckte Antonini 2012 und 2013 die Fundamente einer eindrucksvollen Klosteranlage, die mindestens auf das 5. Jahrhundert zurückgeht und in den schriftlichen Quellen keinerlei Erwähnung findet. Zu der ersten, parallel zum Felsen stehenden so genannten Martolet-Kirche kam im 5. Jahrhundert ein perfekt geostetes Baptisterium hinzu. In der folgenden Bauphase (vielleicht gegen 515, zum Zeitpunkt der Klostergründung) entstand weiter östlich, jedoch in derselben Achse, die so genannte Parvis-Kirche. Zur selben Zeit wurde die Klosteranlage durch mehrere beachtliche (klösterliche oder königliche) Gebäude ergänzt. In der karolingischen Zeit entstand an Stelle der ersten Kirche ein dreischiffiger Bau mit erhöhtem liturgischem

Chor, unter dem sich eine Ringkrypta befand. In der Folge wurde dieser Chor nivelliert und durch einen als Grablege dienenden Narthex ersetzt. Am anderen Ende des Hauptschiffs wurde ein neuer Chor gebaut. Sein massives Mauerwerk umgibt das Reliquiengrab des heiligen Mauritius, das in einer Ringkrypta unter dem arcosolium des Hauptgangs angelegt wurde. Mehrere der eindrucksvollen Abteigebäude sowie das Baptisterium und die Parvis-Kirche existierten nicht mehr, als im 12. Jahrhundert der romanische Turm errichtet wurde, der als Eingangsturm der imposanten Martolet-Kirche diente und deren letzte Erweiterung war. Wegen mehrerer Brände und Felsstürze wurde der Standort am Fuss des Felsens im 17. Jahrhundert aufgegeben und in den Gärten der Abtei eine neue Kirche in nordsüdlicher Ausrichtung gebaut. Sie erfuhr mehrere Vergrösserungen und Renovierungen, die letzte nach dem Felssturz von 1942, durch den der Glockenturm zerstört worden war. Die heutigen Konventsgebäude stammen aus dem frühen 18. Jahrhundert; sie wurden nach dem Brand, der 1693 einen Grossteil der Stadt zerstört hatte, errichtet.

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DE R SC H A T Z DE R A BT E I S A I N T-M AU R IC E D’AG AU N E

Märtyrer befanden. Theodor liess ihnen zu Ehren eine Basilika errichten, in der die Gebeine der heiligen Märtyrer bestattet wurden.

Die Gründung der Abtei Aus der Mitte des 5. Jahrhunderts verfassten Passio Acaunensium martyrum geht hervor, dass die von Theodor erbaute Märtyrerkapelle zum Wallfahrtsort für Pilger aus den verschiedensten, selbst sehr fernen Gegenden wurde. Bald darauf breitete sich die Verehrung der Märtyrer in ganz Gallien und sogar bis nach Magna Germania aus; die Kirchen von Tours, Angers und Vienne erhielten Reliquien. Es wurden Unterkünfte für das Personal der Basilika und für die Pilger eingerichtet. Agaune entwickelte sich zu einem der religiösen Zentren des Burgundenreichs und es scheint ganz natürlich, dass König Sigismund seinen Übertritt vom arianischen zum katholischen Glauben hier mit einer frommen Tat besiegelte. Auf Anraten der Bischöfe Maximus von Genf und Avitus von Vienne gründete er an der Grabstätte der Märtyrer ein Kloster, das er reich ausstattete. Sigismund berief Mönche aus verschiedenen Klöstern seines Reichs nach Agaune und unterstellte sie Hymnemodus, dem ersten Abt. Dieser war kurz zuvor vom Arianismus zum Katholizismus übergetreten und stammte nicht aus der gallo-römischen Aristokratie, sondern war Burgunder. Indem Sigismund die Leitung des «nationalen» burgundischen Klosters von Agaune beispielhaft einem Konvertiten anvertraute, wollte er seinen arianischen Landesgenossen den Übertritt zum katholischen Glauben erleichtern. Die Mönche von Agaune führten die laus perennis ein, das immerwährende, Tag und Nacht gesungene Gotteslob, wie es bis dahin nur im Orient bekannt war. Das neu gegründete Kloster wurde am 22. September 515 feierlich von König Sigismund eingeweiht. Unter den Anwesenden waren auch mehrere Bischöfe, darunter Erzbischof Avitus von Vienne; seine Homilie zu diesem Anlass ist uns auf einem Papyrus überliefert (Kat. 5). Zwischen den gemeinsamen Stundengebeten der Mönche wurde die laus perennis von einander abwechselnden Gruppen gesungen, den turmae. Diese turmae, die aus Mönchen desselben Klosters bestanden und jeweils einen Vorgesetzten hatten, lebten relativ unabhängig, unterstanden jedoch alle dem Abt. Wie lange dieses System fortbestanden hat, ist nicht bekannt – vermutlich bis zum 10. Jahrhundert, als der einen oder anderen dieser turmae Schenkungen zuteil wurden.

Die ersten Äbte

Abb. 4. Karolingischer Ambo, die Kanzel der heutigen Abteikirche. Der obere Teil wurde ergänzt.

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Die von König Sigismund in Auftrag gegebenen Gebäude wurde unter Abt Ambrosius (516–520) vollendet, denn Hymnemodus starb schon am 3. Januar 516. Das Leben und die Grabinschriften der ersten vier Äbte von Agaune sind uns dank eines Textes aus dem frühen 6. Jahrhundert bekannt, der Vita abbatum Acaunensium; sie berichtet vom ewigen Lobgesang der Mönche, dem die himmlischen Heerscharen der Engel als Vorbild dienen. In der Historia francorum des Gregor von Tours wird die Existenz einer Schule in Saint-Maurice erwähnt. Zu Beginn des 7. Jahrhunderts wird der heilige Amatus genannt, der zur Verbreitung des ewigen Lobgesangs beitrug. Amatus, ein Mönch von Agaune, lebte drei Jahre lang als Einsiedler in den Felsen, bevor er in die Vogesen zog: als Abt des Klosters Remiremont führte er dort die laus perennis ein. Die Kapelle Notre-Dame du Scex in Saint-Maurice bewahrt seit 1400 Jahren sein Andenken. Mehrere literarische und liturgische Werke zeugen von der Verbreitung des Mauritiuskultes zur Zeit der Karolinger. Alkuin († 804), Angilbert von SaintRiquier († 814), Rabanus Maurus († 856) und Walahfrid Strabo, Abt von Reichenau († 849), verehrten den Anführer der thebäischen Märtyrer. Mauritius


Die Geschichte der Abtei und des Mauritiuskultes

wird in den Karlslitaneien von 784–800 erwähnt sowie in den Litaneien des aus dem Besitz einer Abtei in Besançon stammenden Psalters Karls des Grossen.

