WINGbusiness Heft 02 2020

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ISSN 0256-7830; 53. Jahrgang, Verlagspostamt A-8010 Graz; P.b.b. 02Z033720M

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business

Assistenzsysteme in der industriellen Wertschรถpfung

Made in Austria 2020: Einsatz von Assistenzsystemen in der รถsterreichischen Industrie 6

Digitale Assistenzsysteme in der Produktion

Mensch-RoboterArbeitssysteme effektiv gestalten 12

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Die Österreichische Vereinigung für Instandhaltung und Anlagenwirtschaft präsentiert

34. Internationaler Instandhaltungskongress

WERTSCHÖPFENDE INSTANDHALTUNG Tools, Methoden und Modelle 7. – 8. Oktober | Falkensteiner Hotel & Asia Spa Leoben Folgende Aspekte der wertschöpfenden Instandhaltung werden thematisiert: • • • • • •

Operational Excellence Instandhaltungsstrategieoptimierung Wertschöpfungsbetrachtung Zeitwirtschaft in der Instandhaltung Krisen- und Risikomanagement Wissensmanagement und Qualifizierung

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Proaktive Instandhaltung Change Management Lean Management Data Analytics Ersatzteil-Management Informationsmanagement

Der Kongress findet jedenfalls statt! Gegebenenfalls ONLINE bzw. unter den zu diesem Zeitpunkt gültigen Bestimmungen!

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EDITORIAL

Assistenzsysteme in der industriellen Wertschöpfung

Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr.techn. Siegfried Vössner Liebe Leserin, lieber Leser, wie ich und viele meiner Kolleginnen und Kollegen mit großer Freude bemerkt haben, ist die Wissenschaft wieder vermehrt ins öffentliche Interesse gerückt. Auch ganz abgesehen von Selbstdarstellungskünstlern, die sich als Experten getarnt in sozialen und öffentlichen Medien tummeln. Wissenschaft ist wieder interessant geworden und wird wieder vermehrt als wichtiger Beitrag zur Gesellschaft gesehen. Da ich dieses Interesse bei Ihnen als Leserinnen und Leser des WINGbusiness voraussetze, möchte ich Sie zu Beginn auf eine kleine wissenschaftliche Zeitreise mitnehmen. Aus den Kellergewölben einer altehrwürdigen Universität in den 90er Jahren des letzten Jahrtausends, drang zu später Stunde noch Licht. Zwei Jungforscher waren am Basteln. Wer den Uni-Betrieb kennt, weiß, dass dies meist damit endet, dass entweder die Feuerwehr kommt, weil ein Brandmelder ausgelöst wurde, ein Kurzschluss mit lokalen Konsequenzen passiert ist oder etwas Weltbewegendes erfunden wird. Damals waren die Ereignisse nicht ganz so extrem, wenn auch nicht weniger dramatisch: ein grüner Mercedes Geländewagen lag im gleißend hellen Scheinwerferlicht auf dem Dach. An der vorderen und hinteren Stoßstange wurde er von einem Forscher mit festem Griff fixiert, während der andere mit Brachialgewalt für die Antriebsmechanik ein kreisrundes Loch aus der Bodenplatte schnitt. Danach wurde das Auto noch mit Ultraschallsensoren ausgestattet und auf das Testgelände gesetzt, wo unter Vernachlässigung aller physischen Bedürfnisse (Hunger, Durst) der beiden Forscher, unzählige wissenschaftliche Versuche gefahren wurden. So etwas wie eine Ethik-Kommission gab es damals dafür nicht. Außerdem war höchste Geheimhaltung angesagt – solange nichts veröffentlicht ist. „Was macht ihr denn da eigentlich im Keller?“ fragten Kollegen und Partnerinnen. „Mit kleinen Modellautos spielen, die automatisch einparken? Wie lustig! Und wozu soll das gut sein?“ „Wir bauen ein „Fahrerassistenzsystem für autonomes Einparken!“, sagten wir stolz und ein wenig trotzig. Zwar sorgte das Paper auf der Konferenz in Anchorage, Alaska, für Aufsehen, doch mehr für die technischen Aspekte als für die Anwendung. Fünfundzwanzig Jahre später ruft der eine der beiden Freunde den anderen an: „Reinhard, hast Du Zeit für

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eine Probefahrt? Ich habe mir ein Auto mit Assistenzsystemen gekauft - und zwar eines mit einem autonomen Einparkassistenten mit Ultraschallsensoren!“ Man fährt dazu neben eine Parklücke und das Auto lenkt beim Parkvorgang dann automatisch. Aus Sicherheits- und Versicherungsgründen muss man noch selbst Gas geben und bremsen. Obwohl ich dieses „Feature“ seither nie mehr benutzt habe, war das ein sehr befriedigender Moment für uns beide. Das Einparken ist nicht die einzige menschliche Tätigkeit, die heutzutage beim Autofahren maschinell unterstützt wird. Es gibt Assistenten für das Spurhalten, das Abbiegen, das Bremsen, das Stabilisieren - wenn man gerne auf zwei Rädern fährt und anstatt mit seiner Abgasanlage die Schaulustigen beeindrucken möchte, sogar einen Assistenten für „Wheelies“ (vorerst nur bei Motorrädern). Im Schatten ihrer, im hohen Maße überschätzten, selbstgefälligen „autonomen“ und „intelligenten“ Geschwister, haben sich Assistenzsysteme konsequent zu extrem innovativen und nützlichen Systemen für Menschen in vielen Lebensbereichen entwickelt und sind an vielen Stellen bereits in unser Alltagsleben integriert. Dabei ist der Übergang zwischen Steuerungen, Regelungen und Assistenzsystemen ein historisch fließender. Wieder, wie bei so vielen Dingen, haben Visionäre bereits vor Jahrzehnten die Bedeutung solcher Assistenzsysteme erkannt. Mangels geeigneter Technologien, diese zu realisieren, blieb es oft bei futuristischen Darstellungen von Robotern und Kampfmaschinen in der Science-Fiction Literatur, wie beispielsweise in den Filmen Ironman, Matrix, etc. Assistenzsysteme, deutlich weniger martialisch als in Hollywood-Filmen dargestellt, sind auch aus realen soziotechnischen Systemen seit langem nicht mehr wegzudenken. Dies gilt besonders für moderne Produktionssysteme. Die rasante Verbreitung von Digitalisierungstechnologien, Datenverarbeitung und Analysealgorithmen der letzten Jahre, haben zusätzlich dem Bereich der Assistenzsysteme, entlang der industriellen Wertschöpfung, einen enormen Innovationsimpuls gegeben. Damit einhergehend haben sich auch viele Forschungsfragen und neue Potenziale, beispielsweise im Bereich der synergetischen Integration von Menschen und Maschinen, in diesem Bereich ergeben. Dies sind triftige Gründe, das aktuelle Heft diesem Thema zu widmen. Wir haben uns wie immer bemüht, eine Reihe interessanter Fachbeiträge für Sie zusammenzustellen. Damit möchten wir Ihnen einerseits den Stand der Technik sowie Anwendungsbeispiele darstellen und andererseits auch einige noch zu lösende Forschungsthemen vorstellen. An dieser Stelle möchte ich mich bei meinem Kollegen Prof. Dr. Sebastian Schlund und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern seiner Gruppe Human Centered Cyber Physical Production and Assembly Systems der TU-Wien, für die Unterstützung bei der Zusammenstellung dieses Heftes bedanken. Ich verbleibe im Namen des Redaktionsteams mit freundlichen Grüßen und wünsche Ihnen eine schöne und erholsame Sommerzeit, viel Freude beim Lesen und bleiben Sie gesund! Ihr Siegfried Vössner

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Top-Thema: Assistenzsysteme in der industriellen Wertschöpfung Walter Mayrhofer, David Kames, Sebastian Schlund

Made in Austria 2020: Einsatz von Assistenzsystemen in der österreichischen Industrie

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Jessica Mack, Moritz Hämmerle, Bastian Pokorni

Digitale Assistenzsysteme in der Produktion

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Heutige und zukünftige Potentiale - Erkenntnisse einer Kurzbefragung in produzierenden Unternehmen

Thomas Moser, Tanja Zigart, Gerhard Kormann-Hainzl, Helena Lovasz-Bukvova

Assistenzsysteme der Zukunft schon heute

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Aktuelle Anwendungsfälle von Mixed Reality in der Produktion

Titanilla Komenda, Mathias Brandstötter

Mensch-Roboter-Arbeitssysteme effektiv gestalten

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Potenziale der Mensch-Roboter-Zusammenarbeit zur Flexibilisierung von Arbeitssystemen

Philipp Hold, Fabian Holly

Einsatzplanung passiver Exoskelette in Produktion und Logistik

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Matthias Wolf, Sandra Siedl

Exoskelette und Demographie

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Wie Exoskelette helfen können, die Arbeitsfähigkeit zu steigern

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Inhaltsverzeichnis

EDITORIAL

Assistenzsysteme in der industriellen Wertschöpfung

CALL FOR PAPERS

Themenschwerpunkt: "Digitalisierung in der Produktion vorantreiben" in WINGbusiness 04/2020

UNINACHRICHTEN

Akute Hilfe in der COVID-19 Krise

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Hans Peter Schnöll

Martin Tschandl Was, schon 25 Jahre? Institut Industrial Management | Industriewirtschaft feiert Jubiläum

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WING-REGIONAL

Andreas Leitgeb, Georg Micheu Firmenbesichtigung EUROPLAST 42. Treffen der Wirtschaftsingenieure von Kärnten und Osttirol, 05. März 2020, EUROPLAST – Dellach im Drautal

IMPRESSUM Impressum

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TOP-THEMA

Foto: TU Wien Pilotfabrik Industrie 4.0 (c) Hanns Maier

Walter Mayrhofer, David Kames, Sebastian Schlund

Made in Austria 2020: Einsatz von Assistenzsystemen in der österreichischen Industrie Seit 2018 führt die TU Wien eine Panelbefragung zum Thema Produktionsarbeit in Österreich durch. Dabei werden allgemeine Fragen zur strategischen, operativen und wirtschaftlichen Situation produzierender Unternehmen durch spezifischere Fragen hinsichtlich der Anwendung bestimmter Technologien ergänzt. Im heurigen Jahr standen insbesondere die Anwendung von Assistenzsystemen und kollaborationsfähiger Robotik im Mittelpunkt der Befragung. Obwohl die dazugehörige Studie erst im September erscheint, werden nachfolgend einige der Ergebnisse der diesjährigen Befragung vorgestellt, an der 108 Entscheidungsträger des österreichischen produzierenden Sektors teilnahmen. Einleitung Automatisierung ist das Thema der Stunde für die Produktion. Die aktuelle COVID19-Krise und die damit einhergehenden Einschränkungen für den produzierenden Sektor führen uns eindrücklich vor Augen, wie fragil tradierte volkswirtschaftliche Annahmen sind. Eine solche ist, dass menschliche Arbeit im produzierenden Gewerbe wesentlich flexibler nutzbar ist als Automatisierung. Diese Annahme gerät vor dem Hintergrund von Abstandsregeln, Schichtkohorten und dem Risiko der Quarantäne ganzer Belegschaften im Infektionsfall aktuell massiv unter Druck. Auf der anderen Seite ist die Vollautomatisierung von Produktionsprozessen mit Ausnahme der Prozessindustrie und der Massenproduktion keine wirkliche Alternative. Dies ist seit Jahrzehnten bekannt und obwohl die Kosten und Wirtschaftlichkeitsschwellen

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im Bereich der Automatisierung kontinuierlich abnehmen, läuft der Trend der Individualisierung von Produkten und die damit verbundene Variantenvielfalt bei gleichzeitiger Reduzierung der vom Kunden akzeptierten Lieferzeiten (Stichwort: Amazon) in die entgegengesetzte Richtung. Im Resultat stiegen beispielsweise die jährlichen Verkaufszahlen für Roboter im Schnitt von 2008 bis 2018 um 13 Prozent [1], bewegen sich aber absolut auf einem immer noch niedrigen Niveau. Für Österreich betrug die Roboterdichte im Jahr 2018 175 Roboter auf 10.000 Arbeitsplätze. Vor diesem Hintergrund erscheint die seit Jahren öffentlich tobende Substitutionsangst für Industriearbeitsplätze einigermaßen irrlichternd. Die wirkliche Substitution menschlicher Arbeit verläuft viel langsamer, dafür aber tiefgreifend und führt dazu, dass die Wettbewerbsfähigkeit des österreichischen Produktions-

standortes immer noch gut ist. Seit Jahrzehnten verschiebt sich die Arbeitsteilung vom Menschen hin zu Maschinen und Algorithmen. Während aber in der Öffentlichkeit – und auch in der Forschung – regelmäßig Trends erscheinen, verschwinden und wiederauferstehen, vollzieht sich die Durchdringung von Industriearbeitsplätzen mit industriellen Assistenzsystemen weitgehend unberücksichtigt. Vor diesem Hintergrund erhebt die TU Wien einmal jährlich zentrale Aspekte der Produktionsarbeit für Österreich. Industriepanel Made in Austria Ziel des Industriepanels Made in Austria ist die regelmäßige und wissenschaftlich fundierte Darstellung der Ist-Situation von Produktionsarbeit in Österreich. Um die Zukunftserwartungen im Bereich der Produktionsarbeit in der österreichischen

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TOP-THEMA und Gewerbe zu 30 Fragen zu den Themengebieten Unternehmen, Markt, Wettbewerbsfähigkeit und Anwendung von Robotik und Assistenzsystemen

Abbildung 1: Wettbewerbsfähigkeit österreichischer Produktionsstandorte im internationalen Vergleich

Abbildung 2: Einschätzung der Bedeutung menschlicher Arbeit an österreichischen Produktionsstandorten

befragt. Um Aussagen über mittelund langfristige Entwicklungen treffen zu können (Längsschnitt-Studie), wird jedes Jahr derselbe Personenkreis in Form eines Panels befragt. An der Panelbefragung Made in Austria: Produktionsarbeit in Österreich 2020 haben 108 Vertreter_innen aus 103 unterschiedlichen österreichischen Unternehmen teilgenommen. Der Unterschied zwischen der Anzahl der Befragten und der Anzahl der Unternehmen ergibt sich durch den Umstand, dass bei vier Unternehmen Vertreter_innen für unterschiedliche Werke am Panel teilgenommen haben. Der Fokus der Untersuchung liegt auf produzierenden Unternehmen, was dadurch deutlich wird, dass bei den befragten Unternehmen etwa 55 % der Mitarbeiter_innen direkt in der Produktion oder in den produktionsnahen Bereichen tätig sind. Weiters ist anzumerken, dass die Befragung Anfang März 2020 beendet wurde und daher die eventuellen Veränderungen durch die COVID-19 Pandemie und deren wirtschaftlichen Auswirkungen noch nicht wiedergibt. Diese werden sich aber voraussichtlich im 2021er Paneldurchlauf wiederfinden. Produktionsarbeit in Österreich

Abbildung 3: Nutzung digitaler Assistenzsysteme in Produktion und produktionsnahen Bereichen im Jahr 2019 Industrie abschätzen zu können, werden Geschäftsführer_innen, Betriebs-

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leiter_innen und Produktionsleiter_ innen aus produzierender Industrie

Österreich ist im internationalen Vergleich ein Land der Sachgüterproduktion. So lag der Anteil der Sachgüterproduktion im Jahr 2019 bei 21,9 % am österreichischen Bruttoinlandsprodukt [2]. Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern liegt Österreich zwischen der Schweiz (21,0 %) und Deutschland (24,2 %) und bedeutend über dem EU-Durchschnitt von 18,8 %. Unter den Begriffen ‚Industrie 4.0‘ bzw. ‚Industrial Internet of Things‘ ist seit einigen Jahren die zukunftsgerechte Gestaltung der Sachgüterproduktion wieder verstärkt ins Interesse einer breiteren Öffentlichkeit

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TOP-THEMA aber immer noch als überwiegend gut angesehen wird. Bedeutung menschlicher Arbeit in der Produktion

Abbildung 4: Art der eingesetzten Assistenzsysteme

Abbildung 5 Einsatz von kollaborationsfähigen Leichtbaurobotern

Abbildung 6: Gründe für den Einsatz kollaborationsfähiger Roboter gerückt. Aktuell erlebt die Produktion eine Modernisierungswelle und auch die Entwicklungen rund um COVID-19 rücken das Thema Automatisierung und die Rückverlagerung von Produktion zur Vereinfachung der

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Versorgungsketten in den Blickpunkt der Betrachtung. Dabei zeigt sich, dass die Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Produktionsstandorte im zweiten Jahr der Befragung zwar etwas schlechter als im Vorjahr,

Der Faktor Automatisierung spielt für die positive Beurteilung der Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Standorte eine bedeutende Rolle. Entgegen der Erwartung wird aber auch der menschlichen Arbeit in der Produktion in Österreich noch immer eine besondere Bedeutung (siehe Abbildung 2) zugeschrieben: Trotz einer leichten Verschiebung von sehr großer zu großer Bedeutung sind noch immer fast 95 % der PanelteilnehmerInnen der Ansicht, dass menschliche Arbeit in der Produktion eine zentrale Rolle spielt. Spannend bleibt hierbei die Frage, wie sich diese Einschätzung in Hinblick auf die aktuelle Pandemie im Vergleich zum kommenden Jahr entwickelt. Eine moderne Produktion, die neue Assistenzsysteme mit einer qualifizierten Arbeitskraft vereint, kann die Vorteile der Automatisierung mit der Flexibilität der manuellen Fertigung kombinieren. Die Bedeutung der menschlichen Arbeit könnte demnach wieder steigen, vor allem wenn es tatsächlich zu einer Rückkehr der Produktion und Montage nach Europa und Österreich kommt. Andererseits existiert dazu auch die Gegenhypothese, dass die Flexibilität menschlicher Arbeit durch die aktuellen Zugangs- und Arbeitseinschränkungen stark reduziert wird und dadurch ein neuer Automatisierungsschub entsteht. Hohe Automatisierung bedingt auch eine hohe Qualifikation der MitarbeiterInnen um die technologischen Herausforderungen zu meistern. Daher war eine der Fragen an das Panel die Einschätzung hinsichtlich des Qualifikationsniveaus der Mitarbeiter am Standort Österreich, welches von 97 % der StudienteilnehmerInnen als gut bis sehr gut beurteilten. Dies ist auch als gute Grundlage für den erfolgreichen und effizienten Einsatz von Automatisierungstechnik und digitalen Assistenzsystemen im produzierenden Sektor zu werten.

