MAX JOSEPH 2020/21 No.2: Jener entwerfende Geist

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A M Joseph X 2020 — 2021 Nº 2

Jener entwerfende Geist Das Magazin der Bayerischen Staatsoper



EDITORIAL „Wolle die Wandlung“ – so beginnt ein Sonett von Rainer Maria Rilke, dem wir den Gedanken des „wendenden Punktes“ entnommen haben. Er steht unserer Spielzeit programmatisch voran. Die Wandlung wollen ist kein leichter Anspruch, und oft ist er mit Anstrengung oder gar Schmerzen verbunden. Umso wichtiger, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Am Schluss seines Interviews für dieses Magazin mit dem designierten Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper, Vladimir Jurowski, fragt ihn der Journalist Benedikt von Bernstorff, ob man der aktuellen Krise auch produktive Aspekte abgewinnen könne. Jurowski antwortet: „Absolut. Wir mussten zum Stillstand und zum Umdenken gezwungen werden.“ Unsere Situation, fährt er fort, ähnele derjenigen Wotans im dritten Akt von Wagners Siegfried: Der alte Gott wünscht seinen eigenen Untergang. Er hat verstanden, dass es Zeit ist, einer neuen Generation die Gestaltung der Welt zu überlassen. Bloß hat er das zu spät eingesehen und schon zu viele Seelen in Mitwisserschaft und Schuldigkeit hineingezogen. Für Jurowski bedeutet das, dass wir in diesen schwierigen Tagen alles tun müssen, um unseren Kindern nicht als die Wotans des frühen 21. Jahrhunderts zu erscheinen. Erst Innehalten, dann Umdenken. Rilke meint natürlich freiwillig und selbstbestimmt. Nun zwingt uns das Coronavirus zu Veränderungen – gnadenlos und unaufschiebbar. Doch im Ergebnis bleibt das fast nebensächlich: Kreativität erweist sich in der Fähigkeit, sich anzupassen. Die Not dieser Wochen und Monate macht uns zwangsläufig erfinderisch, um die Bühne des Nationaltheaters weiterhin zu beleben und aus diesem Haus, das vielen viel und manchen die Welt bedeutet, in die Welt hinauszusenden. Dafür haben wir originelle Wege gefunden: mit Montags- und Hinterhof­ konzerten, Streifzügen am Mittwoch, festen Samstagen und freien Sonntagen; mit der Überbauung des Orchestergrabens, um größere Abstände zwischen den Musikern zu ermöglichen,

einer Hygiene-Task-Force und dem Pilotprojekt „500 Besucher“; und mit Opernpremieren, die erstmals überwiegend (Braunfels’ Die Vögel) oder gänzlich (Verdis Falstaff) digital via Live-Stream stattfanden. Doch wie passen Kreativität und Beschränkung zusammen, Produktivität und Restriktionen? Brauchen die Kunst und ihre Erschaffer, jene „entwerfenden Geister“, von denen Rilke spricht, nicht vor allem Freiheit, um zu blühen? Wir haben uns entschieden, diese Ausgabe von Max Joseph all jenen entwerfenden Geistern zu widmen, die eine Schöpfungsgeschichte der besonderen Art erzählen. So entdeckt der Autor Jörg Scheller den Begriff des Genies wieder, der alle neuen Vorstellungen von Schwarmintelligenz, Vernetzung und der Macht von Strukturen überdauert habe. An die Stelle der Mystik des begnadeten Einzelnen sei die Mystik der wundersamen Vermehrung von Intelligenz, Kreativität und Ethik durch Interaktion, Inklusion und Konnexion getreten. Im Ballett stellt sich die Frage: Wer entwirft hier eigentlich, Choreograph oder Komponist? Dieses fruchtbare Hin und Her lässt sich gerade zwischen Andrey Kaydanovskiy und Lorenz Dangel bei ihrer Kreation von Der Schneesturm beobachten. Und auch die Sopranistin Golda Schultz, die die Partie der Agathe im Freischütz singen wird, erinnert daran, dass wir die Kunst, die Musik brauchen, um Chaos mit Harmonie zu begegnen. Sie möchte trotz der widrigen Umstände und ganz im Geiste des Genialischen nicht lamentieren, sondern prüfen, was möglich ist. Die Suche nach jenem entwerfenden Geist hat uns übrigens auch ins Deutsche Patent- und Markenamt geführt. Seit 1877 werden hier unter anderem neue Ideen für die Bühne eingereicht. Die schönsten, von genial bis kurios, präsentieren wir in diesem Heft. Als inspirierende Erinnerung daran, dass der Mensch immer schon versucht hat – und sei es durch technische Tüfteleien –, die mögliche Wirklichkeit ein klein wenig weiter zu fassen.

Nikolaus Bachler Intendant der Bayerischen Staatsoper

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S. 34 SELBST

INHALT

BESTIMMT ⁂ Die Sängerinnen Katharina Konradi und Samantha Hankey entwerfen ihre Rosenkavalier-Partien – in Eigenregie. Ein Portfolio

S. 3 EDITORIAL

Von Nikolaus Bachler S. 42 WER

ENTWIRFT BEIM BALLETT? ⁂ Bei der Uraufführung des Tanzstücks Der Schneesturm ringen Choreograph und Komponist um Gleichberechtigung. Aber wer hat das Sagen? Von Christoph Gaiser

S. 8 CONTRIBUTORS /

IMPRESSUM S. 10 LIEBE

LYRIK

Künstlerinnen und Künstler der Bayerischen Staatsoper stellen Gedichte vor, die ihnen viel bedeuten S. 16

S. 48 WOLKEN IMPFEN

ine Meteorologin forscht daran, künstlich Schnee zu E erzeugen. Ein gefährliches Spiel mit der Natur? Von Patrick Bauer

DER BEGNADETE EINZELNE – UND SEINE WUNDERSAME VERMEHRUNG

In Zeiten von Schwarmintelligenz und KI: Was ist eigentlich aus dem Genie geworden? Von Jörg Scheller S. 22

S. 56 WASSER

DES TODES, WASSER DES LEBENS ⁂ Dmitri Tcherniakov, Regisseur des Freischütz, will die Oper zu neuem Leben erwecken – dafür muss er sie zuvor töten Von Marina Davydova

JENER ENTWERFENDE GEIST

Auf der Suche nach genialen Erfindungen für die Bühne im Deutschen Patent- und Markenamt (siehe auch Seiten 40, 54 und 66)

S. 60 „ZORNIGEN MENSCHEN HÖRT NIEMAND ZU. ZORNI-

GEN SCHWARZEN FRAUEN ERST RECHT NICHT“ ⁂

S. 24 „JEDER

Der Freischütz erzählt vom Kampf um Aufnahme in die Gesellschaft. Wie schwer dieser sein kann, weiß die Sopranistin Golda Schultz Von Lisa Frieda Cossham

SPRICHT FÜR SICH SELBST,

JEDER SPRICHT ETWAS ANDERES UND JEDER IST FÜR SICH ALLEIN“ ⁂ Der Dirigent Vladimir Jurowski setzt sich mit seinem schwierigen Weg zum Rosenkavalier auseinander Von Benedikt von Bernstorff S. 30 VERLUST

UND BEFREIUNG ⁂

Was uns das barocke Bühnenbild des Rosenkavaliers erzählt. Und wie ein Film von Alain Resnais den Blick auf Strauss' Oper verändert Von Niklas Maak

AGENDA S. 68

SPIELPLAN

S. 70 DER

SCHWUNG DER FIGUR

Die Künstlerin Valérie Favre interpretiert Rainer Maria Rilkes geheimnisvollen „Schwung der Figur“

MAX JOSEPH DAS MAGAZIN DER BAYERISCHEN STAATSOPER SPIELZEIT 2020 ­­­­– 2021 DER WENDENDE PUNKT Nº 2: JENER ENTWERFENDE GEIST

Erschienen am 29. Januar 2021

Das Covermotiv dieser Ausgabe stammt aus der Bildserie Lucid des New Yorker Fotografen Adam Whyte.

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Premieren



IMPRESSUM

S. 16 Yuxing Li Heitere Bildsprache, fein ausbalancierte Komposition, behaglicher Rhythmus: In den Bildwelten von Yuxing Li bilden Formen, Farben und Linien menschliche Gestalten, die in irgendeiner Weise tätig oder auch untätig sind. Von dieser Beweglichkeit profitiert der „entwerfende Geist“, den die Hamburger Illustratorin für den Essay dieser Ausgabe zu Papier gebracht hat. Ihre Arbeiten wurden 2018 mit dem Grand Prix Ilustrarte ausgezeichnet.

Max Joseph Das Magazin der Bayerischen Staatsoper www.staatsoper.de/maxjoseph Max-Joseph-Platz 2, 80539 München T 089 – 21 85 10 20 F 089 – 21 85 10 23 maxjoseph@staatsoper.de, www.staatsoper.de

S. 24 Benedikt von Bernstorff Der Literatur- und Musikwissenschaftler Benedikt von Bernstorff arbeitete als Dramaturg und Regisseur für Theater und Oper sowie als Redakteur fürs Fernsehen und verfasste als Journalist zahlreiche Artikel u. a. für den Tagesspiegel, das Kunstfest Weimar und die Stiftung Berliner Philharmoniker. Trotz Zoom-Verbindung kam er in seinem Interview dem Dirigenten Vladimir Jurowski erstaunlich nahe. Der Autor lebt in Berlin.

Redaktionsleitung Sarah-Maria Deckert

S. 30 Niklas Maak So wie Niklas Maak über den Barock schreibt, der das Bühnenbild des Rosenkavaliers ziert, hat man beim Lesen das Gefühl, vom sprachlichen Ornament herrlich umwuchert zu werden. Maak studierte in Hamburg und Paris Kunstgeschichte, Philosophie und Architektur, lehrte Architekturtheorie in Harvard und leitet heute das Kunst- und Architekturressort der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zuletzt erschien sein Roman Technophoria bei Hanser.

S. 48 Cole Barash In seiner Bildreportage Snowgods (2020) konfrontiert uns der amerikanische Fotograf Cole Barash mit einer unheimlich-schönen Winterwelt. Er dokumentiert die Arbeit der nämlichen „Schneegötter“ im Nordosten der USA, die Skipisten mit künstlichem Schnee präparieren, um die Freizeitindustrie am Laufen zu halten – mit fas­ zinierter Distanz. Barash lebt in Brooklyn, er publiziert u. a. in The New Yorker, Vogue und The Guardian.

S. 56 Marina Davydova Geboren im aserbaidschanischen Baku, studierte Marina Davydova Theaterwissenschaft in Moskau. Sie ist Festival­leiterin, Theatermacherin sowie Theaterkritikerin und -historikerin. Heute ist sie Chefredakteurin der russischen Zeitschrift teatr. In ihrem Porträt über Dmitri Tcherniakov zeichnet sie den Regisseur nicht einfach nur Satz für Satz nach, sie durchdringt ihn und seine Arbeit förmlich mit kluger Präzision.

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Chef vom Dienst Christoph Koch Redaktion Serge Honegger, Rainer Karlitschek, Malte Krasting, Lukas Leipfinger, Benedikt Stampfli, Nikolaus Stenitzer, Sabine Voß

Schlussredaktion Katja Strube Gestaltung Bureau Borsche Autorinnen und Autoren Patrick Bauer, Benedikt von Bernstorff, Lisa Frieda Cossham, Marina Davydova, Christoph Gaiser, Niklas Maak, Jörg Scheller

Foto Ruth Baldry

Bildredaktion Katrin Dillkofer

Bildkünstlerinnen und -künstler Cole Barash, Valérie Favre, Robert Fischer, Yvonne Gebauer, Ben Lewis Giles, Astrid Korntheuer, Yuxing Li, Constantin Mirbach, Adam Whyte Marketing Eva Bergmann, T 089 – 21 85 10 27, besucher@staatsoper.de Anzeigenleitung Karla Hirsch, T 089 – 21 85 10 39, karla.hirsch@staatsoper.de Lithografie MXM Digital Service, München Druck & Herstellung Gotteswinter und Aumaier GmbH, München Nachdruck nur nach vorheriger Einwilligung. Für die Originalbeiträge und ­Originalbilder alle Rechte vorbehalten. Urheber, die nicht zu erreichen waren, werden zwecks nachträgli­cher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten. Das Papier von Max Joseph ist zu 100 Prozent aus Recyclingmaterial. E ­ s ist FSC®-­zertifiziert und erfüllt sowohl die Kriterien des Blauen Engels als auch des EU Ecolabels. Zudem wird das Heft mit mineralölfreien Farben gedruckt. Foto Vera Martynov

S. 24 Ben Lewis Giles Ben Lewis Giles liebt das Überbordende, das er in seinen surrealen Collagen platziert. Es entstehen merkwürdige Räume und psychedelische Mikrokosmen, in denen es vor Blumen, Planeten und Schmetterlingen wunderbar wimmelt. So hat der britische Künstler aus Norwich auch Vladimir Jurowski buchstäblich ins Bild gesetzt. Zu Giles‘ Auftraggebern zählen u. a. das New York Magazine, das Time Magzine sowie Le Monde.

Herausgeber Staatsintendant Nikolaus Bachler (V.i.S.d.P.)

Foto Momo Ghaffar

CONTRIBUTORS


Bayerische Staatsoper 20 TV 21

Erleben Sie ausgewählte Opern- und Ballettvorstellungen live und kostenlos Der Freischütz Carl Maria von Weber Antonello Manacorda / Dmitri Tcherniakov 13. Februar 2021 Der Rosenkavalier Richard Strauss Vladimir Jurowski / Barrie Kosky 21. März 2021 Der Schneesturm Andrey Kaydanovskiy Bayerisches Staatsballett 8. Mai 2021 Lear Aribert Reimann Jukka-Pekka Saraste / Christoph Marthaler 30. Mai 2021 Idomeneo Wolfgang Amadeus Mozart Constantinos Carydis / Antú Romero Nunes 24. Juli 2021

Medienpartner

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LIEBE LYRIK Der Titel der diesjährigen Spielzeit ist einem Sonett entlehnt. Poesie inspiriert, kann trösten und unterhalten. Deshalb bitten wir in jeder Ausgabe von Max Joseph Künstlerinnen und Künstler, Gedichte vorzustellen, die ihnen viel bedeuten.

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DIE UNENDLICHKEIT

Von Giacomo Leopardi, 1819 Immer lieb war mir dieser einsame Hügel und das Gehölz, das fast ringsum ausschließt vom fernen Aufruhn der Himmel den Blick. Sitzend und schauend bild ich unendliche Räume jenseits mir ein und mehr als menschliches Schweigen und Ruhe vom Grunde der Ruh. Und über ein Kleines geht mein Herz ganz ohne Furcht damit um. Und wenn in dem Buschwerk aufrauscht der Wind, so überkommt es mich, dass ich dieses Lautsein vergleiche mit jener endlosen Stillheit. Und mir fällt das Ewige ein und daneben die alten Jahreszeiten und diese daseiende Zeit, die lebendige, tönende. Also sinkt der Gedanke mir weg ins Übermaß. Untergehen in diesem Meer ist inniger Schiffbruch. (Aus dem Italienischen von Rainer Maria Rilke)

Dieses Gedicht hat meine Jugend sehr geprägt. Die Sehnsucht nach dem Unendlichen drückt sich hier in der Konzentration auf die Stille aus. Heute hat man vor der Stille Angst, und so verliert man das Bewusstsein für ihre große Bedeutung. In der Suche nach der Unendlichkeit und in der Stille liegt aber der Grund aller Kunst und der Sinn all meines Tuns. Giacomo Leopardi selbst hat viel Zeit allein zu Hause verbracht und sich sehr wenig in die Welt hinausbewegt. Auch ich habe als Kind sehr zurückgezogen gelebt. Meine Nachmittage habe ich im Musikzimmer verbracht. Und so wie Leopardi die Klassiker studiert hat – Sokrates, Platon, Euripides –, habe ich meine Klassiker auf dem Klavier oder auf der Geige „gelesen“, nämlich Bach, Mozart und Beethoven. Antonello Manacorda, Dirigent (Der Freischütz)

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AUF ERDEN SIND WIR KURZ GRANDIOS

Von Ocean Vuong, 2016

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nicht behalten zu können. Dass dieses Bernsteinlicht durch noch einen Krieg abgeschliffen alles ist, was meine Hand auf deine Brust heftet.

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Du, der du ertrinkst in meinen Armen – bleib. Du, der du deinen Körper in den Fluss stößt nur um dir selbst überlassen zu sein – bleib.

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Ich erkläre dir jetzt, wie unsere Irrtümer groß genug sind, dass uns verziehen wird. Wie sich eines Abends mein Vater, nachdem er Mutter geohrfeigt, dann mit der Kettensäge den Küchentisch zerlegt hatte, im Bad hinkniete, bis wir durch die Wände sein ersticktes Weinen hörten. & da lernte ich – was einem Mann beim Höhepunkt am nächsten kommt, ist Aufgeben.

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Sag Aufgeben. Sag Alabaster. Schnappmesser. Geißblatt. Goldrute. Sag Herbst. Sag Herbst trotz des Grüns in deinen Augen. Schönheit trotz Tageslicht. Sag, du würdest töten dafür. Unzerbrechliche Morgenröte die dir in der Kehle aufsteigt. Mein wildes Zucken unter dir wie ein Spatz, benommen vom Fallen.

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Abendlicht: Honigklinge, die zwischen unseren Schatten abtropft.

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Auf Erden sind wir kurz grandios, Auszug aus: Ocean Vuong, Nachthimmel mit Austrittswunden, Carl Hanser Verlag, 2020

Sag mir, es war für den Hunger & nichts weniger. Denn Hunger heißt Dem Körper zu geben, was er gewohnt ist


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Ich wollte verschwinden – also öffnete ich die Autotür eines Fremden. Er war geschieden. Er schluchzte in seine Hände (Hände, die wie Rost schmeckten). Die rosa Brustkrebs-Schleife an seinem Schlüsselband schwang am Zündschloss. Berühren wir uns nicht bloß, um zu beweisen, dass wir noch da sind? Ich war einmal noch da. Der Mond, fern & flackernd, blieb in den Schweißperlen auf meinem Hals hängen. Ich ließ den Nebel über den Fensterspalt schwappen & meine Reißzähne umhüllen. Als ich fortging, blieb der Buick dort stehen, ein stumpfer Stier auf der Weide; seine Augen brannten meinen Schatten der Häuserreihe am Stadtrand ein. Zu Hause warf ich mich wie eine Fackel aufs Bett & sah, wie die Flammen sich durch das Haus meiner Mutter nagten, bis der Himmel zum Vorschein kam, blutunterlaufen und gewaltig. Wie ich dieser Himmel sein wollte – jeden Flug & Fall zugleich in mir tragen.