Die Abtei im Hochmittelalter Das Kloster von Agaune, das bei seiner Gründung reich mit Besitztümern ausgestattet wurde, verfügte nicht nur im heutigen Wallis, sondern auch in der französischen Schweiz, im Aostatal, in den Savoyen, der Dauphiné und in der Franche-Comté über beträchtliche Temporalien. Dank der Grosszügigkeit der Herzöge wuchsen diese im Laufe der Jahrhunderte weiter an. Um 730 tritt der Kommendatar- (Laien-)Abt Herzog Norbert (730–740) auf, dem vermutlich Karl Martell die Aufsicht über das Kloster anvertraut hatte. Mehrere seiner Nachfolger waren in Personalunion Abt und Bischof von Sion/Sitten. In der karolingischen Zeit, unter der Herrschaft Ludwigs des Frommen, wurden die Mönche zu Kanonikern, die nach der von Chrodegang von Metz eingeführten und 816 in Aachen feierlich verkündeten Regel lebten. Ab 856 geriet die Abtei wieder unter den Einfluss fürstlicher Laien, die sich des Abttitels bemächtigten und die Leitung der Kanonikergemeinschaft Pröpsten übertrugen. Saint-Maurice diente von nun an als Pfalzkapelle der Burgunderkönige; Rudolf, der 872 Laienabt wurde, gründete dort 888 das zweite Burgunderreich. Die Abtei blieb bis zum Tod Rudolfs III. im Jahr 1032 (Kat. 14) königliches Eigentum; nach dem Aussterben der Rudolfinger fiel das Kloster für ein Jahrhundert in die Hände des Hauses Savoyen. Die Verehrung der Märtyrer, die bis dahin schon vom Zentralmassiv bis zur Maas belegt ist, breitete sich bis weit in den Nordosten Europas aus. Im 10. Jahrhundert erhielten die ottonischen Herrscher die Heilige Lanze oder Mauritiuslanze (Abb. 11). Sie galt als bedeutende Herrschaftsinsignie und machte Mauritius somit zum Schutzpatron des Heiligen Römischen Reiches (Kat. 28). Der lokal verehrte heilige Mauritius wurde zum Schutzpatron der Karolinger, der Burgunderkönige, der Ottonen und des Hauses Savoyen.

Die Kanonikerreform

Abb. 5. Der heilige Mauritius (Detail Kat. 28)

Die Kanonikerreform von 1128, mit der in der Abtei die Augustinusregel eingeführt wurde, war das Ergebnis eines über hundert Jahre währenden Prozesses. Ein Teil der Mönche von Agaune hatte das Kloster verlassen, um in der neuen Abtei Abondance im benachbarten Obersavoyen nach der Regel zu leben. Als die Augustinusregel in Agaune übernommen wurde (Kat. 15, 16) und Graf Amadeus III. von SavoyenMaurienne 1128 seine Stellung als Laienabt aufgab, konnte eine Gruppe von Mönchen von Abondance nach Saint-Maurice zurückkommen, um hier die Reform einzuführen. Mehrere Jahre lang lebten nun Säkularkanoniker (weltliche Chorherren) und Regularkanoniker (regulierte Chorherren) gemeinschaftlich zusammen, bevor sich die neue Regel ganz durchsetzte. Das Kloster erhielt nun zahlreiche Zuwendungen und knüpfte enge Beziehungen zu anderen Ordensgemeinschaften der Gegend, insbesondere zu den Abteien Abondance und Sixt, mit denen es neben einigen anderen Klöstern von Savoyen einen Verbrüderungsvertrag abschloss. Am 25. Mai 1148 weihte Papst Eugen III. bei einem Zwischenhalt in Saint-Maurice die neu erbaute Stiftsbasilika ein. Gegen Ende des 12./Anfang des 13. Jahrhunderts wurden der Abtei päpstliche Privilegien zuteil (Kat. 17). Mehrere Reliquiare – manche an Ort und Stelle hergestellt, andere von berühmten Personen gestiftet (Kat. 18) – datieren aus dieser Zeit. Während der langen Amtszeit des Abtes Nantelm (1224–1259) erhielt der Kult der Märtyrer neuen Auftrieb. Am 26. Oktober 1225 überführte er ihre sterblichen Überreste von der unterirdischen Grabstätte in einen Schrein in der Kirche. Zahlreiche Kirchen baten um Reliquien des Anführers der 17


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Thebäischen Legion, doch Nantelm musste sich dazu verpflichten, keine mehr herzugeben. Nur König Ludwig IX., der Heilige, erhielt Reliquien für sein Priorat in Senlis; dafür schenkte er einen Dorn der Dornenkrone Christi (Kat. 29 und 30).

Das Kollegiatstift Infolge verschiedener Verordnungen des Kapitels wurde das Regularkanonikerstift während der Amtszeit von Abt Jacques d’Ayent (1292–1313) in ein Kollegiatstift umgewandelt. Die Kanoniker erhielten dadurch eine grössere Autonomie, denn sie kamen in den Genuss von Präbenden, die sich von denen des Küsters, Kantors, Almosenverwalters usw. unterschieden. Zwei Jahrhunderte später, noch in der Epoche des Kollegiatstifts, setzte sich der Protestantismus in der französischen Schweiz durch. Zwar machte er vor den Toren von Saint-Maurice halt, doch wurden gleichwohl mehrere reformatorische Humanisten wie der Chronist Johannes Stumpf, der Hebraist und Kosmograph Sebastian Münster, der Biograph Heinrich Pantaleon und der Landeskundler Josias Simmler, der sich umfassend mit den Alpen befasste, dort freundlich aufgenommen. Abt Jean Miles (1550–1572) kam in diesem Zusammenhang eine massgebliche kulturelle – er stellte das älteste uns bekannte Schatzinventar auf (Kat. 7) –, politische und religiöse Bedeutung zu. Er vertrat den Bischof von Sion/Sitten bei den Reichstagen und beim Konzil von Trient. Dessen Dekrete freilich wurden in Saint-Maurice erst nach mehreren Naturkatastrophen, finanziellen Schwierigkeiten und dauernden Interventionen des päpstlichen Gesandten knapp hundert Jahre später angenommen. Die Wiederaufnahme des Ordenslebens war Abt Pierre Maurice Odet (1640–1657) zu verdanken; er schaffte die Präbenden ab, trug das Archivmaterial zusammen und stellte ein schlichtes Gemeinschaftsleben wieder her. Mehrere Kanoniker und Äbte verfassten Schriften zur Liturgie, zur Geschichte und zum Theater.

