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Angebotsengpässe und Störungen der globalen Lieferketten Risikofaktoren für Aufschwung und Wertschöpfung
13. Januar 2022 ▪
Angebotsengpässe bremsen die industrielle Wertschöpfung 2021 und 2022 um jeweils mehr als 50 Milliarden Euro. Selbst im kommenden Jahr ist mit weiteren Einbußen zu rechnen. Produktion und Auftragslage klaffen zunehmend auseinander: Während die Produktion seit dem zweiten Quartal 2021 rückläufig ist, entwickeln sich die Auftragseingänge weiter positiv. Ohne Engpässe wäre das Produktionsniveau deshalb bis zu zehn Prozent höher. Besonders betroffen sind die Automobil-, Elektro-, Bau- und Kunststoffindustrie sowie der Maschinenbau. Auch das Handwerk leidet darunter.
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Die angebotsseitige Verfügbarkeit von Roh- und Vorprodukten hat sich seit dem vorigen Jahr massiv verschlechtert. Mittlerweile ist die Mehrzahl der Unternehmen mit Engpässen konfrontiert, wobei die Verfügbarkeit von nahezu allen Rohstoffen beeinträchtigt ist. Als besonders schwerwiegend stellt sich der Mangel an Halbleitern heraus. Die Automobilund Elektroindustrie sowie der Maschinenbau sind davon am stärksten getroffen. Zudem machen sich Engpässe im Transportwesen im Schiffs- und Straßenwarenverkehr bemerkbar.
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Resultat ist ein massiver Anstieg der Preise für Roh- und Vorprodukte. Von den höheren Inputpreisen ist die verarbeitende Wirtschaft in Deutschland nahezu ausnahmslos betroffen. Die Teuerung für Öl, Gas sowie für Baustoffe und metallische Rohstoffe fällt am höchsten aus.
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Der Preisanstieg der Inputfaktoren überträgt sich auf die Erzeugerpreise. Diese stiegen zuletzt mit einer zweistelligen Rate so stark wie seit den siebziger Jahren nicht mehr. Die Unternehmen haben kurzfristig nur begrenzten Handlungsspielraum, da sie den Preisdruck nicht vollständig über die Margen auffangen können.
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Die Engpässe ergeben sich aus einer Kombination unterschiedlicher Faktoren, die sich gegenseitig verstärken. Dazu zählen neben pandemiebedingten Effekten wie Produktionsausfällen durch Lockdowns beispielsweise Auswirkungen (kurzfristig) begrenzter Angebotskapazitäten in der Halbleiterindustrie oder im Containerverkehr.
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Material- und Lieferengpässe behindern die Produktion auch im neuen Jahr. Mit einer schnellen Entspannung ist vorerst nicht zu rechnen, weil sich die Engpässe nur langsam auflösen.
Angebotsengpässe und Störungen der globalen Lieferketten | Risikofaktoren für konjunkturelle Erholung und Wertschöpfung
Inhaltsverzeichnis Physische Engpässe als Treiber der aktuellen Entwicklung .......................................................... 3 Die Engpässe im Transportwesen nehmen zu ..................................................................................... 3 Abnehmende Verfügbarkeit von Halbleitern und Chips ........................................................................ 4 Auch die Verfügbarkeit von Rohstoffen hat sich verschlechtert ............................................................ 4 Dynamischer Preisanstieg als Resultat zunehmender Knappheit ................................................. 5 Verringerte Produktion und steigende Erzeugerpreise .................................................................. 6 Auswirkungen in einzelnen Industriebranchen...................................................................................... 7 Der Handlungsspielraum der Unternehmen ist begrenzt ............................................................... 9 Quellenverzeichnis ............................................................................................................................ 10 Impressum ......................................................................................................................................... 11