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TOP-THEMA

Abbildung 7: Art der Zusammenarbeit von Mensch und Leichtbauroboter

schirmbasierte und mobile Systeme, während projektionsbasierte Systeme (Spatial Augmented Reality) sowie Augmented und Virtual Reality-Geräte (v.a. Brillen) mit einem Einsatz bei etwa einem Fünftel der Unternehmen noch eine untergeordnete Bedeutung besitzen (diese Frage erlaubte Mehrfachnennungen). Neben den vorgegebenen Antwortmöglichkeiten wurde bei 2,4 % der befragten ein Supervisory Control and Data Acquisition (SCADA) System genannt. Insgesamt ist der Einsatz von digitalen Assistenzsystemen an österreichischen Produktions- und Montagearbeitsplätzen auf dem Weg zur Standardausstattung. Einsatz kollaborationsfähiger Robotik

Abbildung 8 Einsatz von Machine Learning in der Produktion

Abbildung 9: Einsatz von Algorithmen des maschinellen Lernens Einsatz von Assistenzsystemen Der Einsatz digitaler Assistenzsysteme hat mit einem Anteil von über

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80 % inzwischen ein sehr hohes Niveau erreicht. Bei der Art der eingesetzten Assistenzsysteme dominieren bild-

Nicht zuletzt aufgrund der sinkenden Kosten hat der Einsatz von kollaborationsfähigen Leichtbaurobotern in den letzten Jahren zugenommen. Entgegen dieses Trends war in der diesjährigen Panelbefragung beim Einsatz kollaborativer Roboter fast über alle Antwortkategorien ein Rückgang bemerkbar, welcher eine gewisse Ernüchterung über die tatsächlich zu erwartenden praktischen Einsatzmöglichkeiten vermuten lässt (oder aber auch mit einer geringfügigen Änderung der Stichprobe zusammenhängen kann). Eine mögliche Erklärung für diese Entwicklung liefern die Beweggründe kollaborationsfähiger Roboter (siehe Abbildung 6). Bei dieser Frage kommt der Pioniergeist der österreichischen Industrie zum Vorschein. So gaben 30,3 % der Teilnehmer die „Erprobung neuer Technologien (Forschung und Innovation)“ als einen der Hauptgründe des Einsatzes an. Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiter, mit welcher die Leichtbaurobotik häufig umworben wird, motiviert die Unternehmen zur Anschaffung und liegt mit 29,3 % sogar knapp vor der Erhöhung der Wirtschaftlichkeit mit 28,3 %. Auf den ersten Blick überraschend ist hingegen, dass die Erhöhung der Flexibilität nur eine geringfügige Rolle spielt. Eine mögliche Erklärung dafür liefert die nächste Frage, die den Unternehmen

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TOP-THEMA mit 38,75 % der Nennungen, knapp gefolgt von Logistik mit 35,5 % und Instandhaltung mit 32,3 % dem Bereich Montage mit 22,6 %. Einsatz digitaler Lernassistenzsysteme

Abbildung 10 Einsatz von digitalen Lernassistenzsystemen gestellt wurde. Hier wurden die Unternehmensvertreter nach der Art der umgesetzten Zusammenarbeit zwischen Mensch und Leichtbauroboter gefragt. Mit 11 % werden die meisten kollaborationsfähigen Roboter in Koexistenz genutzt und 9,3 % nutzen diese synchronisiert. Weiters gaben nur 7,1 % der Befragten an, dass die Leichtbauroboter auch in kollaborativen Prozessen eingesetzt werden, bei welchen der Roboter mit dem Arbeiter zeitgleich an einem Werkstück ohne räumliche oder zeitliche Trennung arbeiten kann. Die Ergebnisse in Abbildung 7 zeigen, dass die Flexibilitätsmöglichkeiten des Einsatzes von Leichtbaurobotern nicht entsprechend genutzt werden. Die Zeit des „Einsperrens“ von Robotern hinter Gittern scheint zwar vorbei zu sein, trotzdem werden Leichtbauroboter noch immer sehr restriktiv eingesetzt. Diese Beschränkungen entstehen in der Regel durch die Notwendigkeit der Zertifizierung der Anwendung von kollaborationsfähigen Robotern. Diese sind zwar für die Zusammenarbeit mit menschlichen ArbeiterInnen ausgelegt und mit allen notwendigen Sensoren ausgestattet, allerdings ist es für konkrete Anwendungen notwendig die neuen Risiken zu bewerten. So kann ein kollaborationsfähiger Roboter zwar als personensicher zertifiziert sein, wird aber gefährlich, wenn Teile mit scharfen Kanten manipuliert werden oder er im Augenbereich operiert. Um den Roboterprozess möglichst sicher zu gestalten, muss daher jeder Einsatzfall zertifiziert werden, was den flexiblen Einsatz erschwert.

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Einsatz von Algorithmen des maschinellen Lernens Mit der intensiven Vernetzung von Maschinen, Sensoren und Menschen entstehen hohe Datenmengen die bewältigt und genutzt werden müssen. Aus diesem Grund wurde auch die Frage nach der Nutzung von Algorithmen des maschinellen Lernens in die Befragung aufgenommen. Auch hier lässt sich ein minimaler Rückgang feststellen. Der Einsatz bei knapp einem Drittel der befragten Unternehmen zeigt, dass diese Technologie den Einzug in die heimische Industrie geschafft hat. Weiters wurden die Bereiche abgefragt, in denen die Algorithmen des maschinellen Lernens eingesetzt werden. Hier dominierten die Bereiche Qualitätsmanagement, Produktionsplanung/ -steuerung und Fertigung

Aufgrund des in den letzten Jahren vorherrschenden Arbeitskräftemangels und hoher Fluktuationsraten bei den ArbeitnehmerInnen, kommt dem Thema der arbeitsplatznahen Ausund Weiterbildung ein immer stärker werdendes Interesse entgegen. Interaktive digitale Lernassistenzsysteme unterstützen beim „Training on the Job“ und sollen die Einschulung und Weiterbildung der MitarbeiterInnen schneller, effizienter und zielgenauer gestalten. Bei 40,8 % der befragten Unternehmen werden digitale Lernassistenzsysteme für arbeitsplatznahes Lernen in der Produktion und in Produktionsnahen Bereichen eingesetzt. Bei 57,5 % der befragten Unternehmen, die interaktive digitale Lernassistenzsysteme für arbeitsplatznahes Lernen einsetzen, werden diese in der Fertigung verwendet. Die Hälfte der Teilnehmer nutzt die Systeme im Qualitätsmanagement und in der Instandhaltung. Weitere Bereiche waren die Produktionsplanung sowie Produktionssteuerung mit 37,5 % und Montage mit 35 %. Conclusio/ Ausblick Industrielle Assistenzsysteme gehören mittlerweile zum Standard in öster-

Abbildung 11: Einsatz digitaler Lernassistenzsysteme nach Bereichen

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TOP-THEMA reichischen Produktionsunternehmen. Die Ergebnisse des Industriepanels „Made in Austria 2020“ der TU Wien zeigen deutlich, dass digitale Assistenzsysteme in fast allen, kollaborationsfähige Roboter in circa der Hälfte und Algorithmen des maschinellen Lernens in einem Drittel der Unternehmen zum Einsatz kommen. Im Vergleich zur ersten Auflage des Panels hat sich der Einsatz nur geringfügig verändert. Neu hinzugekommen ist die Auswertung arbeitsplatznaher Lernassistenzsysteme. Diese werden bereits von mehr als 40 % der befragten Unternehmen genutzt. Vor dem Hintergrund der weiter fortschreitenden Automatisierung und Digitalisierung ist ein weiterer Anstieg zu erwarten. Gleichzeitig sind die Folgen der aktuellen COVID19-Krise noch nicht hinreichend absehbar, sodass wir mit Interesse der nächsten Auflage des Panels für den Jahreswechsel 2020/21 entgegensehen. Quellen. [1] International Federation of Robotics (IFR) Executive Summary World Robotics 2019 Industrial Robots https://ifr. org/downloads/press/Executive_Summary_WR_2017_Industrial_Robots.pdf [2] EUROSTAT Gliederung des Bruttoinlandsprodukts und Einkommens nach A*10 Wirtschaftsbereichen, aktualisiert am 25.05.2020

Autoren: Dipl.-Ing. Dr. Walter Mayrhofer, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsbereich Mensch-Maschine Interaktion (BMK Stiftungsprofessur für Industrie 4.0) des Instituts für Managementwissenschaften der TU Wien. Zuvor war er Forschungsbeauftragter des Landes Burgenland, Geschäftsführer der FTI Burgenland GmbH und Forschung Burgenland GmbH sowie als Forschungsleiter der Fachhochschule Burgenland und

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Fraunhofer Austria (Geschäftsbereich Produktion und Logistik) tätig. In seiner Forschu ngst ät ig keit beschäftigt er sich mit Assistenzsystemen in Produktion und Montage, insbesondere mit technologieunterstütztem Lernen in hochautomatisierten Umgebungen. David Kames ist studentischer Mitarbeiter im Forschu ngsbereich Mensch-Maschine Interaktion (BMK Stiftungsprofessur für Industrie 4.0) des Instituts für Managementwissenschaften der TU Wien. In seiner Tätigkeit am Institut beschäftigt er sich mit Assistenzsystemen in der Produktion und der Durchführung, sowie der Auswertung des Panels und der Studie „Made in Austria“. Vor seiner derzeitigen Tätigkeit war er Mitarbeiter im Innovationsmanagement der Firma TÜV Austria. Univ.-Prof. Dr.-Ing. Sebastian Schlund ist seit 2017 BMK-Stiftungsprofessor für Industrie 4.0 an der Technischen Universität Wien und leitet dort den Forschungsbereich Mensch-Maschine-Interaktion am Institut für Managementwissenschaften (IMW). Seit dem 01.07.2019

Dipl.-Ing. Dr. Walter Mayrhofer wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsbereich Mensch-Maschine Interaktion, Institut für Managementwissenschaften, TU Wien

David Kames studentischer Mitarbeiter im Forschungsbereich MenschMaschine Interaktion, Institut für Managementwissenschaften, TU Wien

Univ.-Prof. Dr.-Ing. Sebastian Schlund Leiter Forschungsbereich Mensch-Maschine-Interaktion am Institut für Managementwissenschaften, TU Wien verantwortet er zusätzlich den Geschäftsbereich „Advanced Industrial Management“ bei der Fraunhofer Austria Research GmbH. Er forscht und lehrt im Themenbereich digital und automatisiert unterstützter Arbeitsgestaltung in der Produktion mit den Schwerpunktthemen Assistenzsysteme, Arbeitsorganisation, MenschMaschine-Partnership, Montageplanung und Kompetenzentwicklung/ Lernen.

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TOP-THEMA

Foto: © Fraunhofer IAO/ Ludmilla Pasyak

Jessica Mack, Moritz Hämmerle, Bastian Pokorni

Digitale Assistenzsysteme in der Produktion Heutige und zukünftige Potentiale - Erkenntnisse einer Kurzbefragung in produzierenden Unternehmen Einleitung Ein digitales Assistenzsystem kann bei der Informationsbeschaffung und -aufbereitung, bei der Entscheidungsfindung sowie bei der Durchführung von Arbeitsaufgaben und der Koordination von Menschen, Maschinen, Prozessen und Produkten unterstützen [1]. Gegenwärtig kommt eine große Anzahl von cyberphysischen Systemen auf den Markt, die auch in den produzierenden Unternehmen Einzug halten [2]. In diesem Beitrag wird diskutiert, welche Technologien für Forschung und Unternehmen besonderes Potenzial haben. Anhand einer Kurzstudie wurde der momentane Einsatz digitaler Assistenzsysteme in der Produktion festgestellt und die Zukunftsperspektiven herausgearbeitet. Technologieüberblick im Future Work Lab Das Future Work Lab (FWL) ist ein Projekt, das vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisa-

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tion IAO und dem Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA aus Stuttgart, Deutschland geführt wird. Das größte deutsche Innovationslabor rund um die Schlüsselfaktoren Arbeit, Mensch und Technik wurde aufgebaut, um Unternehmen, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zum Thema Zukunft der Arbeit zu informieren, zu inspirieren und zu beraten. Um dies zu erreichen, ist das Projekt in drei Bereiche unterteilt, die eng miteinander verbunden sind. So gelingt ein umfassender Wissens- und Technologietransfer für alle interessierten Parteien. Hierzu gehört, neben der Lern- und Ideenwelt, die Demonstratorenwelt mit seinen rund 50 aktuellen und innovativen Arbeitsplatzkonzepten rund um das Thema Digitalisierung/Industrie 4.0 [3]. Im Kontext der Industrie 4.0 spielen Assistenzsysteme eine entscheidende Rolle zur Einbindung des Menschen in Smarte Fabriken. Dabei ist die technische Auswahl, die Gestaltung und die Einsatzform von digitalen Assistenzsystemen jedoch

noch kaum beforscht. Um hier einen systematischen Einblick in die Bedarfe der Unternehmen zu bekommen und die größten Potenziale im Bereich digitaler Assistenzsysteme festzustellen, wurde 2019 die Umfrage „Potenziale digitaler Assistenzsysteme“ vom Fraunhofer IAO initiiert [4]. Ausgangslage und Problemstellung Die Herausforderungen, die derzeit auf Unternehmen wirken, sind vielfältig: Demografischer Wandel, Diversity, Globalisierung, Anforderungen an Flexibilität, um individuelle Kundenwünsche und Liefertermine zu bedienen – das sind Themen, welchen mittelständische Unternehmen und Großkonzerne heute und in Zukunft erfolgreich gestalten müssen [5]. Digitale Assistenzsysteme bieten für Unternehmen einen skalierbaren Einstieg in die Digitalisierung und ermöglichen die Einbindung der Mitarbeitenden in digitalisierte Arbeitsprozesse, was hilft einige der anstehenden Herausforderungen erfolgreich zu meistern. Der Vorteil ist,

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TOP-THEMA dass die Investitionen und die Veränderungen durch die Assistenzsysteme besonders variabel gestaltet werden können. Die Herausforderung bei der Umsetzung von Assistenzsystemen besteht darin, das richtige Assistenzsystem für das jeweilige Unternehmen, seine Prozesse und die jeweilige Aufgabe zu finden [6].

gitalen Assistenzsysteme zu bewerten und von gemachten Fehlern zu lernen. Die hier behandelten digitalen Assistenzsysteme unterstützen sensorisch und/oder kognitiv. Die nachfolgende Tabelle 1 zeigt die drei Arten von digitaler Assistenz, die im folgenden Beitrag auf ihre Potenziale hin näher betrachtet werden [8].

Ziel der Studie ist es zum einen eine Momentaufnahme über den Status Quo in Bezug auf die Nutzung digitaler Assistenzsysteme zu erhalten und zum anderen die zukünftigen Potenziale zu ermitteln. Das Konzept der Umfrage stützt sich auf die eigensetzte Technologie, den Anwendungsbereich und Zweck der jeweiligen Technologie. So werden in der Momentaufnahme sowie in der darauffolgenden Zukunftsabschätzung stets die (potenziell) eingesetzten Technologien abgefragt, in welchem Unternehmensbereich diese eigesetzt werden und welche Aktivität z. B. »Lernen und Einüben«, dabei unterstützt werden.

Heutige Potenziale digitaler Assistenzsysteme

Definition digitaler Assistenzsysteme Bei der Einführung digitaler Assistenzsysteme sind die Beschäftigten in ihrem Arbeitsprozess unter anderem weitreichenden Veränderungen unterworfen. Derzeit entstehen vielerlei Anwendungen und Systeme, die unter anderem die Qualifikation, Qualität und/oder Produktivität unterstützen. Der tatsächliche Nutzen wird nur in einzelnen Fällen öffentlich kommuniziert, viele Erfolge und Misserfolge verbleiben in den Unternehmen [7]. Außenstehenden Anwendern oder Anbietern fällt es somit schwer die Potenziale der unterschiedlichen di-

Zu Beginn der Befragung wurde ermittelt, wie viele der teilnehmenden Unternehmen bereits digitale Assistenzsysteme nutzen oder über deren Einsatz nachdenken. Die Ergebnisse sind sehr unterschiedlich, fast ebenso viele Unternehmen erwägen (32 Prozent) oder nutzen Assistenzsysteme (36 Prozent). 15 Prozent der 123 Befragten haben konkrete Pläne für den Einsatz. Besonders relevant für die Umsetzungspläne ist die Motivation des Einsatzes digitale Assistenzsysteme. Hierzu wurde die Frage „Was versprechen Sie sich vom Einsatz digitaler Assistenzsysteme?“ gestellt (N = 119). Vier von fünf der teilnehmenden Unternehmen hoffen auf eine höhere Produktivität durch digitale Assistenzsysteme. Prozesskontrolle, Produktqualität und Wirtschaftlichkeit sind weitere wichtige Eigenschaften, die sich Anwender versprechen. Etwas seltener wurden die mitarbeiterbezogenen Kriterien ausgewählt. Beispielsweise fokussieren nur rund 40 Prozent der Unternehmen eine höhere Zufriedenheit der Mitarbeitenden bei der Einführung. Die Kon-

trolle der Mitarbeitenden spielt kaum eine Rolle. Die Frage wurde sowohl Anwendern als auch achtzehn Anbieterunternehmen von digitalen Assistenzsystemen gestellt. Die Einschätzungen der Anbieter von digitalen Assistenzsystemen, decken sich größtenteils mit den Angaben der Anwender. Anbieter gaben jedoch häufiger als ihre Kunden an, dass diese sich eine höhere Wirtschaftlichkeit (+ 13 Prozent) und eine Unterstützung bei der Qualifikation von Mitarbeitenden (+ 8 Prozent) wünschen. Nutzen digitaler Assistenzsysteme Neben dem generellen Einsatz von digitalen Assistenzsystemen wurde innerhalb der Umfrage auch detailliert auf die verwendeten Technologien, den Einsatzbereich und die Einsatzaufgabe eingegangen. Es wurden die vier Einsatzbereiche Fertigung, Montage, Instandhaltung und Logistik definiert. Für die Abfrage wurden acht Technologien ausgewählt, die bereits stärker in Unternehmen und auch in den Demonstratoren des Future Work Labs präsent sind. Diese sind Virtual Reality (VR) [9], Augmented Reality (AR) [10], Condition Monitoring [11], Radio Frequency Identification (RFID) [12], Picking Technologien, Bildverarbeitung [13], Visualisierung und Positionserkennung. Auf Basis der Einsatzbereiche und der Technologien wurde in Abb. 1 eine Matrixabfrage durchgeführt. Ziel dieser komplexen Fragemethode war es, die Technologien und die Einsatzbereiche in einen Zusammenhang zu bringen, um ihre Potenziale für den konkreten Einsatz zu ermitteln.