Das Zeitalter der Aufklärung und der Revolutionen 1693 fielen das Kloster und die Stadt Saint-Maurice einer Feuersbrunst zum Opfer. Abt Nicolas Camanis (1704–1715) liess die Gebäude in ihrer jetzigen, eindrucksvollen Gestalt wiedererrichten. Seit dem ausgehenden 17. und während des ganzen 18. Jahrhunderts wurden mehrere Versuche unternommen, die Abtei mit anderen französischen Kongregationen oder dem Hospiz auf dem Grossen Sankt Bernhard zusammenzuschliessen – alle indes vergeblich. Die Auswirkungen der Revolution waren auch im Wallis deutlich zu spüren, führten aber trotz Pressionen und Einbussen nicht zur Auflösung der Klöster. Die Abtei musste ihren gesellschaftlichen Nutzen beweisen und die Stadtschule in ihre Räumlichkeiten aufnehmen – die Anfänge des berühmten Collège der Abtei Saint-Maurice. Seither gehört der Unterricht zu den Haupttätigkeiten der Chorherren. Unter Napoleon I. wurden die Kongregationen der Abtei und des Hospizes auf dem Grossen Sankt Bernhard im Jahr 1812 für eine Zeit zusammengelegt, bis zum Sturz des Kaisers. Die politischen Unruhen, die das Wallis und die Schweiz von 1830 bis 1848 erschütterten, wirkten sich stark auf das Leben der Abtei aus, die infolge des Sonderbundskrieges ausgedehnte landwirtschaftliche Nutzflächen und Weinbaugebiete einbüsste. In diesem Kontext verlieh Papst Gregor XVI. 1840 Abt Étienne Bagnoud und seinen Nachfolgern den Titel eines Bischofs von Bethlehem, ein Privileg, das nach dem II. Vatikanischen Konzil verloren ging.

Strahlkraft einer Abtei

Abb. 6. Reliquiar des heiligen Dorns (Detail Kat. 30)

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Um die Wende zum 20. Jahrhundert legen die Chorherren den Grundstein zu verschiedenen sozialen Werken, aus denen zwei weibliche Ordensgemeinschaften hervorgehen: Die Mauritiusschwestern kümmern sich um Kranke und betreuen Hilfsbedürftige, die Augustinerschwestern sind im Bereich der Presse und im Ver-


Die Geschichte der Abtei und des Mauritiuskultes

Abb. 7. Prozession in den Strassen von Agaune anlässlich des Mauritiusfestes: Der Schrein des heiligen Sigismund und seiner Söhne wird von zwei Kanonikern getragen.

lagswesen tätig. Abtei und Collège besitzen eine grosse spirituelle, intellektuelle und kulturelle Ausstrahlung und ziehen zahlreiche Schüler an. Mehrere höhere Schulen wurden unter die Leitung der Chorherren gestellt. Der am Märtyrergrab praktizierte Lobgesang hat massgeblich dazu beigetragen, dass die Abtei zum Zentrum der liturgischen und kirchenmusikalischen Erneuerung wurde. Seit 1940 wird der Sonntagsgottesdienst im Radio übertragen, und die alljährlich in Saint-Maurice stattfindenden Semaines romandes de musique et de liturgie ziehen jedes Jahr Hunderte von Teilnehmern an.

Die Abtei heute

Abb. 8. Mauritiusfest, 22. September: Die Kanoniker tragen die Schreine des Schatzes in einer Prozession durch die Strassen.

Heutzutage geniesst die Abtei den Status einer Territorialabtei. Der Abt hat eine eigene Jurisdiktionsgewalt über das fünf Pfarrgemeinden umfassende kleine Gebiet, das 1993 neu abgesteckt wurde. Der Unterricht im Collège der Abtei ist nach wie vor Aufgabe der Chorherren, deren Aktivitäten sich auf zehn weitere Pfarrgemeinden der Diözese von Sitten und des Gebiets der Abtei erstrecken. Seit 1854 ist die Abtei auch missionarisch tätig. Nach einem ersten erfolglosen Versuch in Algerien waren von 1934 bis 1994 fünfzehn Kleriker in Sikkim (Indien) im Einsatz, wo sie die Diözese Darjeeling gründeten. Die Abtei unterstützt heute die Communauté des Augustiniens de Saint-Maurice, eine Kongregation in der Diözese Kananga in der Demokratischen Republik Kongo. Die Abtei Saint-Maurice betrachtet ihre Vergangenheit wie ihre Zukunft als Geschenk Gottes. Demütig und bescheiden wird sie 2015 mit der Gemeinschaft der Gläubigen und allen Menschen guten Willens ihr 1500-jähriges Bestehen feiern. Seit fünfzehn Jahrhunderten beten die Kleriker von Saint-Maurice täglich zu ihrem Schöpfer. Möge dieser tägliche Dank am Grab des Märtyrers Mauritius und seiner Gefährten andauern, solange Gott will. 19



I

Der Schatz: von den Anfängen

Abb. 9. Reliquienschrein des Theuderich (Detail Kat. 9)

bis zur Kanonikerreform (1128) P A M

Im Laufe der ersten Entwicklungsphase der Abtei von Saint Maurice d’Agaune, von ihrer Gründung bis zur Kanonikerreform zur Zeit Ludwigs des Frommen, schreibt sich die Geschichte des Schatzes mitunter leicht, doch meist nicht kontinuierlich. Dabei ist sie nicht allein auf die Untersuchung der einzelnen darin versammelten Reliquiare und sakralen Geräte beschränkt, wenn dies aufgrund der Tatsache, dass vor dem recht späten erhaltenen Inventar von Abt Jean Miles (Kat. 7) kein anderes vorhanden ist, auch naheliegt. Die erhaltenen Stücke zeugen von einer langen Geschichte des Schatzes, denn in ihnen offenbart sich das mehr oder weniger regelmässige Aufeinanderfolgen historischer Schichten grosso modo seit dem Ende des Altertums bis in die Neuzeit. Ein Ensemble von vier Reliquiaren bildet den ältesten Kern, der mit der so genannten Vase des heiligen Martin (Kat. 8) möglicherweise Anfang des 6. Jahrhunderts anzusiedeln ist; es handelt sich dabei um ein Sardonyxgefäss, das nach Ansicht der Chronisten zunächst in einen Kelch und später in ein Reliquiar für das Blut der thebäischen Märtyrer umgewandelt wurde. Eucherius von Lyon, Verfasser der Passio Acaunensium martyrum um das Jahr 449, erwähnt Geschenke aus Gold und Silber, die zu Ehren und für die Messe der Heiligen dargebracht wurden, doch sind diese Opfergaben an seinem eigenen Mass zu messen. In seiner Homilie vom 22. September 515 (Kat. 5) berichtet der heilige Avitus von den Wohltaten des Sigismund, wobei die Versuchung gross ist, diesen auch das Sardonyxgefäss zuzurechnen:

«Zahlreich sind die Wohltaten, die Ihr bis heute ausgeteilt habt und für die wir Euch den Dank aussprechen wollen, den wir Euch schulden: reich durch Euch beschenkt, doch arm an Worten, haben wir viel empfangen und Euch doch nur wenig zurückgegeben. Eure Kirchen habt Ihr mit vielen Schätzen und zahlreichen Dienern ausgestattet; grossherzig habt Ihr Heiligtümer errichtet und sie noch dazu mit Euren grosszügigen Gaben gefüllt..»1

1. Zitiert nach der Übersetzung von Léon Dupont Lachenal, «L’homélie de S. Avit à Agaune le 22 septembre 515», Échos de Saint-Maurice, LXIII, Sonderheft, 1965, S. 34–38, hier S. 37–38.