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Angebotsengpässe und Störungen der globalen Lieferketten | Risikofaktoren für konjunkturelle Erholung und Wertschöpfung
Physische Engpässe als Treiber der aktuellen Entwicklung Die Engpässe im Transportwesen nehmen zu Ein Teil der Engpässe im Transportwesen kann durch strukturelle Faktoren erklärt werden. Dazu zählen insbesondere: Ein langfristiger Anstieg des internationalen Handelsvolumens (u.a. durch aufstrebende Volkswirtschaften sowie zunehmenden Online-Handel, das auf kurzfristig nicht veränderbare Hafenkapazitäten sowie einen zunehmenden Fachkräftemangel trifft. Diese strukturellen Faktoren werden durch die Auswirkungen der Corona-Krise verstärkt. Seit 2020 sind starke Schwankungen der globalen Nachfrage zu beobachten, die durch Maßnahmen im Zuge der Corona-Krise ausgelöst wurden. Die Nachfrageschwankungen haben dazu beigetragen, dass vorhandene Kapazitäten innerhalb kürzester Zeit entweder kaum ausgelastet oder überlastet waren. Zugleich kam es – durch regionale Lockdowns – zu einer signifikanten Einschränkung von Transportkapazitäten (z.B. im Schiffsverkehr). Das Auftreten neuer Virus-Varianten (z.B. Omikron) kann regional zu einer weiteren Verschärfung der Einschränkungen im Transportwesen beitragen. Die pandemiebedingte Abnahme des Luftfahrtverkehrs hat zu einem weiteren Nachfragedruck auf den Schiffsverkehr beigetragen, da die Mitnahme von Gütern im Passagierverkehr begrenzt war und ist. Im Ergebnis hat sich ein Anstieg der Transportkosten / Spot-Preise und der Transportzeiten ergeben. Infolge der daraus resultierenden Wartezeiten sind über zehn Prozent der weltweiten Container-Kapazitäten im Schiffsverkehr gebunden. Sondereffekte (z.B. die temporäre Schließung des Suez-Kanals) haben die Problematik nochmals verschärft. Die Auswirkungen spiegeln sich auch in den Frachtraten – die beispielsweise anhand des RWI-Containerumschlag-Index gemessen werden – wider. RWI-Containerumschlag-Index* 125
115
105
95 2015
2016
2017
2018
2019
2020
2021
*Index: 2015=100; saison- und arbeitstäglich bereinigte Indexwerte Quelle: RWI
Die Beruhigung der Corona-Krise wird zu einem Abflauen der Sondereffekte beitragen. Die strukturellen Ursachen lassen sich durch eine Verringerung der Kapazitätsengpässe beheben, die nur auf lange Sicht möglich ist, da die hierzu notwendigen Investitionen zeit- und kostenintensiv sind. Ein ähnliches Bild ergibt sich im Straßenwarenverkehr, wobei hier der größte Engpass beim Faktor Arbeit besteht, was beispielsweise durch einen zunehmenden Mangel an LKW-Fahrern zum Ausdruck kommt.
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Abnehmende Verfügbarkeit von Halbleitern und Chips Die Halbleiterindustrie ist zyklisch ausgerichtet und von Schwankungen der globalen Konjunktur abhängig. Hinzu kommen strukturelle Entwicklungen, die durch eine zunehmende Digitalisierung ausgelöst werden und in einem Anstieg der Nachfrage nach Halbleitern resultieren, beispielsweise durch einen erhöhten Bedarf an elektronischen Geräten und der Corona-bedingten Nachfrageschwankungen der Automobilindustrie nach Chips. Diese strukturellen und zyklischen Faktoren werden durch Auswirkungen der Corona-Krise verstärkt. So ist im Zuge der Corona-Krise die Nachfrage nach Halbleitern deutlich angestiegen. Auf der anderen Seite kam es durch weltweite Lockdowns zu einer Reduktion der Produktion und Störungen der Lieferketten, insbesondere im asiatischen Raum. Diese Problematik setzt sich