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Sag Amen. Sag Erbarmen. Sag Ja. Sag Ja trotz allem.

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In der Dusche, schweißgebadet unter kaltem Wasser, schrubbte & schrubbte ich.

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Es ist nicht zu spät. Um unsere Köpfe ein Glorienschein aus Mücken & Sommer, zu früh um Spuren zu hinterlassen. Deine Hand unter meinem Hemd, als das Radio immer lauter rauscht. Deine andere Hand richtet den Revolver von deinem Papa auf den Himmel. Sterne rieseln einer nach dem andern durchs Fadenkreuz. Das bedeutet, ich werde keine Angst haben, falls wir schon da sind. Schon mehr, als Haut fassen kann. Dass ein Junge, neben einem Jungen eingeschlafen, ein ganzes tickendes Feld erschaffen muss. Dass deinen Namen zu sagen den Klang von Uhren bedeutet, zurückgestellt um eine weitere Stunde, & der Morgen unsere Sachen auf der Veranda deiner Mutter findet, abgeblättert wie die Lilien von vergangener Woche. (Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag)

Ocean Vuong ist einer der überraschendsten, sinnlichsten und einzigartigsten Autoren der zeitgenössischen amerikanischen Literatur. Seine Gedichte sind Meditationen über Heimat, Geschlecht, Rasse und Identität. Allesamt Themen, die mir sehr am Herzen liegen. Barrie Kosky, Regisseur (Der Rosenkavalier)

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BEING BEAUTEOUS

Von Arthur Rimbaud, 1876 Vor einem Schneefeld ein Wesen der Schönheit von hohem Wuchs. Todespfeifen und Kreisen dumpfer Musik machen, dass dieser angebetete Körper steigt, schwillt und bebt wie ein Gespenst; scharlachfarbene und schwarze Scharten springen auf in diesem prächtigen Fleisch. Die Farben des Lebens selbst vertiefen sich, tanzen und setzen sich frei um die Vision, auf dem Werkplatz. Und die Schauder erheben sich und tosen, und die wahnwitzige Würze dieser Wirkungen, die sich mit tödlichen Pfiffen belädt und mit den rauhen Musiken, welche die Welt, weit hinter uns liegend, auf unsere Mutter der Schönheit schleudert, – O! unsere Gebeine sind wieder mit dem Fleisch eines neuen Liebeskörpers bekleidet. *** O das Gesicht in Asche, der Wappenschild aus Haar, die Arme kristallen! Das Rohr, auf das ich niederstürzen muss, durch das Gemenge von Bäumen und duftiger Luft! (Aus dem Französischen von Rainer G. Schmidt)

Was mich an Rimbaud generell und ganz besonders an diesem Gedicht aus der Sammlung Illuminations so anzieht, ist seine Ambiguität. Das Wesen im Schnee erscheint zunächst androgyn, bis es sich am Ende als „Mutter der Schönheit“, als weiblich entpuppt. Einige Metaphern – „Todespfeifen“, „schwarze Scharten“ – könnten ein Kriegsszenario insinuieren. Oder kommt alles aus einer synästhetischen Vermengung von Eindrücken einer zivilisationsfernen Welt, wo Farben tanzen und Geräusche und Musik das Fleisch zum Aufplatzen bringen? Anna Prohaska, Sopran (Ännchen in Der Freischütz)

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DER BEGNADETE EINZELNE – UND SEINE WUNDERSAME VERMEHRUNG Um das Genie rankt sich ein alter Mythos. Früher wurde seine schöpferische Kraft bestaunt. Doch was ist aus ihm geworden, in Zeiten von Schwarmintel­ligenz und KI? Eine Spurensuche.

Essay Jörg Scheller Illustrationen Yuxing Li 16


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Das arme Genie. Es ist noch nicht lange her, da durfte es an sich selbst glauben. Es durfte sich gut fühlen, gar auserwählt. Ein Genie, so wollte es die idealistische Philosophie, ist ein gott- oder naturbegnadetes Wesen. Seine schöpferische Kraft speist sich aus Quellen, die menschlicher Kontrolle entzogen sind. Als „Talent der Erfindung dessen, was nicht gelehrt oder gelernt werden kann“ hatte Immanuel Kant das Genie in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) beschrieben. Schon in seiner weit über Wissenschaftskreise hinaus wirkmächtigen, tief in den Common Sense eingesickerten Kritik der Urteilskraft (1790) erschien das Genie als „Naturgabe“ und „angebornes produktives Vermögen“, das der Prägekraft des Sozialen vorausgeht. Kurz, das geniale Individuum galt in der Moderne als etwas Wunderbares, als Residuum des Unerklärlichen, als etwas, das sich bestaunen und anbeten ließ. Romantischen Zeitgenossen, die unter Entzauberungsschmerzen litten, bot es ein willkommenes Analgetikum. So erwies sich Kants Geniebegriff als anschlussfähig an die Romantik, die er doch eigentlich verspottete. Später geriet das Genie unter Druck. Als Lebenskünstler zehrten Bohemiens und Dandys im 19. Jahrhundert nicht von einer göttlichen Substanz, sondern „von den Zinsen eines nicht vorhandenen Kapitals“, wie der Aphoristiker Stanisław Jerzy Lec treffend in der Rückschau, rund ein Jahrhundert danach, schrieb. Zugleich professionalisierte sich der Kulturbetrieb, was Richard Wagner zu seinen Klagen über Profanierung und Ökonomisierung veranlasste. Es mehrten sich die Zeichen, dass es sich bei der angeblich angeborenen wundersamen Schöpferkraft in Wahrheit um ein Resultat äußerer Umstände, von Erziehung und sozialen Strukturen handelte, von Ausbildung und Geld. Spätestens in der von Massenkonsum, angloamerika­ nischem Pragmatismus und linksprogressiver Theorie geprägten westlichen Nachkriegszeit begann die Ära des großen Geniegemetzels. Nicht nur postmoderne Kulturtheoretiker machten es sich zur Aufgabe, das Individualgenie vom Sockel zu stoßen, auch Feministinnen schlugen in diese Kerbe. Die US-amerikanische Mitbegründerin der feministischen Kunstgeschichte, Linda Nochlin, formulierte in ihrem Aufsatz Why Have There Been No Great Women Artists? (1971) folgende These: Zwar gebe es Menschen mit besonderen Talenten, doch erst günstige gesellschaftliche Strukturen ermöglichten es ihnen, ihr Talent auch zu verwirklichen. Nochlins Theorie fußt auf der klassischen Prämisse linken Denkens und Handelns. Während idealtypische Rechtskonservative argumentieren, es gebe aus guten Gründen Verhältnisse, die nun mal so seien, wie sie seien, halten idealtypische Linksprogressive dagegen, die Verhältnisse ließen sich quasi beliebig ver­­ändern – bis hin zu umfassender Gleichheit. Mit den Strukturen veränderten sich auch die Individuen und ihre Gemeinschaften. Ist es tatsächlich gelungen, die idealistische Genievorstellung zu überwinden? Zweifel sind angebracht. Unser Umgang mit dem Genie steckt voller Ambivalenzen. Einerseits werden Menschen in

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der Alltagssprache weiterhin als Genies oder als genialisch bezeichnet. Das zeugt vom Fortbestand des emotionalen Bedürfnisses nach herausragenden Einzelnen, in denen sich eine Szene, eine Bewegung, eine Theorie, eine Hoffnung verdichtet. Das Magazin Vanity Fair schrieb im vergangenen Jahr über die US-amerikanische Politikerin Elizabeth Warren: „She is a genius.“ In einem Artikel, ebenfalls von 2020, zitiert die Welt die russische Pianistin Elena Bashkirova, die über ihren Mann, den Dirigenten und Pianisten Daniel Barenboim, sagt: „Er ist ein Genie.“ Diese Rede vom Genie hat auch eine aufmerksamkeitsökonomische und damit marketingtechnische Funktion: Eine Einzelfigur prominent zu platzieren, ist einfacher, als ein komplexes Gebilde vorzustellen. Ein Image lässt sich besser auf eine Person zuschneiden als auf ein heterogenes Kollektiv. Für echte Geniekulte braucht es immer einen Diskurs, der das Genie als Genie anerkennt, der es legitimiert. Während sich solche Rahmenbedingungen in Teilen der Klassik gehalten haben, sieht es in der bildenden Kunst und in der Theaterszene mittlerweile anders aus. Zwar mangelt es da nicht an charismatischen Leuchtturmfiguren, man denke nur an Christoph Schlingensief. Und sicherlich gibt es auch nach Pablo Picasso noch herausragende Maler und Bildhauer. Dennoch dominiert in postmodernen Milieus die emphatische Ablehnung der Genieästhetik. Andy Warhol war zwar ein Kunststar, doch bestrebt, den Geniekult zu ironisieren. Diesen Trend verstärkt haben externe Umstände und Sachzwänge – wenn Kunst in den Alltag, ins Business, in die Massenmedien drängt, hat sie sich deren prosaischen Realitäten anzupassen. Doch damit ist das Genie nicht verschwunden. Jenseits der Auserwählten hat es eine neue Heimat gefunden. Mit ein wenig „Übertreibung in Richtung Wahrheit“ (Günther Anders) ließe sich sagen, dass das Genialische heute im Glauben an die Schwarmintelligenz, an Vernetzung und an die Macht von Strukturen überwintert. An die Stelle der Mystik der begnadeten Einzelnen tritt die Mystik der wundersamen Vermehrung von Intelligenz, Kreativität und Ethik durch Interaktion, Inklusion, Konnexion – wenn das Kollektiv entscheidet, so die Hoffnung, ist das Resultat unter moralischen Gesichtspunkten besser begründet und breiter abgestützt. Im Kunstbetrieb beispielsweise hat eine merkliche Verschiebung hin zu „socially engaged art“ stattgefunden. Man kennt diese Ansätze bereits aus den 1970er Jahren, als man in der Bühnenkunst das Mitbestimmungstheater erprobte oder auf der Biennale in Venedig Kunstworkshops statt Soloshows organisierte. Die Kollaboration sollte ein Korrektiv zum immer noch auf Starfiguren fixierten Kunstmarkt darstellen und authentisches „community building“ begünstigen. Heute forciert die Digitalisierung diese Verschiebung ebenso wie die Globalisierung, insofern Letztere die Auseinandersetzung mit kultureller Diversität und hybriden Sozialformen erfordert. Man könnte allerdings wittern, dass hinter diesen Bekenntnissen immer noch die alten Machthierarchien am Werke sind, die das Kollaborative, Diverse, Hybride nur als Fassade nutzen.


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So oder so hat sich noch eine andere Sorge herausgebildet: Angesichts der wachsenden Bedeutung von partizipato­ rischer Kunst im neuen Jahrtausend warnte die britische Kunsthistorikerin Claire Bishop in ihrem Buch Artificial Hells (2012) davor, das Offene, Verstörende und Autonome des Ästhetischen sozialen Anliegen unterzuordnen. Der US-amerika­nische Kunsthistoriker Grant Kester hingegen sieht gerade in der Akzentverschiebung vom individuellen Ausdruck zum gemeinsamen Anliegen ein Potenzial, um bourgeoise Kunstformen und ihre Geniekulte zu überwinden. Kester interessiert sich für Interaktion und Kollektive, seien es mittelalterliche Gilden, das „Forumtheater“ des brasilianischen Regisseurs Augusto Boal oder anonym operierende Künstlergruppen wie die Guerilla Girls. Er dürfte großen Gefallen daran finden, dass die Kasseler documenta 2022 erstmals von einem vielköpfigen, sich betont unideologisch gebenden Kollektiv kuratiert werden soll, der indonesischen Ruangrupa. Mit ihr verbindet man keinen spezifischen Stil, keine hohen Preise auf dem Kunstmarkt, keinen Starkult. Vielmehr steht das Schaffen von Verbindungen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen im Vordergrund. Das Einzelgenie wird also immer mehr relativiert. Dass das Konzept des Individualgenies, das voranschreitet und den Weg bahnt, nicht mehr den Zeitgeist bestimmt, bestätigt auch ein Blick in die freie Wirtschaft. Während man einst vom isoliert schaffenden romantischen Künstler das Neue erwartete, ist heute der prominente Leader dazu angehalten, Innovation, Kreativität und Wachstum durch Teamarbeit, Inklusion und Vernetzung zu fördern. So auch der zum „Tech-Genius“ verklärte Tesla-Chef Elon Musk. Derzeit entwickelt Musk mit dem Unternehmen Neuralink Hirnimplantate, die das individuelle Bewusstsein mit Künstlicher Intelligenz (KI) verknüpfen sollen. Auch hier schlummert das Genialische nicht mehr im isolierten Einzelnen, sondern in der Struktur, vermittels derer unterschiedliche Intelligenzformen einander befruchten sollen. Der exponentielle Fortschritt im Bereich der Informa­ tionstechnologien, so die These des Erfinders, Zukunftsforschers und Google-Kaders Ray Kurzweil, wird bald schon eine neue Stufe erreichen und auch Bereiche wie Robotik und Nanotechnik erfassen. Dies werde zur Entwicklung einer höheren Ordnung führen, der technologischen Singularität, dem wahren, posthumanistischen Genie der Zukunft. Mit dem Phänomen der Singularität beschäftigt sich übrigens auch die neue Oper Singularity von Miroslav Srnka, die im Juni an der Bayerischen Staatsoper uraufgeführt werden soll. Vor diesem Hintergrund ließe sich von der Entstehung einer neuen Form von Genialität als posthumanem Geflecht sprechen. Soziale Strukturen, Netzwerke und technologische Erweiterungen treten an die Stelle von Gott und Natur, „Machsal“ (Odo Marquard) an die Stelle von Schicksal. Doch in diesem Umschwung zeigt sich wieder einmal die Ironie der Geschichte, die sich den hehren Intentionen der Geschichtsschreiber schon so oft entzogen hat: Die antiidealistische Kritik am modernen Genieverständnis ist nicht nur im Begriff, in

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eine Idealisierung, ja in eine Apotheose der kollaborativen, technologisch verstärkten Kreativität und Intelligenz zu münden. Sie lässt auch eigensinnige Einzelne in Strukturen aufgehen, reduziert sie auf Knotenpunkte in Netzen, verlangt von ihnen, sich permanent zu öffnen, sich zu exponieren, zu teilen und zu kommunizieren – nur so kann die Datenfülle erzeugt werden, die der informationelle Kapitalismus zur Entwicklung von Künstlicher Intelligenz benötigt. Angesichts solcher Entwicklungen ist in den USA die Bewegung der „Public Introverts“ entstanden. Inspiriert durch Susan Cains Bestseller Still. Die Bedeutung von Introvertierten in einer lauten Welt (2011) lobbyieren Insichgekehrte gegen die hegemoniale Kultur des „Socializings“, der forcierten Interaktion. Kreativität, so Cains These, entsteht eben nicht zwingend durch möglichst viel sozialen Austausch. Im Gegenteil – innovative Freidenker wie Steve Wozniak, der einstige kreative Kopf von Hewlett-Packard und Apple-Mitgründer, benötigen Rückzugsräume. Sie ertragen es nicht, sich unablässig mit anderen abzustimmen, sich anzupassen. In seiner Autobiographie iWoz. Wie ich den Personal Computer erfand und Apple mitgründete (2006) stellt Wozniak fest: „Die meisten Erfinder und Ingenieure, denen ich begegnet bin, sind wie ich. Sie sind schüchtern, und sie leben in ihren Köpfen. Sie sind wie Künstler. Und Künstler arbeiten am besten alleine.“ Das geht in der Praxis natürlich nicht ganz auf. Schließlich konnten etwa die Corona-Impfstoffe nur so schnell entwickelt werden, weil in Teams gearbeitet und international kooperiert wurde. Vor diesem Hintergrund kann es nicht darum gehen, das Genie erst wortreich zu Grabe zu tragen, nur um es dann in einer Apotheose als Kollektiv oder Netzwerk wiederauferstehen zu lassen. Vielmehr gilt es, eine echte Sensibilität für konkrete Menschen zu entwickeln. Nochlin hat am Ende recht: Wenn man dem Menschen in seiner Einzigartigkeit gerecht werden will, wenn man Diversität und echten Pluralismus fördern will, wenn man nicht die Introvertierten marginalisieren will, dann muss man vielfältige Strukturen für vielfältige Talente schaffen. Man muss den Individuen ihre eigenen, nichtstandardisierten Raum- und Zeitordnungen lassen – in Zeiten von Großraumbürokratien und Hyperkommunikation, in denen alle von allen kopieren, kein leichtes Unterfangen. Bleibt abzuwarten, welche Rolle die menschlich-technologische Singularität hier spielen wird, wenn sie Kurzweils Berechnungen zufolge im Jahre 2045 das Zepter übernehmen wird und die Menschheit, wie wir sie zu kennen glaubten, Geschichte sein soll.