Der Reliquienschrein des Theuderich (Kat. 9), das karolingische Bursenreliquiar (Kat. 10) und die so genannte Kanne Karls des Grossen (Kat. 11) gehören ebenfalls zu diesem Ensemble von Stücken aus dem Hochmittelalter, die, teilweise legendenhaften Überlieferungen zufolge, von bedeutenden Persönlichkeiten wie Dagobert, Papst Eugen I. und Karl dem Grossen gestiftet wurden. In einer Bulle Papst Eugens II. werden die Privilegien der durch Ludwig den Frommen eingesetzten Kanoniker bestätigt, doch handelt es sich dabei um eine Urkunde, die Ende des 10. Jahrhunderts interpoliert und aufgesetzt wurde; in einem im Jahr 857 verfassten Brief Papst Benedikts III. wird die empörende Leitung unter Abt Hucbertus angeprangert; Leo IX. setzt die Abtei 1050 wieder in ihre Rechte ein, nachdem der Burgundenkönig Rudolf III. bereits 1018 Besitzungen zurückgegeben hatte (Kat. 14). Ihre strategische Lage an der Via Francigena, einer der meistfrequentierten Strassen über die Alpen, machte die Abtei für verschiedene Mächte zu einem erstrebenswerten Objekt. Seit 857 steht ihr ein Kommendatar- (Laien-)Abt vor und sie wird unter den Nachfolgern Ludwigs des Frommen und später unter der rudolfischen Dynastie von Burgund und dem Hause Maurienne (seit Anfang des 12. Jahrhunderts Savoyen) als Kommende vergeben. Dank der politischen Stabilität durch die Burgundenkönige und dann durch die Grafen von Savoyen erlebt 21


DE R SC H A T Z DE R A BT E I S A I N T-M AU R IC E D’AG AU N E

Abb. 10. Homilie des heiligen Avitus (Kat. 5)

2. Wien, Kunsthistorisches Museum, Weltliche Schatzkammer, Inv.-Nr. SK_WS_XIII_19. Siehe Edina Bozoky, «La légende de la lance de saint Maurice selon Godefroy de Viterbe», in Nicole Brocard u. a., Autour de saint Maurice, Saint-Maurice, 2012, S. 161–175. Nach einer anderen Version geht der Erwerb der Lanze auf Heinrich II. im Jahr 1004, dem Jahr der Überführung eines Teils der Reliquien des heiligen Mauritius nach Magdeburg, zurück. 3. Laurent Ripart, «Saint-Maurice d’Agaune et la réforme canoniale (fin X e –milieu du XII e siècle)», in Nicole Brocard u.a., op. cit., S. 219–234. 4. Jean Jodoc Quartéry, De vita s. Mauritii, S. 240–241 (AASM DIV 1/1/1): «Carolus Magnus Monasterii hujus Maximus Benefactor et Reparator […] Tabulam auream Marcharum 65. auri pro apponendis desup[er] S. Mauritii reliqui[a]s donavit contextam undequaque lapidibus praetiosis.» Das Retabel ist «eine Konstruktion, die hinter und über dem Altar angebracht und mit einem bilderreichen und figürlichen Dekor ausgestaltet ist» (Pierre-Yves Le Pogam, Les Premiers Retables [ XII e –début du XV e siècle]. Une mise en scène du sacré, Ausst.-Kat., Paris, Musée du Louvre, 2009, S. 18). 5. Diese soll nicht eingeschmolzen, sondern verpfändet worden sein: Fragmente davon sollen auf dem grossen Schrein von Sion/Sitten aufgebracht worden sein. Wenn diese Annahme zutrifft, lässt dies auf eine Datierung der Originaltafel ins dritte Viertel des 11. Jahrhunderts unter der Regierungszeit von Bertha von Savoyen und dem Episkopat Ermenfrois schliessen (Thurre, 1992, S. 85 und S. 260; vgl. Kilian Anheuser und Christine Werner (Hg.), La Grande Châsse de Sion. Chef-d’œuvre de l’orfèvrerie du XI e siècle, Paris, 2005). Eine Schwierigkeit bleibt jedoch bestehen: Die Reliefs des Schreins von Sitten sind aus Silber, während die ausgeliehene Tafel immer als tabula aurea, das heisst als goldene Tafel beschrieben wird.

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die Abtei von Saint-Maurice ab der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts eine gewisse «Renaissance», was in der zunehmenden Verehrung des heiligen Mauritius und seiner Gefährten zum Ausdruck kommt. Es sind jedoch kaum wertvolle Stücke erhalten, die davon Zeugnis geben, ausser der Lanze des heiligen Mauritius, die von den ottonischen Herrschern und ihren Nachfolgern alsbald mit der Heiligen Lanze2 (Abb. 11) verwechselt wird. Wie Liutprand von Cremona berichtet, musste Rudolf II. von Burgund sie tatsächlich unmittelbar nach ihrem Erhalt dem deutschen Souverän Heinrich I. übergeben … Von der allgemeinen klerikalen Reformbewegung des 12. Jahrhunderts ist auch die Abtei Saint-Maurice betroffen, die seinerzeit eine Epoche des Zerfalls erlebt. Graf Amadeus III. von Savoyen beschliesst am 30. März 1128, die dortigen Säkularkanoniker durch Regularkanoniker zu ersetzen, die zu einem Leben in Gemeinschaft verpflichtet sind.3 Mit dieser Entscheidung geht die Rückgabe aller in der Vergangenheit übertragenen Güter einher. Die Reform wird von Honorius II. bestätigt, wenn auch die beiden Kategorien von Kanonikern bis 1142 weiter nebeneinander existieren. Kurz vor dem Jahr 1147 wird ein neuer Abt, Hugo, gewählt; der Konvent von Saint-Maurice erlangt nach und nach seine Unabhängigkeit. Das gesamte 12. Jahrhundert hindurch helfen die Päpste den Kanonikern, sich von den Banden der säkularen Feudalstrukturen zu befreien. Unter der Amtszeit Abt Rudolfs (1153–1168) wird die geistige und wirtschaftliche Kontrolle zurückerlangt: Die Kanoniker sind somit der Regel des heiligen Augustinus unterstellt (Kat. 16), die sich allerdings ab Ende des ersten Viertels des 13. Jahrhunderts abmildert. Der Schatz erlebt im Laufe des 12. Jahrhunderts eine aussergewöhnliche Blüte. Im Jahr 1147 leiht sich Amadeus III. eine «goldene Tafel» – nach allgemein verbreiteter Meinung ein Antependium –, um seinen Kreuzzug zu finanzieren. Die Frage bezüglich dieser Tafel, die in der lokalen Überlieferung auf die karolingische Zeit zurückgeht, verdient einige Aufmerksamkeit, weil sie für die Beurteilung der lokalen Goldschmiedewerkstatt und deren Produktion in der romanischen Zeit entscheidend ist. Folgt man dem späten Bericht von Jean Jodoc Quartéry, so hat Amadeus III. ein Retabel ausgeliehen, das sich über den Reliquien des heiligen Mauritius befand, ebenso wie das der Abtei von Saint-Denis, ein Geschenk Karls des Kahlen um das Jahr 862.4 Als der Graf von Savoyen im Jahr 1148 stirbt, kann sein Nachfolger Humbert III. die Tafel nicht zurückgeben5 und entschädigt die Abtei mit hundert Mark Silber und zwei Mark Gold, die in mehreren Raten von 1150 bis 1154 «ad reficiendam tabulam» entrichtet werden, um die Tafel wiederherzustellen (Kat. 18). Es ist also sehr wahrscheinlich, dass die Edelmetallgabe an die Abtei spätestens im Jahr 1154, auch wenn die Schuld des Grafen von Savoyen damit nicht getilgt wurde, unmittelbar