zum Beginn des Jahres 2022 infolge regionaler Lockdowns in China fort. Auch hier bleibt aufgrund neuer Virus-Varianten (z.B. Omikron) zu befürchten, dass es zu weiteren pandemiebedingten Störungen und Ausfällen der Produktion kommt. Diese Engpässe wurden in den vergangenen Monaten durch Sondereffekte verschärft. So haben ein Brand in einer japanischen Chip-Fabrik und witterungsbedingte Produktionsausfälle in den USA die Angebotsseite zusätzlich belastet. Dabei ist die Automobilindustrie besonders stark vom Ausfall dieser Produktionskapazitäten betroffen. So beläuft sich beispielsweise der erwartete inländische Produktionsausfall der Automobilindustrie im laufenden Jahr infolge des Chipmangels auf etwa 400.000 Einheiten. Ergänzend sind auch politische Faktoren einzubeziehen: Der Handelsstreit zwischen den USA und China hat dazu geführt, dass die USA Exportbeschränkungen für Chips / Halbleiter aus China eingeführt haben, was sich negativ auf die dortige Produktion ausgewirkt und die Angebotsengpässe weiter verstärkt hat. Die Engpässe werden mindestens noch bis weit in das nächste Jahr hinein anhalten und erst danach – auch infolge eines Ausbaus der Produktionskapazitäten – wieder abnehmen. Auch die Verfügbarkeit von Rohstoffen hat sich verschlechtert Engpässe bei der Rohstoffversorgung werden durch strukturelle Effekte begünstigt, die sich durch einen hohen Bedarf an IT-Ausrüstungen sowie einer langfristig steigenden Nachfrage der Industrie nach Rohstoffen ergeben. Zudem besteht eine zyklische Abhängigkeit der Produktion von der Entwicklung der globalen Konjunktur. Auch im Bereich der Baustoffe (z.B. Bauholz, Kunststoffe) lassen sich mittlerweile erhebliche Engpässe feststellen. Zusätzlich hat die durch die Corona-Maßnahmen induzierte Schwankung der Nachfrage Kapazitätsprobleme ausgelöst, sodass die Nachfrage nicht vollständig gedeckt werden kann. Diese wurden durch pandemiebedingte Einschränkungen angebotsseitig verstärkt, indem es vielfach zu einer temporären Verringerung der Produktion gekommen ist. Als weiterer Einflussfaktor wirken sich klimapolitische Maßnahmen auf die Angebotsseite aus. Dies ist im Kern darauf zurückzuführen, dass klimapolitische Maßnahmen (z.B. Verbote, Grenzwerte, Umstieg auf alternative Technologien) phasenweise zu einer Verringerung der Produktion beitragen und gleichzeitig einen Preisanstieg induzieren. Mittelfristig werden sich die durch Corona bedingten Auswirkungen abschwächen und der Nachfragedruck wird abnehmen. Zugleich sollten sich die Konditionen auf der Angebotsseite durch einen Anstieg der Investitionstätigkeit verbessern und Engpässe abmildern.
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Knappheit von Vorprodukten* im Verarbeitenden Gewerbe insgesamt 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0
*Anteil der Nennungen in Prozent Quelle: Macrobond
Dynamischer Preisanstieg als Resultat zunehmender Knappheit Als Folge der Engpässe kommt es zu steigenden Preisen für Roh- und Vorprodukte, die für eine Mehrheit der Unternehmen zunehmend zu einem Belastungsfaktor werden. Dabei sind laut Ifo-Befragungen über 90 Prozent der Unternehmen von Preissteigerungen der Inputfaktoren betroffen. Der Preisauftrieb wird maßgeblich von der Entwicklung der Rohstoffpreise getrieben. Dazu zählen einerseits Öl / Gas, Baustoffe (Bauholz, Kunststoffe) und andererseits metallische Rohstoffe (neben Eisen und Stahl v. a. Kupfer, Nickel, Kobalt, Lithium). Letztere sind infolge der grünen und digitalen Transformation längerfristig von herausragender Bedeutung für die Industrie. Erzeugerpreise* für ausgewählte Vor- und Rohprodukte 240
190
140
90
40
Energie
Metalle
Holz
Kunststoffe
Eisen/Stahlschrott
Öl (ohne Mineralöl)
Gas
*Index: 2015=100 Quelle: Macrobond
