engelsloge n° 44

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SIEBEN SCHWARZE TÜREN Die gefragte britische Regisseurin Katie Mitchell inszeniert Herzog Blaubarts Burg. Der Oper von Béla Bartók stellt sie dessen Konzert für Orchester voran und verklammert unter dem Titel Judith beide Werke mit einem Film. Eine neue Sicht auf das Drama.

K

atie Mitchell vertritt ein starkes feministisches Programm. Judith über­schreibt sie denn auch ihre szenische Inter­pre­tation von Béla Bartóks Opern­ einakter Herzog Blaubarts Burg. Damit ist der Blickwinkel bestimmt. Radikal aus der Sicht Judiths erzählt Mitchell die Geschichte des finsteren Herzogs, für den Judith ihre Eltern und ihren Verlobten verlässt und in dessen dunkle Burg sie mit der Kraft ihrer Liebe die Sonne einziehen las­ sen will. Sieben schwarzen Türen sieht sie sich ge­genüber. Sie verlangt vom Herzog die Schlüssel und entdeckt eine Folter­ kammer. Eine Tür nach der anderen schließt sie auf, findet Blaubarts Waffenkammer, seine Reich- und Be­sitztümer, seine Schatzkammer und einen Zaubergarten. Überall je­doch erschei­ nen Spuren von Blut. Dem geliebten Mann ent­fremdet, fordert sie dennoch die weiteren Schlüssel. Hinter der sechsten Tür erblickt sie einen Tränensee und hinter der siebten Blaubarts gemordete Frauen. Ihnen gehöre der Morgen, der Mittag, der Abend, so Blaubart, ihr die Nacht. Er schmückt sie mit Krone, Mantel und Juwelen. Sie geht durch die siebte Tür, und ewiges Dunkel bricht ein.

Mitchell gehört zu jenen herausragenden Regisseurinnen und Re­ gisseuren, die einem Werk ihren Stempel aufdrücken. Einzig­artig ist ihr Stil, und un­verwechselbar sind ihre Inszenierungen. 1964 in Berkshire ge­boren, fand sie in Deutschland die Freiheit, um ihre Ideen zur Entfaltung zu bringen. Während ihre Insze­nierungen von Klas­sikern in Großbritannien anfänglich sogar als Vandalismus kri­ti­siert wurden, stoßen hierzulande ihre Regie­­arbeiten auf Be­ geisterung. Den Grund für diese Offenheit ge­gen­über ihrer Arbeit sieht Mitchell in der Geschichte. Die Narben, die der Na­ tionalsozialismus und der Zweite Weltkrieg schlugen, ­haben die n° 44

Menschen skeptisch gegenüber Heroen und Auto­ri­tä­ren werden lassen. Mittlerweile hat sich al­lerdings auch in ihrer bri­tischen Heimat das Blatt gewendet, und manche sehen Mitchell sogar als bedeutendste lebende Regisseurin Groß­bri­tanniens an.

Mitchell irritiert Emotionale Eindringlichkeit und Wahrhaftigkeit zeichnen ihre Regiearbeiten aus. Tief begibt sich Mitchell in die seelischen Ab­ gründe, und akribisch lotet sie die grauenvollen Seiten mensch­ lichen Verhaltens aus. Was sie anstrebt, ist eine realistische, psychologisch fundierte Darstellung. Jede noch so unbedeutend scheinende Geste, jede Handlung und jedes Geschehen auf der Bühne muss klar sein. Der Körpersprache und dem physischen Ausdruck gilt ihre ganze Aufmerksamkeit. Für die Vorarbeit, die sie ausführlich in ihrem Buch The Director's Craft beschreibt, wendet sie viel Zeit auf. Wer zum ersten Mal mit ihr arbeitet, ist häufig irritiert über ihre akribische Recherche zur Vorgeschichte der Figuren, zu deren Befindlichkeit, dem Umfeld und zur Be­ schaffenheit des Ortes, an dem die Handlung spielt. Für Mitchell ebnet die Ansammlung all dieses Wissens den Weg zur voll­stän­ digen Verkörperung der Figuren auf der Bühne. Den bewussten Weg zum unbewussten Schaffen nannte Kon­ stan­tin Stanislawski diese Phase der Vorbereitungen. Er bildet neben Peter Brook, der vom Theater den „totalen Ausdruck seiner Zeit“ verlangte, und Pina Bausch, die wichtigste Inspira­ tions­quelle Mitchells. Hinzu kommen die Erfahrungen, die sie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in Osteuropa sammelte. Vor allem die Arbeit Leo Dodins in St. Petersburg wollte sie ken­ nenlernen. Seine Verbindung von Stanislawskis psychologischem Realismus mit Wsewolod Meyerholds Vorstellung vom Regisseur 11


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