Der Schatz: von den Anfängen bis zur Kanonikerreform (1128)

zur Herstellung eines Altaraufsatzes kurz nach Mitte des 12. Jahrhunderts gedient hat, der die ursprüngliche Tafel originalgetreu ersetzen sollte. Daniel Thurre schlägt verschiedene Rekonstruktionsmöglichkeiten dieser «Übergangstafel» zu einem oder zwei Registern vor: Am wahrscheinlichsten ist seiner Ansicht nach eine Darstellung des thronenden Christus, begleitet von zwei Engeln und umrahmt vom Tetramorph und dem ganzen Kreis der Apostel.6 Wiederverwendete Fragmente davon glaubt er in den beiden «romanischen» Schreinen des Schatzes zu finden, dem Mauritiusschrein (Abb. 12) und dem Schrein des heiligen Sigismund und seiner Söhne (Kat. 19). Auch soll ein Teil des Metalls zur Anfertigung des Kopfreliquiars des heiligen Candidus (Kat. 20) und des Armreliquiars des heiligen Bernhard (Kat. 22) gedient haben, zweier Reliquiare, die aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls in der örtlichen Werkstatt hergestellt wurden.7 Da eine Münzprägewerkstatt in Saint-Maurice sowohl in den 1140er Jahren belegt ist, offenbar wiederbelebt durch Amadeus III., als dann auch im 13. Jahrhundert ab dem Jahr 12398, kann man berechtigterweise davon ausgehen, dass parallel dazu eine Goldschmiedewerkstatt existierte, deren Produktion zwar untypisch war, aber dennoch während der romanischen Zeit fortdauerte und sich offenbar nach 1200 fortsetzte. Die starke Heterogenität der «romanischen» Schreine und das Vorhandensein kleiner Emailtafeln aus dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts auf vier wichtigen Reliquiaren des Schatzes, die in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts angefertigt wurden, weisen auf eine Restaurierung oder teilweise Umarbeitung dieser Stücke in der gotischen Epoche hin, möglicherweise während der Amtszeit des Abtes Nantelm (1224–1259) und aus bisher unbekanntem Grund. Im Verlauf des 12. Jahrhunderts erlebt die Abtei eine intensive Zeit weltlichen und geistigen Wiederaufbaus; mit der Einführung der Kanonikerreform im Jahr 1128 beginnt eine Erneuerung, die ein Jahrhundert später unter Abt Nantelm ihren Höhepunkt findet: in der Erhebung der sterblichen Überreste des heiligen Mauritius und seiner Gefährten, deren Namen bekannt waren, ihrer Überführung in einen neuen Schrein und dessen Übertragung auf den Hochaltar. In diesem Geist der Rückgewinnung und gestützt auf die wichtige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit spielt der Schatz der Abtei eine entscheidende Rolle, denn die Gegenstände erweisen sich als wirksame Unterstützung der Texte, deren Echtheit sie bestätigen, indem sie dazu beitragen, ihnen sichtbare Gestalt zu verleihen.

Abb. 11. Die Heilige Lanze, Wien, Kunsthistorisches Museum, Weltliche Schatzkammer

6. Thurre, 1992, S. 102. 7. Thurre, 1992. 8. Colin Martin, «L’atelier monétaire de l’abbaye de SaintMaurice», Vallesia XLII, 1987, S. 369–383, vor allem S. 383: «Die Erwähnungen der moneta Mauritiensis bezogen sich auf diese Silberlinge (die Silberlinge, die vom Jahr tausend an bis Mitte des 14. Jahrhunderts geprägt worden sein sollen).»

Abb. 12. Mauritiusschrein, Schatz der Abtei, Saint-Maurice d’Agaune

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Der Schatz in der Gotik:

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von Abt Nantelm (1224–1259) bis zum Gegenpapst Felix V. (1439–1449)

Abb. 13. Abtsstab des Guillaume Villien (Detail Kat. 37)

1. Aubert, 1872, S. 172–176; zum Alpais-Ziborium siehe Corpus des émaux méridionaux, Bd. II, 2011, IIIA, Nr. 2, S. 144–149. 2. Siehe dazu in Kürze meinen Beitrag zum Pariser AgauneKolloquium Honneur à Saint Maurice! vom April 2014.

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Werke aus der Gotik hatten es in Agaune lange Zeit nicht leicht, die Aufmerksamkeit der Kunsthistoriker zu gewinnen; denn die galt fast ausschliesslich Hauptwerken des Hohen Mittelalters wie der so genannten Vase des heiligen Martin (Kat. 8) oder der so genannten Kanne Karls des Grossen (Kat. 11), die ebenso ungewöhnlich durch ihre Qualität wie blendend wegen ihrer legendären Herkunft sind, sowie den grossen romanischen Schreinen, zumal da sie die Überreste der Hauptheiligen der Abtei bergen, des heiligen Mauritius einerseits (Abb. 12) sowie des heiligen Sigismund und seiner Söhne andererseits (Kat. 19). Doch hat der Schatz auch in gotischer Zeit bemerkenswerte Arbeiten erhalten, die allerdings im Schatten der berühmten älteren Werke weniger Forschung angeregt haben. Da die meisten von ihnen im Frühjahr 2014 in den Louvre kommen sollten, ergab sich die Gelegenheit, sie gründlicher zu untersuchen und einige Entdeckungen oder wenigstens neue Zuschreibungen zu machen. Nachdem in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts Reliquiare geschaffen wurden, die man traditionell mit der Silbergabe Humberts III. verbindet, der damit die von seinem Vater «geborgte» goldene Tafel ersetzen wollte, tritt die Stiftertätigkeit des Hauses Savoyen für eine Weile in den Hintergrund. Das Fehlen von Namen für Auftraggeber jener sehr schönen Werke, die das 13. Jahrhundert in Agaune eröffnen, kann erklären, dass diese Arbeiten selbst relativ unbekannt geblieben sind. Ausser dem Schrein, den der Abt Nantelm in Auftrag gegeben hat, und dem Reliquiar des heiligen Dorns, das König Ludwig der Heilige gestiftet hat, blieben die Werke des 13. Jahrhunderts im Dunkeln. Im Blick auf das 13. und 14. Jahrhundert hat man das Gefühl, man habe es mit Geschenken und Aufträgen unterschiedlichster Herkunft zu tun, ehe das Haus Savoyen seine Schutzfunktion im 15. Jahrhundert, besonders unter Amadeus VIII., wieder erneuerte. Doch ist auch der Stil der Zeit um 1200 in grossartiger Weise in Agaune vertreten: durch die schöne Krümme aus Limoges mit der Palmettenblume, die für diese Zeit charakteristisch ist (Kat. 24), wie auch durch zwei bedeutende Kelche oder Ziborien, die traditionell als Kelch Karls des Grossen und als Sigismundkelch bezeichnet werden (Kat. 25 und 26). Gewiss reicht weder die eine noch die andere Arbeit in so frühe Zeiten zurück; rätselhaft sind sie beide, aus unterschiedlichen Gründen. Édouard Aubert hat sie in seiner grossen Veröffentlichung von 1872 als Ziborien bezeichnet, ganz gewiss wegen der grossen Ähnlichkeit mit der Sainte Coupe im Domschatz von Sens und dem Ziborium des Alpais, deren Benutzung als Hostienbehälter gut bezeugt ist.1 Aber nichts derartiges ist für die beiden Gefässe in Agaune bewiesen, die in Saint-Maurice als Reliquiare dienten und nicht als Ziborien. Während der «Kelch Karls des Grossen» mit seinen zehn Medaillons eine eindeutig christliche Ikonographie zeigt, nämlich Szenen aus der Kindheit Jesu, lässt der Einsatz eines Kentauren als Deckelknauf die Bedeutung des Objekts und dessen ursprüngliche Bestimmung mysteriös erscheinen. Noch eindeutiger profan ist der «Sigismundkelch», auch wenn er fast genauso geformt ist: Hier gibt es keinerlei christliche Ikonographie. Die Medaillons mit islamischem Schmuck im Inneren und der klangliche Effekt in der Kugel, die seinen Deckel bekrönt, lassen uns dieses Objekt zunächst der 25