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Die physische Knappheit von Baustoffen (z. B. Bauholz, Kunststoffe) führt zu erheblichen Preissteigerungen, wovon insbesondere das Handwerk und die Bauindustrie betroffen sind. Dieses Knappheitsproblem wird durch strukturelle Engpässe (Fachkräftemangel) auf der Angebotsseite verstärkt. Im Ergebnis kommt es deshalb nicht nur zu einer Weitergabe der Preissteigerungen an die Endverbraucher, sondern auch zu zunehmenden Wartezeiten. Die Preisentwicklung von Öl und Gas ist von zyklischen Faktoren (z.B. Jahreszeiten) und der konjunkturellen Entwicklung der Weltwirtschaft sowie der Auslastung der vorhandenen Produktionskapazitäten abhängig. In den letzten Monaten konnte eine stark steigende Nachfrage beobachtet werden, die zu einem Abschmelzen der bestehenden Lagerbestände beigetragen hat. Die Angebotsseite ist hingegen durch Rigiditäten und bestehende Kapazitätsgrenzen limitiert (u. a. auch aufgrund Entscheidungen der OPEC). Pandemie-bedingte Maßnahmen haben die angebotsseitigen Engpässe zeitweise verstärkt. Im Bereich der metallischen Rohstoffe spielen insbesondere strukturelle und politisch induzierte Faktoren eine entscheidende Rolle bei der (künftigen) Preisentwicklung. Zu den strukturellen Faktoren zählen vor allem: Ein Anstieg der Nachfrage nach metallischen Rohstoffen (u. a. Kobalt, Lithium) infolge der voranschreitenden grünen / digitalen Transformation der Wirtschaft. So ist laut IWF (2021) zu erwarten, dass es bis 2050 zu einer Vervielfachung der Nachfrage nach diesen Rohstoffen kommen wird. Auf der Angebotsseite bestehen hingegen Rigiditäten und beschränkte Kapazitäten, die nur langfristig aufgelöst bzw. ausgebaut werden können. Dies ist vor allem mit einer hohen Zeit- und Kostenintensität der dafür notwendigen Investitionen zu erklären. Hinzu kommt eine hohe Konzentration von Produktionskapazitäten in wenigen Ländern, die Abhängigkeiten befördern und ebenfalls preissteigernd wirken können. Die strukturellen Faktoren werden durch eine politische Komponente beeinflusst und verstärkt. Vor allem die Entwicklung der Nachfrage und die Geschwindigkeit des Ausbaus notwendiger Kapazitäten sind von politischen Entscheidungen – beispielsweise im Bereich der Klimapolitik – abhängig und deshalb mit größeren Unsicherheiten behaftet. Vor diesem Hintergrund führt eine Kombination aus Nachfragedruck und einem kurzfristig unelastischen Angebot zu einem Preisanstieg der metallischen Rohstoffe, der sich laut des IWF (2021) in den nächsten Jahren unter der Annahme eines Net-Zero-Szenarios für 2050 fortsetzen könnte.
Verringerte Produktion und steigende Erzeugerpreise Die bestehenden Lieferengpässe stellen das größte Hemmnis der industriellen Produktion in Deutschland dar. Dabei sind – laut Umfragen des Ifo-Instituts (Ifo 2021c) – bereits über 80 Prozent des Verarbeitenden Gewerbes von Einschränkungen betroffen, während die Auswirkungen im Dienstleistungssektor deutlich geringer ausfallen und meist auf den Faktor Arbeit begrenzt sind. Mittlerweile ist ein Großteil der industriellen Branchen / Sektoren von den genannten Engpässen betroffen. Die Auswirkungen in einigen Branchen besonders stark ausgeprägt. Dazu zählen – laut IfoStudie (Ifo 2021a) und der jüngsten Konjunkturanalyse der Europäischen Kommission (2021) – übereinstimmend: Die Automobilindustrie inkl. Zulieferer, der Maschinenbau, die Elektrotechnik inkl. Elektronische Ausrüstungen, die Metallindustrie sowie die Kunststoff- und die Chemieindustrie. In diesen Sektoren lässt sich ein eindeutiger und negativer Zusammenhang zwischen Engpässen und Wertschöpfung erkennen. Auch das Handwerk und die Bauindustrie sind von Engpässen ihrer Inputfaktoren (Holz, Kunststoffe) erheblich betroffen und können Aufträge nicht wahrnehmen.