Tabelle 1: Arten digitaler Assistenzsysteme

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TOP-THEMA Prozent) und Picking Technologien (56 Prozent) sowie RFID (42 Prozent) unterstützt Die Kontrolle durch digitale Assistenzsysteme lässt sich laut der befragten Unternehmen heute besonders gut durch Bildverarbeitung (57 Prozent), Condition Monitoring (48 Prozent) und RFID Technik (42 Prozent) realisieren. Bei dieser Frage war es zudem möglich, die Option »keinen Einsatz geplant« für die acht Technologien anzugeben. Dieses Feld wurde von den befragten Unternehmen am häufigsten bei der VR- (50 Prozent) und AR-Technologie (36 Prozent) gewählt. Kauf- und Einführungskriterien der Unternehmen

Abb.1: In welchen Unternehmensbereichen kommen folgende Technologien bei Ihnen als digitale Assistenzsysteme zum Einsatz bzw. ist deren Einsatz geplant? (N = 119) Die AR-Anwendungen werden am meisten in der Montage und der Instandhaltung genutzt – jeweils von jedem dritten befragten Unternehmen. Auch das Condition Monitoring findet erwartungsgemäß hauptsächlich in der Fertigung seinen Einsatz. Jedes zweite Unternehmen nutzt bereits Picking-Technologien in der Logistik und ebenfalls verstärkt in der Montage. Fast kein Unternehmen verzichtet auf die Visualisierung von Inhalten am Arbeitsplatz und setzt dies vermehrt in der Montage ein, was gleichzeitig mit 67 Prozent die höchste Ausprägung der Befragten bei dieser Frage ist. Neben der Matrixabfrage welche Technologien in welchem Einsatzbereich Verwendung finden, wurde eine weitere Matrixfrage zu der heutigen Einsatzaufgabe digitaler Assistenzsysteme gestellt. Die dabei festgelegten Einsatzaufgaben sind: [14] Informationssammlung, z.B. Maschinendatensammlung

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Lernen und Einüben, z.B. Schrittfür-Schritt-Lernvideos für Montagevorgänge Entscheidungshilfe, z.B. Anzeige aktueller Produktionskennzahlen Assistenz bei der Ausführung, z.B. Aufgabenbewältigung anhand einzelner visualisierter Arbeitsschritte Kontrolle, z.B. Zustandskontrolle über Sensoren Ergebnis dieser Frage ist, dass Condition Monitoring stark zur Informationssammlung eingesetzt wird (50 Prozent). Weitere besonders stark ausgeprägte Ergebnispaare sind: Lernen und Einüben durch digitale Assistenz im Zusammenhang mit VR (29 Prozent) und Visualisierungstechnologien (59 Prozent) Besonders geeignet zur Entscheidungshilfe ist die Visualisierung von relevanten Informationen (43 Prozent) Ausführung von Tätigkeiten werden durch Visualisierungs- (59

Vorangehend wurden die allgemeinen Potenziale digitaler Assistenzsysteme in den Einsatzbereichen und deren Einsatzaufgabe besprochen. Nicht immer lässt sich dadurch direkt das Einsatzpotenzial ableiten. Hierfür wurden die teilnehmenden Unternehmen nach den aktuellen Kaufkriterien digitaler Assistenzsysteme gefragt, gefolgt von den Hemmnissen. Diese Abfrage bezog die unternehmenseigenen Gegebenheiten mit ein. Die Auswertung enthält nur die Antworten von Unternehmen, die einen Einsatz in Erwägung ziehen, bzw. bereits Assistenzsysteme im Einsatz haben. Umfrageteilnehmer, die keinen Einsatz geplant haben, sind in diese Auswertung nicht eingeflossen (siehe Abb. 2). Im Ergebnis ist eine hohe Kompatibilität zu bestehenden Anlagen sehr bedeutend für den Kauf eines digitalen Assistenzsystems. Ergonomie spielt bei der Anschaffung eine wichtige Rolle. Die Möglichkeit zur Datensammlung und -analyse ist mit 75 Prozent ebenfalls als sehr wichtig bewertet worden. Hier spielt der Gedanke an Big Data eine tragende Rolle (siehe Abb. 3). Bei der vorherigen Frage nach den Kaufkriterien spielt das Preis-Leistungs-Verhältnis eine untergeordnete Rolle, bei den Hemmnissen sind die hohen Kosten jedoch Hemmnis Nr. 1. Dieses Ergebnis ist darauf zurückzuführen, dass auch die teilnehmenden Unternehmen ohne geplanten Einsatz zu den Hemmnissen befragt wurden.

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Abb. 2: Welche Kaufkriterien für digitale Assistenzsysteme sind für Sie von Bedeutung? (N = 91) Jedes zweite teilnehmende Unternehmen gibt an, dass die technischen Voraussetzungen (noch) nicht gegeben sind. Die Probleme der Technologieadaption könnten hierfür eine Ursache sein, wo »meist nicht die Verfügbarkeit neuer technologischer Konzepte problematisch ist, sondern die interne Diffusion der neuen Technologien im Unternehmen«[15]. Eine weitere wichtige Hürde ist die Akzeptanz der Mitarbeitenden. 43 Prozent der Anwender sehen dies als Hemmnis, unter den achtzehn Anbietern sind es 65 Prozent. Digitale Transformation gelingt nur, wenn Ängste und Emotionen der Mitarbeitenden bei der Einführung digitaler Assistenzsysteme ernst genommen werden [16].

Potenzialen in der Instandhaltung sichtbar wird. Der Einsatzzuwachs von VR-Anwendungen wurde von 20 Prozent heute auf 53 Prozent zukünftig geschätzt. Obwohl heute nur jeder

fünfte Virtual Reality in der Instandhaltung einsetzt, vermutet jeder zweite der Befragten einen zukünftigen Anstieg dessen. Visualisierung und AR-Anwendungen werden nach Meinung der Befragten in Zukunft dominieren. Im Bereich der Instandhaltung ist die größte Zunahme von AR-Anwendungen zu sehen (65 Prozent). Erste Service-Leistungen im Produktionsumfeld können heute bereits mit der Datenbrille durchgeführt werden [17]. Aber auch in den restlichen abgefragten Einsatzbereichen sehen die teilnehmenden Unternehmen einen großen Zuwachs, was für die Technologie und deren Einsatz in Zukunft spricht. RFID-gestützte Technologien sollen künftig in den Einsatzbereichen Fertigung, Montage und Logistik zunehmen. Vor allem in der Fertigung sehen fast 80 Prozent einen Zuwachs des Einsatzes. Bezogen auf die Bereiche ist der größte Zunahme an digitaler Assistenzsysteme in der Fertigung und Montage zu erwarten. Hier können Mitarbeitende ideal unterstützt werden und papierbasierte Prozesse digitalisiert werden.

Zukünftige Entwicklungen Neben der Ist-Aufnahme wurde in einem zweiten Teil der Befragung nach der zukünftigen Entwicklung der einzelnen Technologien, synonym zu der Auswertung in Abb. 1, durchgeführt. Die detaillierte Auswertung finden sich in der publizierten Studie [4]. Die wichtigsten Erkenntnisse daraus sind, dass bei den VR-Anwendungen der größte Unterschied zwischen den heutigen und zukünftigen

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Abb. 3: Gibt es aktuell Hemmnisse, die einer Anschaffung (weiterer) digitaler Assistenzsysteme im Wege stehen? Frage für Anbieter: Hemmnisse Ihrer Kunden (N = 128, Anbieter N = 18)

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TOP-THEMA Ausblick Die Auswertungen der heutigen und zukünftigen Potenziale zeigt, dass zwar Tendenzen erkennbar sind, welche Technologie in welchem betrieblichen Einsatzbereich ihre Potenziale hat, eine eindeutige Zuordnung der einzelnen Technologien und ihrer Einsatzmöglichkeiten ist jedoch nicht gegeben. Umso wichtiger ist es für Forschung und Praxis hier die passende Unterstützung zu leisten. Erworbenes Knowhow und Erfahrungen sollten innerhalb von Workshops und Projekten kommuniziert und stetig weiterentwickelt werden. Die Studienergebnisse können hierbei als Entscheidungsgrundlage dienen. Moderne Methoden des Projektmanagements auf SCRUM Basis können Anbietern sowie Anwendern von digitalen Assistenzsystemen die Möglichkeit bieten, schneller erfolgreiche Einführungen zu erzielen. Das Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation setzt seit 2014 erfolgreich eine Methodik zur Potenzialanalyse, dem schnellen Prototypenbau, sowie der ganzheitlichen Einführung von neuen Technologien und agilen Organisationsformen in Industrieunternehmen ein. Das Vorgehen beinhaltet u.a. die partizipative Projektgestaltung mit betroffenen Mitarbeitenden und dem iterativen Projektansatz aus SCRUM [18]. Studiendesign Für die Umfrage wurde ein anonymer Online-Fragebogen in LimeSurvey erstellt, der an produzierende Unternehmen verschickt und in verschiedenen Newslettern beworben wurde. Innerhalb des Fragebogens gibt es eine Aufteilung der Fragen für (potentielle) Anwender und (potentielle) Anbieter von digitalen Assistenzsystemen. Die Umfrage umfasste 17 Fragen und wurde über einen Zeitraum von zwei Monaten freigeschalten. Es nahmen 144 Personen teil. 125 der teilnehmenden Unternehmen waren (potentielle) Anwender digitaler Assistenzsysteme. Die Hälfte der teilnehmenden Unternehmen gehörte dem Maschinen- und Anlagenbau oder der Automobilindustrie an. 9 Prozent der Teilnehmer waren Unternehmensleiter, 40 Prozent Leiter einer Ge-

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schäftseinheit und 51 Prozent nichtleitende Angestellte. Die Mehrheit von 68 Prozent der Befragten kam aus den Bereichen Produktion, Montage, Logistik, Industrial Engineering und Arbeitsvorbereitung. References 1 Kagermann, H., Wahlster, W. and Helbig, J., eds. (2012) Deutschlands Zukunft als Produktionsstandort sichern - Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0. Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie 4.0, Berlin 2 Spath, D., ed. (2013) Produktionsarbeit der Zukunft - Industrie 4.0. [Studie], Fraunhofer-Verl., Stuttgart 3 Findeisen, S., Körting, L., Schumacher, S., Eusterwiemann, T., Hämmerle, M. and Pokorni, B. (2019) Classification Approach for Use Cases Within a Demonstration Factory Environment. Procedia Manufacturing 39, 106–116 4 Klapper, J., Hämmerle, M., Pokorni, B., Gelec, E. and Rothenberger, R. (2019) Potenziale digitaler Assistenzsysteme. Aktueller und zukünftiger Einsatz digitaler Assistenzsysteme in produzierenden Unternehmen, Stuttgart 5 Adenauer, S. Leistungsfähigkeit im Betrieb. Kompendium für den Betriebspraktiker zur Bewältigung des demografischen Wandels, pp. 9–18 6 Merazzi, J. and Friedel, A. Einteilung und Bewertung von Montageassistenzsystemen. In ZWF Zeitschrift für wirtschaftlichen Fabrikbetrieb, pp. 413–416 7 Greif, S., Runde, B., Seeberg, I., Hergenhahn, S. and Grothmann, T. (2001) ERFOLG UND MISSERFOLG VON VERÄNDERUNGSPROJEKTEN. Abschlussbericht des BMBF-Projekts Erfolge und Misserfolge von Veränderungen 8 Deutschland. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, ed. (2018) Forschungsbericht / Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Referat L P 3, Bonn : Bundesministerium 9 Stahl, T., Völter, M., Efftinge, S. and Haase, A., eds. (2012) Modellgetriebene Softwareentwicklung. Techniken, Engineering, Management, dpunkt.verlag, s.l. 10 Kruse Brandão, T. and Wolfram, G., eds. (2018) Digital Connection. Die bessere Customer Journey mit smarten Technologien - Strategie und Praxisbeispiele, Springer Fachmedien Wiesbaden, Wiesbaden 11 Lin, M. (2018) Augmented Reality – The Next Big Thing. https://imbstudent.

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Autoren: Jessica Mack, M.Sc. geb. 1988, ist Wirtschaftsingenieurin und seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Team „Vernetzte Produktionssysteme“ am Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation. Die Schwerpunkte ihrer Arbeit liegen in der Potenzialbewertung und Einführung cyberphysischer Systeme in der Produktion und produktionsnahen Bereichen. Moritz Hämmerle Dr. Moritz Hämmerle, geb. 1983, leitet als Institutsdirektor am Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und

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TOP-THEMA Organisation IAO den Forschungsbereich „Cognitive Engineering and Production“. Zudem leitet er das Future Work Lab in Stuttgart, Deutschlands größtes Innovationslabor für Produktionsarbeit und Industrie 4.0.

Jessica Mack, M.Sc. wissenschaftliche Mitarbeiterin im Team „Vernetzte Produktionssysteme“ am Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation

Bastian Pokorni, M.Sc. Bastian Pokorni, geb. 1985, leitet die Abteilung „Vernetzte Produktionssysteme" am Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf der menschenzentrierten Gestaltung von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz im Produktionsumfeld.

Dr. Moritz Hämmerle

Bastian Pokorni, M.Sc. Leiter Abteilung „Vernetzte Produktionssysteme" am Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation

Forschungsbereichsleiter Cognitive Engineering and Production am Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation

Call for Papers Themenschwerpunkt: "Digitalisierung in der Produktion vorantreiben" in WINGbusiness 04/2020 Für die Dezember-Ausgabe 2020 laden wir Sie wieder herzlich ein, Beiträge einzureichen, diesmal zum Themenschwerpunkt „Digitalisierung in der Produktion vorantreiben“. Der Reifegrad, aber auch der Nutzen der Digitalisierung sind branchen- und unternehmensspezifisch unterschiedlich. Von Interesse sind daher Beiträge zu Forschungstätigkeiten und Projekten, in denen Sie

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technologische, (intra-)logistische oder Management-bezogene Konzepte und/ oder Beispiele erläutern, wie Digitalisierung in der produzierenden Wertschöpfungskette, inklusive Dienstleistungen, forciert werden kann. Zwei Arten von Beiträgen sind möglich: Fachartikel unter Einbindung von Praxiserfahrungen

Wissenschaftliche Beiträge in Form eines WING-Papers mit Reviewverfahren. Die Ergebnisse des Reviewverfahrens erhalten Sie 4-8 Wochen nach der Einreichfrist. Bitte senden Sie Ihre Beiträge als PDF an office@wing-online.at. Annahmeschluss: 01.09.2020

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Titelbild: © istockphoto.com; Fotos: © FH St. Pölten

Thomas Moser, Tanja Zigart, Gerhard Kormann-Hainzl, Helena Lovasz-Bukvova

Assistenzsysteme der Zukunft schon heute Aktuelle Anwendungsfälle von Mixed Reality in der Produktion Das hier vorgestellte Forschungsprojekt “Mixed Reality Based Collaboration for Industry” (MRBC4I) erforscht über zwei Jahre Assistenzsysteme mit Unterstützung von Mixed Reality Technologien in rund zwei Dutzend Industrieunternehmen in Österreich. Die prototypische Umsetzung von Use Cases wird begleitend wissenschaftlich evaluiert. Erste Ergebnisse werden in diesem Artikel vorgestellt. Einleitung & Background Durch den weiter anhaltenden Trend der Individualisierung von Produkten und Dienstleistungen, kommt es zur Steigerung der Produktvarianten, zu kürzeren Lebenszyklen und zur Reduzierung der von Kundinnen und Kunden akzeptierten Lieferzeiten. Obwohl mit fortschreitender Digitalisierung vielfältige neue Wertschöpfungsmöglichkeiten entstehen, bedroht sie auch etablierte Geschäftsmodelle. Aus der Chance, Sachgüterproduktion wieder vermehrt in Hochlohnländern durchzuführen, entstehen Herausforderungen wie erhöhte Flexibilität, Agilität und Komplexität als auch Qualitätsansprüche, Preis und Verfügbarkeit für produzierende Unternehmen [1]. Dadurch ändern sich die Arbeitsaufgaben der Beschäftigten und es ergeben sich unmittelbar höhere Leistungsanforderungen an die Beschäftigten [2]. Es kommt zu häufigen Produktwechseln,

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kurzzyklischem, flexiblerem Wechsel der Arbeitsaufgaben, hochflexiblem Einsatz der Mitarbeiter*innen, zyklusunabhängigen Arbeitsaufgaben und zur Zunahme der Problemlösungs- und Überwachungsaufgaben [3]. Der Faktor Mensch bleibt in diesem volatilen Umfeld ein wesentlicher Erfolgsfaktor, wobei der Mangel an Fachkräften ein zunehmendes Pro-

blem für Unternehmen darstellt [1]. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden und die Komplexität der Prozesse beherrschbar zu machen, können kognitive und individualisierbare Assistenzsysteme dabei helfen, die Herausforderungen wirtschaftlich, ergonomisch und menschenzentriert zu bewältigen [4]. Dies kann durch digitale Assistenzsysteme geschehen, in-

Abbildung 1: Unterschiedliche Assistenzsysteme zur Informationsbereitstellung, übersetzt nach [5]. WINGbusiness 2/2020