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Abb. 14. Eines der Gewebe aus dem Schrein des heiligen Sigismund und seiner Söhne (Detail; S. 34, 84, 85)

Abb. 15. Zentaurenkelch, sog. Kelch Karls des Grossen (Detail Kat. 25)

3. Siehe in diesem Katalog den Text von Regula Schorta «Textile Reliquienhüllen im Schatz von Saint-Maurice d’Agaune», S. 31. 4. Siehe Coutaz u. a., 1997, S. 309–310 und Anm. 196, S. 354.

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profanen Welt zuschreiben; so wird es sich um einen Kelch zum Trinken handeln, der erst nachdem er der Abtei geschenkt worden ist, zum Reliquiar wurde. Zwar sind alle diese Objekte im Inventar des Abtes Jean Miles (1550–1572, Kat. 7) verzeichnet; doch weiss man nicht, zu welchem Zeitpunkt und auf welche Weise sie in den Schatz der Abtei gelangt sind. Ihre Provenienz, die nur von stilistischen Kriterien aus bestimmt werden kann, zeigt, dass die Abtei im 13. Jahrhundert immer noch Herz eines sehr weit gespannten Netzes war: Lange dem anglo-normannischen Bereich zugeordnet, könnte der «Kelch Karls des Grossen» ebenso gut ein Werk aus dem deutschsprachigen Raum sein. Das so genannte Kreuz Ludwigs des Heiligen (Kat. 27) scheint aus der Maasregion zu stammen, könnte aber vielleicht auch eines der extrem seltenen Werke der Kreuzfahrerkunst aus dem Heiligen Land sein.2 Der so genannte Sigismundkelch hingegen verbindet ebenso wie manche kostbaren Reliquienhüllen3 den Schatz von Saint-Maurice d’Agaune mit dem Fernen Osten, denn er scheint von einem mongolischen Goldschmied gefertigt zu sein. Wie ist solch ein Werk nach Agaune gelangt? Man ist versucht, die Beziehungen der Abtei zu Ludwig dem Heiligen noch einmal ins Spiel zu bringen. Der König hatte den Dominikaner Andreas von Longjumeau (1249) und danach den Franziskaner Wilhelm von Rubruk (1253–1254) mit der Mission in die Mongolei geschickt, die Mongolen entweder zu bekehren oder sie wenigstens als Bundesgenossen gegen den Islam zu gewinnen. Hat man Geschenke für den König, die Andreas von Longjumeau dort als Dank für die aus Frankreich mitgebrachten Reliquien entgegengenommen hatte, dann einfach weiter verteilt? Aber es ist auch an ganz andere Wege zu denken, vor allem an die Kreuzzüge, deren Bedeutung für den Schatz, wahrnehmbar schon durch die Teilnahme von Amadeus III. am Zweiten Kreuzzug und durch die Reliquien aus dem Heiligen Land, die im Kopfreliquiar des heiligen Candidus (Kat. 20) geborgen waren, noch für andere Kreuzzüge zu untersuchen wäre. Mit Abt Nantelm (1224–1259) kommt man auf festeren Boden. Seine Amtszeit war in der Tat eine sehr fruchtbare Periode für den Mauritiuskult und damit für den Schatz. Am 26. Oktober 1225 liess er die Gebeine des heiligen Mauritius aus der Krypta, in der sie geborgen waren, exhumieren und in einen neuen Schrein betten. Durch diese gewichtigen Umstände und durch die Inschrift, die auf dem Dach eingraviert ist, sicher datiert, erweist sich der Nantelmusschrein als sehr originelles Monument, auf dem Silber, Gold und Niello, einfach graviert, ohne plastische Treibarbeit und ohne Steinschmuck oder Filigran in geradezu minimalisierter Art miteinander kontrastieren (Abb. 17). Leider konnte dieser Schrein wegen seines Erhaltungszustands nicht in den Louvre gebracht werden; ehe er restauriert werden könnte, wäre eine gründliche Untersuchung erforderlich – zwei jeweils mehrere Jahre dauernde Vorhaben, die finanziert werden müssen. Mit der Erhebung der Gebeine des heiligen Mauritius setzt während der Amtszeit von Abt Nantelm eine Periode ein, in der zahlreiche Reliquien des Märtyrers in alle Welt verteilt wurden. Das erreichte einen Punkt, an dem der Abt versprechen musste, diese Verteilung zu beenden.4 Wahrscheinlich sind gewisse Gegenstände im Schatz der Abtei als Dank für die Übersendung solch wertvoller Reliquien geschenkt worden; aber das in der Abtei erhaltene Archivgut erlaubt uns nicht, diese Annahme zu bestätigen. Wie die meisten mittelalterlichen Kirchenschätze besitzt der Schatz von Agaune einige Beispiele der Limousiner Emailkunst, die man als Œuvre de Limoges kennt. Dazu gehören die bereits erwähnte schöne Krümme und ein kleiner Schrein à poupées, also mit aufgelöteten vorgefertigten Figürchen der geläufigen Produktion des 13. Jahrhunderts. Freilich taucht der Begriff «Œuvre de Limoges» in keinem der Schatzverzeichnisse auf, die aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert stammen, was die Identifizierung des kleinen Schreins in den Inventaren unmöglich macht.