Jörg Scheller ist Professor für Kunstgeschichte an der Zürcher Hochschule der Künste. Er schreibt regelmäßig Beiträge für die Neue Zürcher Zeitung, Die Zeit sowie das Kunstmagazin frieze und ist Kolumnist der Stuttgarter Zeitung. Bereits als 14-Jähriger stand er mit einer Metal-Band auf der Bühne. Heute betreibt er einen Heavy-Metal-Lieferservice mit dem Metal-Duo Malmzeit. Mehr über die Bildkünstlerin auf S. 8


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JENER ENTWERFENDE GEIST Spektakuläre Opernabende verlangen nach spektakulärer Technik. Wir haben uns im Deutschen Patent- und Markenamt auf die Suche nach Erfindungen für die Bühne gemacht, die seit der Gründung 1877 eingereicht wurden. Auf den folgenden Seiten finden Sie eine Auswahl an Ideen, von genial bis kurios. Seite Seite Seite Seite Seite Seite Seite

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........ Kuppelförmiger, um eine waagerechte Achse verschwenkbarer Bühnenhorizont ......................................... Bandreklame-Aufmachung an Operngläsern .............................................................. Theaterdecoration ............ Verfahren pantomimischer Darstellung im freien Luftraum von Gebäuden ........... Vorrichtung zur Darstellung des Ausbruchs eines feuerspeienden Berges ....................................... Vorrichtung zur Nachahmung von Feuerwerk ............................. Vorrichtung zum Hervorbringen von Bühnengeräuschen


Quelle: Deutsches Patent- und Markenamt

Eine verschwenkbare Kuppel, die die Bühne zum Zuschauerraum hin abschließen kann. So würde der Vorhang entbehrlich und bei Umbauarbeiten stünde die Kuppel – die in geöffnetem Zustand als Rückwand der Spielfläche dient – nicht im Weg. Außerdem kann ihr Aussehen dem Bühnengeschehen angepasst und auf diese Weise die Wirkung des Spiels verstärkt werden. Hat sich nicht durchgesetzt.

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Collage: Ben Lewis Giles / Porträt © Sheila Rock


„JEDER SPRICHT FÜR SICH SELBST, JEDER SPRICHT ETWAS ANDERES UND JEDER IST FÜR SICH ALLEIN“ Sein Weg zum Rosenkavalier war kein einfacher: Der designierte Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper, Vladimir Jurowski, über ein Werk, das er lange Zeit nicht verstanden hat.

Interview Benedikt von Bernstorff Collage Ben Lewis Giles Premiere Der Rosenkavalier 25


MAX JOSEPH Herr Jurowski, ich bin mit einer der berühm ten Karajan-Aufnahmen des Rosenkavaliers aufgewachsen und werde mein Leben lang die Stimmen von Elisabeth Schwarzkopf und Christa Ludwig als Marschallin und Octavian nicht aus dem Kopf bekommen. Wie war das bei Ihnen? Sie haben Ihre Kindheit in Russland verbracht. Gab es da eine Strauss-Tradition? Und wie hat man den Rosenkavalier wahrgenommen? VLADIMIR JUROWSKI Eine Strauss-Tradition gab es, aber keine Tradition des Rosenkavaliers. Die Oper war überhaupt nicht bekannt und wurde auch nie gespielt. Es gab in den 1920er Jahren eine einzige Inszenierung am Leningrader Maly-Theater. Vor der Revolution hätte das Werk wegen seines anzüglichen Inhalts wahrscheinlich nicht die zaristische Zensur passiert. In der sowjetischen Zeit war es dann genauso unwillkommen. Man hat Richard Strauss grundsätzlich eher unfreundlich beäugt, weil man ihn in Verbindung mit dem Nationalsozialismus brachte. In den 1960er Jahren gab es ein Gastspiel der Wiener Staatsoper mit Karl Böhm, bei dem unter anderem auch der Rosenkavalier aufgeführt wurde. Mein Vater, der in der Vorstellung war, hat mir davon berichtet. Für mich selbst war die Oper lange nicht mehr als ein Begriff. Irgendwann habe ich die Walzerfolgen gehört, und ich habe ehrlich gesagt den Sinn dieser kompositorischen Übung nicht verstanden. MJ Wie

sind Sie dem Stück dann nähergekommen? VJ Mich hat die Suite aus Der Bürger als Edelmann [Ur­­ fassung der Ariadne auf Naxos, Anm. d. Red.], die ich auch als Teenager gehört habe, viel stärker fasziniert, weil ich die Mischung aus französischem Barock und Jugendstil als Kompositionsprinzip sehr interessant fand. Ich habe dann erst später verstanden, dass dieses Stück ohne den Rosenkavalier nicht hätte geschrieben werden können. Er war ein absolut notwendiger Schritt auf dem Weg zum Neoklassizismus, wie ihn Strauss pflegte. Ich habe eine von mir zusammengestellte Suite aus der Oper gerade mit dem Swetlanow-Orchester in Moskau gespielt. Wir haben ihr die Figaro-Ouvertüre voran­gestellt. Für mich als ehemaligen Musikwissenschaftler war die Verbindung zwischen beiden Stücken schon ziemlich früh klar: Strauss wollte sich mit dem Rosenkavalier vom Wagner-Erbe befreien; und Hugo von Hofmannsthal kam ihm da mit seiner Vorliebe für die Passeismen sehr zu Hilfe. Man sprach noch nicht von Klassizismus, man nannte es „Passéism“, vom französischen „passé“ im Sinne von Vergangenheit. Das war derselbe Begriff, der auf das Schäferspiel in Peter Tschaikowskys Pique Dame angewandt wurde. Für uns Russen ist sozusagen Tschaikowsky der erste Neoklassiker. MJ Gibt es für Sie eine Verwandtschaft der Mozart-Bezüge

von Tschaikowsky und Strauss?

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VJ Auf jeden Fall. Ich finde sowieso, dass man Strauss viel

zu stark in die Wagner-Ecke geschoben hat. MJ Sein

Vater, der als Hornist an der Oper in München spielte, mochte ja Wagner überhaupt nicht. VJ Eben. Er hat ihn immer sehr schroff kritisiert und hielt zum Beispiel den alten Franz Lachner für einen viel besseren Komponisten. So wurde der junge Richard Strauss in Ehrfurcht nicht nur vor den Klassikern, sondern auch vor Komponisten wie Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Schumann und Johannes Brahms erzogen. Das hört man auch in seinen frühen Werken wie der Bläserserenade und dem Violinkonzert und irgendwie auch in der Burleske, die ich immer sehr geliebt habe. Mein Weg zum Rosenkavalier war jedenfalls kein einfacher, weil ich das Werk lange Zeit nicht verstanden habe. Mir war natürlich die Schönheit einzelner Szenen klar: das Überreichen der silbernen Rose und das Final-Terzett. Aber man kann doch eine vierstündige Oper nicht wegen zwei, drei schöner Momente spielen. Man muss das Werk als Ganzes verstehen. MJ Sie haben in den vergangenen Jahren mehrfach Ariadne

auf Naxos und Die Frau ohne Schatten dirigiert. VJ Ich bin damit quasi rückwärts zum Rosenkavalier gelangt, und inzwischen finde ich das ein absolut hinreißendes Werk, das man aber unbedingt aus der Perspektive seiner Zeit und der historischen Umstände sehen muss. MJ Der Rosenkavalier wird ja auch als Wendepunkt im Ver-

hältnis von Strauss zur Avantgarde wahrgenommen. Komponisten der Moderne wie Edgar Varèse und Arnold Schönberg, die seine Musik zuvor faszinierend fanden, waren vom Rosenkavalier entsetzt. VJ Strauss wurde tatsächlich von seinen früheren Verehrern und Freunden wegen seiner Hinwendung zum romantischen Stil verschmäht. Er hat sie aber eigentlich alle an der Nase herumgeführt. Wer wirklich aufmerksam zuhört, erkennt die Dissonanzen im Rosenkavalier auf Schritt und Tritt. Man findet zum Beispiel in der Szene des Ochs im ersten Akt, der Arie, in der er von seinen Abenteuern berichtet, lauter „falsche“ harmonische Wendungen wie bei Strawinsky. Und die Pantomime des dritten Akts, in der das Lynchen des Ochs vorbereitet wird, klingt wie eine sehr geschickt gemachte Parodie auf die zeitgenössische Musik. Strauss wusste schon sehr gut, was er tat; als wollte er seinen Kollegen sagen: Was ihr zu können glaubt, das kann ich schon lange und viel besser. Nur tue ich es nicht. Wenn man die musikalische Entwicklung politisch nimmt, dann war Strauss’ und Hofmannsthals Abkehr von der Gegenwart ein Verrat. Aber wenn man das aus der welthistorischen Per­ spektive sieht, dann war das gar kein Verrat. Es war vielleicht eine Rettung. Denn man braucht ein Gegengewicht.


„Strawinsky hat relativ schroff über Strauss geurteilt. Gegenüber Robert Craft hat er über eine Aufführung des Rosenkavaliers sinngemäß gesagt: Es ist ungesund, wenn man drei Stunden lang nur mit Schlagsahne und Eis gefüttert wird.“ MJ Der

Begriff Neoklassizismus fällt eigentlich nie im Bezug auf Strauss. Aber gibt es vielleicht trotzdem eine Parallele zu Strawinsky in dem Gefühl, dass sich die avantgardistischen Energien erschöpft haben und man eine Art von Vergangenheitsbezug benötigt? VJ Strawinsky hat relativ schroff über Strauss geurteilt. Gegenüber Robert Craft hat er über eine Aufführung des Rosenkavaliers sinngemäß gesagt: Es ist ungesund, wenn man drei Stunden lang nur mit Schlagsahne und Eis gefüttert wird. Ich glaube trotzdem, dass er irgendwie in ihm doch auch einen verwandten Geist erkannt hat. Der Gegensatz zu Strauss ist vielleicht, dass Strawinsky ein Chamäleon war, der seinen Stil zeitlebens veränderte. Er erfand seine eigenen Vorgänger. Er beschloss eines Tages, dass von jetzt an Giovanni Pergolesi sein Vorläufer wird. Später kamen Peter Tschaikowsky, Claudio Monteverdi, Giovanni Pierluigi da Palestrina und irgendwann auch Anton Webern und Arnold Schönberg an die Reihe. Aber er blieb immer er selbst. Strauss’ Vorgehensweise er­innert mich eher an die von Sergej Prokofjew, einem anderen Gegner, der aber eigentlich auch eine verwandte Seele war. Wie sein Sohn erzählte, komponierte Prokofjew die Musik in zwei Schritten: Erst „normal“, ähnlich wie andere Komponisten. Im zweiten Schritt wurde die Musik dann „prokofjewisiert“: Die Dissonanzen und perio­dischen Unebenheiten wurden sozusagen per opera­tivem Eingriff nachträglich hinzugefügt. Das ist bei Strauss ähnlich. Wenn man zum Beispiel die Elektra gewissermaßen via Spektralanalyse untersucht, erkennt man unter der Oberfläche diese klassische Mendelssohn-Brahms’sche Vorlage, die dann aber durch moderne Hinzufügungen verbaut wurde.

MJ Es geschieht in der Musikgeschichte ziemlich früh, auf

MJ Diese

MJ Wie

Montage verschiedener Zeitebenen ist für den Rosenkavalier charakteristisch, auch im Hinblick auf die berühmte Fälschung des Walzers ins Rokoko­ zeitalter. Kann man den Rosenkavalier vielleicht als ein postmodernes Werk bezeichnen? VJ Er ist ein Vorläufer der Postmoderne, absolut. Wie bewusst das passierte, weiß ich nicht. Wenn man alles zusammennimmt, erscheint die Oper wie eine sehr interessante Reise ins Zeitalter Mozarts: eine Zeit­ maschine, deren Besatzung aus dem Jahr 1911 stammt. Aber dieser postmoderne Aspekt lag eigentlich seit Wagners Meistersingern in der Luft.

jeden Fall seit der Zeit nach Beethoven, dass Komponisten wie Brahms das Gefühl haben: Eigentlich ist bereits etwas zu Ende gegangen. Jetzt muss man improvisieren und Elemente aus der Vergangenheit neu zusammensetzen. Strauss hat zum Beispiel, anders als Wagner mit dem Musikdrama, auch keine neue Gattung geschaffen. Seine Opern haben alle verschiedene Gattungsbezeichnungen. VJ Beim Rosenkavalier haben sich Strauss und Hofmannsthal auf die Bezeichnung „Komödie für Musik“ geeinigt. Hier gibt es, anders als bei Wagner, Nummern, und man hört den Geist der Mozart’schen Rezitative, die nur von einem Wagner’schen Orchester begleitet werden. Das Werk stellt eindeutig einen Versuch dar, etwas Neues im alten Sinne zu schaffen. Bezug zu Mozarts Figaro ist ja auch in der Kon­ stellation der Figuren unverkennbar. Man kann Ähnlichkeiten zwischen der Gräfin und der Marschallin, zwischen Cherubino und Octavian und zwischen Susanna und Sophie erkennen. VJ Susanna ist tiefer und vor allem aktiver als Sophie, die die Ereignisse eher mit sich geschehen lässt. Am deutlichsten ist die Bezugnahme zwischen Marschallin und Gräfin sowie zwischen Octavian und Cherubino. Und aus Octavian und Cherubino entstand dann die Weiterführung zur Idee des Ariadne-Komponisten als jungem Mozart, als „Knabe Mozart“. Da ist Strauss’ fast mystische Verehrung für Mozart erkennbar. In seinen späten Aufzeichnungen spricht er immer von der Mozart’schen Melodie als Ausdruck des Weltgeistes oder der Weltenseele. MJ Der

sehen Sie im Vergleich dazu Strauss’ Verhältnis zum Musikdramatiker Wagner? VJ Der Unterschied zwischen beiden ist, so glaube ich, dass Wagner sich mit vielen Personen, sowohl mit Tristan als auch mit Isolde, sowohl mit Wotan als auch mit Brünnhilde identifizierte. Wie Shakespeare hatte er für alle Figuren, für die guten wie für die bösen, Empathie. Strauss ähnelt da eher Giacomo Puccini. Strauss und auch Hofmannsthal verschieben ihr Personal wie Figuren auf dem Schachbrett. Und nur in sehr seltenen Fällen, wie beim Komponisten in der Ariadne, treffen sie auf eine verwandte Seele. Ansonsten halten

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sie eine gewisse Distanz. Die einen, wie Ochs oder Faninal, beobachteten Strauss und Hofmannsthal mit einem argwöhnischen Auge. Und mit den anderen, wie der Marschallin oder Octavian, sympathisierten sie. Für mich bleiben Strauss und Hofmannsthal die Zeit­ reisenden. Alles wird wie von außen durch eine Glasscheibe gesehen. Strauss war ein genialer Geschichten­ erzähler, aber er war kein Mensch des Weltgeistes wie Mozart oder Wagner. In seinen Werken blieb er, was wahrscheinlich der Zeit oder seinem persönlichen Charakter geschuldet war, immer ein bisschen auf Distanz. MJ Sogar VJ

im Finale, im Terzett und im Liebesduett? Das Duett sehe ich eigentlich als eine Art ironischen Abschluss. Denn was die zwei singen, klingt eher wie das Abendgebet aus Hänsel und Gretel. Die Idee war wohl, dass die große Liebe für Octavian eigentlich die Marschallin hätte werden können, wenn er reifer oder sie jünger gewesen wäre. Weil sie eine viel interessantere und vielschichtigere Person ist als Sophie. So haben sie auch Strauss und Hofmannsthal gesehen. Sophie war für sie einfach ein hübsches junges, etwas oberflächliches Mädchen. Der Moment der Wahrheit kommt natürlich am Schluss. Es ist ja gar kein Terzett, es sind drei Monologe. Jeder spricht für sich selbst, jeder spricht etwas anderes und jeder ist für sich allein. Ich finde Barrie Koskys Idee, das Ganze wie eine Art Reise durch das Zeitempfinden und die Perspektiven verschiedener Personen zu inszenieren, kongenial. Denn genau so verfährt auch Strauss.

MJ Mit

Barrie Kosky haben Sie bereits mehrfach zusammengearbeitet, unter anderem 2015 bei Ihrem Debüt an der Bayerischen Staatsoper mit Prokofjews Feurigem Engel. Auf welche Fassung haben Sie sich verständigt? VJ Die Fassungsfrage ist von uns in zweifacher Hinsicht geklärt worden. Erstens spielen wir das Werk wirklich komplett ohne Striche. Das war eine gemeinsame Entscheidung, weil wir beide glauben, dass das Werk heutzutage nur so zu spielen ist, wie es ursprünglich komponiert wurde. Ich verstehe überhaupt nicht, wozu man die üblichen Striche braucht. Sie bremsen die Handlung eher, als dass sie sie beschleunigen würden. Der zweite Aspekt hat sich einfach durch die aktuellen Lebensumstände ergeben. Weil wir annehmen müssen, dass die Corona-Auflagen weiter gelten werden, spielen wir das Werk nicht in der Originalinstrumentierung von Strauss, sondern in der reduzierten Fassung von Eberhard Kloke. Klokes Vorschlag ist ein sehr logischer: Er nimmt den Rosenkavalier als einen natürlichen Vorläufer der Ariadne auf Naxos und schreibt die Oper um für das Orchester der Ariadne. Das finde ich sehr spannend, weil man im Werk von 1911 die Wurzeln des Werks von 1916 hört: nämlich der zweiten Ariadne-

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Fassung mit dem Prolog. Ich halte die Erfindung dieses 40-minütigen Prologs für eine Perle von Strauss’ Kompositionskunst auf der Basis der Musik, die vor ihm komponiert wurde. MJ Sogar

Adorno, der Strauss gegenüber sonst sehr kritisch war, hat den Prolog der Ariadne gelten lassen. VJ Ich glaube, Adorno hätte an der Fassung von Kloke auch seine Freude gehabt. MJ Die aktuelle Spielzeit bezieht sich thematisch auf Wen-

depunkte, auf ein Gedicht von Rainer Maria Rilke: Wolle die Wandlung. Die meisten von uns haben das Gefühl, dass die Pandemie uns eine Wandlung aufzwingt, auf die man lediglich reagieren kann. Denken Sie manchmal dennoch, dass man dieser Krise produktive Aspekte abgewinnen kann? VJ Absolut. Natürlich abgesehen von all diesen tragischen Umständen, die mit menschlichen Opfern verbunden sind. Aber es war ohnehin abzusehen, dass so etwas passieren würde, früher oder später. Wir wussten nur nicht, in welcher Form. Aber wir mussten zum Stillstand und zum Umdenken gezwungen werden. Also, ich bin da mit Rilke völlig einig. Unsere Situation ähnelt ein bisschen der von Wagners Wotan im dritten Akt des Siegfried: Er wünscht seinen eigenen Untergang, nachdem er verstanden hat, dass dieser objektive Gründe hat. Nur sieht es Wotan zu spät ein und hat bereits zu viele Menschen und Seelen in die Mitwisser­ schaft und Schuldigkeit mit hineingezogen. Wir müssen alles tun, was in unseren Kräften steht, damit unsere Kinder uns dann nicht wie Wotan beschuldigen können. Siegmund ist hier für mich eine sehr würdige Person: Er unterliegt, aber er tut alles, was Ehre und Pflicht von ihm verlangen, um die anderen zu retten. Auch, wenn es ihm am Ende nicht gelingt, hat er es doch wenigstens versucht. Mehr über den Autor und den Bildkünstler auf S. 8

VLADIMIR JUROWSKI, geboren in Moskau, begann seine musikalische Ausbildung am dortigen Konservatorium und setzte sie an den Musikhochschulen von Berlin und Dresden fort. Sein internationales Debüt gab er 1995 beim Wexford Festival. Seitdem dirigierte er u. a. an der Metro­ politan Opera in New York, am Teatro alla Scala in Mailand, an der Opéra national de Paris, am Bolschoi-Theater in Moskau, an der Semperoper in Dresden sowie bei den Salzburger Festspielen. Von 2001 bis 2013 war er musikalischer Leiter des Glyndebourne Festivals, seit 2007 ist er Chefdirigent des London Philharmonic Orchestra. Außerdem ist er seit 2017 Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin. Darüber hinaus ist er Principal Artist des Orchestra of the Age of Enlightenment und Künstlerischer Leiter des Staatlichen Akademischen Sinfonieorchesters Russlands. An der Bayerischen Staatsoper gab er sein Operndebüt 2015 mit einer Neuproduktion von Prokofjews Der feurige Engel, im Herbst 2021 wird er hier sein Amt als Generalmusikdirektor antreten.