TOP-THEMA dem sich die Beschäftigten besser auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren können, um die Fehlerhäufigkeit zu reduzieren [1]. Die Bereitstellung von Informationen wie Arbeitsanweisungen und Verfahrensschritte zur Qualitätskontrolle sind Beispiele für digitale Assistenzsysteme. Verschiedene Arten von Informationsbereitstellungssystemen an Montageplätzen werden derzeit eingesetzt und moderne Assistenzsysteme entwickelt [5]. Abbildung 1 zeigt verschiedene Ansätze zur Informationsbereitstellung für Montagestationen. Wichtig sind ein positives Nutzungsempfinden und die Gebrauchstauglichkeit des Assistenzsystems, damit ein System akzeptiert und in Folge verwendet wird und Fehlinvestitionen vermieden werden [1]. In diesem Artikel wird vor allem die Informationsbereitstellung durch Mixed Reality-Systeme betrachtet, welche in den vergangenen Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen haben. Mixed Reality (MR) beschreibt Technologien zwischen vollständig realer Umgebung und vollständig virtueller Umgebung [6]. Die beiden prominentesten Vertreter innerhalb des Mixed Reality Kontinuums, welches sich zwischen realer und vollständig virtueller Umgebung erstreckt, sind Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR). Ziel von MR ist es, die Sinne der Benutzer*innen so zu stimulieren, dass die reale und digitale Welt zu einem glaubhaften Ganzen ver-

neuartige Hardware zu. Im VR Umfeld kann die rasante Entwicklung und Verbreitung von Head-Mounted Displays (HMDs) und diversen Eingabegeräten in den letzten Jahren beobachtet werden; bei AR wird zurzeit an der Verbesserung von Trackingverfahren, meist für mobile Endgeräte, gearbeitet. Außerdem sind vielfach die Rohdaten (z.B. CAD Daten) aus Industrie und Forschung zu komplex, um in Echtzeit dargestellt zu werden. Seit Anfang der 1990er Jahre werden MR-Anwendungen für die Industrie beforscht [8], [9], [10]. In der Industrie werden bereits MRAssistenzsysteme erfolgreich eingesetzt, um Menschen z.B. während Montage- und Wartungsprozessen sowie bei der Qualitätskontrolle zu unterstützen. Durch die Verringerung der psychischen Belastung sinkt die menschliche Fehlerrate bei gleichzeitiger Erhöhung der Effizienz [11], [12], [13], [14]. UX-Design und Ergonomie für den Menschen ist ebenfalls von großer Bedeutung für eine erfolgreiche Umsetzung in der Praxis [15], [16]. Remote Support und Zusammenarbeit in industriellen Umgebungen wurden zum Beispiel in [17], [18] diskutiert. Projekt “Mixed Reality based Collaboration for Industry” (MRBC4I)1 Mixed Reality Anwendungen haben in verschiedenen Branchen in den vergangenen Jahren stark an Bedeutung gewonnen, dennoch gibt es aus

Abbildung 2. Das Mixed Reality Kontinuum nach Paul Milgram [6]. schmelzen. Der Fokus liegt auf der Integration von Zusatzinformationen im Blickfeld der Benutzer*innen [7]. Eine der technischen Herausforderungen liegt in der genauen Registrierung von virtuellen und realen Inhalten. MR erfordert die Darstellung von computergenerierter 3D Grafik in Echtzeit und greift vielfach auf

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technischer, organisatorischer und psychologischer Sicht noch einige Herausforderungen für den industriellen Einsatz im Echtbetrieb. Konkrete Problemstellungen sind vergleichsweise hohen Eintrittsbarrieren für Unternehmen wodurch Unternehmens1 https://www.ecoplus.at/newsroom/mixedreality-neues-clusterprojekt-ermoeglicht-erprobung-in-der-praxis

getriebene MR Projekte nur selten über einen Prototypenstatus hinauskommen, sowie die oftmals fehlende wirtschaftliche Entscheidungsgrundlage und von allen Stakeholdern akzeptierte Umsetzung. Das von der FFG (österreichische Forschungsförderungsgesellschaft) im Rahmen der Collective Research Förderschiene geförderte Projekt „Mixed Realitybased Collaboration for Industry“ (MRBC4I) [19] setzt hier an und zielt darauf ab die österreichische Industrie einen entscheidenden Schritt voran zu bringen. Zur Erreichung dieser Ziele wird einerseits eine systematische Evaluierung von MR Hardware (technisch, organisatorisch, psychologisch) hinsichtlich ihrer Industrietauglichkeit durchgeführt. Außerdem werden innerhalb des MRBC4I Projekts Use Case Projekte aufgesetzt, basierend auf vier geclusterten Themenstreams: Remote-Support, Präsentation von Produkten, Schulung & Training und Unterstützung in der Produktion. Es entsteht ein breites Spektrum an Anwendungsbeispielen, die einen wertvollen Einblick in die Möglichkeiten der MR-Technologie bieten. Laut einer Studie von PTC aus dem Jahr 2018 [20] ist die Unwissenheit über entsprechende Einsatzszenarien der Hauptgrund für den Verzicht auf Virtual und Augmented Reality. Rund 47 Prozent der befragten Firmen führen den Mangel an Anwendungsfeldern als Grund dafür an, dass sie keine VR- / AR-Applikationen verwenden. Jeweils 13 Prozent verweisen auf die mangelnde Unterstützung durch das Management und auf Sicherheitsbedenken. Aus der Studie geht ebenfalls hervor, dass VR-/ AR-Projekte den erhofften Erfolg bringen – trotz Sicherheitsbedenken und kleiner Budgets. Mehr als drei Viertel der Unternehmen sehen ihre Erwartungen im Einsatz von VR / AR in hohem Maße als erfüllt an. Remote Assistance, Anleitungen und der Transfer von Know-how sind die wichtigsten VR- und AR-Funktionen. Für rund 45 Prozent der Unternehmen sind Schritt-für-Schritt-Anleitungen die VR-und AR-Funktionen, die am häufigsten genutzt werden. Fast gleichauf folgen die Fernunterstützung von Anwender*innen (39

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TOP-THEMA Prozent), der Transfer von Wissen (38 Prozent) und Collaboration-Funktionen (37 Prozent) [20]. Die Studienergebnisse decken sich mit unseren Erkenntnissen und gesetzten Themenschwerpunkten im Projekt MRBC4I. Im Zuge des Projekts wurden 21 Use Cases in den oben genannten vier Themenstreams umgesetzt. Im Rahmen dieses Beitrags werden zwei repräsentative Use Cases herausgegriffen und detaillierter behandelt: eine VR-Anwendung im Trainingsbereich und eine AR-Anwendung in der Instandhaltung.

VR-Umgebung möglich machen soll, wodurch die tatsächlich benötigte Einschulungszeit an der Produktionslinie reduziert wird. Dabei kann das Ineinandergreifen bewegter Teile unmittelbar und anschaulich erlebt werden. Zudem ist es möglich, die Schulungsinhalte an die oft sehr unterschiedlichen Vorkenntnisse der Mitarbeiter*innen anzupassen und sie wichVirtual Reality Training in der Getige Operationen öfter triebemontage ausprobieren zu lassen, bevor sie in den EchtDie Einschulung auf eine neue Tä- einsatz gelangen. Das Abbildung 4. Screenshot der mobilen AR Applikatitigkeit in einer virtuellen Umgebung ermöglicht einerseits on zur Platzierung von Wartungs- und Instandhaldurchzuführen hat viele Vorteile. Training ohne reale tungsmeldungen. Anstatt nur theoretisch vorbereitet Ressourcen zu belegen, zu werden, um danach gleich an die andererseits sind durch den Einsatz werden. Die erfassten Informationen echte Maschine oder die echte Ar- von VR beliebig viele Wiederho- werden so gespeichert, dass sie, anbeitsplatzsituation gelassen zu wer- lungen der Trainings-Szenarien (u.a. hand der optischen Daten zur Umgeden, kann die/der Mitarbeiter*in un- im Rahmen von individuellen Durch- bung zu jedem beliebigen Zeitpunkt gewohnte Handgriffe ausprobieren führungen der Einzuschulenden) wieder automatisch dort abgerufen und die räumliche Anordnung verste- möglich, wodurch der Lerneffekt ge- werden, wo sie ursprünglich räumlich hen lernen. steigert werden kann. verankert wurden. Die technische UmsetHauptziel dieses Anwendungsfalls zung erfolgte mit der HTC ist es, mithilfe von Azure Spatial AnVive Pro VR-Brille, für die chors von Microsoft2 Informationen mittels des am Markt frei im Werksbereich bereitzustellen und erhältlichen 3D-Frame- eine Schnittstelle zum firmeneigenen works Unity eine Software- Wartungssystem zu erstellen, um die Lösung erstellt wurde. platzierten Benachrichtigungen zu Komplexe Interaktionen verwalten. Aktuell ist es möglich, der Mitarbeiterin oder des Notizen an produktionsrelevanten Mitarbeiters mit einem Ge- Assets (z. B. Maschinen) zu platzietriebemotor werden abge- ren, eine Notiz mit einem Screenshot Abbildung 3. Screenshot der VR Applikation bildet (z.B. das Zusammen- der aktuellen Ansicht zu erstellen und zum Training von Montagevorgängen von Gesetzen des Motors aus den diese durch Scannen des Raums wietriebemotoren einzelnen Bestandteilen). derzufinden. Dies ist mit jedem AnEin Unternehmenspartner, ein Herausforderungen liegen in der ein- droid- oder iOS-Gerät möglich, auf führender Anbieter von antriebstech- fachen Benutzbarkeit auch für nicht dem die App installiert ist und das die nischen Komponenten, beschäftigt an VR-affine Personen, sowie in der erforderlichen Spezifikationen erfüllt. seinem Standort Mitarbeiter*innen möglichst realistischen Darstellung Die Benachrichtigungen können mit sehr unterschiedlichem Ausbil- der zu montierenden Getriebemo- für die Koordination von Wartungsdungshintergrund, die auf die spezi- toren. aufgaben relevant sein und dem Warellen Anforderungen der Getriebeprotungsteam die Informationen liefern, duktion eingeschult werden müssen. Mobile ortsunabhängige Aufnahdie es benötigt, um ohne lange ErBislang erfolgt die Einschulung an me von Wartungs- bzw. Instandklärung an seinem aktuellen Arbeitseinem Trainingsarbeitsplatz und an- haltungsmeldungen mit Hilfe von platz zu arbeiten. Herausforderungen schließend direkt an der jeweiligen Augmented Reality liegen einerseits in der benötigten Produktionslinie, die während der Infrastruktur, so wird innerhalb der Einschulungszeit nicht ihre volle Pro- Mit einem mobilen Device (Tablet Produktion eine stabile Internetverduktivität erreicht. Im Rahmen des bzw. Smartphone) können Anmer- bindung benötigt, als auch in der Projekts wird ein Use Case bearbei- kungen zu unterschiedlichen Stand- einfachen Benutzbarkeit für verschietet, der die erste Einschulung in einer orten von Produktionsanlagen erfasst 2 https://azure.microsoft.com/de-de/services/ spatial-anchors/ 20

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Abbildung 5. Konzept zur Evaluierung von industriellen MR Systemen, in Anlehnung an [21]. dene Anwender*innen auf unterschiedlichen mobilen Endgeräten. Multi-kriterielle Evaluierung von industriellen Augmented und Virtual Reality Systemen Zusätzlich zur technischen Umsetzung der Use Cases wird der unternehmerische und menschliche Impact von AR/VR Systemen bewertet. Hierfür wurde ein multi-kriterielles Evaluierungskonzept entwickelt, welches fünf Dimensionen abdeckt (siehe Abbildung 5). Als Grundlage für die Evaluierung wurde eine systematische Literaturrecherche zum Thema Evaluierung von industriellen AR-Anwendungen durchgeführt. Die im Evaluierungskonzept ausgewählten Kriterien und eingesetzten Methoden finden sich in der Literatur wieder und zeigen den passenden Einsatz der Methoden auf AR-Anwendungen. Im Gegensatz zum hier gezeigten Ansatz werden in der Literatur im Median lediglich zwei Kriterien bewertet, welches das Ziel ein multi-kriterielles Evaluierungsmodell zu entwickeln verstärkt [22]. Für die Erhebung wird ein MixedMethod-Vorgehen, mit einer Kombination aus qualitativen und quantitativen Methoden eingesetzt. Ziel ist es aus den einzelnen Evaluierungen der Prototypen aussagekräftige Cluster zu bilden und allgemeine Aussagen über den Impact der Technologie ab-

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zuleiten. Da das Projekt den Einsatz von MR Technologien in verschiedenen Kontexten und Branchen betrachtet, sind die Ergebnisse analytisch generalisierbar, übertragbar und können aussagekräftige Erkenntnisse zu den Potenzialen aber auch Limitationen der Technologie im Unternehmenskontext liefern. Erste Ergebnisse & Diskussion Die Hardware wurde in den UseCases und über einen HardwarePool, in dem verschiedene Geräte für Testzwecke zur Verfügung standen, evaluiert. Bei AR-Anwendungen wurde seitens der Firmen weitgehend auf mobile Endgeräte (Smartphones bzw. Tablets) zurückgegriffen. Bei VR-Geräten wurden nur sehr wenige Modelle für den Einsatz ausgesucht, trotz der Möglichkeit, auch noch unbekannte Geräte im Hardware-Pool auszuprobieren. Betreffend Marktangebot war eine hohe Fluktuation der

angebotenen Modelle samt einiger Modelleinstellungen und Insolvenzen von Anbietern festzustellen. Erste Ergebnisse der Nutzer*innenbefragung zeigen, dass trotz des Prototypenstatus, die entwickelten Lösungen grundsätzlich verwendbar sind. Die derzeit befragten Nutzer*innen (n=57) werten die Usability mit durchschnittlich 76,8 von 100 Punkte. Gemessen wurde mit der System Usability Scale (SUS), wobei laut Skala der Score von 76,8 als gut gilt und somit im akzeptablen Bereich liegt. Weitere Ergebnisse zeigen, dass die Anwendung der Prototypen die Nutzer*innen (n=60) durchaus vor Herausforderungen stellte, vor allem in Bezug auf die Leistungsfähigkeit und den Zeitdruck. Die Anwender*innen empfanden die Lösung von Arbeitsaufgaben mit den Prototypen als anstrengend. Getestet wurde dies mittels dem NASA-Raw Task Load Index (NASA-RTLX), ein Fragebogen zur Ermittlung der kognitiven Belastung während eines Prozesses. Dies steht im Widerspruch zu den Ergebnissen von [11], [12], [13], [14], welche von einer Minderung der psychischen Belastung ausgehen. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass die Nutzer*innen nur erste Erfahrungen mit den Prototypen gemacht habe - erfahrene Anwender*innen würden möglicherweise eine geringere Belastung empfinden. In Bezug auf die Akzeptanz zeigten erste Umfrageergebnisse eine hohe grundsätzliche Bereitschaft zum Einsatz (Behavioral Intention) des Systems im operativen Feldbetrieb zukünftig einzusetzen. Die Assistenzsysteme werden nicht gänzlich als Ersatz für aktuelle Vorgehensweise gesehen, sondern potenziell als Er-

Abbildung 6. Ergebnisse der Usability Tests.

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Abbildung 7. Ergebnisse der Tests zur kognitiven Belastung. gänzung zu den bisherigen Prozessschritten. Die User-Akzeptanz wurde mit einem adaptierten Fragebogen des Technology Acceptance Models (TAM) erhoben. Erste Ergebnisse zeigen, dass die Unternehmen Potenziale des Einsatzes von MR-Assistenzsystemen erkennen und die Auswirkungen auf Prozessabläufe einschätzen können. Sie werden allerdings eher als Unterstützung bestehender Vorgehensweisen wahrgenommen - sie sollen die Prozesse ergänzen, werden aber kaum als Ersatz gesehen. Von ausgereiften Lösungen wird Zeitersparnis aber auch vereinfachte Einschulung der Mitarbeiter*innen erhofft. Allerdings wird der aktuelle Reifegrad der Technologie kritisch gesehen. Eine weitere technische Entwicklung, aber auch Stabilisierung und Standardisierung des Marktes für MR Hardware wird als notwendig gesehen. Betreffend des Einflusses auf das erleichterte Überbrücken von geographischer und weiterführend psychischer Distanz durch den Einsatz von MR in Geschäftsprozessen gab es in der Literatur und in Vorstudien bereits erste positive Zusammenhänge, welche im Verlauf der abschließenden Analysen in der Breite des Anwendungsgebietes bestätigt werden müssen [23], [24]. Außerdem zeigt sich die Tendenz, dass Unternehmen MR-Assistenzsysteme vermehrt dazu einsetzen möchten, um Personen mit niedrigerer Qualifikation die Ausübung höher qualifizierte Tätigkeiten zu ermöglichen. Dies deckt sich ebenfalls mit den Studienergebnissen aus [1], in denen dieser Effekt mit dem Einsatz von industriellen Assistenzsystemen dargestellt wird. Bei den Schulungs-Use Cases in VR wird vermehrt der Vorteil des mehrmaligen Ausprobierens und eigen-

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ständigen Lernens genannt. Auf diese Weise können Mitarbeiter*innen sich in ihrem eigenen Tempo den Lerninhalt aneignen und die Übungen beliebig oft wiederholen. Zusammenfassung und Ausblick Der breite Forschungsfokus bei der Bewertung von Einsatzszenarien für MR verspricht eine umfassende wissenschaftliche und praxisrelevante gesamtheitliche Sicht. Dies ist sowohl durch Multidimensionalität der Bewertungskriterien, der doppelten Perspektive von Seiten der Anwender*innen und Firmen als auch betreffend der zeitlichen Beurteilung vor und nach der Prototypenphase begründet. Aus den bisherigen Ergebnissen lassen sich folgende Mehrwerte durch den Einsatz von MR ableiten. Die MR Einsatz-Szenarien sind entlang der Wertschöpfungskette wiederverwendbar, d.h. z.B. für Schulungszwecke etablierte Szenarien können im laufenden Betrieb seitens der Mitarbeiter*innen genutzt werden. Die Technologie Präferenz der Firmen scheint sich auf einige wenige Hardware-Devices zu beschränken (vorwiegend mobile Geräte wie Smartphones und Tablets) und die Reife und Akzeptanz der Technologie seitens der Mitarbeiter*innen spielt für die Selektion eine maßgeblich Rolle. Der breite Einsatz in der industriellen Praxis ist trotz Bestätigung der Potentiale nicht bzw. erst mittelfristig geplant. Nur vereinzelt werden seitens der Firmen die entwickelten Prototypen für den praxistauglichen Einsatz weiterentwickelt.