Der Schatz in der Gotik

Abb. 16. Kelch des heiligen Sigismund (Detail Kat. 26)

5. Die zehn anderen Reliquien wurden verteilt, namentlich nach Saint-Denis und an die Kathedrale von Tours; siehe Louis Carolus-Barré, «Saint Louis et la translation des corps saints», in: Etudes d’histoire du droit canonique dédiées à Gabriel Le Bras, Paris, 1965, Bd. 2, S. 1100–1104, und Claude Andrault-Schmitt, «Saint Maurice et la cathédrale de Tours », in: Brocard u. a., 2012, S. 322. 6. H.-F. Delaborde, Vie de saint Louis par Guillaume de Pasthus, confesseur de la reine Marguerite (Collection des textes pour servir à l’étude et à l’enseignement de l’histoire), Paris, 1899, S. 45–46 («Et adonques les fist porter a grant procession en la cité a la meme eglise, en tele manière que li benoiez roi meesmement portoit seur ses propres espaules la derreainne chasse ensemble avecques hommes de noble remenbrance (…). Et estoit l’entente de benoiet roye tele, si comme l’en croit, que c’estoit bonne chose et honeste que li dit saint qui avoient esté chevaliers de Jhesu Crist fassent portez par chevaliers.»). 7. Siehe Corpus des émaux méridionaux, 2011, S. 268, ebenso wie VII b, Nrn. 1 und 2.

Nantelms Nachfolger, Abt Girold (1260–1275), steht für einen zweiten Abschnitt in der Geschichte des Schatzes im 13. Jahrhundert; denn er ist auf die Bitte Ludwigs des Heiligen für die Ausstattung von Senlis eingegangen: Durch die neue Regel, dass die Abtei keine Gebeine des heiligen Mauritius selbst mehr herausgeben dürfe, konnte er nur vierundzwanzig namenlose Heilige aus der Thebäischen Legion dem König liefern, der den Kult dieser Märtyrer in seinem ganzen Königreich verbreiten wollte. Vierzehn dieser Leiber wurden in der königlichen Kapelle von Senlis verehrt, wo sie in grossen Schreinen mit Seidenparamenten geborgen wurden.5 In einer Vita des Königs heißt es: «Und dann liess er sie in der Stadt in diese Kirche bringen und zwar so, dass der selige König selbst auf seinen eigenen Schultern den letzten Schrein trug, gemeinsam mit Männern adeliger Abstammung (…); denn der selige König war, wie man glaubt, der Überzeugung, dass es eine gute und geziemende Sache sei, dass, wenn diese Heiligen Ritter Jesu Christi waren, man sie auch von Rittern tragen lassen sollte».6 Zum Dank schenkte Ludwig der Heilige der Abtei von Agaune eine Reliquie des heiligen Dorns von der Dornenkrone Christi. Da das Reliquiar, das die kostbare Reliquie birgt, so genau datiert ist, bildet es einen entscheidenden Referenzpunkt für die Goldschmiedekunst der Zeit Ludwigs (Kat. 20). Vielleicht ging ihm sein «Zwilling» in Assisi voraus, eine Arbeit, die wegen des franziskanischen Armutsideals etwas bescheidener wirkt und in der die Strömung, die das Reliquiar in Agaune vertritt, bereits angelegt ist: Mit ihr setzt die Pariser Goldschmiedekunst der 1260er Jahre ganz auf die Schlichtheit des Dekors, die Abstraktion geometrischer Formen sowie den Lichtreflex auf glatten Flächen reiner Materialien wie Gold und Kristall. In der Urkunde, die den heiligen Dorn und seine Monstranz begleitete, forderte Ludwig der Heilige die Kanoniker von Agaune auf, diese Reliquie mit besonderer Ehrfurcht zu behandeln (Kat. 29). Seine Bitte wurde über Erwartung erfüllt: Davon zeugt schon der Umstand, dass dieses Dokument im Schatz selbst aufbewahrt blieb, mit den Reliquien, und nicht im Archiv der Abtei. In der Tat erwähnt Abt Miles in seinem Schatzverzeichnis einen Kasten «mit verschiedenen Reliquien und vor allem den Dokumenten Ludwigs des Heiligen, Königs von Frankreich, zum Heiligen Dorn von der Dornenkrone Unseres Herrn». Da der Abt den Begriff «Œuvre de Limoges» nicht kennt, kann man über diesen Behälter spekulieren und sich fragen, ob es eine einfache Holzkiste war oder ob sich der Abt nicht eines jener mit emaillierten Medaillons geschmückten Kästen aus Limoges bedient hatte, in denen Kleriker so gern ihre wertvollen Dokumente aufbewahrt haben.7 Die Verehrung, die Ludwig dem heiligen Mauritius entgegenbrachte, und sein Wunsch, dessen Kult im französischen Königreich zum Blühen zu bringen, haben die Geister in Agaune sicher beeindruckt. Deshalb entstanden vom heiligen Dorn aus Überlieferungen, die dem König grosszügig manche in der Abtei aufbewahrten Objekte zuschrieben. Zwar ist Abt Girold, wie eine sorgfältige Prüfung der Überreste nahelegt, wahrscheinlich mit einer glossierten Bibel in etwa fünfzehn bis zwanzig Bänden, wie sie für das Pariser Handschriftenwesen der Regierungszeit Ludwigs des Heiligen typisch war (Kat. 32), nach Agaune zurückgekehrt; doch wird man die traditionelle Bezeichnung «Kreuz Ludwigs des Heiligen» für das Kreuzreliquiar des Wahren Kreuzes (Kat. 27) zurückweisen müssen. Dieses Werk erinnert in keiner Weise an die Pariser Goldschmiedekunst, sondern eher an Arbeiten maasländischer Werkstätten des zweiten Viertels des 13. Jahrhunderts, wenn es nicht sogar aus Werkstätten im Heiligen Land stammt. Statt aus Paris zu kommen, wird diese Stiftung eher auf eine Sendung von Reliquien des Abtes Nantelm von 1233 antworten; damals schickte er eine Reliquie des heiligen Viktor an Johanna von Konstantinopel, Gräfin von Flandern und 27


DE R SC H A T Z DE R A BT E I S A I N T-M AU R IC E D’AG AU N E

Abb. 17. Der heilige Mauritius: Detail des Nantelmusschreins, Schatz der Abtei, Saint-Maurice d’Agaune

8. Siehe Dupont Lachenal, 1956, S. 393–394. 9. Xavier Hélary, «Le prieuré Saint-Maurice de Senlis: une fondation au devenir incertain», in: Brocard u. a., S. 133–134. 10. Taburet-Delahaye, 1995, S. 18. 11. Aubert, 1872, Nr. 14; Zähne der heiligen Apollonia wurden demnach erst später in die oben erwähnte Reliquienmonstranz gelegt. 12. Aubert, 1872, Nr. 18, S. 239. 13. Aubert, 1872, Nr. 27, S. 239. 14. Aubert, 1872, Nr. 28, S. 239. 15. Heute im Musée de Cluny, Inv.-Nr. Cl. 2351; siehe den Aufsatz von Karel Otavsky, «La rose d’or du musée de Cluny », in: Revue du Louvre et des musées de France, 1986, Nr. 6, S. 379–384. 16. Aubert, 1872, S. 73. 17. Aubert, 1872, S. 73, und Ausst.-Kat. La maison de Savoie en pays de Vaud, Lausanne, 1990, S. 107 und Kat. VI 19–20.

