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Prof. Dr. Martin Warnke
Lexichaos – oder der Weg zurück nach vorn
Prof. Dr. Martin Warnke
Stephan von Huenes Rauminstallation Lexichaos besteht aus drei Gegenstandsbereichen, einem lettristischen, der sich aus Buchstaben, einem ikonischen, der sich aus skulpturalen Elementen und einem musikalischen, der sich aus vokalen Lauten zusammensetzt. Dies sind die Elemente eines künstlerischen Programms, das aus dem elften Kapitel des Ersten Buches Mose entwickelt wird: „Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. Als sie nun nach Osten zogen, fanden sie eine Ebene im Lande Sinear und wohnten daselbst. Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! – und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder. Da fuhr der Herr hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. Und der Herr sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! So zerstreute sie der Herr von dort in alle Länder, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen. Daher heißt ihr Name Babel, weil der Herr daselbst verwirrt hat aller Länder Sprache und sie von dort zerstreut hat in alle Länder.“
Drei identische Holzskulpturen stehen für die babylonische Stadt mit ihrem Turm. Auf schulterhohem Sockel liegt ein Kasten, in den eine achtteilige Turmgruppe eingestellt ist. Diese erinnert an die Skyline einer amerikanischen City. Die „Hochhäuser“ stehen zu Vierergruppen geordnet, wobei die erste oder vordere etwa bis zur halben Höhe der zweiten aufsteigt, so dass das Auge über eine Treppenspirale in die Höhe gelangt.
Es hat in der Geschichte immer wieder Versuche gegeben, sich den Turm zu Babel bildlich vorzustellen. Dies geschah in der Regel so, dass die Türme als aufgeschichtete Pyramiden oder gewaltige Kegel, die von Diagonalrampen erschlossen wurden, alle je gesehenen, wirklichen Gebäude weit überragten; es waren Phantasiebauten. Lexichaos dagegen bietet den amerikanischen Alltagsfall, über den unsere Vorstellung kaum noch hinausgelangt, und der uns als Inbegriff menschlichen Höhendrangs und Hochmuts erscheint.
Dieses große Gemeinschaftswerk aller Menschen, das Babel heißt, hat Gott als Angriff auf seine himmlische Hoheit angesehen. Er brachte es zu Fall, indem er die Menschen durch Zerstörung ihrer gemeinsamen Sprache handlungsunfähig machte. Die Ursprache wurde zertrümmert: Das Hebräische, so sah man es seit dem Mittelalter, zerfiel in 72 Stammes- und Nationalsprachen. In der Geistesgeschichte Europas ist diese Katastrophe immer wieder verarbeitet und gedeutet worden.¹ Bei Stephan von Huene heißt diese Katastrophe Lexichaos, und er treibt sie über das bekannte Ausmaß noch hinaus: Es zerfallen nicht nur die Sprachen, nicht nur syntaktische Strukturen, sondern es zerfallen auch die Wörter, die wichtigsten Bedeutungseinheiten; sie zerstieben in die kleinsten Elemente, in die Buchstaben. Die Worte werden zurückbuchstabiert und verlieren jeglichen Sinn. Die Lettern werden vom Wort befreit und peinlich voneinander isoliert. Konsonanten und Vokale verbinden sich nicht nachbarlich, erbringen keine Wohllaute, auch keine sinnhafte Konnotation, sondern bleiben einander fremd, damit sie als Grapheme für sich stehen können. „Babel“ bedeutet hier die Ausblendung aller kommunikativen Zeichenträgerschaft. Seit dem Dadaismus experimentieren Künstler mit der akustischen und visuellen Qualität der Buchstaben. Bei von Huene verweigern die Buchstaben sich gegenseitig auch als kalligraphische Wesen: Ähnlich wie eine Testtafel beim Augenarzt treten die Buchstaben in unterschiedlichen Stärkegraden auf, dicke gegen dünne, große gegen kleinere, umgewendete gegen umgedrehte.
Wenn erst die Betrachtenden gelernt haben, darauf zu verzichten, den Buchstaben die alltägliche sprachliche Mitteilungsfunktion
zu geben, dann kann sich seine Wahrnehmung eine neue Grundlage für eine generalisierende Erfahrung erarbeiten. Es wird ein Kursus angeboten, in unterschiedlichen Ansätzen dem Chaos eine neue Sprache abzugewinnen: 27 Tafeln markieren im Raum einen weiten Horizont, der das Auge immer wieder von dem Vertikaldrang der Türme in eine diesseitige Ebene zurückführt. Auf sämtlichen Tafeln sind die Buchstaben schwarz und sie stehen allesamt über einem weißen, neutralen Grund. Auch gehören alle Buchstaben der gleichen typographischen Klasse, der Futura, an. Sie stehen alle „auf Linie“, sie purzeln nicht durcheinander wie in dadaistischen Bildern und Collagen, sondern sie ordnen sich parallel untereinander; sie respektieren die klassischen Abstände vom Rand. Auf den Tafeln, die unabhängig von den Türmen im Raum verteilt sind, haben die obersten Reihen durchgehend drei, die zweiten durchgehend vier, die weiteren Zeilen unterschiedlich viele Buchstaben, ohne dass das Schriftcorpus dadurch aus den Fugen geriete. Die Buchstaben treten in der einheitlichen Organisation der Tafeln in immer neuen Rollen und in immer neuen Konfigurationen auf. Sie können über die Zeilen hinweg Beziehungen eingehen, wie Reime in Gedichten oder Antiphonien in Liturgien: Die letzte Zeile einer der Tafeln enthält die Sequenz „RZEHA T E“, die dann auch auf der folgenden Tafel die ersten beiden Zeilen besetzt; auch die vierte Zeile entdeckt man dort fast vollständig, wenn auch in sich variiert. Solche Verschleifungen von der letzten Zeile in die der nächsten wird man in einer eigenen Gruppe von Tafeln finden. Entsprechend wird die kombinatorische Phantasie innerhalb der Buchstabentafeln immer neue Brücken, Querbeziehungen, Zusammenziehungen, Entflechtungen, Entgegensetzungen, Ausspreizungen und Rückzüge, Symmetrien und Asymmetrien, kurz: Strukturen einer „visuellen Poesie“ herstellen und auffinden können.