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Branchenspezifische Engpässe* Automobilindustrie Elektriche Ausrüstung Kunststoffe und Plastik Computer, Elektronik und Optik Maschinen und Ausrüstung Verarbeitete Metalle Möbelindustrie Verarbeitendes Gewerbe Chemieindustrie Papier und -produkte Metallerzeugnisse Textilindustrie Baugewerbe Nahrung undGetränke 0
10
20
*Anteil der Nennungen in Prozent in den jeweiligen Branchen Quelle: OECD
30
40 Q3 2021
50
60
70
80
Durchschnitt 2015-2019
Die angebotsseitigen Engpässe tragen wesentlich dazu bei, dass Produktion und Auftragseingänge auseinanderklaffen. Während sich die Entwicklung der Auftragslage im laufenden Jahr als gut bis sehr gut herausstellt, ist die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes seit dem zweiten Quartal rückläufig. Würden die Engpässe auf der Angebotsseite nicht bestehen, läge die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes – laut Ifo (2021a) – und IW-Schätzungen – vermutlich in einer Größenordnung von sieben bis etwa zehn Prozent über ihrem aktuellen Niveau. Gemäß IW-Studie haben über 50 Prozent der befragten Unternehmen Produktionsausfälle von bis zu zehn Prozent zu verzeichnen, während knapp ein Viertel mit Ausfällen von über zehn Prozent konfrontiert ist. Auswirkungen in einzelnen Industriebranchen Laut einer Umfrage des ZVEI zu Liefer- und Materialengpässen vom November 2021 haben sich die Engpässe in der Elektroindustrie in den letzten drei Monaten bei 46 Prozent der befragten Unternehmen verschärft und bei weiteren 29 Prozent sogar deutlich verschärft. Der Umsatz hätte – nach Schätzung der Unternehmen – in diesem Jahr ohne Knappheiten und Logistikprobleme um bis zu zehn Prozent höher ausfallen können. Zuletzt hat sich die Lage sogar noch verschärft. Derweil ist ein rasches Ende der Knappheiten nicht in Sicht: Rund die Hälfte der Unternehmen erwartet, dass die aktuelle Situation noch bis Mitte des nächsten Jahres anhalten wird. Die andere Hälfte geht davon aus, dass die Lage auch darüber hinaus angespannt bleibt. Aktuell hinkt die Produktion der Entwicklung bei den Auftragseingängen deutlich hinterher. Gut die Hälfte der befragten Unternehmen nimmt wahr, dass die Kunden bei ihren Bestellungen überzeichnen. Bei einem Sechstel sogar in hohem Maße. Aber auch die befragten Unternehmen ordern inzwischen selbst mehr als sie benötigen, bei knapp einem Fünftel geschieht dies sogar im hohen Maße. Unter Problemen in den Lieferketten und in der Logistik leidet auch das Chemiegeschäft. Laut einer Umfrage des VCI sind nahezu alle Unternehmen hiervon betroffen, weit über die Hälfte davon sogar schwer. Aufgrund der Engpässe waren mehr als ein Drittel der Unternehmen gezwungen, ihre Produktion zu drosseln. Zehn Prozent der Unternehmen haben ihre Anlagen sogar ganz stilllegen müssen. Vor allem auf die Auftragsbearbeitung wirken sich die Engpässe aus. 70 Prozent der befragten Unternehmen können ihre Aufträge nur verzögert abarbeiten, 40 Prozent können die Aufträge gar nicht erfüllen. Eine schnelle Lösung der Lieferkettenproblematik ist in der Branche nicht in Sicht. Nur elf