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Hennegau und Tochter Balduins I., des Kaisers von Konstantinopel.8 Sie mag durchaus dieses schöne Kreuzreliquiar als Gegengabe geschenkt haben. Trotz der Pracht der grossen Feierlichkeiten in Senlis hatte das Priorat Saint-Maurice, das Ludwig der Heilige dort gegründet hatte, nicht die erhoffte Strahlkraft und die Beziehungen zwischen diesem Kloster und Agaune blieben recht locker (Kat. 31).9 Ludwigs Mauritiuskult scheint keine Zukunft gehabt zu haben und wurde von seinen Nachfolgern nicht weiter verfolgt. Der Schatz bewahrt zumindest keine Spur, weder eine Erinnerung noch ein Geschenk, das von einem anderen französischen Herrscher in der Gotik gekommen wäre. Mit dem 14. und 15. Jahrhundert tritt das Haus Savoyen erneut verstärkt als Beschützer der Abtei auf, zunächst eher sporadisch, dann aber sehr deutlich unter Herzog Amadeus VIII. (1383–1451), der zum Gegenpapst Felix V. (1439–1449) geworden war. Eine kleine Monstranz mit dem Stempel von Avignon trägt die Savoyer Wappen (Kat. 34): Geschaffen in den Jahren 1330–1340, wurde sie möglicherweise vom Grafen Aymo (1329–1343), dem Vater von Amadeus VI., gestiftet.10 Die grossartige Paxtafel (Kat. 36), ein Pariser Werk aus dem frühen 15. Jahrhundert, die das Heilige Antlitz von Engeln gewiesen zeigt, könnte direkt im Pariser Handel erworben worden sein; in den Schatz gelangt sein mag sie aber auch über das Haus Savoyen, und zwar durch Jean de Berrys Tochter Bonne (1365–1435), die in erster Ehe den Grafen Amadeus VII. von Savoyen geheiratet hat und Mutter von Amadeus VIII. war. Andere Elfenbeine, die heute verschwunden sind, werden im Inventar des Abtes Jean Miles erwähnt. Ihre Herkunft ist ebenso schwer zu bestimmen wie ihre Entstehungszeit. Der eigenartige «kleine Kopf aus Bein, der drei Zähne der heiligen Apollonia enthielt»11, lässt an Gegenstände aus dem Bereich des Memento mori denken, wie sie im 16. Jahrhundert geschaffen wurden, während «die beiden Pyxiden in Bein, die Reliquien enthielten»12 , vielleicht aus der Spätantike stammten. Bei dem «Kasten aus Elfenbein mit vielen Bildern»13 legt die Tatsache, dass Jean Miles keines der Bilder inhaltlich erkennt, nahe, es habe sich um einen weltlichen Elfenbeinkasten gehandelt, der dem Schatz geschenkt worden ist – ähnlich wie jener im Schatz von Sankt Ursula in Köln oder wie der im Domschatz von Krakau. Die Ikonographie, die oft von literarischen Werken in der Mode des 14. Jahrhunderts ausging, wird Jean Miles entgangen sein. Der Inhalt dieses Elfenbeinkastens führt noch andere prachtvolle Geschenke für den Schatz vor Augen, die ebenso verschwunden sind: eine silberne Rose, mit der man «den oberen Teil einer Rose» verbinden kann, der im anschliessenden Inventareintrag erwähnt wird.14 Dieses Stück lässt an den päpstlichen Brauch denken, bedeutenden Laien oder, seltener, einer kirchlichen Institution, die geehrt werden sollen, eine goldene, von Parfüm duftende Rose zu überreichen: Die Rose, die Rudolf III. von Nidau, Graf von Neufchâtel, um 1330 erhalten hatte, wurde später dem Münsterschatz von Basel geschenkt.15 Die goldene Rose, die Felix V. dem Herzog Albrecht von Bayern zugedacht hatte, gehört heute dem Schatz des Klosters Andechs bei München. So wird die Abtei von Agaune auf dieselbe Weise eine Rose von einem Laien erhalten haben, der damit durch den Papst geehrt worden war. Die ganz besondere Verehrung, die Herzog Amadeus VIII. von Savoyen für den heiligen Mauritius hatte, hinterliess spürbare Zeugnisse: 1434 gründete der Herzog den Ritterorden vom heiligen Mauritius, der sich im Priorat Ripaille versammelte, das von Amadeus VIII. schon 1409 gegründet und der Jungfrau Maria und dem heiligen Mauritius geweiht war. Nachdem er Papst geworden war, bewies er seine fortdauernde Verehrung des heiligen Mauritius, indem er in der Abteikirche von Agaune eine Kapelle errichten liess, die den Schatz aufnehmen sollte.16


Der Schatz in der Gotik

Dennoch sind die Spuren der Grosszügigkeit von Amadeus VIII. unter den Gegenständen im Schatz heute recht spärlich: Die beiden Leuchter mit seinen Wappen, deren Stempel nicht bestimmt werden kann, sind wohl kaum vor Emanuel Philiberts Zeit gestiftet worden (Kat. 40). Die so genannte Mitra Felix’ V. ist viel zu spät, als dass sie dem Papst gehört haben könnte. Was das Weihrauchfass mit dem Stempel von Montpellier betrifft, von dem es heisst, er habe es geschenkt, so will keine Quelle diese Tradition bestätigen. Das ganze Ensemble ist zu uneinheitlich, als dass es, wie man gedacht hat, als Ausstattung (Capella) des Papstes gelten könnte.17 Entsprechend muss man feststellen, dass der schöne Krummstab mit flamboyantem Dekor, der ihm lange zugeschrieben wurde (Kat. 37), mit höchster Wahrscheinlichkeit im Auftrag des Abtes Guillaume Villien entstanden ist. Nach der Regierungszeit Amadeus’ VIII. war der Beitrag des Hauses Savoyen nicht mehr so bedeutend. Während Emanuel Philibert noch 1577 eine Reiterstatuette des heiligen Mauritius (Kat. 41) stiftete, minderte sein Nachfolger Karl Emanuel I. den Schatz, indem er das Schwert des heiligen Mauritius und sein schönes Lederschnitt-Etui nach Turin beorderte; das Etui war entstanden, als der Orden des heiligen Mauritius gestiftet wurde (Kat. 39). Andere Werke, die nicht in den Louvre entliehen werden konnten, verdienten eine gründlichere Untersuchung: Dazu gehören das so genannte Reliquienkreuz des heiligen Andreas, die Viktorbüste (Abb. unten) oder ein weiterer kleiner Schrein, der im Jahr 1414 von Bruder Jean Domenge gestiftet worden ist. Es ist sehr zu wünschen, dass das Interesse, das durch diese Ausstellung und die Feierlichkeiten anlässlich der 1500-Jahr-Feier der Abtei erweckt wird, zu einer Serie neuer Untersuchungen führt, die das grosse Werk unseres Vorgängers Édouard Aubert über den Schatz von SaintMaurice d’Agaune fortsetzen und mit neuem Leben erfüllen.

Abb. 18. Reliquienbüste des heiligen Viktor, Schatz der Abtei, Saint-Maurice d’Agaune

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