Der qualitative und explorative Charakter des Forschungsdesigns bezweckt die Entwicklung von quantifizierbaren, skalen-basierten Bewertungsmethoden (z.B. ROI, Auswirkung auf Distanz und Geschäftsmodelle, Nutzerakzeptanz), welche zukünftig für Wissenschaft und Unternehmen zur Verfügung stehen und technologieunabhängig die Bewertung von Assistenzsystemen a priori ermöglicht. Danksagung: Ein besonderer Dank gilt den Projektpartnern des von der FFG geförderten und von DI Thomas Holzmann (ecoplus. Wirtschaftsagentur Land NÖ) geleiteten Projekts “Mixed Reality Based Collaboration for Industry” (Projektnummer 877118) und der BMK-Stiftungsprofessur „Human Centered Cyber Physical Production and Assembly Systems“ der TU Wien. Referenzen [1] Mayrhofer, W., Kames, D. & Schlund, S. (2019). Made in Austria: Produktionsarbeit in Österreich 2019. Studie, Technische Universität Wien, ISBN 978-39504856-0-8 [2] Keller, T., Bayer, C., Bausch, P. & Metternich, J. (2019). Benefit evaluation of digital assistance systems for assembly workstations 28th CIRP Design Conference, May 2018, Nantes, France, 52nd CIRP Conference on Manufacturing Systems, p. 441-446 [3] Dombrowski, U., Riechel, C. & Evers, M. (2014). Industrie 4.0 - Die Rolle des Menschen in der vierten industriellen Revolution. In: Kersten W, Koller H, Hermann L. Industrie 4.0. Wie intelligente Vernetzung und kognitive Systeme unsere Arbeit verändern. Berlin: Gito, p. 129–153. [4] Schlund, S., Mayrhofer, W. & Rupprecht, P. (2018). Möglichkeiten der Gestaltung individualisierbarer Montagearbeitsplätze vor dem Hintergrund aktueller technologischer Entwicklungen. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft, 72(4), p. 276-286 [5] Rupprecht, P., Kueffner-McCauley, H. & Schlund, S. (2020). Information provision utilizing a dynamic projection system in industrial site assembly, 53rd CIRP Conference on Manufacturing Systems (forthcoming)

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[16] Peissner, M., Hipp, C. (2013). Potenziale der Mensch-Technik-Interaktion für die effiziente und vernetzte Produktion von morgen. Fraunhofer-Verlag Stuttgart [17] Bottecchia, S., Cieutat, J.-M. & Jessel, J.-P. (2010) T.A.C: augmented reality system for collaborative tele-assistance in the field of maintenance through internet, in Proceedings of the 1st Augmented Human International Conference,France, p. 1-7, doi: 10.1145/1785455.1785469 [18] Alem, L., Huang,, W. (2011). Eds., Recent trends of mobile collaborative augmented reality systems. New York: Springer [19] Moser T., Hohlagschwandtner M., Korman n- H ain zl G., Pölzlbauer S. & Wolfartsberger J. (2019). Mixed Reality Applications in Industry: Challenges and Research Areas. In: Winkler D., Biffl S., Bergsmann J. (eds) Software Quality: The Complexity and Challenges of Software Engineering and Software Quality in the Cloud. SWQD 2019. Lecture Notes in Business Information Processing, Vol. 338, Springer, Cham [20] Campbell, M., Busiek, D. & Lang, J. (2018). White Paper “Der Status der industriellen erweiterten Realität”. PTC. J11782–State–of–AR–WP–0818–de [21] Zigart, T., Schlund, S. (2020). Multikriterielle Evaluation von industriellen Assistenzsystemen am Beispiel von Augmented Reality-Anwendungen in der Produktion, Gesellschaft für Arbeitswissenschaft (Hrsg): Digitaler Wandel, digitale Arbeit, digitaler Mensch? Dortmund: GfA-Press [22] Zigart, T., Schlund, S. (2020). Evaluation of Augmented Reality Technologies in Manufacturing - A Literature Review, Proceedings of the International Conference on Human Factors and Systems Interaction, AHFE Springer Books (forthcoming) [23] Kormann, G., Moser, R., Andersson, S. & Wictor, I. (2015). Will Digital Transformation become a Game Chan-

ger in the Field of Internationalisation Research?, presented at the MIE Management of International Entrepreneurship, London [24] Kormann, G., Hanus, F., R., & Wictor, I. (2016). The Impact of Digital Transformation on International Business Models and Processes – A conceptual Paper and Pre-Study in the Field of globally acting Entrepreneurial Manufacturing Companies. Presented at the MIE Management of International Entrepreneurship, Hanken.

AutorInnen:

FH-Prof. Dr. Thomas Moser Leiter der Forschungsgruppe Digital Technologies am Institut für Creative\Media/ Technologies der Fachhochschule St. Pölten FH-Prof. Dr. Thomas Moser ist seit 2015 Leiter der Forschungsgruppe Digital Technologies am Institut für Creative\Media/Technologies der Fachhochschule St. Pölten, Österreich. Er absolvierte sein Magisterstudium und Doktoratsstudium der Wirtschaftsinformatik an der Technischen Universität Wien im Bereich der Schnittstelle Informatik und Automatisierungstechnik. Im Rahmen seiner Tätigkeiten in Wissenschaft und Privatwirtschaft verfasste er eine Vielzahl wissenschaftlicher Publikationen und war an der Abwicklung von Forschungs- und Entwicklungsprojekten auf nationaler und internationaler Ebene beteiligt.

Dipl.-Ing. Tanja Zigart Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsbereich Mensch-MaschineInteraktion, Institut für Managementwissenschaften an der TU Wien

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TOP-THEMA Dipl.-Ing. Tanja Zigart ist seit November 2018 als Projektassistentin in der Forschungsgruppe MenschMaschine-Interaktion am Institut für Managementwissenschaften an der TU Wien beschäftigt. Im Rahmen ihrer Dissertation forscht sie an der Erstellung eines multi-kriteriellen Evaluierungsmodells für den Einsatz von industriellen Assistenzsystemen. Nach Abschluss ihres Studiums Wirtschaftsingenieurwesen-Maschinenbau im Jahr 2014 hat sie mehrere Jahre in der Medizintechnikbranche als Lean Managerin gearbeitet. Prof. (FH) Mag. Gerhard KormannHainzl ist seit 2009 Professor an der IMC Fachhochschule Krems mit Lehr- und Forschungsschwerpunkten im Spannungsfeld von Technologie, Globale Geschäftsmodelle, organisatorische Transformation und Digital Leadership. Sein Forschungsfokus umfasst den Einfluss von Technologie auf das Phänomen Distanz und Virtualisierung speziell im Kontext internationaler Geschäftsprozesse. Er ist Leiter und Mitgründer des Digital Champions Networks, ein Koopera-

tionsnetzwerk von führenden Leitbetrieben und war zuvor in Start-ups, in der Unternehmensberatung sowie im Management von globalen IT Unternehmen tätig.

Prof. (FH) Mag. Gerhard KormannHainzl

Dr. Helena Lovasz-Bukvova ist seit 2019 Professorin am Institut für Digitalisierung und Informatik ab der IMC FH Krems. Vorher war sie an der TU Dresden und an der WU Wien tätig. Sie hat langjährige Forschungserfahrungen im E-Learning-Bereich, hat sich aber auch mit dem Einsatz von Social Media befasst. Ihre derzeitige

Professor for Digital and International Business an der IMC Fachhochschule Krems

Dr. Helena LovaszBukvova Institut für Digitalisierung und Informatik, IMC FH Krems Forschung schließt das Thema der Technologieakzeptanz ein.

Ankündigung Kolloquium Im Andenken an Prof. Reinhard Haberfellner veranstalten wir ein Kolloquium, welches am 13. November 2020 ab 14:00 Uhr in der Aula der Technischen Universität Graz stattfinden wird. Wir möchten Sie dazu herzlich einladen und bitten Sie, sich den Termin vorzumerken sowie sich unter events.ufo@tugraz.at anzumelden. Stefan Vorbach & Siegfried Vössner 24

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TOP-THEMA

Foto: ROBOTICS Labor (c) Manuela Schwarzl, JOANNEUM RESEARCH

Titanilla Komenda, Mathias Brandstötter

Mensch-Roboter-Arbeitssysteme effektiv gestalten Potenziale der Mensch-Roboter-Zusammenarbeit zur Flexibilisierung von Arbeitssystemen Mensch-Maschine-Arbeitssysteme sind komplexe Systeme – vor allem, wenn sie die Möglichkeit der direkten Zusammenarbeit im Sinne des Kollaborationsbegriffs ermöglichen. Auf den ersten Blick scheint die Mensch-Roboter-Kollaboration nicht den operativen Unternehmenszielen genüge zu tragen. In diesem Beitrag werden wesentliche Stellschrauben in diesem komplexen System präsentiert und damit gezeigt, wie Potenziale der Mensch-Roboter-Kollaboration dennoch für industrielle Unternehmen im Bereich der Produktion nutzbar sind. 1. Einleitung Die Mensch-Roboter-Zusammenarbeit wurde erstmals 2006 mit dem Kollaborationsbegriff in der ISO 10218-1 definiert. Hier beschrieb die Kollaboration einen Betriebszustand, in dem ein dafür konstruierter Roboter innerhalb eines festgelegten Arbeitsraums direkt mit den Menschen an einem Objekt zusammenarbeitet. Sinn der Mensch-Roboter-Zusammenarbeit war es, die Fähigkeiten von Mensch und Roboter in einem Arbeitssystem zu bündeln. Anstatt sich auf dieses Ziel zu fokussieren, folgte eine Klassifizierungsdiskussion über die zeitliche und örtliche Synchronisation von Mensch und Roboter, um andere Betriebszustände von der Kollaboration zu unterscheiden [HAA16], [AAL18]. Begriffe, wie Kooperation oder Koexistenz wurden

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eingeführt und es folgte eine kritische Reflexion zum industriellen Einsatz von Kollaboration. Obwohl die Mensch-RoboterZusammenarbeit zur Schließung der Lücke zwischen rein manueller Fertigung und robotergestützter Fertigung identifiziert wurde [MAT13], erfuhr sie nach der ersten Euphorie eine Welle der Frustration, da die Klassifizierung bzw. Einordnung eines potenziellen Arbeitssystems in ein zeitlich/örtliches Klassifizierungsschema keinen entscheidenden wirtschaftlichen Umsetzungsfaktor darstellt. Viel entscheidender war die Tatsache, dass die Mensch-RoboterZusammenarbeit die Möglichkeit bietet, den Automatisierungsgrad innerhalb eines Produktionssystems zu variieren und damit flexibel auf wechselnde Marktanforderungen zu

reagieren [DIE15]. Demnach fokussierten Forschungstätigkeiten eher operative Kennzahlen, wie Produktivität, Wirtschaftlichkeit, Flexibilität und Modularität, und argumentierten gleichzeitig, dass das Wissen über technische sowie sicherheitstechnische Möglichkeiten zur Umsetzung sowie Wechselwirkungen systembestimmender Faktoren innerhalb von Mensch-Roboter-Arbeitssystemen einen entscheidenden Beitrag zur wirtschaftlichen Implementierung solcher hybrider Arbeitssysteme leisten. Die Gestaltungsrichtlinien von Mensch-Roboter-Arbeitssystemen lassen sich also in Analogie zum klassischen Technologie-Hype-Zyklus an folgenden Zielen festmachen (vgl. Abb. 1): 1. als Marketinginstrument zur Schließung einer Fertigungslücke in

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TOP-THEMA 3. Gestaltung von Mensch-RoboterArbeitssystemen

Abbildung 1: Technologie-Hype-Zyklus von Mensch-Roboter-Arbeitssystemen Hochlohnländern im Rahmen der Technologieeinführung [LIN15], 2. als Substitutionsinstrument des Menschen in der Produktion durch günstige Anschaffungspreise [ANT16], 3. als Werkzeug zur Bündelung der Fähigkeiten von Mensch und Roboter in einem Arbeitssystem [RAN17], und 4. als Assistenzsystem zur Unterstützung und Höherqualifizierung des Menschen in der Produktion [MAY19]. 2. Begriffsdefinition und Einordnung Im Rahmen der Mensch-RoboterZusammenarbeit wird zunächst die Art des eingesetzten Roboters unterschieden. Neben (inhärent sicheren) kollaborativen Robotern – sogenannten Cobots – lassen sich MenschRoboter-Arbeitssysteme auch mit herkömmlichen Industrierobotern umsetzen, die mit entsprechenden (Sicherheits-)Vorkehrungen kollaborationsfähig gemacht werden. Der Umfang der notwendigen Sicherheitsvorkehrungen umfasst die Robotersensorik und -steuerung und erfordert das Vorhandensein von sicherheitsbewerteter Funktionalität des Roboters, wie eine sichere Überwachung der Position, Geschwindigkeit als auch des Halts. Dabei sind die eingesetzten Roboter entweder stationär oder mobil im Arbeitssystem eingebettet und müs-

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sen samt Werkzeug und Arbeitsaufgabe sicherheitstechnisch evaluiert werden. Kollaborative Roboter unterscheiden sich von kollaborationsfähigen Robotern durch ihr inhärent sicheres Design (keine Quetschstellen oder scharfe Kanten), das geringe Gewicht, die integrierte Sensorik und Regelungstechnik zur Leistungs- und Kraftüberwachung (im Fall einer Kollision) und die im Vergleich zu klassischen Industrierobotern (noch) intuitiveren Programmierumgebungen bzw. Mensch-Maschine-Schnittstellen. Die Technologie hat den Markt bereichert, doch das Frustrationstal wurde spätestens mit der Verfolgung des Substitutionsziels erreicht. Die Anschaffungspreise von kollaborativen Robotern waren zwar anfänglich niedriger als die von herkömmlichen Industrierobotern, doch die sicherheitstechnische Absicherung sowie die normative Reglementierung der Bewegungsgeschwindigkeiten des Roboters führten zu Unsicherheiten bzgl. der Erreichung von operativen Zielen. Der anfängliche Hype lässt sich auch an den Verkaufszahlen messen. Laut Industrial Federation of Robotics (IFR) betrug 2018 der Marktanteil von jenen kollaborativen Robotern nur 3,24 % von mehr als 422.000 installierten Industrierobotern weltweit – das sind global betrachtet nur rund 14.000 CobotEinheiten.

Trotz Zuwachs an Cobot-Herstellern am Markt, ist für den kollaborativen Betrieb und damit die Hebung von operativen Optimierungspotenzialen, nicht die Klassifizierung von kollaborativ oder kollaborationsfähig entscheidend, sondern vielmehr der Einsatz eines Roboters ohne trennende Schutzeinrichtung. Ein hybrides Arbeitssystem bringt aufgrund der variablen Aufgabenzuordnung zwischen Mensch und Roboter die notwendige Flexibilität mit sich, um auf veränderte Produktionsbedingungen zu reagieren [LÜD14]. Die Unterscheidung zwischen kollaborativ und kollaborationsfähig ist jedoch für die sicherheitstechnische Implementierung der Personenüberwachung im Kollaborationsraum von wesentlicher Bedeutung. Hierzu gibt es verschiedene sicherheitstechnische Systeme, die entweder direkt am Roboter, wie z. B. Sensorhäute, oder im Arbeitssystem, wie z. B. optische Sensoren, angebracht werden. Die Auswahl der Arbeitssystemabsicherung hat dann schließlich auch Einfluss auf die Größe des Arbeitssystems und das Interaktionsregime im Rahmen der Mensch-Roboter-Zusammenarbeit. Mit der ganzheitlichen Gestaltung von Mensch-Roboter-Arbeitssystemen und der Berücksichtigung von sich beeinflussenden Faktoren wurde erkannt, dass sich operative Ziele dennoch mit Mensch-RoboterArbeitssystemen erreichen lassen. Dazu ist es essenziell, Optimierungspotenziale in einzelnen Phasen des Entstehungsprozesses von MenschRoboter-Arbeitssystemen zu erkennen (vgl. Abb. 2). Anhand eines Quick-Checks erfolgt zunächst die richtige Arbeitsplatzauswahl auf Basis wirtschaftlicher Kennzahlen, wie Produktionsvolumina, Restlaufzeiten und Schichtmodelle [ERM19]. Im Rahmen der Spezifikation erfolgt anschließend eine Potenzialanalyse, um wirtschaftliche sowie ergonomische Potenziale innerhalb ausgewählter Arbeitsstationen zu quantifizieren [RAL20]. In diesem Schritt wird vor allem auch die Automatisierbarkeit einzelner Prozesse innerhalb der Arbeitsstation bewertet. Im Rahmen der

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TOP-THEMA

Abbildung 2: Phasen der Entstehung eines Mensch-Roboter-Arbeitssystems Konzeptionierung erfolgt die Aufgabenteilung zwischen Mensch und Roboter anhand der Fähigkeiten einzelner Ressourcen und der Anforderungen einzelner Prozesse [RAN19]. Hierbei wird vor allem auch ein menschzentrierter Ansatz verfolgt, bei dem es nicht darum geht, alle Aufgaben dem Menschen zuzuordnen, die nicht automatisierbar sind, sondern ihm jene Aufgaben zuzuteilen, die er machen kann und möchte. Im Zuge der Realisierung geht es dann um ein sicheres Anlagendesign. Mechanische Gestaltungsprinzipien sowie die Anordnung von peripheren Einrichtungen innerhalb des Arbeitssystems haben bereits einen wesentlichen Einfluss auf die sicherheitstechnische Implementierung [PER20]. Für die erfolgreiche Implementierung eines Mensch-Roboter-Arbeitssystems ist aber auch die laufende Einbeziehung des prospektiven Bedienpersonals in den Entstehungsprozess entscheidend. Das Bedienpersonal soll mit der Einführung des Roboters nicht überrascht oder überrumpelt werden und schon gar nicht den Eindruck vermittelt bekommen, dass der Roboter die manuelle Arbeitskraft ersetzt. Vielmehr geht es darum, gemeinsam mit (im besten Fall direkt von) der manuellen Arbeitskraft Arbeitsprozesse zu identifizieren, die mithilfe des Roboters besser oder leichter umgesetzt werden können [DAC19]. Ziel ist es, den Roboter als physisches Assistenzsystem zu betrachten. Im Rahmen der Optimierung erfolgt dann schlussendlich die Berücksichtigung der wechselseitigen Beeinflussung von

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Faktoren, welche die operativen Ziele bestimmen [ZHA20]. 4. Berücksichtigung der wechselseitigen Beeinflussung von systembestimmenden Faktoren Durch die Auflösung der räumlichen Trennung von Mensch und Roboter ergeben sich vor allem auch Wechselwirkungen zwischen systembestimmenden Faktoren, wobei diese entweder der Entwurfs- oder der Betriebsphase zugeordnet werden können. Die systembestimmenden Faktoren sind: i. Sicherheitsmodus: Sicherheitstechnische Vorkehrungen abhängig von der Art der Kollaboration zwischen Mensch und Roboter ii. Diversität des Bedienpersonals: Individuelle Ausprägung des Menschen hinsichtlich Arbeitsausführung, Lernkurve etc. iii. A rbeitssystemgesta lt ung: Ausführung und Anordnung des Roboters, der peripheren Einrichtungen und des Arbeits-, Bewegungs- sowie Kollaborationsraums iv. Systemdynamik: Bewegungs-, Kollisions- und Störverhalten der einzelnen Ressourcen im Arbeitssystem v. Zuverlässigkeit: Berücksichtigung von Fehlverhalten bei der Arbeitsausführung vi. Aufgabenzuordnung: Aufgabenteilung zwischen einzelnen Ressourcen im Arbeitssystem, beispielsweise anhand von Fähigkeiten und Anforderungen oder individuellen Präferenzen