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Prozent erwarten eine deutliche Entspannung der Lage im ersten Quartal. 83 Prozent der befragten Unternehmen sehen dies erst im Sommer 2022 oder noch später. Laut Gießerei-Industrie lassen sich Dauer der Einschränkungen schwierig bis unmöglich prognostizieren. Auf breiter Front gibt es nach wie vor Lieferengpässe, auch für geringwertigere Güter. Bei einzelnen Materialien (siehe Magnesium) scheint sich die Situation etwas zu entspannen, aber ob das von Dauer ist, weiß keiner. Bei der Schrottversorgung besteht eine strukturelle Veränderung auf der Nachfragerseite. Je mehr Stahlwerke aus Umweltgründen von dem Hochofen (Schrotteinsatz ca. 10-20 Prozent) auf den Elektroofen (Schrotteinsatz 100 Prozent) umstellen, desto größer wird die Nachfrage nach Schrotten. Aus metallurgischen Gründen fragen die Stahlwerke zudem zunehmend höherwertigen Schrott nach. Letztendlich hängen die Gießereien als Zulieferer an den Kunden mit deren Lieferkettenproblemen in anderen Feldern wie den Halbleitern, und müssen das ausbaden. Die Prognose, wann sich der Halbleiterengpass entspannt, ist schwierig. Es dürfte erste Entspannungseffekte im ersten Halbjahr 2022 geben können. Normalisierung eher im Jahr 2023. Laut einer Blitzumfrage bei einem Unterverband vom Wirtschaftsverband Stahl- und Metallverarbeitung rechnen 18 ¾ Prozent der Befragten mit einer merklichen Entspannung im zweiten Quartal 2022, 37 ½ Prozent im dritten Quartal 2022, 18 ¾ Prozent im vierten Quartal 2022 und 25 Prozent nicht vor Ende 2022. Der Verband der Automobilindustrie hat zwar keine eigenen Umfragen durchgeführt, sieht aber den Tiefpunkt beim Halbleiterengpass im dritten Quartal 2021. Mit Blick auf die Produktionszahlen von Oktober und November deutet der Produktionsverlauf eine langsame Verbesserung der Lage an. Die Lieferengpässe bei Halbleitern werden nach Einschätzung des VDA das ganze Jahr 2022 anhalten und frühestens 2023 auslaufen. In Deutschland wirken sich die bestehenden Engpässe in der Automobilindustrie im internationalen Vergleich besonders stark auf das BIP aus. Laut OECD (2021) wird das BIP im Jahr 2021 alleine dadurch um etwa 1,5 Prozent gedämpft. BIP*-Effekt bestehender Knappheiten in der Automobilindustrie für ausgewählte Länder 0,0
-0,5
-1,0
-1,5
-2,0
*in Prozent des jeweiligen BIP im Jahr 2021 Quelle: OECD
Auch der Maschinenbau ist – laut jüngsten Umfrageergebnissen des VDMA – erheblich von Lieferkettenproblemen betroffen. Über 80 Prozent der befragten Unternehmen berichten von merklichen oder gravierenden Beeinträchtigungen durch die bestehenden Engpässe. Als besonders
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schwerwiegend erweisen sich Zulieferengpässe von Elektrotechnik und Elektronikkomponenten. Diese Engpässe führen zu signifikanten Umsatzeinbußen: Etwa die Hälfte der Befragten geht in diesem Zusammenhang von Einbußen in einer Größenordnung von über fünf Prozent in 2021 aus. Dabei wird in den nächsten Monaten nicht mit einer schnellen Entspannung gerechnet. Knapp 40 Prozent befürchten sogar eine kurzfristige Verschärfung der Lieferkettenprobleme. Eine spürbare Verbesserung der Gesamtlage wird mehrheitlich erst in der zweiten Hälfte des kommenden Jahres erwartet. Aufgrund der kurzfristig fortbestehenden Engpässe ist damit zu rechnen, dass es erst im Laufe des kommenden Jahres zu einer langsamen Erholung der Produktion im Verarbeitenden Gewerbe kommt. Das Vorkrisenniveau wird aufgrund der sich nur schrittweise schließenden Produktionslücke vermutlich auch 2023 noch nicht wieder vollständig erreicht. Neben Deutschland sind insbesondere Länder von den Engpässen betroffen, die über einen überproportionalen Wertschöpfungsanteil der genannten Sektoren verfügen. Dazu zählen Italien, die Niederlande, Polen und Tschechien. Auch die Preissteigerungen der Roh- und Vorprodukte stellen einen weiteren gesamtwirtschaftlichen Unsicherheitsfaktor dar. Da sich die Preissteigerungen vermehrt in den Erzeugerpreisen widerspiegeln, ist damit zu rechnen, dass sich dieser Preisdruck verstärkt auf die Verbraucherpreise und die allgemeine Teuerungsrate auswirkt.