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Alain Resnais, Letztes Jahr in Marienbad (1961)/ ddp/interTopics/Capital Pictures

VERLUST UND BEFREIUNG

Text Niklas Maak Premiere Der Rosenkavalier

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Auflösung der Identität, Zerfall der Zeit: Was uns das Bühnenbild des Rosenkavaliers erzählt – und was der Barock von Alain Resnais’ Film Letztes Jahr in Marienbad mit Richard Strauss’ Oper macht.

Man kann die Geschichte des Rosenkavaliers so unterschiedlich erzählen wie kaum eine andere Oper von Richard Strauss: Oft wird sie als Geschichte einer bürgerlich-moralischen Ordnungsanstrengung inszeniert, in der der Baron Ochs auf Lerchenau als alternder Wüstling entlarvt wird und die schöne junge Sophie den schönen jungen Octavian bekommt, der dafür seine an damaligen Moralvorstellungen gemessen grenzwertige Affäre mit einer deutlich älteren, verheirateten Frau aufgeben muss. Man kann die Oper, die, wie viele Komödien seit William Shakespeares Was ihr wollt, im Kern von einem Spiel mit Geschlechteridentitäten handelt, aber auch anders erzählen. Als Geschichte von Emanzipation und Selbstermächtigung, in der die Menschen die ihnen von der herrschenden Gesellschaft zugedachte Rolle nicht hinzunehmen gedenken: die Feldmarschallin nicht, die sich einen jungen Liebhaber nimmt; Sophie – Tochter eines frisch geadelten Bürgers – nicht, die sich nicht aus Standesgründen einer korrupten Elite aussetzen will; und Octavian nicht, dessen Verkleidung als „Mariandel“ zwar nur strategisch ist, der aber – als ein von einer Frau gespielter Mann, der sich als Frau verkleidet – das Publikum mit einer fluiden sexuellen Identität konfrontiert und in einen Strudel sich überlagernder Fiktionen reißt. Wenn man diese Grenzauflösungen und Infragestellungen im Rosenkavalier betonen will, ist das Ambiente eines Rokokopalastes mit seinen Raumverschmelzungen und Spiegelbrüchen, in dem Normen programmatisch zugunsten neuer Freiheiten ausgehebelt werden, ein idealer architektonischer Rahmen. Züge davon waren schon in früheren Bühnenbildern des Rosenkavaliers zu erkennen, wo die spätbarocken Spiegel und Wandgemälde die Raumgrenzen förmlich auseinanderfallen ließen und so dem wilden Wechsel Octavians von Mann zu Frau ein Pendant und gewissermaßen einen ästhetischen Schallverstärker schufen. Niemand jedoch hat die Auflösung sicherer Identitäten im Bild einer barocken Festarchitektur so radikal inszeniert wie Alain Resnais 1961 in seinem Film Letztes Jahr in Marienbad. Er wurde – nach einer Romanvorlage von Alain Robbe-Grillet – nicht im tschechischen Marienbad,

sondern im Schloss Nymphenburg, in der Amalienburg und im Schloss Schleißheim gedreht. Resnais schwebte ein wilderer, gleichzeitig anarchischerer und düsterer Barock vor als der, den französische Schlösser boten, und so entschied er sich für diese drei Münchner Orte, die er zu einem fiktiven Schauplatz amalgamierte. Letztes Jahr in Marienbad erzählt die Geschichte eines Mannes, der in einem luxuriösen Hotel einer Frau begegnet. Er behauptet, man habe sich schon einmal getroffen, hier oder anderswo, vor einem Jahr, und die Frau habe ihm versprochen, wiederzukommen – und sich bis dann von ihrem Ehemann getrennt zu haben. Die Frau jedoch kann sich an nichts erinnern – zumindest behauptet sie das. Es ist ein Charakteristikum des Films, dass man die Wahrheit nicht erfährt (selbst Robbe-Grillet und Resnais waren sich nicht einig, was wohl „wirklich“ vorgefallen ist). Man weiß auch nie, ob man eine Rückblende zu einem realen Geschehen oder eine Traumvorstellung sieht – alles ist so unentwirrbar wie die Orte. Nur die Menschen sind wirklich, was Resnais mit einem Kunstgriff inszeniert: Beim Blick in den Schlossgarten werfen die eigens dort aufgestellten dreieckigen Bäume keine Schatten, das tun seltsamerweise nur die reglos umherstehenden Menschen; ihnen ließ Resnais ihre Schatten auf den Kies malen. Der Mensch ist real, alles andere, die Dinge, die Zeit, löst sich auf. Die Welt rund um die beiden Protagonisten zerfällt. Was man als Verlust oder als Befreiung lesen kann. Der Film beginnt als surreales Zersplitterungswerk: Die Kamera gleitet am Wuchern der Rocaillen vorbei, in den Glanz dunkler Marmorsäulen und Augen und in die Prismen tausendfach gebrochener Spiegelungen, man hört eine Stimme, die erzählt von „stillen Räumen, die das Geräusch der Schritte mit tiefen Teppichen schlucken … Ich ging wieder durch diese Korridore, durch dieses Haus, das zur Vergangenheit gehört, dieses barocke Hotel, in dem Korridor auf Korridor folgt, Korridore voller Marmor, Bilder und Dunkelheit … die Decken voller Äste und Girlanden, wie klassisches Blattwerk … voller falscher Türen und irreführender Blicke.“ Menschen werden so gefilmt, dass sie im Spiegel in zwei Hälften zerfallen. Man

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sieht eine Bühne, die den Schlosspark nachbildet; der scheinbare Blick nach draußen in die Natur ist eine Fiktion. Schon hier hat die Wirklichkeit tiefe Risse, was sich später in den gemalten Schatten vollendet. Keine Architektur ist der Idee von Theater und Bühne näher, keine Architekturepoche hat so viel Aufwand auf Illusionen, Trompe-l'Œils, Grenzauflösungen und Verwirrungen des Blicks verwandt wie der Barock, mit seinen späten Ausläufern im Rokoko, dem die Amalienburg stilistisch zuzurechnen ist. Man muss differenzieren. Es gab einen strengen, noch dem Renaissancedenken verpflichteten Barock, jenen der französischen Schlösser, Parks und Gärten im Stile von André le Nôtre, in denen die Natur mit erheblichem Einsatz von Heckenscheren zu einer Feier des die Welt ordnenden absolutistischen Herrschers zurechtgeschnitten wurde: mit Broderieparterres vor den Gartenfassaden der Schlösser, in denen viereckige Bassins und zu allerlei Formationen und Labyrinthen zusammengesäbelte Pflanzen dominieren, mit Bosketten, in denen die in geometrische Formen gezwängten Büsche und Bäumchen offene Räume entstehen ließen, gewissermaßen grüne Nachbauten des Schlosses unter freiem Himmel – Zwitterräume, in denen man innen ist und doch außen. In ihnen fanden an schönen Sommertagen Theater- und Musikaufführungen statt. Auch in Nymphenburg, das 1664 als Lustschloss vom bayerischen Kurfürsten Ferdinand Maria im Stil einer italienischen Landvilla erbaut worden war, und seiner mit Versailles liebäugelnden Gartenanlage findet man einiges von diesem rationalistischen, auf mathematische Proportion und Weltharmonie abzielenden Barock. Und man findet sein Gegenteil. Das verspielte Rokoko, das auf den Hochbarock folgte, war nicht nur dessen Weiterentwicklung oder süßlich-schwülstige Überladung, wie es aus der Perspektive eines kargen Bauhaus-Pietismus oft kritisiert wurde, sondern auch eine architektonische Kritik absolutistischer Ordnungsvisionen: In den Parks tauchten jetzt – als Vorform des empfindsam, als kuratierte Wildnis gestalteten englischen Gartens – vermehrt künstliche Grotten und Ruinen auf, bizarre Pavillons, falsche Bauernhöfe wie der Hameau von Versailles;

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Orte, an denen sich der Adel von den strengen Protokollen und dem ins Rechteck gepressten Leben am Hof erholen und sich der Fantasie eines freien Landlebens hingeben konnte. Diese Freude des Rokoko am Wuchernden, Unkontrollierten strahlte auch auf das Innere der Amalienburg ab. Vegetabile Formen züngeln bis an die Decke, als sei der Bau von einem wie explodiert wirkenden Efeu durchrankt; alle festen Kategorien werden mit himmelblauen Wänden und dem Wechsel von Spiegeln, Gemälden und Fenstern in einem optischen Illusionstheater aufgelöst. Im Rokoko wird das Haus zum Echo der wild wachsenden Natur. Hier die dreieckig zurechtgesägten Büsche, dort das Sprießen, Glitzern und Spiegeln als Bild einer neuen Freiheit; hier die vermessene Welt des Fürsten, dessen Willen sich alles unterzuordnen hat, dort das anarchische Treiben im verfallenden Palast – als Kulisse für den Rosenkavalier passt das NymphenburgAmbiente nicht nur aus historischen Gründen. Schon Zeit­ genossen wie Friedrich Nicolai echauffierten sich über die dort zur Schau gestellten Porträts von insgesamt sechzehn Mätressen des Kurfürsten Maximilian und Kaisers Karl VII. Es gehöre „schon ein hoher Grad an moralischer Unempfindlichkeit dazu, die Ausschweifungen der Landesherren so zur Schau zu stellen“, schimpft Nicolai in seiner Betrachtung Unter Bayern und Schwaben. So turbulent wie die Auswüchse des Rokokodekors fächert sich auch Strauss’ Figurenpersonal auf, angefangen beim Baron Ochs, der sich die Frauen zurechtlegt wie der Gärtner die Hecken des Königs, und der zwecks finanzieller Sanierung und gegen dessen Willen ein Mädchen aus reichem Hause heiraten möchte. Dann ist da die Feldmarschallin, die mitten in einer Affäre mit dem deutlich jüngeren Octavian steckt, der wiederum so androgyn ist, dass ihm der hektische Sprung in Frauenkleider reicht, um dem Baron den Kopf zu verdrehen und auf dessen Liste potenzieller weiblicher Belästigungs­ opfer ganz oben zu landen. Die Gewalttätigkeit des Barons wurde in Inszenierungen oft entschärft, der Ochs erschien da auch aufgrund seiner Sprache („mit Ihr unter vier Augen scharmutzieren!“, „Geh Herzerl, mach doch keine Faxen!“) als latent


DER ROSENKAVALIER – Richard Strauss erobert mit seinem Librettisten Hugo von Hofmannsthal das Publikum mit den anachronistisch wehenden Walzern einer Hochadelskomödie in einem imaginierten Wien eines fantasierten 18. Jahrhunderts. Das Wunderbare an dieser Sonderlichkeit ist, dass sie das Künstliche dieser Welt in Sprache und Musik auf die Spitze treiben und zu einem traum- und albtraumhaften Szenarium anwachsen lassen kann, mit all den Themen, die den Rosenkavalier so bestechend machen: die Möglichkeiten und die Unmöglichkeit von Liebe, die Unerbittlichkeit der vergehenden Zeit, die Bedingtheit von Autonomie und Entscheidungsfreiheit. Barrie Koskys Rosenkavalier zollt auch weniger rezipierten Quellen des Werks Tribut, fügt den lieb gewonnenen Figuren von Sophie und Octavian, Ochs und Marschallin überraschende Facetten hinzu und erweitert in opulenten Bildern die Münchner Inszenierungsgeschichte des Werkes um ein aufregendes Kapitel. Termine im Spielplan ab S. 68 und unter www.staatsoper.de/spielplan

vertrottelter Schürzenjäger; heute kann man die Figur kaum sehen, ohne an Harvey Weinstein zu denken. Was aber bedeutet es, wenn das Bühnenbild des Rosenkavaliers in einer neuen Inszenierung das Geschehen nicht mehr in eine mimetisch den Nymphenburger Barock zitierende Architektur hineinsetzt, sondern die Oper durch den vielfach gebrochenen Filter von Resnais' Marienbad erzählt? In der Oper wie im Film ist ein beherrschendes Thema die Zeit. Die Modernität des Rosenkavaliers, die Auflösung einer chronologischen Ordnung, wird mehrfach offenbar: In den Reflexionen der Marschallin über die Zeit, vor allem aber in der Schere zwischen der erzählten Zeit und der Musik, die das Geschehen durch die Walzermotive (die historisch betrachtet erst um 1800 auftauchen) um Jahrzehnte nach vorn reißt. In Marienbad wird durch die Bilder barocker Turbulenzen und Spiegelungen der Zerfall von Identitäten erzählt – der Mann weiß angesichts der freundlichen Amnesie der Frau bald nicht mehr, wer er ist, in welcher Zeit, ob draußen oder drinnen, und die Architektur des Parks tut das ihrige dazu. Der Schlosspark streckt sich als mit Hecken und Kies entworfener Grundriss eines imaginären Palastes in die Zukunft, zugleich als Reich künstlicher Ruinen in eine fiktive Vergangenheit. Ist der Raum des Hochbarock noch auf eine dyna­ mische Weise geordnet, werden im Rokoko das Bröckelnde, das Überwucherte, die Spuren der Verwitterung dominant – und mit ihnen die der Zeit. Die Natur holt sich die Bauten zurück. Ist dies hier eine künstliche Grotte oder ein tatsächlich zerfallener, überwucherter Tempel? Strenge Grenz­ ziehungen zwischen Natur und Kultur, Innen und Außen, Männlich und Weiblich zerfallen. Das kann man als Bedrohung und Drama, aber auch als Chance begreifen. Im Rosenkavalier ist das Spiel mit Octavians Identität der Schlüssel zur Bekämpfung der Macht des Barons, ein Akt der Befreiung, und die Affäre der Marschallin mit Octavian ist es auf ihre Weise auch. Wie Marienbad handelt der Rosenkavalier letztlich von sexueller Gewalt und Selbstbestimmung. Im Film und in der Oper ist die Auflösung von Identitäten ein Gegenbild zur Idee von Sexualität als Jagd, in der die Rollen

von Jäger und Beute bereits festgelegt sind. Kehrt man dies an einem marienbadischen Rosenkavalier heraus, erzählt man ihn als emanzipatorische und sinnliche Utopie. Bei Resnais zerfallen erzählte Zeit und Erzählzeit, die Chronologie der Ereignisse noch viel entschlossener; gelänge dies der Oper, dann wäre die vom Stücktext suggerierte, etwas biedere Retour à l’ordre in einer ebenso irritierenden wie attraktiven erzählerischen Endlosschleife zerwirbelt, und das Spiel mit Komplexitäten als Dauerzustand zu sehen. „Alles in dem Stück“, schreibt der Librettist Hugo von Hofmannsthal in einem Geleitwort, sei „zugleich echt und erfunden“. Der Umweg über Resnais’ Perspektive, seinen verunsichernden Barock, eröffnet auch die Möglichkeit, die gern ausgeblendete dunkle Seite des Rosenkavaliers hervorzuheben. Die Theatralik barocker Architektur machte sie schon immer zur idealen Bühne, und als solche wurde der Nymphenburger Schlosspark oft genutzt. Nicht alle Aufführungen waren erfreulich. Von 1936 bis 1939 fand dort im Sommer die „Nacht der Amazonen“ mit bis zu 2.500 Beteiligten statt, in der das dekadente Treiben des Adels im 18. Jahrhundert dargestellt und dann von mythologischen Szenen und Tableaux vivants der „neuen Zeit“ abgelöst wurde: halbnackte Frauen auf Pferden, gerahmt von SS-Männern. Zur selben Zeit komponierte Strauss, der 1934 auch den von Joseph Goebbels verfassten Aufruf der Kulturschaffenden unterzeichnet hatte, die Musik für die wenige Tage nach der ersten „Nacht der Amazonen“ beginnenden Olympischen Spiele 1936 in Berlin. Dass Nymphenburg spätestens seit diesen Nächten auch der Ort einer dunklen, sexualisierten Form von Gewalt war, wird Resnais gewusst haben, als er eine der unheimlichsten Szenen des Films in einem hysterisch erleuchteten Park spielen ließ. Bei ihm wird die filmische Brechung der großen Achsen, das Spiel mit Fiktionen, Festlegungen und Identitäten, die Grenzauflösung zu einer Form von Widerstand und zum Befreiungsakt. Von seinem surreal verzauberten Nymphenburg kann ein neuer Rosenkavalier nur profitieren. Mehr über den Autor auf S. 8

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SELBST BESTIMMT Fotografien Robert Fischer

Katharina Konradi (linke Seite) gibt im neuen Rosenkavalier die junge schöne Sophie, Samantha Hankey (rechte Seite) den jungen schönen Octavian, der sich in Richard Strauss' Oper als „Mariandel“ verkleidet – erst, um seine Affäre mit der Marschallin geheim zu halten, dann, um das Glück für sich und Sophie zu sichern. Die Sopranistin und die Mezzosopranistin sind


sich vor dieser ersten gemeinsamen Inszenierung noch nie begegnet. Zum Kennenlernen haben wir sie mit einer Kiste voller Kostüme in den Nymphenburger Schlosspark in München geschickt – um ihre Partien, die von Emanzipation und Selbst­ ermächtigung erzählen, eigens zu entwerfen. Herausgekommen sind Bilder einer sinnlichen Utopie.