Während der Entwurfsphase kann mithilfe geeigneter Softwarepakete die Gestaltung des Arbeitssystems unterstützt und optimiert werden. Dafür stehen diverse Modellierungs- und Simulationswerkzeuge zur Verfügung, wie bspw. Tecnomatix Process Simulate oder ema Work Designer. Obgleich diese nur in einem beschränkten Umfang die Aspekte eines Mensch-Roboter-Arbeitssystems abbilden können, liefern sie einen wertvollen Einblick in das System und dienen zur Erkennung von Wechselwirkungen und Optimierungsansätzen. Die umfassendste Ausprägung stellt in der Entwurfsphase der Digitale Zwilling dar, welcher als Multiparadigmen-Software sämtliche Modellierungs-, Simulations-, Planungs- und Optimierungswerkzeuge zu vereinen versucht. Diesem steht der Digitale Schatten gegenüber, mit dessen Hilfe ein kontinuierliches und stets aktuelles Modell des Arbeitssystems in der Betriebsphase bereitgestellt werden kann. Dieser kann zudem menschliche Diversitätsfaktoren abbilden, sofern entsprechende Menschmodelle und laufende Messdaten dafür vorliegen. Auf systemdynamischer Ebene können somit Entscheidungen auf einer weitestgehend umfassenden und aktuellen Wissensbasis beruhen [WAC20]. Eine stabile Betriebsphase zeichnet sich außerdem durch ein robustes und zuverlässiges Systemverhalten aus. Ein Vorteil des Mensch-Roboter-Arbeitssystems wird bei unvorhergesehenen Fehlerfällen offensichtlich, weil der Mensch in derartigen Situationen unmittelbar korrigierend eingreifen

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TOP-THEMA Systembestimmende Faktoren

Sicherheitsmodus

Diversität des Bedienpersonals

Arbeitssystemgestaltung

Systemdynamik

Zuverlässigkeit

Aufgabenzuordnung

Beeinflussende Systemeigenschaften • Arbeits- und Bewegungsraum des Roboters • Bewegungsgeschwindigkeit des Roboters • Prozesszeiten • Fähigkeiten und damit Arbeitsaufteilung • Prozessgeschwindigkeiten und damit Prozesszeiten • Körpergröße und damit Position einzelner Körperteile • Positionierung einzelner peripherer Subsysteme • Positionierung des Roboters • Bewegungsraum des Roboters • Bewegungspfade • Kollisions- bzw. Quetschstellen • Prozesszeiten • Bewegungsverhalten (im Sinne einer Annäherung oder eines Ausweichens) des Roboters sobald ein Mensch im Kollaborationsraum agiert • Abschätzbarkeit der Roboterbewegungen • Kollisionsverhalten • Psychophysiologie des Menschen • Systemverhalten bei Fehlfunktionen des Steuer- und Regelkreises des Robotersystems • Bewegungspfade und damit mögliche Kollisionsstellen • Automatisierungsgrad und damit Taktzeit

Unterstützende Planungsmethoden • OfflineProgrammierung • 3D-Simulation • Diskrete Ereignissimulation •

• • •

• • • • • • • • •

3D-Simulation mit digitalen Menschmodellen Diskrete Ereignissimulation

OfflineProgrammierung 3D-Simulation Digitaler Zwilling

OfflineProgrammierung 3D-Simulation Physik-Engine Digitaler Schatten Erweiterte digitale Menschmodelle Diskrete Ereignissimulation

6. Diskussion und Zusammenfassung

3D-Simulation Digitaler Zwilling Digitaler Schatten

Ein wirtschaftlicher Einsatz der Mensch-Roboter-Kollaboration war aufgrund normativer Reglementierungen und der daraus folgenden Einschränkung der Flexibilität hinsichtlich der Modifikation jener Arbeitssysteme kaum darstellbar. Forschungstätigkeiten haben nun allerdings systembestimmende Faktoren identifiziert, die es trotz der normativen Reglementierungen möglich machen, Mensch-Roboter-Arbeitssysteme so einzusetzen, dass operative Ziele erreicht werden können.

Tabelle 1: Abhängigkeiten in Mensch-Roboter-Arbeitssystemen kann und je nach Schwere der Fehlerauswirkung eine laufende Produktion sicherstellt. Demnach kann ein nicht hinreichend zuverlässiges Arbeitssystem mit wiederkehrenden partiellen Systemausfällen durch eine dynamische Aufgabenzuordnung stabilisiert werden. Bei einer geänderten Zuteilung der Aufgaben sind allerdings die neu entstehenden Verfahrwege des Roboters unter der zeitlichen und örtlichen Synchronisation des Menschen hinsichtlich neu auftretender Kontaktstellen zu berücksichtigen. Bei einer Aufgabenzuordnung im Rahmen eines Systemausfalls, kann die optimal erreichbare Taktzeit u. U. nicht eingehalten werden. Dies ist aber im Vergleich zu einem Produktionsstillstand durchaus akzeptierbar. Eine Voraussetzung für den Betrieb eines Mensch-Roboter-Arbeitssystems ist die Sicherstellung der physischen Sicherheit des Menschen. Notwendige Sicherheitsvorkehrungen sind von dem gewählten Sicherheitsmodus abhängig. Die zugehörigen technischen Normen und Spezifikationen legen hierfür die Rahmenbedingungen fest und geben auch sicherheitsrelevante Grenzwerte beim Kontakt zwischen Mensch und Roboter vor. Sie bieten jedoch keine Hinweise zur technischen Ausgestaltung

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umkonfiguriert, sämtliche Steuerprogramme von Hand adaptiert und Evaluierungen des adaptierten Systems – aufgrund der komplexen Zusammenhänge der systembestimmenden Faktoren – durch Sicherheitsexperten durchgeführt. Dies widerspricht der Vorstellung eines jederzeit dynamisch anpassbaren Arbeitssystems. Diverse Forschungsgruppen arbeiten an unterschiedlichen Teilbereichen dieser vielschichtigen Problemstellung, welche sich dem übergeordneten Ziel – der Schaffung eines wirtschaftlichen, sich selbstständig und sicher modifizierbaren Mensch-Roboter-Arbeitssystems – zuordnen lassen (siehe Tab. 2).

eines sicheren Arbeitssystems. Es erweisen sich allerdings drei Faktoren als maßgeblich: das Design des Roboterarms und der mit ihm physisch wechselwirkenden Systemelemente, seine kinetische Energie bei der Bewegungsausführung und die Häufigkeit des Auftretens einer potenziellen Mensch-Roboter-Kontaktsituation im Kollaborationsraum [VIC20]. Eine Zusammenfassung der systembestimmenden Faktoren, deren beeinflussende Systemeigenschaften sowie unterstützende Planungsmethoden sind in Tab. 1 aufgelistet. 5. Mittelfristig einsetzbare Technologien zur ganzheitlichen Gestaltung von Mensch-Roboter-Arbeitssystemen Mensch-Roboter-A rbeitssysteme können im Idealfall auf neue Gegebenheiten, wie bspw. einer Änderung des Produktionsprogramms oder der Ressourcenverfügbarkeit, angeglichen werden. Dieses Flexibilitätspotenzial lässt sich aktuell jedoch nur mit entsprechendem Personalaufwand durch Änderung des Arbeitssystems, organisatorische Maßnahmen und manuelle Systemanpassungen vollständig ausschöpfen. Periphere Einrichtungen werden dazu manuell

Die Gestaltung eines solchen Arbeitssystems wird dadurch nicht mehr nur auf die Geschwindigkeit des Roboters beschränkt, um Kraft- und Druckgrenzwerte bei einer möglichen Kollision einzuhalten. Vielmehr geht es darum, eine Reihe an Stellgrößen zu kennen, um ein Arbeitssystem, in dem Mensch und Maschine gemeinsam arbeiten, effektiv zu gestalten. Die Identifikation dieser systembestimmenden Faktoren stellt nun einen größeren Lösungsraum und damit die Konfiguration einer Vielzahl an Systemvarianten dar, um operative Ziele zu erreichen. Die Anzahl dieser Faktoren macht die optimale Lösungsfindung aber auch komplex. Aus diesem Grund wurden Methoden und Werkzeuge in diesem Artikel zusammengefasst und gegenübergestellt, die die Auswirkungen dieser systembestimmenden Faktoren ermitteln und validieren können.

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TOP-THEMA Systemparameter

Systemeigenschaft

Technologie/ Werkzeug

Realisierungsmethode

Forschungs -projekte

Was betrifft es?

Was wird erreicht?

Wie wird es realisiert?

Welche Herangehensweise?

Wer forscht daran?

Sicherheitsmodus

Abstands- und Geschwindigkeitsüberwachung

Kombination von mehreren Sensoren im Arbeitsraum

Sicherheitsmodus

Sichere Änderung des Arbeitssystems

Software

Aktive Kollisionsvermeidung durch Sensorfusion Kombinatorische Analyse möglicher Systemvarianten

Diversität des Bedienpersonals Diversität des Bedienpersonals Arbeitsplatzgestaltung

Ermittlung individueller Personeneigenschaften Schutz und Unterstützung des Bedienpersonals Manipulation schwerer Lasten im Kollaborationsraum

Smarte Arbeitskleidung mit textilintegriertem Sensorsystem Sensorbasierte Bewegungsmessung Cobot für Traglasten über 16 kg

Arbeitsplatzgestaltung

Interaktion zwischen Bedienpersonal und Robotersystem

Integriertes Assistenzsystem

Arbeitsplatzgestaltung

Personenabsicherung

Software

Systemdynamik

Systemdynamik

Systemdynamik

Systemdynamik

Systemdynamik

Sensitive Fähigkeiten des Roboters bei Montagevorgängen Abbildung der wechselseitigen Beeinflussung von Ressourcen Automatisierte Anpassung an neue Systemanforderungen Intuitive Roboterprogrammierung durch NichtExperten Anpassung des maschinellen Bewegungsverhalten san den Menschen

Auswertung von bewegten Sensorquellen Onlinefähige Ergonomieüberwachung Weiche und dämpfende Roboterhaut Computergestützte Erweiterung der Realitätswahrnehmung mittels Augmented Reality Automatisierte Risikobewertung

Regelungstechnischer Algorithmus

Digitaler Zwilling

Regelungsverfahren auf Basis variabler Impedanz Ganzheitliche Modellierung von Mensch-RoboterArbeitssystemen

SYMBIOTIC, COROMA DR.KORS

AnDy, SHERLOCK

CoLLaboratE

SHERLOCK

MMAssist II, CollRob SHERLOCK, HORSE, DR.KORS CogiMon

StaProZell, KOMPI

Datenaustausch zwischen Systemkomponenten

Selbstlernfähigkeit des Systems

CoLLaboratE, COROMA

Programmierung durch Demonstration

Semantische Wahrnehmung der menschlichen Fähigkeiten

AnDy, FlexRoP

Modell

Studie

CogiMon

Vorhersagemodelle für menschliches Verhalten Deklarative Systembeschreibung und formale Verifikation Sensorbasierte Schätzung der menschlichen Bewegung

Zuverlässigkeit

Prognose des menschl. Verhaltens

Erweitertes digitales Menschmodell inkl. Verhaltensprognose

Zuverlässigkeit

Validierung von Programmmodifikationen

Systemarchitektur

Aufgabenzuordnung

Onlinefähige Adaption von Aufgabenplänen

Prädiktive Datenbzw. Menschmodelle

COROMA

SAMY

CoLLaboratE

Tabelle 2: Adressierte Forschungsaspekte zur Berücksichtigung von systembestimmenden Faktoren in Mensch-Roboter-Arbeitssystemen Literatur [AAL18] Aaltonen, I., Salmi, T. und Marstio, I. 2018, 'Refining Levels of Collaboration to Support the design and Evaluation of Human-Robot Interaction in the Manufacturing Industry', Procedia CIRP, Ausgabe 72, S. 93-98. [ANT16] Antonelli, D., Astanin, S. und Bruno, G. 2016, ‘Applicability of Human-Robot-Collaboration to Small Batch Production’, in IFIP Advances in Information and Communication Technology, Ausgabe 480, S. 24-32. [DAC19] Dachwitz, J. 2019, ‘Zukunftsorientierte Arbeitsplatzgestaltung unter Anwendung der Mensch-Roboter-Kooperation – Eine

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qualitative Analyse zur Auswahl von MRK-Arbeitsplätzen unter Berücksichtigung der Mitarbeitersicht’. Dissertation. Fakultät der Humanwissenschaften der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. [DIE15] Dietz, T. und ObererTreitz, S. 2015, ‘Mensch-RoboterKooperation wirtschaftlich einsetzen’, MM Maschinenmarkt 16. Juli. Verfügbar unter: <http://www. m a s c h i n e n m a rk t .vo g el . d e /m e n s c h roboter-kooperation-wirtschaf tlicheinsetzen-a-497914/>. (13. Mai 2020). [ERM19] Ermer, A.-K., Seckelmann, T., Barthelmey, A., Lemmerz, K., Glogowski, P., Kuhlenkötter, B. und Deuse, J. 2019, ‘A Quick-Check to Evalu-

ate Assembly Systems’ HRI Potential’, in Tagungsband des 4. Kongress Montage Handhabung Industrieroboter, S. 128-137. [HHA16] Haag, M. 2014, ‘Kollaboratives Arbeiten mit Robotern – Vision und realistische Perspektive’, in Zukunft der Arbeit in Industrie 4.0, A. Botthof und E. A. Hartmann (Hrsg.), Springer-Verlag, Berlin, S. 59-64. [LIN15] Lindekamp, C. 2015, ‘Roboter 4.0 in Hannover’, Handelsblatt 16. April. Verfügbar unter: <http://www.handelsblatt.com/technik/hannovermesse/ mensch-maschine-kooperation-roboter4-0-in-hannover/11648010.html>. (13. Mai 2020). [LÜD14] Lüdtke, A. 2014, ‘Wege aus der Ironie in Richtung ernsthafter Automatisierung’, in Zukunft der Arbeit in Industrie 4.0, A. Botthof und E.A. Hartmann (Hrsg.), Springer-Verlag, Berlin, S. 125146. [MAT13] Matthias, B. und Ding, H. 2013, ‘Die Zukunft der Mensch-Roboter Kollaboration in der industriellen Montage’, in Tagungsband Internationales Forum Mechatronik (ifm), Winterthur, Schweiz. [MAY19] Mayrhofer, W., Ansari, F., Sihn, W. und Schlund, S. 2019, ‘Konzept für ein Assistenzsystem für arbeitsplatznahes, reziprokes Lernen in hochautomatisierten Produktionsumgebungen’, Frühjahrskonferenz, GfA (Hrsg.). [PER20] Pérez, L., Rodriguez-Jiménez, S., Rodriguez, N., Usamentiaga, R., Garcia, D.F. und Wang, L. 2020, ‘Symbiotic Human-Robot Collaborative Approach for Increased Productivity and Enhanced Safety in the Aerospace Manufacturing Industry’, The International Journal of Advanced Manufacturing Technology, Springer. [RAL20] Rally, P. und Scholtz, O. 2020, ‘Abschätzung der Wirtschaftlichkeit für MRK-Anwendungen', ZWF, Ausgabe 115, Band 3, S. 166-170. [RAN17] Ranz, F., Hummel, V. und Sihn, W. 2017, 'Capability-based Task Allocation in Human-Robot Collaboration', Procedia Manufacturing, Ausgabe 9, S. 182-189. [RAN19] Ranz, F., Komenda, T. und Sihn, W. 2019, ‘Collaborative Robotics as a Success Factor in Electronic Manufacturing’, in Proceedings of the International Conference on Competitive Manufacturing (COMA), D. Dimitrov (Hrsg.), Stellenbosch University, Stellenbosch, 30. Januar-01. Februar, S. 278-284.

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TOP-THEMA [VIC20] Vicentini, F. 2020, ‘Terminology in safety of collaborative robotics’, Robotics and Computer-Integrated Manufacturing, Ausgabe 63. [WAC20] Wache, H., Dinter, B. 2020, ‘The Digital Twin – Birth of an Integrated System in the Digital Age’, in Tagungsband des 53rd Hawaii International Conference on System Sciences, S. 5452-5461. [ZHA20] Zhang, Z., Tang, Q., Ruiz, R. und Zhang L. 2020, 'Ergonomic Risk and Cycle Time Minimization for the U-Shaped Worker Assignment Assembly Line Balancing Problem: A Multi-Objective Approach’, Computers and Operations Research.

Autoren Titanilla Komenda, MSc, Jahrgang 1988, hat Mechatronik/Robotik an der Fachhochschule Technikum Wien studiert. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Fraunhofer Austria Research im Geschäftsbereich Advanced Industrial Management. Ihr Hauptarbeitsgebiet liegt im Bereich der Mensch-Roboter-Zusammenarbeit. Sie hat bereits knapp 10 Jahre Erfahrung in der Planung, Implementierung und Optimierung

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von robotergestützten Automatisierungsanlagen und beschäftigt sich seit knapp 4 Jahren mit der menschzentrierten industriellen Implementierung der Mensch-RoboterKollaboration. Dipl.-Ing. Dr. Mathias Brandstötter ist seit 2015 stellvertretender Direktor bei ROBOTICS, dem Institut für Robotik und Mechatronik der JOANNEUM RESEARCH Forschungsgesellschaft. Seine wissenschaftliche Ausbildung und berufliche Laufbahn sind überwiegend dem Thema Robotik gewidmet und er bringt seine Erfahrungen unter anderem als Forschungskoordinator bei ROBOTICS ein. Die Schwerpunkte

Titanilla Komenda, MSc Wissenschaftliche Mitarbeiterin Fraunhofer Austria Research im Geschäftsbereich Advanced Industrial Management

Dipl.-Ing. Dr. Mathias Brandstötter Stellvertretender Direktor bei ROBOTICS, dem Institut für Robotik und Mechatronik der JOANNEUM RESEARCH Forschungsgesellschaft seiner wissenschaftlichen Arbeiten liegen in den Bereichen kollaborative Robotersysteme, Robotersicherheit, sensitive mobile Manipulation und Roboterkinematik.