Es hat in der Geschichte immer wieder Versuche gegeben, die Sprachverwirrung im Gefolge von Babel rückgängig zu machen. Pfingsten hat man ein „umgekehrtes Babel“ genannt. Polyglotte Fähigkeiten haben solche Absichten verfolgt, so bei Kaiser Karl V., der empfohlen hat, „man solle zum Beten das Spanische benutzen, im Gespräch mit Fürsten das Italienische, bei Frauen das Französische, vor Soldaten das Deutsche“.² Esperanto entspricht ebenfalls diesem Ehrgeiz, Babel rückgängig zu machen. Im 18. Jahrhundert entwickelte man aus der Gestensprache ein Universalidiom, aus dem dann die Gebärdensprache hervorging. Auch Stephan von Huene hat in anderen Werken solche averbalen Zeichen- und Gestensprachen untersucht.
Stephan von Huene, Mindmap zu Lexichaos, 1990, Bleistift auf Papier, 21 x 29,7 cm, Humboldt-Universität zu Berlin, Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik
Die Rückführungen unserer Seherfahrung in eine allgemeinere Struktur erweitert sich für die Betrachtenden zu einem akustischen Ereignis: Während sie sich vor den Tafeln bewegen, bemerken sie, dass bei Herantreten oder Weitergehen durch Sensoren, die in jede Tafel eingebaut sind, eine Klingel wie eine urtümliche Rassel ausgelöst wird. So erhält jede Fortbewegung der Betrachtenden einen akustischen Einsatz und Ausklang, eine Art von akustischem Reim, der durch die Bewegung aktualisiert wird. Es entsteht das, was von Huene „Babel Acoustic“ nennt, das eine erste physische Grundlage einer erneuten Verständigungsmöglichkeit bereitstellt.
Die Ausweitung der neu sich aufbauenden Kommunikationsmittel in die Tonebene erhält eine Vertiefung aus den Türmen. In deren Sockeln sind unter jedem der acht quadratischen Rohre Lautsprecher eingesetzt, die die oben wiedergegebene Bibelstelle in drei Sprachen
– Hebräisch, Altgriechisch und Lutherdeutsch, die jeweils auf einen der drei Türme verteilt sind – senden. Diese unterschiedlichen Sprachäußerungen werden durch den aufgrund der Länge der quadratischen Rohre unterschiedlichen Resonanzeffekt, den die Röhrenräume bewirken, einander angeglichen und gemischt. Von den jeweiligen Sprachen versteht man nur gelegentlich artikulierte Wortfetzen. Von Huene hat einer Untersuchung des Musikethnologen Erich Moritz von Hornborstel entnommen, dass es in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Maße für das Verhältnis zwischen den Instrumenten und den erwarteten Tonhöhen gibt. Eine solche Wechselbeziehung ist hier umgesetzt: Das akustische Material wird durch die Länge der Röhren bestimmt. In den Proportionen der Skulptur, deren Turmelemente jetzt Tonträger sind, verkörpern sich Klangverhältnisse, die kulturell bestimmt sind.
So ergeben die zu einem Geräusch vereinigten Sprechvorgänge eine Klangfarbe, in der die babylonische Sprachkatastrophe wieder aufgehoben ist. Die gefilterten Töne, die ja in sich die biblische Geschichte enthalten, drücken sich in einer synästhetischen Wechselwirkung auch als Skulptur aus. Da diese Vorgänge in allen Türmen zu dem gleichen akustischen Ergebnis, zum gleichen Tonhöhensystem führen, ist symbolisch wieder die Grundlage für eine Gemeinschaftssprache erfahrbar. Nachdem alle normalen Verständigungsmittel abgebaut waren, werden im Kunstwerk mithilfe moderner technischer Operationen die Voraussetzungen für ein von Grund auf neues Verstehen aufgebaut.
Martin Warnke (1937–2019) lehrte als Professor für Kunstgeschichte an den Universitäten in Marburg (1971–78) und Hamburg (1979–2003). 1991 erhielt er den renommierten Leibniz-Preis für seine wissenschaftlichen Leistungen und gründete die Forschungsstelle für Politische Ikonographie im Warburg-Haus in Hamburg, wo er sich u. a. für den Erhalt und die Erforschung des Aby Warburg Archivs engagierte.
1 Arno Borst, Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und
Vielfalt der Sprachen und Völker. 4 Bde., Stuttgart 1957 bis 1963. Neuaufl. München 1995. 2 Borst, Bd. 3, S. 1146.
Stephan von Huene, Signatur-Zeichnung, Tinte auf Papier