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Quelle: Deutsches Patent- und Markenamt Ein auswechselbares Gehäuse, das insbesondere auszuleihende Operngläser umgibt und mit einer Schauöffnung versehen ist, durch die ein Reklameband mittels Wickelwalzen geleitet werden kann. Für Werbung aller Art, die vor allem vor Beginn einer Vorführung und in den Pausen zur Wirkung kommen soll. Die Idee lebt weiter, nur die Umsetzung hat sich gewandelt, besonders unangenehm bei penetranten Werbebannern im Netz.

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Ein Apparat, der mittels einfacher Gemälde, Fotografien, Spiegel, plastischer Miniaturfiguren und Gegenstände verschiedene Bühnenbilder auf eine weiße Leinwand projiziert und auf diese Weise nicht nur aufwendige und kostspielige Kulissen vollständig ersetzt, sondern die perfekte Illusion erzeugt. Der Zeit – man denke an Diaprojektoren und Beamer – damals meilenweit voraus.

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Wenn ein Tanzstück entsteht, ringen zwei Parteien um Gleichberechtigung: der Choreograph und der Komponist. Aber wer hat das Sagen? Über das produktive Hin und Her zwischen Andrey Kaydanovskiy und Lorenz Dangel in der Kreation des Balletts Der Schneesturm.

Text Christoph Gaiser Fotografien Astrid Korntheuer Uraufführung Der Schneesturm 42

Nature Morte 113, 2009, 110 x 137,5 cm, C-Print © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

WER ENTWIRFT BEIM BALLETT?


Geniales Chaos: In den Fotografien aus Astrid Korntheuers Serie Natures Mortes (2009) wird der Raum durch das Setting mannigfaltiger Formen und Farben bestimmt und fast gänzlich aufgelöst. Durch ihre Modellhaftigkeit wirken sie wie Bühnenbilder, die aus scheinbar zufälligen Arrangements bunter Bänder, Papiere, Styroporplatten oder glitzernder Plastikfolien entstehen. Ein möglicher Kern dieser Gebilde lässt sich beim Betrachten kaum ausmachen.


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Henze hätte bereits 1957 beim Royal Ballet in London zur Uraufführung gelangen sollen. Henze hatte einen Klavierauszug erstellt, aus welchem die Korrepetitorinnen und Korrepetitoren im Londoner Ballettsaal spielten. Ashton choreographierte auf dieser klanglichen Grundlage. Doch als er eine Aufnahme der Musik erhielt, die Henze beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt mit Orchester hatte einspielen lassen, brach Ashton die Probenarbeit ab. Er erkannte, dass in der orches­ tralen Gestalt der Musik so viele Farben und Nuancen lagen, dass das bisher Choreographierte keinen Bestand mehr haben konnte. Er bewirkte eine Verschiebung der Premiere und begann mit der Arbeit von vorne. Der technische Fortschritt brachte es mit sich, dass vom Ende der 1970er Jahre an die Choreographinnen und Choreographen immer häufiger auch elektronisch erzeugte Klänge für ihre Schöpfungen in Betracht zogen. Dadurch entstanden neue Partnerschaften, etwa zwischen Jiří Kylián und Dirk Haubrich, zwischen Johann Kresnik und Walter Haupt, zwischen William Forsythe und Eva Crossman-Hecht oder zwischen Forsythe und Thom Willems. Zwar musste hier nicht mehr auf den orchestralen Apparat Rücksicht genommen werden, doch barg auch diese Weise des Komponierens ihre Tücken. In einem Interview berichtete Thom Willems launig, dass er die jeweils neueste Abmischung der Musik zu the se­cond detail (1991) via Flugzeug zum National Ballet of Canada befördern ließ, wo Forsythe die Uraufführung erarbei­ tete: „You could hand over the tapes to the pilot at the check-in counter, and someone from the ballet picked them up at the Lufthansa counter in Toronto.“ Hier deutet sich an, was heute Standard ist: Das Komponieren am Computer ermöglicht ein flexibles Reagieren auf die Vorgänge im Ballettsaal. Mittlerweile kann von heute auf morgen eine geänderte Musik im originalen Klangbild zur Verfügung stehen – nur haben Glasfasernetze mittlerweile die Kuriere ersetzt. Schwieriger ist das Ganze, wenn man die Traditionslinie eines Tanzstückes mit Livemusik aus dem Orchestergraben fortschreiben will. Das lässt sich anschaulich an der aktuellen Arbeit am abendfüllenden Handlungsballett Der Schneesturm beobachten, das mit Musik von Lorenz Dangel und in der Choreographie von Andrey Kaydanovskiy im April 2021 im Münchner Nationaltheater seine Uraufführung erleben soll. Entwickelt wurde dieses Projekt aus der gleichnamigen Erzählung Alexander Puschkins – in Russland noch heute Schullektüre. Andrey Kaydanovskiy erinnert sich, was der Text im Kontext der Suche nach einem geeigneten Stoff bei ihm auslöste: „Ich habe den Text wieder gelesen und zu mir gesagt: Mein Gott, das ist ja ein Ballettlibretto! Es besteht aus zwei Teilen, es hat alles, was ein Ballett braucht – es hat keine unnötigen Dialoge, es ist Action, Action, Action! Und es ist Liebe drin. Ganz wichtig: Puschkin verfolgt eine sehr klare Idee bei dieser Geschichte. Das hat viel Potenzial, um es in meiner Sprache zu erzählen.“ Lorenz Dangel hatte bei der Lektüre des Textes nicht dieselbe Erfahrung; der Text mit seinen verschiedenen Zeit­ebenen

Nature Morte 35, 2009, 110 x 137,5 cm, C-Print © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Wie in jeder menschlichen Beziehung spielt auch beim Entstehen von Tanzstücken das Gefüge der Macht eine entscheidende Rolle. Wer hat das Sagen? Die choreographierende oder die musikalische Partei? Und kann es Gleichberechtigung geben? Auch so eine Frage, die uns nicht nur in der Kunst beschäftigt … Rollt man dabei die Geschichte des Bühnentanzes auf, stößt man unweigerlich auf die Beziehung zwischen Marius Petipa und Peter Tschaikowsky, in der das Machtverhältnis ganz klar von Seiten der Choreographie begründet wurde. Umgekehrt zeigt das Beispiel Bernd Alois Zimmermann, dass der Ursprung eines Tanzwerkes gänzlich in der kompositorischen Fantasie liegen kann. So geschehen bei seinem Klaviertrio Présence (1961), das von Zimmermann genuin für den Tanz gedacht war und später von John Cranko „gefunden“ wurde. Oder fand die Musik vielleicht Cranko? Zimmermann ließ jedenfalls verlauten, dass ihm außer Cranko (und mit Abstrichen Todd Bolender) kein Choreograph begegnet sei, der ohne Umwege das strukturelle System seiner Musik zu den Ballettmöglichkeiten in Beziehung habe setzen können. Als Beispiel für ein Ringen um Gleichberechtigung der Partner mag die Arbeitsweise dienen, die John Cage und Merce Cunningham 1944 erstmals in Root of an Unfocus erprobten. Musik und Choreographie wurden hier zu weitgehend unabhängigen Größen erklärt, gemeinschaftlich entworfen wurde nur die formale Struktur, genauer gesagt: eine Abfolge von zeitlichen Einheiten („counts“), die für beide Bereiche Gültigkeit besaß. Innerhalb dieser Einheiten konnte sich der Tanz frei entfalten, lediglich Beginn und Ende der Einheiten gingen in Choreographie und Musik einher. Zwischen diesen Extremen bildeten sich die unterschiedlichsten Zwischenformen aus. Von etwa 1910 bis 1970 bestand dabei in aller Regel die Übereinkunft, dass ein Ballett eine Geschichte erzählen müsse und dass sich diese Erzählung zu live gespielter Orchester- oder Ensemblemusik auf der Bühne zu vollziehen habe. Darauf basierend ging der Impuls in der Regel von Seiten der choreographischen Partei aus, die den Stoff festlegte. Gemeinschaftlich wurde dann das Szenario ausgearbeitet, also die Beschreibung des Handlungsablaufs, die nicht selten mit konkreten Zeitangaben versehen wurde. Auf dieser Art Absprache gründete etwa die erfolgreiche Zusammenarbeit von Komponisten wie Werner Egk und Boris Blacher mit Choreographinnen wie Janine Charrat und Tatjana Gsovskaya. Das geschilderte Modell garantierte aber nicht, dass die Musik nach ihrer Fertigstellung unangetastet blieb. Gerald Humel, der Mitte der 1970er Jahre für John Neumeier die Musik zu einem Othello-Ballett komponierte, musste beispielsweise erfahren, dass dem Hamburger Ballettdirektor das Gelieferte schlichtweg nicht zusagte und Neumeier letztlich auf bereits existierende Werke unter anderem von Arvo Pärt und Alfred Schnittke zurückgriff. Humels Musik wurde dann 1984 von Günter Pick in Aachen und 1988 von Arila Siegert in Ostberlin choreographisch umgesetzt. Doch es ging auch anders: Frederick Ashtons Ondine zu Musik von Hans Werner


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bestimmten Szenen auch elektronische Klänge hinzutreten, gesteuert entweder von einem Keyboard aus dem Orchestergraben oder von der Tontechnik im Regieraum. Komponist wie Choreograph betreten damit Neuland, aber Andrey Kaydanovskiy ist hier – wie auch für alle anderen Stationen des schöpferischen Prozesses – voller Zuversicht: „Wenn wir beide dasselbe sehen und klar strukturieren, wo sich ein Bogen aufspannt, wo er endet und was unterhalb des Bogens passiert, dann lässt sich Puschkins Schneesturm in seiner ganzen Rätselhaftigkeit, Ironie und Unheimlichkeit in eine Form bringen, an der das Publikum teilhaben kann.“ Verblüffend modern muten die Zeilen des russischen Dichters bisweilen an – eine Steilvorlage für Choreograph und Komponist, um den zeitlos spannenden literarischen Kern für Compagnie und Publikum ins Heute zu überführen. Christoph Gaiser hospitierte während seiner Studienjahre in der Direktion des Bayerischen Staatsballetts und blieb dem Tanz seither stets verbunden: zunächst als Dramaturg und Company Manager in Saarbrücken und Bern, seit 2016 in der Kulturförderung des Kantons Basel-Stadt, wo er unter anderem Akteurinnen und Akteure der freien Tanzszene betreut.

ANDREY KAYDANOVSKIY ist seit der Saison 2019 / 2020 Hauschoreograph beim Bayerischen Staatsballett. Nach seiner Ballettausbildung in Moskau, Stuttgart und Wien tanzte er im Ensemble des Balletts der Wiener Staatsoper. Von 2009 an arbeitete er auch als Choreograph. Für das Bayerische Staatsballett kreierte er u. a. Discovery (2017) und Cecil Hotel (2019). Seine Kreationen wurden mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Preis „Best Dance Theatre Performer and Choreographer“ beim Festival Tanzolymp in Berlin und mit dem Deutschen Tanzpreis 2016 in der Kategorie „Zukunft“. LORENZ DANGEL komponiert für Konzert, Theater, Film und Tanz, so schuf er u. a. die Musik zum Spielfilm Hell von Tim Fehlbaum, für die der Regisseur 2012 den Deutschen Filmpreis erhielt. Von 2004 bis 2013 war er Composer in Residence des Origen Festival Cultural in der Schweiz. 2017 wurde im Coliseum in London sein Ballett Satori mit dem Tänzer Sergei Polunin in der Hauptrolle vom Orchester der English National Opera uraufgeführt. DER SCHNEESTURM – Andrey Kaydanovskiy setzt Alexander Puschkins Novelle Der Schneesturm in eine zeitgenössische Ballettsprache um. In der Handlung durchkreuzt ein dämonisch anmutender Sturm die heimlichen Heiratspläne eines Liebespaars. Die Geschichte nimmt eine überraschende Wendung, als sich die vermeintlich zerstörte Ordnung als folgerichtig erweist. Gemeinsam mit Lorenz Dangel (Komposition), Karoline Hogl (Bühnenbild) und Arthur Arbesser (Kostüme) lässt Kaydanovskiy Puschkins Schneesturm seine Wirkung entfalten. Termine im Spielplan ab S. 68 und unter www.staatsoper.de/spielplan

Nature Morte 118, 2009, 110 x 137,5 cm, C-Print © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

schien ihm eher verwirrend angelegt zu sein. Doch je länger Kaydanovskiy aufzeigte, wie man die Erzählung in einen szenischen Verlauf überführen könnte, desto mehr fing der Komponist Feuer. Dangel und Kaydanovskiy verständigten sich bereits viele Monate vor Probenbeginn über die exakten Verläufe. Die Partitur muss schließlich etliche Monate vor der Premiere abgeschlossen sein. Nur so bleibt genug Zeit, um für das Bayerische Staatsorchester die Noten zu erstellen und einzurichten, aus denen dann im Graben des Nationaltheaters musiziert wird. Dangel erlebte Kaydanovskiy in der vorbereitenden Arbeit als ein Gegenüber, das Einfallsreichtum mit Präzision zu verbinden weiß: „Andrey ist jemand, der sehr im Detail arbeitet und in kleinen Zellen denkt. Ich spreche die Szenen immer wieder mit ihm durch, je näher ich dem Punkt komme, an dem ich mit dem Schreiben anfange. Ich frage ihn dann: Was passiert da genau? Wie ist die Atmosphäre, was ist der emotionale Zustand der Person X oder Y?“ Für Kaydanovskiy zählt bei seinem musikalischen Partner noch etwas anderes: „Das Wichtigste ist, dass er versteht, was für Gefühle wir den Zuschauern übermitteln müssen. Lorenz weiß, wie er das schafft, und deshalb vertraue ich ihm.“ Auf der Grundlage der genauen szenisch-musikalischen Verabredungen konnte Dangel im vergangenen Oktober den gesamten ersten Akt abschließen. Mittels elektronischer Simulationen des Orchesterklangs kann das Produktionsteam bereits jetzt eine Klangvorstellung bekommen, anders als zu Ashtons und Henzes Zeiten. Beim Komponieren setzt Dangel allerdings auf altbewährtes Handwerk und arbeitet grundsätzlich auf Notenpapier: „Ich fange immer an mit Skizzen, in denen ich Ideen zusammenschreibe, einzelne Sachen auch harmonisch entwickle. Dann notiere ich ein Particell, das ist schon die komplette Komposition, und aus dem Particell instru­mentiere ich. Wenn ich einen Auftrag für Filmmusik habe, entsteht die Musik heutzutage oft am Rechner. Bei einer Orchesterpartitur aber gibt es ab einer gewissen Komplexität des Satzes für mich immer noch keine Alternative zur handschriftlichen Arbeitsweise.“ Für den choreographischen Prozess ist nicht nur die Klangfarbe der Musik wichtig, sondern auch das zeitliche Gefüge. Andrey Kaydanovskiy vertritt hier einen klar zeitgenössischen Standpunkt und setzt das Tempo von Handlung und Musik zum Tempo unserer Alltagserfahrungen in Beziehung: „Als ich den Feuervogel choreographierte, da habe ich verstanden, wie anders das jetzt ist, hundert Jahre später. Bei den Klassikern kann man schon einmal einen Pas de deux finden, der über acht Minuten hinweg eine Situation darstellt, die sich eigentlich in drei, vier Worten zusammenfassen lässt. In unserer Zeit funktioniert so was nicht mehr, wir sind viel schneller geworden, wir sind ans Herunterscrollen gewöhnt. Da kann man das nur als Zitat nehmen oder sich drüber lustig machen. Wenn man heute eine Geschichte erzählen will, braucht man ein anderes Tempo und einen aktuellen Sound.“ Dieser aktuelle Sound entsteht im Schneesturm unter anderem dadurch, dass zu den orchestralen Klangfarben in


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WOLKEN IMPFEN Die Meteorologin Katja Friedrich forscht daran, Schnee und Regen künstlich zu erzeugen. Ist das sogenannte Cloud-Seeding ein gefährliches Spiel mit der Natur, oder bietet es in Zeiten welt­ weiter Wasserknappheit vor allem Grund zur Hoffnung?

Reportage Patrick Bauer Fotografien Cole Barash 48


In seiner Bildreportage Snowgods (2020) blickt der amerikanische Fotograf Cole Barash nach draußen, auf die weißen Hügel im Nordosten der USA. Hier dokumentiert er die Arbeit von Menschen, die mit künstlichem Schnee die Pisten für den Wintersport präparieren, damit Touristen auf ihnen fahren können. Ein absurdes Unterfangen in Zeiten des Klimawandels, dem Barash mit seinen Fotografien dennoch eine eigene Poesie entlockt.