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Foto: Fraunhofer Austria und Institut für Managementwissenschaften der TU Wien

Philipp Hold, Fabian Holly

Einsatzplanung passiver Exoskelette in Produktion und Logistik Automatisierung, Roboter, Digitalisierung. Diese Schlagwörter sind allgegenwärtig in der Industrie und der Einsatz neuer Technologien trägt bereits dazu bei, Produktivität von Arbeitssystemen zu steigern. Den Menschen belastende Tätigkeiten finden sich jedoch nach wie vor in Produktions- und Logistikbereichen von Industrieunternehmen wieder. Neue Formen von Assistenzsystemtechnologien, sogenannte Exoskelette, bieten hier Möglichkeiten, MitarbeiterInnen bei der Ausführung ihrer Tätigkeiten zu entlasten. In den letzten Jahren ist das Marktangebot von Exoskeletten stark gestiegen und erschwert Industrieunternehmen den Entscheidungsprozess zur Auswahl eines geeigneten Exoskelettes. In diesem Beitrag ist eine grundlegende Vorgehensweise zur Auswahl eines geeigneten Exoskelettes dargestellt.

1. Entgegnung von Muskel-SkelettErkrankungen durch Exoskelette Einen der zentralen Trends in Europa stellt der Demografische Wandel dar, welcher sich zunehmend in Industrieunternehmen bemerkbar macht. Statistik Austria zeigt auf, dass sich das Durchschnittsalter in Österreich allein in den letzten 10 Jahren um 1,6 Jahre erhöht hat. Folgerichtig führt diese Entwicklung zu einem höheren Durchschnittsalter von MitarbeiterInnen in österreichischen Industrieunternehmen (Statistik Austria, 2019). Bereits heute findet der Begriff des so genannten „Leistungsgewandelten Mitarbeiters“ weite Verbreitung. Dieser Begriff beschreibt nach Adenauer MitarbeiterInnen, welche aufgrund körperlicher-, verletzungs- oder altersbedingter Einschränkungen ihre

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Arbeitsaufgabe gar nicht mehr oder nur teilweise ausführen können (Adenauer, 2004). Unter den gesundheitlichen Einschränkungen stellen Rückenschmerzen die häufigsten Gesundheitsbeeinträchtigungen dar. Diese gelten weltweit als „GlobalBurden-of-Disease-Faktor Nr.1“ und rund 1,76 Mio. Menschen in Österreich litten im Jahr 2014 daran, dicht gefolgt von Nackenschmerzen (rund 1,3 Mio. Menschen). Sowohl Rückenals auch Nackenschmerzen können durch Muskel-Skelett-Erkrankungen, worunter Erkrankungen des sogenannten Stütz- und Bewegungssystems, sowie der Muskeln, Gelenke, Sehnen und Bänder zusammengefasst sind, ausgelöst werden. In Österreich liegt die durchschnittliche Zahl an Krankenstandtagen pro erwerbstätige Person bei Muskel- und SkelettErkrankungen, sowie in Bezug auf

Erkrankungen des Bindegewebes bei 2,7 Tage (Statistik Austria, 2018). Die Bandbreite der Auswahlmöglichkeiten von Assistenzsystemen für den Einsatz in Produktions- und Logistikbereichen ist groß. In Arbeitsumgebungen, in denen viel gehoben, getragen oder über Kopf gearbeitet wird und technische Hilfsmittel wie Stapler oder Kräne aus technischen Gründen nicht anwendbar sind, stellt der Einsatz von Exoskeletten eine gute Möglichkeit dar, MitarbeiterInnen aus physisch ergonomischer Sicht zu entlasten, indem Exoskelette eine am Körper getragene Stützstruktur darstellen. Durch (elektro-) mechanische Unterstützung stellen Exoskelette dadurch eine Möglichkeit dar, einwirkende Belastungen auf den menschlichen Körper oder auf Teile des menschlichen Körpers zu reduzieren und Gefahren von Verletzungen

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TOP-THEMA zu verringern sowie dem Eintreten gesundheitlicher Schädigungen vorzubeugen. Exoskelette als technische Assistenzsysteme eröffnen ferner die Möglichkeit einer Verbesserung der Arbeitssicherheit, besonders in Bezug auf Tätigkeiten, bei denen aufgrund der Spezifik der Arbeitssituation bisher keine, oder nur unzureichende technische Hilfsmittel, wie zum Beispiel beim Heben schwerer Lasten oder bei Arbeiten in Zwangshaltung, einsetzbar sind. Exoskelette ermöglichen eine Entlastung des menschlichen Muskel-Skelett-Systems. Wissenschaftliche Begleitstudien stehen jedoch erst am Anfang (Ottobock, 2018). Doch ähnlich wie bei digitalen und robotergestützten Assistenzsystemen ist die Vielfalt des Marktangebots bereits stark ausgeprägt und stellt Produktionsunternehmen zunehmend vor die Herausforderung, das richtige System für die richtige Aufgabe und den richtigen Mitarbeiter in Bezug auf die richtige Unterstützung zu identifizieren, wozu im Folgenden eine grundlegende Vorgehensweise aufgezeigt wird. 2. Morphologie – Assistenzsystemtechnologie Exoskelett Um die technischen Ausprägungen und Möglichkeiten von Exoskeletten zu systematisieren, wird im Folgenden eine spezifische Morphologie von Exoskeletten dargestellt, welche die technischen Dimensionen und Ausprägungen verdeutlicht. Die Morphologie dient dabei als technischer Bezugsrahmen zur anwendungsgerechten Identifikation und Auswahl eines Exoskelettes. Exoskelette sind in Bezug auf ihre Kraftunterstützung in zwei Typen zu unterteilen – passive und aktive Exoskelette. Darüber hinaus sind weitere technische Dimensionen von Exoskeletten zu unterscheiden (DGUV, 2018), welche im Folgenden dargestellt sind: Antrieb: Während aktive Exoskelette Kraftunterstützung elektrisch oder pneumatisch erbringen, passiert dies bei den passiven Varianten mechanisch beispielsweise mittels Federn oder Seilsystemen. Energieversorgung: Passive Exoskelette benötigen keine externe

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Energieversorgung. Bei aktiven Exoskeletten wird hingegen zwischen mitzutragenden Elementen wie Akkus oder Gasflaschen und stationären Versorgungsmedien wie Stromnetz oder Druckluftsystemen unterschieden. Unterstützte Körperregionen: Marktfähige Exoskelette sind zur Unterstützung von Händen, Armen, Schultern, Rumpf sowie Beine bereits erwerbbar. Unterstützungsart: Als Unterstützungsarten von Exoskeletten sind die Kraftunterstützung, die Unterstützung der Ausdauer, sowie die Unterstützung der Bewegungsgeschwindigkeit des Trägers zu nennen. Gewicht: Passive Exoskelette sind aufgrund ihres weniger komplexen Aufbaus (keine Sensorik, Motoren oder Leitungen etc.) deutlich leichter als die Aktiven. So wiegt z.B.: das passive Exoskelett Rakunie von Morita nur 0,25kg, das aktive Torso-Modul „Active Trunk“ von Robo.Mate mit 11kg hingegen mehr als das 40-fache.

Einsatzbereich: In Produktionsund Logistikbereichen sind Exoskelette bei verschiedensten Tätigkeiten anwendbar. Typische Einsatzbereiche liegen aktuell vor allem im Bereich von Montage- sowie von Intralogistiktätigkeiten. Auch zu Schulungszwecken, wie beispielsweise beim Training der richtigen Körperhaltung bei schweren Hebetätigkeiten ist der Einsatz von Exoskeletten möglich. Anwendungsgrund: Leichte, passive Exoskelette werden vielfach zur Korrektur der menschlichen Haltung (beispielsweise beim Heben oder beim Arbeiten in Zwangspositionen) oder zur Abstützung von Lastgewichten eingesetzt. Aktive Exoskelette bieten darüber hinaus die Möglichkeit den Träger bei Hebearbeiten zu entlasten. Folgende Abbildung fasst die einzelnen Dimensionen sowie Ausprägungen aktiver und passiver Exoskelette innerhalb einer grundlegenden Morphologie zusammen. Im Gegensatz zur Anwendung passiver Exoskelette in Produktions- und Logistikbereichen, befinden sich aktive Exoskelette auf einem deutlich geringeren Technologie Readiness Level. Vor diesem Hintergund bezieht sich die im Folgenden dargestellte Vorgehensweise zur Einsatzplanung von Exoskeletten primär auf passive Systeme. 3. Vorgehensweise zur Einsatzplanung passiver Exoskelette

Abbildung 1: Morphologie passiver und aktiver Exoskelette

Der Einsatz von Exoskeletten ist arbeitsplatzspezifisch zu planen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Sinnhaftigkeit einer Implementierung und Verwendung eines geeigneten Exoskelettes sich erst

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Abbildung 2: Vorgehensschritte zur Einsatzplanung passiver Exoskelette nach einer genauen Analyse der Arbeitsaufgabe, des Arbeitsplatzes und Arbeitsumfelds sowie mittels eines durchzuführenden Praxistests beurteilen lässt. Die von Fraunhofer Austria / TU Wien entwickelte Vorgehensweise zur Entscheidungsunterstützung bei der Auswahl fallspezifischer passiver Exoskelette baut auf vier miteinander interagierenden Einzelphasen auf: Tätigkeits- und Ergonomie-Analyse, Meta- und Desktoprecherche, Auswahlphase, Test- und Validierungsphase auf. In der ersten Phase der Tätigkeitsund Ergonomie-Analyse werden mittels Beobachtungen von MitarbeiterInnen die Tätigkeiten, welche auftragsspezifisch auszuführen sind, in Form detaillierter Tätigkeitsbeschreibungen analysiert. Es bietet sich dabei an, dass die Beschreibung der Tätigkeit auf der Granularität einer MTM-UAS Analyse basiert, um die Informationen anschließend einer Ergonomie Screening-Methode (EAWS, LMM, etc.) zu überführen (Bokranz/ Landau, 2012). Die auf Basis dieses Vorgehen gewonnen Erkenntnisse ermöglichen es, die durch das Exoskelett primär zu unterstützende Körperregion, die Unterstützungsart und den Anwendungsgrund des Exoskelettes zu spezifizieren und entsprechende funktionale Anforderungen an das einzusetzende Exoskelett zu identifizieren.

Durch eine kontinuierliche Metaals auch Desktoprecherche verfügen Fraunhofer Austria und TU Wien über umfassende Technologiekataloge zu passiven Exoskeletten, in welchen die wesentlichen auf dem Markt verfügbaren Technologien dokumentiert und nach der oben dargestellten Morphologie systematisiert sind. Da viele Technologien pilothaften Demonstratoren aktueller Forschungsund Entwicklungsprojekte entsprechen, sind Technologiereporte ebenso in dem Katalog aufgenommen und die Ergebnisse nach den Kriterien des Technology-Readiness Level in Anlehnung an ISO 16290 bewertet. Die Meta- und Desktoprecherche stellt den zweiten Schritt der Vorgehensweise dar und ist kontinuierlich durchzuführen. Folgende Grafik verdeutlicht aktuelle Hersteller aktiver und passiver Exoskelette. Im dritten Schritt der Auswahlphase werden zunächst in Anlehnung an die Quality-Function-Deployment Methode (Spath, 2004) die aus der Phase der Tätigkeits- und ErgonomieAnalyse identifizierten Informationen und grundlegenden Anforderungen an den Einsatz von Exoskeletten gewichtet und nach ihrer Bedeutung den der Morphologie zugeordneten potenziellen Technologielösungen (Technologiekatalogen) gegenübergestellt. Über anschließende Vergleichs-Analysen erfolgt innerhalb dieser Systematik eine Identifikation

des für den betrachteten, spezifischen Anwendungsfall geeigneten Exoskelettes. Die vorteilhaftesten Lösungen werden anschließend nach den Ergebnissen einer Kosten- und Nutzenanalyse gerankt und die beste Lösung auf diese Weise identifiziert. Die Kostenaspekte sind dabei vor allem auf erforderliche Investitionskosten gerichtet und lassen sich quantifizieren, während die Nutzenaspekte sich vor allem auf ergonomische Verbesserungspotenziale beziehen und gegenwärtig lediglich qualitativ bewertbar sind. Zur Quantifizierung ergonomischer Verbesserungen und damit einhergehender, potenziell betriebswirtschaftlicher Nutzeneffekte fehlen gegenwärtig abgesicherte Erkenntnisse. Nachdem die Auswahl des geeigneten Exoskeletts getroffen worden ist, schließt sich die Test- und Validierungsphase an. Innerhalb dieser Phase erfolgt ein stufenweises Vorgehen entlang der Umsetzung eines Pilotprojektes in dem betrachteten Arbeitsbereich. Das Pilotprojekt dient zum einen dazu, möglichst frühzeitig erste Erfolge durch die Verwendung des Exoskelettes aufzuzeigen und zu verdeutlichen sowie zur Akzeptanzsicherung der Verwendung durch die MitarbeiterInnen. Hierzu wurden von Fraunhofer Austria und TU Wien spezifische Einschulungs-, Versuchs- und Testreihen entwickelt, welche sich vor allem auf die Analyse von Usabilityund User-Experience-Aussagen der MitarbeiterInnen beziehen und es darüber hinaus ermöglichen, Aussagen zur Verbesserungen des Einsatzes von Exoskeletten zu erzielen.

Abbildung 3: Auszug Ergonomieanalyse

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TOP-THEMA welche durch Anwendung einer Ergonomie-Analyse verdeutlicht wird (hier Leitmerkmalmethode Heben, Halten, Tragen). Eine Investition in technische Handhabungssystemen zur Unterstützung der MitarbeiterInnen zeigt für diesen Anwendungsbereich keine vorteilhafte Amortisation auf. Abbildung 5 verdeutlicht das Ergebnis. Die Durchführung der Leitmerkmalmethode zeigt, dass der Anwendungsgrund für den Einsatz eines Exoskelettes hier, Abbildung 4: Technologie- und Marktübersicht vor allem im Anwendungspassiver und aktiver Exoskelette bereich der Überkopfarbeit liegt, wodurch mit Bela4. Use Case in der TU-Wien Pilotfastungen im Schulter-Rückenbereich brik Industrie 4.0 der MitarbeiterInnen zu rechnen ist und diese spezifischen KörperregiIm Bereich eines manuell geführten onen somit mittels des Einsatzes eines Kleinteilelagers in der TU Wien Pi- Exoskelettes zu unterstützen sind. lotfabrik Industrie 4.0 kommissionie- Das System Paexo von Ottobock ren MitarbeiterInnen täglich mehrere wurde als ein gut geeignetes Exoskehundert Teile. Geführt durch eine lett identifiziert. Paexo ist ein passives digitale Werkerführung entnehmen Exoskelett, das keine Energiezufuhr die MitarbeiterInnen hierzu entspre- benötigt. Es wird relativ eng am Körchende Kleinladungsträger (KLT) per getra-gen und ermöglicht in der mit einem variierenden Gewicht von Regel volle Bewegungsfreiheit. Das 10 kg – 20 kg aus dem Lagerregal, Exoskelett leitet im vorliegenden Fall stellen diesen KLT auf einem Tisch die, durch die Arbeitstätigkeit resulab und kommissionieren die festge- tierenden Belastung vom Schulterlegte Anzahl an Teilen in einen, für Rückenbereich über eine Mechanik die Montage spezifischen KLT und direkt in den Hüftbereich der Mitstellen diesen abschließend auf einem arbeiterInnen ab. Die ergonomische Fahrerlosen Transportsystem ab. Zur Belastungsgrenze des Hüftbereiches Aufnahme und Abstellung der KLTs liegt höher als die des Schulter-Rüarbeiten die MitarbeiterInnen zu ckenbereichs. 70 % über Herzhöhe. Die restlichen Im Zuge der Usability- und User30 % der Entnahme- und Abstelltä- Experience-Analyse wurde eine tigen erfolgt in gebückter oder gar vereinfachte System Usability Scalehockender Position. Analyse (SUS-Analyse) durchgeführt Durch die auszuführende Tätig- (Bangor et al., 2009). Die Ergebnisse keit resultieren hohe Belastungen, der SUS-Analyse zeigt starke Ausvor allem im Bereich des Schulter- prägungen auf. So gaben die MitarNackenbereichs auf die Mitarbei- beiterInnen an, dass das Tragen des terInnen. Eine körperliche Über- Exoskelettes mit einem hohen Sicherbeanspruchung ist wahrscheinlich, heitsgefühl verbunden, das richtige

Abbildung 5: Ergebnis Ergonomieanalyse 34

Anwenden des Exoskeletts schnell zu erlernen und die richtige Nutzung einfach ist. Die Vorstellung das Exoskelett regelmäßig zu nutzen und die Integration (Anwendung) der Funktionen des Exoskeletts in dem Tätigkeitsprozess ist gut vorstellbar. Alle restlichen Fragen wurden mit sehr geringer Ausprägung bewertet, wie die folgende Abbildung verdeutlicht. Das Paexo Exoskelett von Ottobock nimmt über die Armschalen das Gewicht der Arme auf und leitet es über ein Gelenk und ein Federsystem auf die Hüfte. Die Last wird somit von der Schulter beziehungsweise dem Rücken genommen. Die einfache Handbarkeit spiegelt sich in der Bewertung wider. Die Frage nach der Komplexität des Produktes wurde mit lediglich 0,5 von 4 Punkten bewertet. Keiner der Probanden empfand die Bedienung als sehr umständlich, auch musste kein Vorwissen mitgebracht werden, um mit dem Exoskelett arbeiten zu können. Entwickelt wurde das Exoskelett für längeres Arbeiten im Überkopfbereich, dabei wurde auf enganliegende Komponenten geachtet, die bei der Tätigkeit nicht stören. 5. Kritische Reflektion und Ausblick Stärken und Hauptanwendungsgründe für den Einsatz von Exoskeletten in Produktions- und Logistikbereichen liegen vor allem in der Verbesserung ergonomischer Belastungen von MitarbeiterInnen und der damit verbundenen möglichen Reduktion gesundheitlicher Risiken bei der Ausführung körperlich belastender, manueller Tätigkeiten, indem beispielsweise der Arbeitskomfort verbessert wird. Hierzu sind die Systeme jedoch genau auf die Körpermaße der MitarbeiterInnen einzustellen, um unter anderem Druckstellen zu vermeiden. Während die mitarbeiterindividuelle Einstellung bei passiven Exoskeletten einfach erfolgt, ist die spezifische Einstellung von aktiven Exoskeletten gegenwärtig mit noch hohen Anforderungen und Aufwänden verbunden. Aber auch bei passiven Exoskeletten ist die wirkende Unterstützungskraft auf die MitarbeiterInnen und die verbundene Tätigkeit individuell einzustellen, um beispielsweise mus-kuläre Dysbalancen vorzubeugen. Bei richtiger Verwendung ist davon auszu-