Der Handlungsspielraum der Unternehmen ist begrenzt Vor dem Hintergrund der beschriebenen Engpässe und damit verbundenen gesamtwirtschaftlichen Auswirken haben die betroffenen Unternehmen grundsätzlich einen sehr begrenzten Handlungsspielraum. Dazu zählen beispielsweise folgende Reaktionsmöglichkeiten: Reduktion der Produktion aufgrund fehlender Inputfaktoren Von dieser Option machen die Unternehmen in einer aggregierten Betrachtung bereits Gebrauch. Dies zeigt sich in einer verringerten Produktion des Verarbeitenden Gewerbes seit April 2021. Kurzfristig ist von einer weiteren Reduktion auszugehen. Deckung der Nachfrage durch Lagerbestände In Folge der rückläufigen Produktion müssen die Unternehmen auf Lagerbestände zurückgreifen, um die Nachfrage decken zu können. Indikatoren zur Lagerhaltung zeigen hier bereits historische Tiefstände an, d. h. es kann nicht mehr unbegrenzt auf Lagerbestände zurückgegriffen werden. Dies gilt insbesondere für die Automobil- und Elektroindustrie. Erhöhung der Preise für Fertigprodukte Aufgrund der Verknappung und Verteuerung der zur Verfügung stehenden Fertigprodukte und des Anstiegs der Erzeugerpreise ziehen die Unternehmen vermehrt Preisaufschläge in Erwägung. Über 50 Prozent der Unternehmen planen mindestens eine teilweise Weitergabe der Preissteigerungen an die Verbraucher, was sich letztlich auch in der allgemeinen Teuerungsrate vorübergehend niederschlagen wird.
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Quellenverzeichnis Deutsche Bank Research (2021). Störungen der Lieferketten. Deutschland Monitor. 28. September 2021. Frankfurt am Main. Europäische Kommission (2021). European Economic Forecast Autumn 2021. Brüssel. Gemeinschaftsdiagnose (2021). Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2021. Ifo-Institut (2021a). Materialengpässe in der Industrie: Wer ist betroffen und wie reagieren die Unternehmen? Ifo-Schnelldienst 9/2021. 15. September 2021 -- (2021b). Konjunkturprognose Winter 2021. München. -- (2021c). Materialmangel in der Industrie verschärft sich. Pressemitteilung – 23. Dezember 2021. Institut der Deutschen Wirtschaft – IW (2021). Anhaltende Produktionsausfälle durch fehlende Vorprodukte. IW-Kurzbericht 91/2021. 10 Dezember 2021. Internationaler Währungsfonds (2021). World Economic Outlook Oktober 2021. Washington D.C. OECD (2021). Economic Outlook December 2021. Paris. RWI (2021). RWI/ISL-Containerumschlag-Index. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamwirtschaftlichen Entwicklung (2021). Jahresgutachten 2021. Wiesbaden. Verband der Chemischen Industrie (2021). VCI Mitgliederumfrage November 2021. Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (2021). 12. VDMA Blitzumfrage Dezember 2021. Verbandsinterne Umfragen und Verbandseinschätzungen (2021).
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Impressum Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (BDI) Breite Straße 29, 10178 Berlin www.bdi.eu T: +49 30 2028-0 Autor Tim Meyer Praktikant Research, Industrie- und Wirtschaftspolitik Redaktion / Grafiken Dr. Klaus Günter Deutsch T: +49 30 2028 1591 k.deutsch@bdi.eu Marta Gancarek T: +49 30 2028 1588 m.gancarek@bdi.eu
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