Die Kunst, Schnee zu erschaffen, lernte Katja Friedrich vor acht Jahren. Da war sie, die Meteorologin und Atmosphärenforscherin, Professorin an der Universität von Colorado in Boulder, erstmals an einem Projekt zum „Cloud-Seeding“ beteiligt. Auf Deutsch nennt man das, etwas medizinischer, „Wolkenimpfen“: Per Flugzeug werden Substanzen in der Luft verteilt, die Menge und Art des Niederschlags verändern. Der Mensch bestimmt, wann und wo und wie stark es regnet oder schneit. Wetter auf Bestellung. „Aber leider ist der Himmel kein Acker“, sagt Katja Friedrich, 48 Jahre alt, und ihr Lachen hallt durch die Skype-Verbindung. Während die Welt auf den Einsatz der ersten Corona-Impfstoffe wartet, arbeitet die Frau, die Wolken impft, aus dem Kinderzimmer ihres Sohnes, zwischen Lego-Steinen. 2008 ging sie, in Leipzig geboren, in die USA. Wenn sie jetzt Deutsch spricht, ringen beide Akzente so schön miteinander, dass es klingt, als läge Sachsen im Mittleren Westen. Sie sagt: „Mir wurde schnell klar, dass man Schnee nicht einfach säen kann. Das wird seit 60 Jahren behauptet. Aber es gab keinen Beweis.“ Zum Glück, muss man aus heutiger Sicht sagen. Eine bessere Motivation, als die Erste zu sein, gibt es für eine ambitionierte Wissenschaftlerin wie Katja Friedrich nicht. Und so ging ihr Name im Februar um die Welt. Jedenfalls um die Welt derer, die vor allem in den Himmel schauen. Die Ergebnisse des Projekts „Snowie“, die Friedrich mit Kolleginnen der Universität von Illinois vorstellte, waren eine Sensation: Dem Team war gelungen, mit neuester Radartechnik nachzuweisen, dass sie in den Bergen des Payette National Forest in Idaho Wolken zum Schneien gebracht hatten. Eine Stunde lang, das zeigten die Daten, war eine Fläche in der Größe des Saarlands mit fast einem Millimeter feinem Schnee bedeckt worden. Was Katja Friedrich und ihr Team geschafft hatten, war einerseits nicht neu: An den Flügeln der Forschungsflugzeuge war Silberjodid, ein gelbliches Salz, verbrannt worden, das sich dann absetzte, „injizieren“ nennt es Friedrich. Dass die Chemikalie die Eiskristalle in den Wolken so schwer machen kann, dass diese nicht mehr zu halten sind und hinunterfallen, war bekannt. Jedenfalls theoretisch. Bis zu Friedrichs Experiment war nie nachgewiesen worden, dass Cloud-Seeding wirklich einen Effekt hat. Niemand wusste bei vorherigen Versuchen sicher, ob es nicht sowieso geschneit hätte, wenn man die Wolken in Ruhe gelassen hätte. In Idaho, das war das Neue, verfolgte Friedrich nun mit Radargeräten aus der Luft und vom Boden sowie dank eigener Computermodelle, was dort oben geschah. Es gab danach keinen Zweifel mehr: Der Mensch kann es schneien lassen. Wenn man so will, vollendete Katja Friedrich damit das Lebenswerk eines Mannes, der 1993 mit 87 Jahren in New York verstorben war: Vincent Schaefer, einst Mitarbeiter im Forschungslabor der Firma General Electric, unter Leitung des Nobelpreisträgers Irving Langmuir, war mehr Abenteurer als Chemiker. Studiert hatte er nie. Am 13. November 1946, einem

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Mittwoch, streute er anderthalb Kilo Trockeneis aus dem Fenster eines Sportflugzeugs. Und aus dem Wolkenstreifen, den er durchflogen hatte, fiel prompt: Schnee. „Schaefer ließ es heute Nachmittag schneien über Pittsfield! Nächste Woche geht er über Wasser“, soll ein Mitarbeiter danach verkündet haben. Schaefer gilt seither als Erfinder des Cloud-Seedings. Über das Wetter bestimmen zu können, war schon damals ein lang gehegter Traum. Seit Jahrhunderten hatten Menschen nicht nur die Götter angefleht oder angetanzt, sondern auch die Wissenschaft bemüht. Bereits 1836 etwa plante der amerikanische Meteorologe James Pollard Espy, Wälder abzufackeln, damit heiße Luft aufsteigt, die Feuchtigkeit aufnimmt, welche wiederum in der Höhe kondensiert und als Regen herunterkommt. 1924 versuchte Emory Leon Chaffee, es in Cambridge, Massachusetts, regnen zu lassen, indem er aus einem Flugzeug elektrisch aufgeladene Sandkörner streute. Der Traum blieb jedoch stets: ein Traum. Zurück von seinen Abenteuern in der Luft gab Vincent Schaefer 1947 eine Vorführung im Labor: In einer Eistruhe erzeugte er einen kleinen Schneesturm. Auf dem YoutubeKanal des Museum of Innovation and Science in Schenectady, New York, kann man Filmaufnahmen davon ansehen. In der Eistruhe fand genau das statt, erklärte Schaefer, was in einer Wolke passiert: Alle Wassertröpfchen gefrieren zu Eiskristallen, aber erst, und darauf kam es ihm an, bei minus 39 Grad. Auf diese Temperaturen brachte Schaefer die Wolken mit dem Trockeneis. Sein Laborkollege, der Physiker Bernard Vonnegut, fand dann heraus, dass es einen Stoff gab, der effektiver kühlte und die Miniwolke in der Tiefkühltruhe sofort zum Schneien brachte, selbst wenn es wärmer war: das Silber­ jodid, mit dem Katja Friedrich bis heute arbeitet. Wenn sie, die Schneepionierin, über die Pioniere von damals spricht, ist ihr anzumerken, dass ihr manche Heldengeschichte zu unseriös ist. Weil es nach einem weiteren Flug von Schaefer im Dezember 1946 angeblich acht Stunden nicht aufhörte zu schneien, verbot General Electric aus Angst vor Klagen vorerst weitere Versuche. Dafür interessierte sich das US-Militär für die Idee von Schaefer, Vonnegut und Langmuir. Doch das Projekt wurde bald wieder eingeschmolzen. Die meisten Wissenschaftskollegen hielten das Trio, das behauptete, sogar einen Hurrikan mit Trockeneis abgewendet zu haben, für Scharlatane. Das Cloud-Seeding, sagt Katja Friedrich, bewegte sich seitdem lange Zeit „in einem Graubereich“. Es wurde vor allem kommerziell genutzt, gerade in den chronisch trockenen oder stürmischen Bundesstaaten der USamerikanischen Mitte, wo Bauern seit den 1950er Jahren versprochen wurde, man werde mit ein paar Flügen für mehr Regen oder weniger Unwetter sorgen. Spätestens seit der Veröffentlichung von Katja Friedrichs Studie jedoch ist der Traum vom Wettermachen in den USA wieder lebendig. Wenn man dank Friedrichs Zahlen, die erst zu einem Bruchteil ausgewertet sind, besser verstehen kann, wann und wo Cloud-Seeding funktioniert und nicht mehr sinnlos und teuer Aerosole in den Wind verteilt, könnte sich

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das Wolkenimpfen in Zeiten großer globaler Wasserknappheit doch lohnen. Colorado und die umliegenden Staaten finanzieren weitere Forschung. Es geht nicht primär um Schnee – davon gibt es zumindest in den Bergen um Boulder noch genug –, sondern darum, wie man das Wasser aus den Wolken auf den viel zu trockenen Boden bekommt, auch im Winter. Damit zum Beispiel der Colorado River nicht weiter versiegt. Aufgrund der zunehmenden Dürren, aber auch wegen der amerikanischen Staudämme fließt schon seit vielen Jahren kein Wasser des einst mächtigen Flusses mehr bis nach Mexiko. Dafür schicken die USA Ausgleichszahlungen ins Nachbarland. Was ist, wenn bald Wolken, die erst über Mexiko geregnet hätten, über US-Territorium zum Wasserlassen gebracht werden? Müsste man auch das kompensieren? Katja Friedrich hat schon genügend Fragen im Kopf, so weit will sie noch nicht denken. Jahrelang, sagt sie, wurde ihr neues Fachgebiet vor allem wegen der Silberrückstände kritisiert, die es im Wasser hinterlässt. Aber, so Friedrich, es werde – nicht zuletzt wegen der Kosten – so wenig CloudSeeding betrieben, dass keine Umweltschädigung feststellbar sei. Das Wolkenimpfen ist für Friedrich kein gefährliches Spiel mit der Natur, wie anfangs von manchen befürchtet. Es mache überhaupt keinen Sinn, es großflächig anzuwenden, nur lokal, in feuchten, bergigen Regionen. Da greife jeder von uns im Alltag deutlich stärker in die Atmosphäre ein, meint die Wissenschaftlerin – beispielsweise mit den Abgasen, die allein eine Autofahrt produziert. Längerfristige Folgen als Cloud-Seeding, sagt Friedrich, könnte das Gebiet zeitigen, für das sich immer mehr ihrer Studenten interessieren: die Modifikation der Stratosphäre, in die schon bald Partikel transportiert werden sollen, um zum Beispiel wegen der Erderwärmung die Kraft der Sonneneinstrahlung zu mindern. Ihr Cloud-Seeding, befürchtet Katja Friedrich, könnte selbst Opfer des Klimawandels werden – wenn es in den Wolken nämlich zu warm ist, als dass Silberjodid einen Effekt haben könnte. Das jährliche Zeitfenster, in dem ihre Tests funktionieren, wird immer kleiner. Das Cloud-Seeding helfe aber in jedem Fall, mehr über Klimazusammenhänge zu verstehen. Nur der Schnee bleibe rätselhaft. Friedrich erinnert sich, wie sie mit ihren Eltern als Kind Skilanglaufen war, zu Hause in Deutschland. Der Blick aus dem Fenster. Die Freude über den Teppich, der sich über alles Leben legte. Das Knirschen der Stiefel. Schnee, sagt Friedrich, ist gefrorenes Wasser. Und doch ein Element für sich, ein Zwischenelement, ein außerirdisches. Natürlich, sie weiß heute, wie Schnee entsteht. Am liebsten erklärt sie es Kindern: Aus den Wassertröpfchen in den Wolken werden in der Kälte Eiskristalle, die sich um kleine Staubteilchen legen. Eine einzige Schneeflocke besteht aus bis zu zehn Millionen Eiskristallen. Ist sie schwer genug, fällt sie. Das Licht wird dabei durch die eckige Form der Kristalle gebrochen, deswegen sehen wir: weiß. Das Faszinierende ist, erklärt Friedrich, dass es für Wolken harte Arbeit bedeutet, Niederschlag zu produzieren, der

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bei uns ankommt. Der meiste verdunstet auf dem Weg. Welche Wolken sind es überhaupt, die Flüssigwasser in sich tragen, also potenziellen Schnee? Katja Friedrich erkennt sie nicht, niemand tut das, man sieht es ihnen nicht an. Sie kann hier unten so viel berechnen, wie sie will, sagt Friedrich, am Ende versuche sie einen Ort zu beschreiben, den niemand je klar vor Augen haben wird. Was geschieht in der Wolke und warum schneit die eine und die andere nicht? Man weiß so viel – und versteht so wenig. Das Staunen ist der Forscherin geblieben. Während der vergangenen beiden Olympischen Winterspiele zuletzt, in Russland und Südkorea, wurde vor den Wettbewerben versucht, per Cloud-Seeding ideale Verhältnisse zu schaffen. Mit Erfolg? Nein, betont Katja Friedrich, man könne so auch nicht gezielt ein Skigebiet beschneien oder weiße Weihnachten garantieren, das bleibe ein Wunder oder Zufall, wie man wolle. Zum Schluss sagt sie, der Mensch könne den Schnee nicht machen, allenfalls den aus Schneekanonen. Der Mensch könne die Natur nicht imitieren, sondern sie nur kitzeln. Sie anregen, Schnee zu machen. Es ginge nur mit ihr, nicht gegen sie. Im Gegensatz zu den USA war das Thema Wettermanipulation in China von Anfang an ein politisches Anliegen, die Regierung gründete dafür eine Behörde, man dachte schon vor Jahrzehnten an Wetterkriege oder daran, dass zum Parteitag die Sonne scheinen möge. Heute geht es auch China vor allem darum, die Landwirtschaft vor Klimaschäden zu retten: 60 Milliarden Kubikmeter künstlicher Regen sollen pro Jahr fallen, so der Plan. Vor elf Jahren machte ein historischer Schneesturm über Peking Schlagzeilen. An einem Sonntag fielen 16 Millionen Tonnen Schnee auf die Hauptstadt, der Verkehr brach zusammen, der Strom fiel aus, die Menschen froren in ihren Wohnungen. Das Wetter-Änderungsamt, wurde berichtet, hatte in der Nacht zuvor riesige Mengen Chemikalien in die Wolken geschossen, um Schneefall gegen die anhaltende Dürre auszulösen. Aber so viel Schnee habe man nicht gewollt. Katja Friedrich, die Frau, die es schneien lassen kann, glaubt nicht, dass so ein Schneechaos, wie damals behauptet, wirklich ausschließlich künstlich erzeugt wurde. Aber sie fragt sich, was beeindruckender wäre: dass der Mensch fähig ist, sich selbst im Schnee zu versenken. Oder, dass er sich nicht erklären kann, wie es am Ende dazu kam. Patrick Bauer ist Reporter des Magazins der Süddeutschen Zeitung. Er wuchs ohne Berge und nur mit Schneematsch in Berlin auf. Wenn es heute bei ihm in München schneit, ruft seine Tochter morgens empört: „Jetzt kommen gleich die gemeinen Schneeschipper!“ Mehr über den Fotografen auf S. 8

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Quelle: Deutsches Patent- und Markenamt Ein fahrbarer Hebeapparat mit Schienensystem, der es ermöglicht, natürliche Flugbewegungen und pantomimische Darstellungen im freien Luftraum von Gebäuden nachzuahmen. Der mechanische Aufwand ist zu groß, um im Theateralltag ernsthaft in Betracht gezogen zu werden. Der Erfinder meldete später ein Patent für den Drachen-Fesselballon an, ein Vorläufer des Fallballons, also des heutigen Fallschirms.

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Eine Konstruktion, mit der man den Ausbruch eines feuerspeienden Bergs nachstellen kann, inklusive der Erzeugung von Rauch- und Dampfwolken, Flammensäulen, Ascheregen und dem Auswurf glühender Lava, unter fortwährendem unterirdisch donnernden Getöse. Sehr spezielle Erfindung, die nur in ausgesuchten Opern eingesetzt werden kann.

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Under construction, 2020, Holzschnitt und Pyrographie, 40 x 33 cm

WASSER DES TODES, WASSER DES LEBENS

Text Marina Davydova Illustration Yvonne Gebauer Premiere Der Freischütz 56


Der russische Regisseur Dmitri Tcherniakov arbeitet nach einem Grundsatz: Wer die klassische Oper zu neuem Leben erwecken will, muss sie zuvor töten.

In den ersten Wochen des neuen 21. Jahrhunderts hatte auf der Bühne des Mariinski-Theaters in Sankt Petersburg Dmitri Tcherniakovs Inszenierung der Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch Premiere, rund hundert Jahre nach der Uraufführung dort. Tcherniakovs Interpretation, die mit sämtlichen Konventionen der russischen Opernbühne brach, kam scheinbar aus dem Nichts, wie ein Komet am dunklen Morgen­ himmel. Die zwei Lager aus gleichermaßen leidenschaft­lichen Fans und Gegnern des Regisseurs, die sich quasi sofort nach der ersten Vorstellung bildeten, staunten unisono: Wer war dieser junge Mann, den keiner kannte und der es da wagte, sich am Allerheiligsten der russischen Kultur, am klassischen Opernrepertoire zu vergreifen? Wenige Jahre später sollte Tcherniakov in seine Inszenierung des Eugen Onegin am Moskauer Bolschoi-Theater (2006) ein sarkastisches Porträt dieser Traditionalisten einbauen: In der Duellszene ließ er Lenski in derselben Pelzmütze auftreten, die 1940 schon Sergej Lemeschew, den legendären Interpreten dieser Partie, geziert hatte, und während Lenskis letzter Arie saß neben ihm plötzlich eine alte Dame auf einem Stuhl, die stumme Gesten der Begeisterung vollführte – ein Seitenhieb auf den Typus so rührender wie komischer Liebhaberinnen klassischer Inszenierungen. Es bedurfte nicht nur eines großen Talents, sondern auch einiger Besessenheit, um aus dem weihevollen, von konservativen Zuschauern, einflussreichen Primadonnen und mächtigen Intendanten sorgsam bewachten Raum der russischen Oper einen Ort des Gesprächs über die wichtigen Fragen der Gegenwart zu machen. An Besessenheit allerdings hat es Tcherniakov nie gemangelt. Schon als Schüler stand er stunden-, oft auch nächtelang nach Karten fürs Bolschoi-Theater Schlange. Mit 16 trat er an eben diesem Theater eine Stelle als Beleuchtungsassistent an, um dem verborgenen Leben hinter den Kulissen möglichst nahe zu sein. Und er machte in jungen Jahren schon rastlos Jagd auf sämtliche Aufzeichnungen von Arbeiten der großen westlichen Opernregisseure, die er in die Finger bekommen konnte – in puncto internationale Inszenierungen ist er nicht weniger beschlagen als noch der ehrwürdigste Theaterhistoriker. Damals, kurz nach der Perestroika, hatte der Eiserne Vorhang sich eben erst ein wenig gehoben, und die Welt dahinter war von magischer Anziehungskraft.

Schon zu dieser Zeit empfand er sich als Kosmopolit. Während die meisten russischen Regisseure davon träumen, mit einem festen Ensemble an ihrem eigenen Haus zu arbeiten, geht Tcherniakov einem Engagement dieser Art bislang konsequent aus dem Weg. Am wohlsten fühlt er sich, glaubt man seinen Interviews, in Hotels und Flughäfen – entfremdeten, exterritorialen Räumen. Er arbeitet häufiger im Ausland als in Russland. Er hat ganz gezielt einen Weltbürger aus sich selbst geformt, der in keiner Stadt dieser Erde verwurzelt ist und darauf manchmal fast stolz zu sein scheint. Doch trotz dieses betonten Kosmopolitismus verbinden ihn – oder genauer: seine Erinnerung – nicht nur dünne Fäden, sondern armdicke Seile mit Russlands Vergangenheit, und gerade an seiner Kitesch-Inszenierung, die die Geschichte des russischen Musiktheaters in ein Vorher und ein Nachher geteilt hat, zeigt sich das deutlich. Nikolai Rimski-Korsakows auf einer volkstümlichen Legende beruhendes Werk lässt dem Regisseur wenig Chancen, nicht in süßlichen Kitsch zu verfallen: Wie soll man auf der Bühne denn umgehen mit all den Löwen, Einhörnern und Paradiesvögeln auf Turmspitzen, die das Libretto der Oper bevölkern? Doch Tcherniakov hatte für die religiöse Parabel eine in ihrer Schlichtheit frappierende Lösung gefunden: Er ließ die Märchenszenerie einfach weg, und mit ihr auch das folkloristische Zubehör, all die Sarafane, Kaftane und geschmückten Hauben, die vermeintlich zu Rimski-Korsakow gehören. Seine Inszenierung handelte trotzdem von Russland, und mehr noch: Sie verlieh der überzeitlichen Ebene der Oper eine historische Dimension und der nationalen Geschichte metaphysische Tiefe. Jedes einzelne Element hatte eine fantastische Metamorphose durchlaufen, und doch wirkte alles vertraut – das rote Barett der Heldin, ihre an Gummibändern befestigten Fäustlinge (ein Standardaccessoire jeder russischen Schulzeit), der mitten im Wald an einem Baum aufgehängte mannshohe Wasserspender (wer die Sowjet­union noch erlebt hat, dürfte das kleinere Original kennen), der Kinderschlitten, auf dem Fewronija ins Jenseits gezogen wird und der das Publikum nicht ins imperiale Sankt Petersburg zurückversetzte, wo die Oper entstanden war, sondern in das geschundene, von der Wehrmacht belagerte Leningrad. Sowohl die Waldtiere, die im ersten Akt auf den

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Ruf ihrer Wohltäterin herbeieilen, als auch die Paradiesvögel Sirin und Alkonost, die Fewronija im vierten Akt in die verzauberte Stadt geleiten, hatten bei Tcherniakov Menschen­ gestalt – und all diese Wesen stammten offensichtlich nicht aus einer altrussischen Legende, sondern aus der ureigenen Kindheit der Zuschauer und ihrer Eltern. Paradoxerweise agierte der junge Regisseur, der gegen die Operntradition ankämpfte, hier also wie ein Archivar der Vergangenheit. An dieser Stelle sollte ich wohl erwähnen, dass zu Dmitri Tcherniakovs charakteristischen Eigenschaften ein phänomenales Gedächtnis und ein sehr eigenes Verhältnis zur Zeit gehören. Ich erinnere mich an eine Unterhaltung mit einem anderen bekannten Regisseur, dem Litauer Oskaras Koršunavas, in der Tcherniakov von Vilnius während der Sowjetzeit sprach – und an Oskaras’ Gesicht, als ihm klar wurde, dass sein russischer Kollege seine Heimatstadt genauer in Erinnerung hatte als er selbst, dass er die exakten Adressen all der längst verschwundenen Cafés von damals noch wusste und Details ihrer Einrichtung beschreiben konnte. In Tcherniakovs Gedächtnis lagern Tausende solcher Artefakte, und nicht selten finden sie ihren Weg in seine Inszenierungen. Eine besondere Beziehung unterhält er im Übrigen nicht nur zur Zeit, sondern auch zum Raum – nicht umsonst hat er, bevor er an die Russische Akademie für Theaterkunst in Moskau ging, für kurze Zeit Architektur studiert. Die Bühnen­ bilder seiner Inszenierungen entwirft er grundsätzlich selbst. Manchmal rekonstruiert er dafür Details realer Gebäude, die ihm in Erinnerung geblieben sind, manchmal auch das Gebäude als ganzes – so zum Beispiel für seine erste Arbeit im Ausland, den Boris Godunow an der Berliner Staatsoper (2005), dessen Handlung sich vor dem Hintergrund des in den 1920er Jahren erbauten Moskauer Telegrafen­­­amts abspielte. Nicht immer wird ein internationales Publikum in der Lage sein, diese Anspielungen zu entschlüsseln. Welcher nicht­ russische Zuschauer erkennt in der Behausung, in die sich die Karmelitinnen (in Francis Poulencs Dialogues des Carmélites, Bayerische Staatsoper 2010) vor der riesigen, unbegreiflichen Welt zurückgezogen haben, die Paraphrase einer russischen Datscha? Wer entdeckt die Parallele zwischen dem Sektierertum dieser Karmelitinnen oder dem religiösen Eifer der

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Helden von Modest Mussorgskys Chowanschtschina (2007, auch dies eine Arbeit Tcherniakovs an der Bayerischen Staatsoper) und dem Geist der sowjetischen Dissidenz? Der Gegensatz von Individuum und Kollektiv stellt für Tcherniakov nicht zufällig ein zentrales Thema dar, auch dies hängt mit dem Erbe der sowjetischen Dissidenten zusammen. Zwar ist nicht jeder Einzelgänger ein Dissident, aber jeder Dissident ist zwangsläufig ein Einzelgänger. Die Masse ist bei Tcherniakov immer eindimensional, und sie ist immer das Böse, selbst wenn sie aus Angehörigen der unterdrückten Klassen besteht. Dagegen sind die ausgeprägte Individua­lität, Unangepasstheit und psychische Komplexität, die so viele und so verschiedene seiner Helden auszeichnen – von Rimski-­ Korsakows Schneeflöckchen bis zu Alexander Borodins Fürst Igor, von Don Giovanni bis zu Tatjana in Eugen Onegin, grundsätzlich und zweifelsfrei positive Eigenschaften. Diese Helden passen ebenso gut in ein romantisches Weltbild wie in das für die sowjetischen Intellektuellen zentrale Paradigma von Held versus Masse. Gleichzeitig sind sie in jeder Hinsicht moderne Menschen, mit all ihren Frustrationen, Illusionen, Ängsten und Hoffnungen. Sie alle – Macbeth, Wozzeck, Parsifal – bewegen sich im Feld der zeitgenössischen Kultur. Was Dmitri Tcherniakov mit der Oper tut, lässt sich im Grunde auf ein sehr einfaches und zugleich komplexes Grundmuster zurückführen: Praktisch alle seine Arbeiten treten den Beweis an, dass, wer die klassische Oper zu neuem Leben erwecken will, sie zuvor töten muss. Erst wenn man sie – nach einem alten russischen Märchenmotiv – mit dem Wasser des Todes besprengt hat, kann das Wasser des Lebens folgen. Um den Glauben an die Textgrundlage wiederherzustellen, muss man ihr erst misstrauen, darf die darin beschriebenen Emotionen und Ereignisse nicht ernst nehmen. Der Regisseur muss die Zuschauer mit dem Zeigefinger darauf stoßen, dass sie ein Simulacrum, ein Fake vor sich haben, um am Ende auch diese eigene Geste wieder infrage zu stellen. Hierher rührt Tcherniakovs fast schon manische Vorliebe für Rollenspiele und Rahmenhandlungen, der er sowohl in Wozzeck als auch in Schneeflöckchen, im Märchen vom Zaren Saltan und in seiner meisterhaften Deutung von Carmen nachgegangen ist. In dieser Inszenierung, die 2017 in Aix-en-­ Provence Premiere hatte, bringt eine Frau ihren Mann in eine


DMITRI TCHERNIAKOV studierte an der Russischen Akademie für Theaterkunst und brachte bereits zahlreiche Opern und Schauspiele auf die Bühne. Er wurde mehrfach zum Opernregisseur des Jahres gewählt; zu seinen wichtigsten Inszenierungen zählen u. a. Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch sowie Tristan und Isolde am Mariinski-Theater in St. Petersburg und Aida in Nowosibirsk, The Rake’s Progress, Eugen Onegin und Wozzeck am Bolschoi-Theater Moskau, Boris Godunow und Der Spieler an der Berliner Staatsoper Unter den Linden, Macbeth an der Opéra national de Paris und Don Giovanni in Aix-en-Provence. An der Bayerischen Staatsoper inszenierte er bislang Chowanschtschina, Dialogues des Carmélites, Simon Boccanegra und Lulu. Termine im Spielplan ab S. 68 und unter www.staatsoper.de/spielplan

Klinik, in der Hoffnung, dass die dort angebotene immersive Therapie – auf Basis der klassischen Carmen-Geschichte – ihn aus seiner Apathie wecken und seine Depressionen heilen wird. Der Patient, José, taucht Schritt um Schritt tiefer in das abgegriffene Opernsujet ein und beginnt in diesem Stück im Stück das zu fühlen, was seine Mitspieler nur simulieren – echte Leidenschaft, wahre Liebe. Im Zentrum der Oper steht hier nicht Carmen, sondern eben José. Und der Wert, um den sich alles dreht, ist nicht ein Freiheitsdrang, der auch Freiheit von seelischen Bindungen voraussetzt, sondern die Fähigkeit zu starken Gefühlen. In Tcherniakovs Lesart ist José zugleich ein Opfer, weil die Welt, die man ihm vorgaukelt, ihn mit voller Absicht in den emotionalen Zusammenbruch treibt, und ein Sieger, weil er als einziger in dieser Welt aufhört, ein fremdes Spiel zu spielen. Er dringt zu dem vor, was Søren Kierkegaard „wahre Existenz“ nannte. Bei Tcherniakov hat dieser Impuls fast immer mit der Welt der Gefühle zu tun – mit der Liebessehnsucht und dem Abschiedsschmerz, dank derer der Mensch etwas über sich selbst erfährt. Und sobald man als Zuschauer innerhalb dieses Szenarios an die absolute Echtheit der Empfin­dungen des Helden zu glauben beginnt, erwacht auch die zu Tode inszenierte, zu einem Objekt der Massenkultur degradierte – oder, wie in Russland, zum Kultobjekt stilisierte – Carmen zu neuem Leben. Authentizität erreicht Tcherniakov paradoxerweise gerade durch betonte Theatralisierung, durch ein scheinbar iro­ nisches Verhältnis zum Text. Manchmal potenziert er diesen Kunstgriff sogar noch, so etwa im zweiten Teil von Hector Berlioz’ Trojanern an der Opéra de Paris: Aus dem von Dido regierten Karthago ist hier ein Rehazentrum für Überlebende militärischer Konflikte geworden. Die Königin ist nur eine Patientin unter anderen – offenbar aber eine der schwierigsten: Sie ist aus einem Kriegsgebiet geflohen, ihr Mann wurde von einem Tyrannen ermordet. Sie braucht jemanden, der sie aus ihrer Teilnahmslosigkeit herausholt, sie ins Leben zurückführt und ihr hilft, die traumatische Erfahrung zu überwinden. Alle wichtigen Bewohner Karthagos treten bei Tcherniakov als Therapeuten beziehungsweise Animateure auf, die immer wieder andere Insassen der Anstalt in ihre Übungen einbeziehen. Doch da trifft ein neuer Trupp Flüchtlinge ein, die von

Aeneas angeführten Trojaner. Aeneas erblickt die „Königin“ – und erkennt im selben Moment seine verstorbene Frau in ihr. Die Psychotherapie für Flüchtlinge verwandelt sich vor unseren Augen in eine echte Liebesgeschichte zwischen zwei einsamen, traumatisierten Menschen. Doch das Entscheidende kommt erst noch: Im Angesicht des Todes wird die von Aeneas verlassene Dido zur Regisseurin des Stücks, an dem man sie so oft aufgefordert hat mitzuwirken. Sie teilt unter ihren Mitpatienten Schilder mit den Namen der zu verkörpernden Figuren aus, sie selbst errichtet sich ihren „Scheiterhaufen“. Die Animateure sehen staunend zu, wie die „schwierige Patientin“ ihr Psychotraining in die eigenen Hände nimmt, und sie spielen Didos Spiel bereitwillig mit. Der therapeutische Triumph – das immersive Theater hat seine Wirkung getan, das Trauma ist überwunden – scheint unmittelbar bevorzustehen, da stürzt Dido plötzlich leblos zu Boden. Wir werden gleichsam Zeugen ihres letzten Schritts: vom Theater ins Leben. Eben darin liegt das geheime Ziel des Regisseurs. Die Kunst, ein Stück äußerlich zu modernisieren, beherrscht im Musiktheater heute jeder zweite. Tcherniakov aber modernisiert nicht nur die Zeitumstände, sondern auch die Motive, aus denen die Figuren handeln, ihre Psychologie. Er stellt Takt für Takt, Ton für Ton das ganze Werk auf den Prüfstand unserer heutigen Weltwahrnehmung. Nicht selten greift er dafür tief in die inneren Spannungsverhältnisse der Textvorlage ein, er lässt Repliken, manchmal auch ganze Arien anders adressieren, als das Libretto es vorsieht, gibt den Figuren einen anderen sozialen Hintergrund, einen anderen Familienstand, und verändert die Chronologie der Ereignisse. Dmitri Tcherniakov tötet die klassische Oper, um sie vor unseren Augen wiederauferstehen zu lassen, um uns zu zeigen, wie aus all dem Theaterpathos, aus den dicken Schichten der Tradition urplötzlich ein existenzieller Ernst hervorbricht. Wo dieser Durchbruch gelingt, wird die Handlung einer Oper, wird die Oper überhaupt mit dem Wasser des Lebens besprengt.

Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja Mehr über die Autorin auf S. 8

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„ZORNIGEN MENSCHEN HÖRT NIEMAND ZU. ZORNIGEN SCHWARZEN FRAUEN ERST RECHT NICHT“ Weil Schweigen keine Alternati­ve ist: Der Freischütz erzählt unter anderem vom Kampf um Aufnahme in die Gesellschaft. Die südafrikanische Sopranistin Golda Schultz kann davon ein Lied singen. Eine Begegnung.

Text Lisa Frieda Cossham Fotografien Constantin Mirbach Premiere Der Freischütz 60


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An ihrem Lachen kommt man nicht vorbei. Es bricht Pausen ins Gespräch, glättet Unsicherheiten und verweigert sich der Schicksalsschwere. Die Frau, die gebeten wird, ihr Leben auszubreiten in der kleinen Sondergarderobe der Bayerischen Staatsoper an einem Morgen im November, diese Frau hüllt sich in Fröhlichkeit wie in die Daunen eines Mantels. Durchs offene Fenster zieht es frisch herein. Golda Schultz, Ausnahmetalent und eine der wenigen südafrikanischen Sängerinnen auf europäischen Bühnen, ist eben in ihre Wahlheimat München zurückgekehrt, um die Proben für den Freischütz in der Regie von Dmitri Tcherniakov aufzunehmen. Die Partie der Agathe soll sie singen, unheilahnende Braut des Jägerburschen Max. Froh ist sie, dass sie trotz der Pandemiebeschränkungen arbeiten kann. Im April stand sie auf der Bühne der Metropolitan Opera in New York, im Juli sang sie vor Turiner Pflegekräften in einer bewegenden Darbietung die Sopranpartie aus Mozarts Requiem. Jüngst trat sie in der Royal Albert Hall in London auf als Solistin bei der „Last Night of the Proms“, sang You’ll Never Walk Alone, den zur Fußballhymne gewordenen Musicalhit, nun

weiß, was es bedeutet, Deutsch zu lernen, mit der Grammatik zu ringen. Sie wurde dabei unterstützt, ihr Vater nicht. Sie bewundert ihn für seine Zielstrebigkeit. Beschreibt ihn als Stein in der Mitte eines Flusses, ihre Mutter als das Wasser, das ihn umfließt. Emphatisch sei sie, ausgleichend, auch diese Wesenszüge haben Golda Schultz geprägt, sie sucht die Balance zwischen beiden. Gelingt mir nicht immer, sagt sie und erinnert sich, dass sie hier und dort mit ihrer Sturköpfigkeit übers Ziel hinausschießt. Sie lacht verlegen. In Bloemfontein ist sie geboren, mitten im südafrika­ nischen Winter. Morgens ist es unter null Grad, mittags sommerlich warm, die Stadt liegt 1.400 Meter über dem Meeresspiegel. Zu Hause wird Afrikaans und Englisch gesprochen, es sind ihre Muttersprachen. Als sie sechs Jahre alt ist, zieht die Familie nach Bophuthatswana, ein Homeland an der Grenze zu Botswana, selbstverwaltetes Gebiet. Hier bekommt Schultz wenig mit von der Apartheid, ihre Umgebung ist multikulturell. Als Einzelkind lernt sie, Freundschaften zu schließen. Sie singt im Chor. Singt, weil es ihr Spaß macht. Singt vor allem, um Zeit mit ihren Freundinnen und Freunden zu

„Als braune Frau werde ich in meinem Alltag immer wieder an mein Anderssein erinnert. Niemand sagt, dass er keine schwarze Sängerin will. Hingegen behauptet man: Ich habe mir die Rolle anders vorgestellt.“

Hymne all derer, die zuversichtlich bleiben. Golda Schultz soll bei den Osterfestspielen 2021 in Salzburg singen, auf der Schubertiade, auf dem Internationalen Musikfest in Hamburg und im Sommer die Partie der Gräfin Almaviva in Le nozze di Figaro an der Bayerischen Staatsoper. Sie glaubt, dass sich bald eine neue Konzertnormalität entwickeln wird. Appelliert auf Instagram an ihre Fans, Künstler zu unterstützen, weil wir doch die Musik bräuchten, um Harmonie in das Chaos dieser Tage zu bringen. Sie hat gelernt, widrige Umstände hinzunehmen. Nicht zu lamentieren, sondern zu prüfen, was möglich ist. Sie zieht jetzt die Maske ab und lacht, weil sich das entblößte Gesicht so intim anfühlt wie eine Umarmung, wie ein Freundschaftsangebot. Entschlossen ist ihr Auftreten, ein Erbe ihres Vaters. Unbedingt wollte er als Mathematikstudent an einer der besten Universitäten seine Doktorarbeit schreiben, erzählt Golda Schultz, und so reiste er von Südafrika aus mit einem Stipendium in der Tasche nach Freiburg im Breisgau. Er nahm die Vorlesungen auf Tonband auf, schrieb sie zu Hause ab und übersetzte sie ins Englische, Wort für Wort. Golda Schultz

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verbringen. Ihr Vater ist inzwischen Professor, ihre Mutter hat Psychologie studiert und arbeitet als Krankenschwester. Es ist ein behütetes Aufwachsen. Morgens auf dem Weg zum Kindergarten, ihr Vater fährt sie, hören sie Kassetten mit Songs von Cat Stevens und Paul Simon. Ihre Mutter spielt ihr R&B vor, The Supremes, Tina Turner. Klassische Musik entdeckt Golda Schultz später, mit zehn vielleicht, Haydn und Beethoven, Platten des Vaters. Sie ist ein Teenager, als die Apartheid offiziell für beendet erklärt wird. Nelson Mandela ist der erste schwarze Präsident des Landes, als Golda Schultz in Kapstadt beginnt, Journalistik zu studieren. Mit 19 Jahren nimmt sie zum ersten Mal Gesangsunterricht und spürt, wie richtig sich das Singen anfühlt. Ahnt, dass es ihrem Leben eine andere Richtung geben wird. Hör auf deine Stimme, drängen sie Freunde, und mit 25 traut sie sich, den Gesang in den Fokus zu rücken. Wenn es nicht klappt, lasse ich es eben, beruhigt sich Golda Schultz, als sie sich zwei Jahre später an der berühmten Juilliard School bewirbt, Konservatorium und Schauspielschule in New York. Sie wird angenommen.


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Ihre Zeit in Amerika fühlt sich an wie eine lange, harte Prüfung. Golda Schultz sieht sich mit absurden Zielen konfrontiert. Bis sie 30 Jahre alt ist, soll sie bestimmte Rollen erarbeitet, an exzellenten Häusern gesungen haben. Da ist sie 27. Sie lernt, dem Druck standzuhalten und die eigenen Ansprüche zurückzunehmen, die der anderen sind laut genug. Sie will singen, wer ihr dabei zuhört, ist letztlich zweitrangig. Vielleicht schafft sie es gerade wegen dieser bedingungslosen Singfreude, zu einer Sopranistin zu werden, die auch auf internationalen Bühnen gefeiert wird, für ihre große Stimme, ihr vibrierendes Timbre. Sie fühlt diese Stimme mehr, als dass sie sie hört. In den Wangen, in der Brust, überall im Körper. Von 2011 bis 2013 ist sie Mitglied des Opernstudios der Bayerischen Staatsoper, singt anschließend am Stadttheater Klagenfurt und kehrt für vier Jahre als Ensemblemitglied nach München zurück. Sie singt Rollen wie die Sophie im Rosenkavalier, Pamina in der Zauberflöte, Freia im Rheingold, Donna Elvira im Don Giovanni. Golda Schultz beobachtet sich dabei selbst und lässt spät den Gedanken zu, dass sie es geschafft hat, ihr Erfolg keine Pfandleihe ist. Am meisten erfüllt sie das Rollenstudium. Sich in die Psyche der Figuren hineinzudenken, sich ihre Erfahrungen überzustreifen und für die Dauer einer Aufführung ihre Leben fortzuführen, macht sie glücklich. Sie sagt: Ihre Geschichten nähren mich. Sie habe sich während der Vorbereitung auf den Freischütz gefragt, warum wir Menschen an der Idee von Gut und Böse hängen. Sie hat da­­­ rüber nachgedacht, ob Agathes dunkle Ahnungen auf Religion oder Naturverbundenheit, auf eine Naturreligion zurück­ gingen. Sie sind Schultz in diesem Ausmaß fremd, Max’ Bangen um Aufnahme in die Gesellschaft hingegen nicht. Als „braune Frau“, als die sich Golda Schultz bezeichnet, wird sie in ihrem Alltag immer wieder an ihr Anderssein erinnert. Kein Aufnahmeritual dieser Welt kann sie davon befreien. Sie spricht jetzt von der coded language, der vermeintlich neutralen Sprache, welche die Ausgrenzung nur verschleiere. Niemand sagt, dass er keine schwarze Sängerin will, erklärt Schultz, hingegen behauptet man: Ich habe mir die Rolle anders vorgestellt. Der Rassismus im Kleinen hänge mit dem im Großen zusammen, schreibt die Journalistin Alice Hasters in ihrem 2019 veröffentlichten Buch Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten. Wie also reagieren in diesen Momenten? Golda Schultz hat sich das tausendfach gefragt, ihr Leben sei ein ewiges Abwägen: auf die Diskriminierung – auch die ungewollte – hinweisen oder sie hinnehmen? Oft zum Beispiel werde ihre Stimme mit der von Kathleen Battle oder Leontyne Price verglichen, erzählt Schultz, es sind schwarze Sängerinnen. Sie fragt: Klingen die Stimmen der weißen so anders, dass sie nicht als Referenz taugen? Sie bleibt leicht, wird nicht müde oder zynisch – wie gelingt ihr das? Verletzlich wirkt sie jetzt. Ich habe gelernt zu lachen, antwortet sie nüchtern, nur so könne sie überleben und sich stärker fühlen als jene, die sie abwerten und ihre Freiheit einschränken. Das Lachen zeige, wie absurd der Rassismus

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sei: Würde es uns nicht gelingen zu lachen, wären wir ein Heer zorniger Menschen, sagt Schultz, und zornigen Menschen höre niemand zu. Zornigen schwarzen Frauen erst recht nicht. The Angry Black Woman ist ein Topos in Filmen, Büchern, Comedyserien und Musikvideos, schreibt Alice Hasters, dauerwütende, lächerliche Figuren. Jedes Aufbegehren sei ein Risiko, selbst diesem Gespräch liege ein Abwägen zugrunde, sagt Golda Schultz: Vielleicht finde sie auf Deutsch nicht die richtigen Worte. Vielleicht missverstünde ich sie. Vielleicht fordere ihr heutiger Hinweis auf diskriminierendes Verhalten einen zu hohen Preis, wer wisse das schon. Nur welche Alternativen bleiben? Lass uns bitte nicht über Politik sprechen, bat ihre Mutter vor Wochen beim Abendessen in Südafrika, erinnert sich Golda Schultz. Sie wolle nicht respektlos sein, habe sie geantwortet, doch warum nicht über etwas reden, das einen Einfluss habe auf ihre Leben? Das sogar bestimme, wie sie sich in ihrer Haut fühle? Politik sei persönlich, sei es immer gewesen. Und deshalb sei Schweigen keine Alternative, sagt sie jetzt, zieht sich ihre Maske übers lächelnde Gesicht, winkt und verschwindet. Lisa Frieda Cossham hatte während des Interviews in der Bayerischen Staatsoper das Bedürfnis, Golda Schultz jedes erfahrene Unrecht von den Schulter zu nehmen und durch das offene Fenster auf die Maximilianstraße zu werfen. Da sie Abstand wahren musste, aus journalistischen und infektionstechnischen Gründen, hielt sie still und nahm sich vor, in Zukunft genauer auf diskriminierendes Verhalten zu achten.

GOLDA SCHULTZ studierte Gesang an der Universität Kapstadt und an der Juilliard School in New York. Ihr Repertoire umfasst Partien wie Donna Elvira (Don Giovanni), Pamina (Die Zauberflöte), Sophie (Der Rosenkavalier), Gräfin Almaviva (Le nozze di Figaro), Musetta (La bohème), Freia (Das Rheingold), Fiordiligi (Così fan tutte), Cleopatra (Giulio Cesare in Egitto) und Alice Ford (Falstaff). Von 2011 bis 2013 war sie Mitglied im Opernstudio der Bayerischen Staatsoper, von 2014 bis 2018 Ensemblemitglied. Gastspiele führten sie u. a. nach Hamburg, Mailand, Wien und New York sowie zu den Festspielen in Salzburg und Glyndebourne. DER FREISCHÜTZ – In einer Dorfgemeinschaft, die an archaischen Bräuchen festhält, muss der Jäger Max einen Probeschuss absolvieren, um seine Geliebte Agathe heiraten zu dürfen. Zentrum der Handlung ist ein diabolisches Ritual in der Wolfsschlucht, wo ein Pakt mit Samiel eingegangen wird, um Freikugeln gießen zu können, die ihr Ziel nie verfehlen. Die Oper von Carl Maria von Weber wurde bei ihrer Uraufführung 1821 in Berlin vom Publikum gefeiert. In den folgenden Jahrzehnten avancierte das damals als natur­ verklärend und volkstümlich-romantisch aufgefasste Werk rasch zur meistgespielten Oper auf den deutschen Bühnen. In einer Zeit, in der man sich nach kulturellen nationalen Identifikationsmöglichkeiten sehnte, bot Der Freischütz Projektionsfläche für eine ideelle Gemeinschaft. Termine im Spielplan ab S. 68 und unter www.staatsoper.de/spielplan


© Kirk Edwards

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Quelle: Deutsches Patent- und Markenamt Eine der wenigen Einreichungen um 1900 von einer Erfinderin: eine Vorrichtung, die auf der Bühne ein Feuerwerk simuliert. Dafür werden bewegliche Bänder an den Maschen eines Gitters durch den Luftstrom eines Ventilators in flatternde Bewegung versetzt. Die Bänder können zusätzlich farbig beleuchtet werden. Bis heute eine beliebte, weil günstige und flammenarme Bühnenzündelei.

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Ein einheitliches Gerät für bis zu 53 verschiedene Geräusche, die einzeln in Betrieb gesetzt werden können, wie Autolärm, Pistolenschüsse, Vogelgezwitscher, Glockenläuten, Donner und Pferdehufengeklapper. Die auch „Multiphone“ genannte Konstruktion war Vorläufer der britischen Allefex-Maschine, eine der bekanntesten Geräuschmaschinen, die zur Tonbegleitung im frühen Stummfilmkino eingesetzt wurden. Durch den technischen Fortschritt (leider) obsolet geworden.

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Spielplan 10.02.2021 - 25.04.2021 Aufgrund der aktuellen Situation kann es immer wieder zu Abweichungen im Spielplan kommen. Unter www.staatsoper.de halten wir Sie über mögliche Änderungen auf dem Laufenden.

FEBRUAR Mi 10.02.21 19.00 Sa 13.02.21 10.00

Sa 13.02.21 14.00

Sa 13.02.21 19.00

Stand Spielplan: 13.01.2021 So 14.02.21 10.00 Hinweise zu Ihrem Besuch finden Sie unter: www.staatsoper.de/besuch So 14.02.21 18.00 Mo Di Mi Fr Sa

15.02.21 16.02.21 17.02.21 19.02.21 20.02.21

19.30 19.00 19.00 19.00 20.00

So 21.02.21 18.00

So 21.02.21 19.00 Mo 22.02.21 19.00 Mi 24.02.21 19.30 Do 25.02.21 19.00 Sa 27.02.21 19.30 So 28.02.21 11.00

So 28.02.21 17.00 So 28.02.21 14.00 Sofern nicht anders angegeben, finden alle Veranstaltungen im Nationaltheater statt. Entdecken Sie unser Streaming-Angebot und erleben Sie, wann immer Sie möchten, Oper, Ballett und Konzert bequem zu Hause. Montagsstücke Montags live und kostenlos um 20.15 Uhr Das detaillierte Programm finden Sie unter: www.staatsoper.tv Videos-on-Demand 24h-Tickets ab 4,90 € www.staatsoper.de/on-demand Sie möchten immer auf dem aktuellen Stand zu Spielplan, Besetzungen oder dem Streaming-Programm bleiben? Melden Sie sich jetzt zum Newsletter an: www.staatsoper.de/newsletter

Karten Tageskasse der Bayerischen Staatsoper Marstallplatz 5 80539 München T 089 – 21 85 19 20 tickets@staatsoper.de www.staatsoper.de

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Oper Der Freischütz Premiere Extra Operndialog zu Der Freischütz Capriccio-Saal Extra Ballett Extra: 30 Jahre Bayerisches Staatsballett Königssaal im Nationaltheater Oper Der Freischütz Auch als Live-Stream auf www.staatsoper.tv Extra Operndialog zu Der Freischütz Capriccio-Saal Oper Rusalka U30-Vorstellung Ballett Schwanensee Oper Rusalka Oper Der Freischütz Oper Rusalka Konzert 4. Akademiekonzert: Kirill Petrenko Lied Porträtkonzert des Opernstudios: Juliana Zara / George Vîrban Künstlerhaus Konzert 4. Akademiekonzert: Kirill Petrenko Oper Der Freischütz Ballett Vorstellung des Bayerischen Staatsballetts Oper Der Freischütz Ballett Vorstellung des Bayerischen Staatsballetts Konzert 4. Kammerkonzert: A Friday Night Allerheiligen Hofkirche Oper Tannhäuser Campus Spielballett: Spartacus Gr. Ballettsaal, Nationaltheater


MÄRZ Mo 01.03.21 19.30 Ballett Spartacus Fr 05.03.21 19.30 Oper Judith: Konzert für Orchester / Herzog Blaubarts Burg Sa 06.03.21 17.00 Oper Tannhäuser So 07.03.21 11.00 Extra Premierenmatinee zu Der Rosenkavalier So 07.03.21 14.00 Campus Spielballett: Coppélia Ballett-Probenhaus Platzl 7 So 07.03.21 18.00 Ballett Spartacus Mo 08.03.21 19.30 Oper Judith: Konzert für Orchester / Herzog Blaubarts Burg Mi 10.03.21 17.00 Oper Tannhäuser Do 11.03.21 19.00 Oper Judith: Konzert für Orchester / Herzog Blaubarts Burg Sa 13.03.21 17.00 Oper Tannhäuser So 14.03.21 14.00 Campus Spielballett: Coppélia Ballett-Probenhaus Platzl 7 So 14.03.21 18.00 Lied Porträtkonzert des Opernstudios: Daria Proszek / Theodore Platt Künstlerhaus So 14.03.21 18.00 Ballett Schwanensee Di 16.03.21 19.30 Ballett Schwanensee Mi 17.03.21 18.15 Campus Oper.Über.Leben. Lucia di Lammermoor Königssaal im Nationaltheater Mi 17.03.21 19.00 Oper Lucia di Lammermoor Do 18.03.21 18.00 Oper Der Rosenkavalier Premiere Fr 19.03.21 19.00 Konzert Passionskonzert Allerheiligen Hofkirche Fr 19.03.21 19.30 Ballett Coppélia Sa 20.03.21 11.00 Campus Sitzkissenkonzert: Hänsel und Gretel Parkettgarderobe, Nationaltheater Sa 20.03.21 14.30 Campus Sitzkissenkonzert: Hänsel und Gretel Parkettgarderobe, Nationaltheater Sa 20.03.21 19.00 Oper Lucia di Lammermoor So 21.03.21 10.00 Extra Operndialog zu Der Rosenkavalier Capriccio-Saal So 21.03.21 10.00 Campus Präsentation Fotoprojekt „Meine Rolle“ Literaturhaus München So 21.03.21 17.00 Oper Der Rosenkavalier Auch als Live-Stream auf www.staatsoper.tv Mo 22.03.21 18.00 Extra Operndialog zu Der Rosenkavalier Capriccio-Saal Di 23.03.21 19.00 Oper Lucia di Lammermoor Mi 24.03.21 18.00 Oper Der Rosenkavalier Fr 26.03.21 19.00 Oper Lucia di Lammermoor Sa 27.03.21 19.30 Ballett Spartacus So 28.03.21 17.00 Oper Der Rosenkavalier Mo 29.03.21 17.00 Oper Parsifal Mi 31.03.21 18.00 Oper Der Rosenkavalier

APRIL Do 01.04.21 Sa 03.04.21 So 04.04.21 Mo 05.04.21 Fr 09.04.21 Sa 10.04.21 So 11.04.21 Di 13.04.21 Do 15.04.21 Sa 17.04.21

17.00 17.00 17.00 19.00 19.00 19.00 18.00 19.00 19.30 14.30

Oper Parsifal Oper Der Rosenkavalier Oper Parsifal Oper Les vêpres siciliennes Oper La traviata Oper Les vêpres siciliennes Oper La traviata Oper Les vêpres siciliennes Oper La traviata Campus Sitzkissenkonzert: Bassettl-Spassettl Parkettgarderobe, Nationaltheater So 18.04.21 11.00 Konzert 5. Kammerkonzert: Brass Junkies Allerheiligen Hofkirche Sa 24.04.21 14.30 Campus Sitzkissenkonzert: Bassettl-Spassettl Parkettgarderobe, Nationaltheater BALLETTFESTWOCHE vom 16. bis 25. April 2021 Fr 16.04.21 19.30 Ballett Der Schneesturm Uraufführung Sa 17.04.21 19.30 Ballett Coppélia So 18.04.21 11.00 Ballett Matinee der Heinz-Bosl-Stiftung So 18.04.21 19.30 Ballett Der Schneesturm Do 22.04.21 19.30 Ballett Schwanensee Fr 23.04.21 19.30 Ballett Spartacus So 25.04.21 11.00 Ballett Matinee der Heinz-Bosl-Stiftung So 25.04.21 19.00 Ballett Giselle

gefördert durch Julia Frohwitter Botschafterin des Bayerischen Staatsorchesters

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DER SCHWUNG DER FIGUR Bildende Künstlerinnen und Künstler interpretieren Rainer Maria Rilkes geheimnisvollen „Schwung der Figur“. Diesmal: VALÉRIE FAVRE

Ein sonderbares Wesen schwebt offenbar schwerelos im Raum. Während aus seinem geschwungenen Rumpf drei Gliedmaßen wachsen, steigt ein gelblich-orangefarbener Torso mit Flügeln zart in der Kontur empor. Die Kreatur gibt kein Antlitz und keine individuellen Züge preis, jedoch offenbart sie sich in der Bewegung als ein Geschöpf des Wandels: eine Metamorphose aus dem „Schwung der Figur“. Valérie Favre hat ihre Papierarbeit mit der dritte nacht betitelt. Die Schweizer Künstlerin, Jahrgang 1959, die Anfang der 1980er Jahre in Paris als Schauspielerin und Bühnenbildnerin für Film und Theater begann und ab 1990 zu einer viel diskutierten Malerin avancierte, lehrt heute an der Universität der Künste in Berlin. Favres Universen sind seriell angelegt. In ihren Arbeiten entwirft sie einen vielgestaltigen Kosmos, der hyperreflektive Selbstporträts und Engel ebenso zeigt wie subtil inszenierte Selbstmordszenen historischer, literarischer oder künstlerischer Protagonistinnen und Protagonisten, die in der Erinnerung zu verblassen scheinen.

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