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Abbildung 6: Soll-Situation – Verwendung des Exoskelettes Paexo der Firma Ottobock gehen, dass Muskel-Skelett Erkrankungen reduziert werden, wodurch mit einer Reduktion von Fehlzeiten und Krankenständen zu rechnen ist. Sowohl für den Einsatz passiver als auch aktiver Exoskelette in Produktions- und Logistikbereichen liegen jedoch gegenwärtig kaum wissenschaftlich abgesicherte Erkenntnisse zu Langzeiteffekten und -folgen vor. Gleichzeitig steigt die Verfügbarkeit von Exoskeletten am Markt, was die Herausforderung zur Auswahl eines geeigneten Exoskelettes erhöht. Die aufgezeigte Vorgehensweise zeigt, wie durch Analyse eines spezifischen Anwendungsfalles die Auswahlentscheidung für den Einsatz eines passiven Exoskelettes verbessert wird. Auf Grund aktuell fehlender arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse in Form methodengestützter, ergonomischer Bewertungs- und Analyseverfahren, welche den Einsatz unterschiedlicher Exoskelette berücksichtigen, lassen sich Nutzeneffekte durch Verwendung von passiven aber auch aktiven Exoskeletten aktuell lediglich qualitativ in Bezug auf mögliche, ergonomisch potenzielle Verbesserungen bewerten. Eine quantifizierte Entscheidungsunterstützung kann aktuell lediglich wie folgt aussehen: In Arbeitssystemen, in welchem eine gesundheitsbeein-trächtige Arbeit durchzuführen ist, welche das Risiko einer Muskel- und Skelett-Erkrankung birgt, ist bei einer durchschnittlichen, täglichen Arbeitszeit von 8 Stunden mit 4.312,00 EUR Kosten (15,4 Tage x (8 Stunden / Tag x 35,00 EUR)) für den Arbeitgeber zu rechnen. Diese Kosten sind vereinfacht dargestellt und berücksichtigen keine zusätzlichen Kosten, wie die zur Verfügungstellung von Ersatzarbeitskräften, wie beispielsweise von

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Leiharbeitern. Bei einer durchschnittlichen Investition von < 10.000,00 EUR für ein entsprechend geeignetes Exoskelett ergibt sich, pessimistisch gerechnet, die Möglichkeit einer entsprechenden Rentabilität nach ca. < 2,3 Jahren. Im Falle, dass die Tätigkeit durch eine Vertretungsperson oder durch einen Leiharbeiter durchzuführen ist, würden sich die Kosten für den Arbeitgeber verdoppeln und ca. 8.624,00 EUR betragen, womit sich die Möglichkeit einer entsprechenden Rentabilität auf < 1,15 Jahre halbieren würde. Es gilt vor diesem Hintergrund, weitere Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten zu ergreifen, um ergonomische Verbesserungen durch Verwendung von Exoskeletten quantitativ besser bewertbar zu machen und auf diese Weise die Möglichkeit zu erhalten, bereits heute quantifizierbare Investitionskosten mit quantifizierbaren Nutzeneffekten im Sinne der Rentabilitätsbetrachtung gegenüberzustellen. Darüber hinaus gilt es, die Vorgehensweise um eine Analyse arbeitssicherheitstechnischer Anforderungen zu ergänzen, um Risiken zu identifizie-

ren und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass arbeitssicherheitstechnische Anforderungen arbeitsplatzspezifisch sind. Bei Verwendung von Exoskeletten am Arbeitsplatz ist gemäß Arbeitsschutzgesetz der Arbeitgeber verpflichtet, für die Vermeidung von Gefährdungen, Sicherheit, Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung, sowie Ableitung und Umsetzung von wirksamen Schutzmaßnahmen Sorge zu tragen (BGHM, 2017). Darüber hinaus sind handhabbare Validierungsmethoden zu erforschen und zu entwickeln, aus deren Ergebnissen vertiefende Informationen hervorgehen, welche Einfluss das Tragen eines Exoskelettes über einen längeren Tätigkeitszeitraum auf von MitarbeiterInnen haben. Literaturverzeichnis Adenauer. (2004). Die (Re-)Integration leistungsgewandelter Mitarbeiter in den Arbeitsprozess. Das Projekt FILM bei Ford Köln. angewandte Arbeitswissenschaft 181, S. 1-18 ASU. (2018). Chancen und Risiken für den Einsatz von Exoskeletten in der betrieblichen Praxis. Abgerufen 11.Oktober, 2019, von https://www.asu-arbeitsmedizin.com/chancen-und-risiken-fuer-deneinsatz-von-exoskeletten/chancen-undrisiken-fuer-den-einsatz-von Bangor, Kortum, Miller. (2008). An Empirical Evaluation of the System Usability Scale. International Journal of HumanComputer Interaction 24 (6): 574–94. BAuA. (2019). Leitmerkmalmethode zur Beurteilung von Gestaltung von Belastungen beim manuellen Heben, Halten

Abbildung 7: SUS-Analyse auf Grundlage von fünf befragten Personen

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TOP-THEMA und Tragen von Lasten ≥ 3 kg. Abgerufen 19.Mai,2020, von https://www.baua. de/ DE/ Themen/Arbeitsgestaltung-imBetrieb/Physische-Belastung/Leitmerkmalmethode/pdf/LMM-Heben-HaltenTragen.pdf?__blob=publicationFile BGHM. (2017). Einsatz von Exoskeletten an (gewerblichen) Arbeitsplätzen. Abgerufen 11.Oktober, 2019, von https://www. bghm.de/fileadmin/user_upload/Arbeitsschuetzer/Fachinformationen/Fachinformationen/FI-0059_Einsatz-von-Exoskeletten-an-gewerblichen-Arbeitsplaetzen. pdf Bokranz, Rainer, und Kurt Landau. (2012). Handbuch Industrial Engineering: Produktivitätsmanagement mit MTM. Bd. 2: Anwendung. 2., überarb. und erw. Aufl. Stuttgart: Schäffer-Poeschel. DGUV. (2018). Einsatz von Exo-Skeletten an gewerblichen Arbeitsplätzen. Abgerufen 11.Oktober, 2019, von https://www. dguv.de/fbhl/sachgebiete/physische-belastungen/faq_exo/index.jsp Ottobock. (2018). Exoskelette: Definition und Vorteile im industriellen Einsatz. Abgerufen 11.Oktober, 2019, von https:// www.ottobock.com/media/local-media/ press/_media-information/paexo/files/ hintergrundinformationen-exoskelette. pdf Spath, D. (2004). Forschungs- und Technologiemanagement. Potenziale nutzen - Zukunft gestalten. München, Hanser, 2004 Statistik Austria. (2019). Anzahl der Erwerbstätigen in Österreich nach Altersgruppen von 2008 bis 2018. Abgerufen 11. Oktober, 2019, von https://de.statista. com/statistik/daten/studie/823860/umfrage/erwerbstaetige-in-oesterreich-nachaltersgruppen/ Statistik Austria. (2018). Krankenstandsfälle, -dauer und -tage 2018 nach Ge-

schlecht und Diagnose. Abgerufen 17. Dezember, 2019, von http://www. statistik.at/web_de/ statistiken /menschen _und_ gesellschaft /gesundheit / gesundheitszustand/ k ra n ken st a nd st age/121708.html

Dipl.-Wirtsch.-Ing. Philipp Hold Projektleiter im Geschäftsbereich Advanced Industrial Management der Fraunhofer Austria Research GmbH

Autoren: D i p l . -W i r t s c h . Ing. Philipp Hold, Jahrgang 1984, ist Projektleiter im Geschäftsbereich Advanced Industrial Management der Fraunhofer Austria Research GmbH. Seine Hauptarbeitsgebiete liegen im Bereich der Entwicklung und Anwendung von Lösungen und Methoden für die Strategien, die Strukturen und die Prozesse von Industrieunternehmen mit Fokus auf der Gestaltung von ergonomischen und alternsgerechten Arbeitssystemen. Als Doktorratsstudent an der TU Wien und Teilnehmer am DoktoratsKolleg "Cyber Physischer Produktionssysteme" (CPPS) erforscht Philipp Hold Planungs- und Steuerungsmethoden im IKT-dominierten Arbeitssystem mit Fokus auf effiziente und effektive Mensch-Maschinen-SystemInteraktionen. Daneben leitet Philipp Hold mehrere Industrieprojekte, mit Schwerpunktsetzung auf nachhaltige

Fabian Holly, BSc. Hilfswissenschaftlicher Mitarbeiter im Geschäftsbereich Advanced Industrial Management der Fraunhofer Austria Research GmbH Produktivitätssteigerungen in Montagesystemen im Sinne des Industrial Engineerings. Fabian Holly, Jahrgang 1992, studiert Wirtschaftsingenieurwesen Maschinenbau an der TU Wien und ist Hilfswissenschaftlicher Mitarbeiter im Geschäftsbereich Advanced Industrial Management der Fraunhofer Austria Research GmbH. In seiner Diplomarbeit mit dem Titel „Multikriterielles Vorgehensmodell zur Auswahl von Exoskeletten für den Einsatz in Produktion und Logistik“ beschäftigt er sich mit der Verwendung von Exoskeletten im menschund produktivitätsorientierten Arbeitssystem der Zukunft.

Schwerpunkt-Themen WINGbusiness 2020 Heft 03/2020: „Lean & Green“ Heft 04/2020: "Digitalisierung in der Produktion vorantreiben"

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TOP-THEMA

Foto: © Rosenbauer

Matthias Wolf, Sandra Siedl

Exoskelette und Demographie Wie Exoskelette helfen können, die Arbeitsfähigkeit zu steigern Österreich und seine Arbeitnehmenden werden zunehmend älter. Muskuloskelettale Erkrankungen führen die Statistik als häufigste Ursache für Krankenstände an. Als wichtige Bausteine zur Begegnung dieser Herausforderungen treten dabei der Erhalt von Arbeitsfähigkeit und Gesundheit sowie die Reduktion arbeitsbedingter Belastungen zu Tage. Exoskelette gewinnen in diesem Kontext als neue mobile und körpergetragene Assistenzsysteme verstärkt an Bedeutung. Die Ergebnisse einer Testung in Industriebetrieben sprechen für sich und zeigen vor allem eine hohe Praxistauglichkeit. Demographie und Alter Der demographische Wandel führt zu einer Veränderung der Altersstruktur in Österreich. Wir werden insgesamt älter, da sich die Anzahl an jüngeren Menschen in der Gesellschaft verringert und sich damit das Erwerbspotenzial zu älteren Generationen verschiebt1. Die arbeitende Bevölkerung hat damit, im Durchschnitt gesehen, ein zunehmend höheres kalendarisches und tendenziell auch ein höheres biologisches Alter. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass der menschliche Organismus einem natürlichen Alterungsprozess unterworfen ist, der eine Veränderung von gesundheitlichen, physischen und mentalen Leistungsvoraussetzungen bewirkt. Ebenso vollzieht sich ein Wandel im Bereich von Kompetenzen, Einstellungen und Motivation vor dem jeweiligen individuellen Erfahrungs1 Statistik Austria, 2018 WINGbusiness 2/2020

hintergrund der Person2. Alternde Belegschaften in Industriebetrieben bringen als öffentlich thematisiertes Resultat einer demographischen Verschiebung trotz bestehender Potenziale sowohl volkswirtschaftliche als auch innerbetriebliche Herausforderungen mit sich. So ist etwa ein Zusammenhang zwischen Alter und der Länge krankheitsbedingter Abwesenheiten feststellbar (Abbildung 1).

Solche Abwesenheiten verursachen jährlich österreichweit volks- und betriebswirtschaftliche Kosten in Höhe von ca. 10 Milliarden Euro oder ca. 3 % des österreichischen Bruttoinlandsproduktes3. Muskel-Skelett Erkrankungen (MSE) spielen dabei eine zentrale Rolle. Diese sind seit Jahren der häufigste Grund für Arbeitsunfähigkeitstage in der EU. Alleine diese Gruppe von Krankheiten ist für über ein Fünftel aller Krankenstandstage (22 %) und für über ein Drittel (ca. 38 %) der entstehenden Kosten verantwortlich4. Insbesondere im Zusammenhang mit einer im Durchschnitt alternden Belegschaft sind MSE von besonderer Bedeutung, da diese im Gegensatz zu den meisten anderen Krankheitsarten Abbildung 1: Veränderung von Beschäftigung und Krankenständen im Alter 2 Tempel & Ilmarinen, 2013

3 Fehlzeitenreport, 2019, S. V 4 EU-OSH 2010, S. 56 und S. 101 37


TOP-THEMA größen eine hohes Flexibili- organisatorische Maßnahmen tätsniveau im Arbeitsprozess (= Organisation), und im Zuge dessen das ak- und personenbezogene Maßnahtive Ein- und Mitwirken des men (= Person) “Faktors Mensch” erfordern, zur Verringerung oder Entschärfung können hierbei als Beispiel von Gefährdungen und physischen genannt werden. In Abhän- Belastungen. gigkeit von Arbeitsumgebung Die Anpassung von Prozessen und und Arbeitstätigkeit sind Arbeitsplätzen (z.B. Bereitstellung höMitarbeiter im Zuge ihrer henverstellbarer Arbeitstische) sowie Arbeitsausführung in vielen der Einsatz von technischen HilfsmitFällen auch unter Einhaltung teln wie Kränen oder alternativen Heformaler arbeitsschutzrecht- behilfen (z.B. Gabelhubwagen oder licher Vorschriften körper- Scherenhubtischen) ist hier ebenfalls Abbildung 2: Tendenz zur Veränderung der lichen Belastungen mit dem zu nennen, wie das adäquate Traiphysischen Arbeitsfähigkeit im Alter Risiko gesundheitlicher Fol- ning von Mitarbeitern (z.B. hinsichtmit dem Alter bis um das 11-Fache gen ausgesetzt. So tragen lich richtiger Hebe- und Tragetechansteigen5. physische Belastungen durch Mate- niken). Auch Maßnahmen im Bereich Für Unternehmen stellen MSE so- rialtransport, repetitive kleinteilige von Dauer, Ausmaß und Lage der mit einen bedeutenden Kostenfaktor Bewegungen oder ungünstige Kör- Arbeitszeit (v.a. im Sinne einer zeitdar. In der produzierenden Industrie perhaltungen über die letzten Jah- lichen Reduktion) stellen einen mögwurde erhoben, dass pro betroffenem re hinweg beinahe unverändert zur lichen Ansatzpunkt der BelastungsBeschäftigten Kosten in der Höhe von Entstehung eines arbeitsbedingten reduktion dar. Im Zusammenhang bis zu 11.200 Euro pro Jahr anfallen muskuloskelettalen Beschwerdebildes mit innovativen Technologien wird können6. Gerade vor diesem Hinter- bei8. davon ausgegangen, dass durch eine grund wird die Relevanz von MaßUnterschiedliche Methoden und Kombination von Automatisierung, nahmen für den Erhalt und die Förde- Ansätze zur Reduktion physischer kollaborativen Robotern (Cobots), rung der Arbeitsfähigkeit hinsichtlich Belastungen am Arbeitsplatz die- intelligenten Werkzeugen, körperder betrieblichen Praxis und anwen- nen der Prävention solcher Erkran- getragenen Unterstützungssystemen dungsorientierten Forschung ersicht- kungen sowie allgemein dem Erhalt und Mixed-Reality (MR) sowie Virlich. Nicht zuletzt da wissenschaft- der Arbeitsfähigkeit. Liegt ein aus- tual-Reality (VR) Lösungen zur Unliche Studien darauf hinweisen, dass gewogenes Verhältnis zwischen den terstützung des Menschen zukünftig für jeden in adäquate Präventivmaß- tatsächlichen Anforderungen des unterschiedliche physische und psynahmen wirksam investierten Euro Arbeitsplatzes und den individuellen chische Reduktionen der Arbeitsbelabis zu 2,2 Euro an späteren negativen Leistungsressourcen einer Person stungen erzielt werden können. Eine Folgen eingespart werden können7. vor, so kann von deren vorliegender Übersicht der potenziellen Eignung Arbeitsfähigkeit gesprochen werden. unterschiedlicher AssistenztechnoloAssistenzsysteme im Arbeitsumfeld Persönliche Leistungsressourcen um- gien zur physischen Belastungsredukfassen dabei etwa die körperliche tion zeigt Abbildung 3. Bedingt durch den technologischen Konstitution und Gesundheit sowie In industriellen AnwendungsfälFortschritt ist die Teil- oder Vollauto- Kompetenzen und Einstellungen. Sie len, in denen matisierung von Produktionsprozes- stellen die Voraussetzung dar, um Aufgaben nicht automatisierbar, sen vielfach gängige Praxis geworden. Arbeitsaufgaben in einer spezifischen Belastungen aber für Mitarbeiter Es gelangen innovative Technologien Situation, zu einem bestimmten Zeitdennoch hoch sind, zur Anwendung, die vor allem eine punkt erfolgreich bewältigen manuelle Ausführung einfach aus- zu können und werden auch zuführender, monotoner und phy- von altersbedingten Veränsisch belastender Tätigkeiten obso- derungen beeinflusst (Abbillet machen. Trotz eines anhaltenden dung 2). Trends in Richtung industrieller Maßnahmen zur FördeAutomatisierung gibt es jedoch wei- rung der Arbeitsfähigkeit terhin Arbeitsbereiche, in denen die umfassen dem hierarchiMöglichkeiten des Ersatzes mensch- schen STOP-Prinzip des Arlicher Arbeitskraft durch maschinelle beitsschutzes folgend hierbei Arbeitsausführung begrenzt bzw. fi- den Ersatz von Anlagen nanziell oder inhaltlich nicht sinnvoll und Arbeitsmitteln zur sind. Dynamische Fertigungs- und Vermeidung des Risikos (= Lagerumgebungen, die aufgrund von Substitution), Variantenvielfalt sowie kleiner Los- technische Maßnahmen Abbildung 3: Übersicht verschiedener Assi(= Technik), 5 GKK Gesundheitsreport, S.46 stenztechnologien und deren Entlastungswir6 EU-OSHA 2010, S. 100 kung 7 Zana et al. 2019, S. 408 8 Eurofound, 2012 38

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TOP-THEMA die örtliche Flexibilität der Werker erhalten bleiben soll, eine personenbezogene Arbeitsunterstützung gefordert ist und/ oder keine Möglichkeit bzw. Sinnhaftigkeit der Implementierung anderer (ggf. statisch verankerter) Assistenz- und Unterstützungssysteme am Arbeitsplatz vorhanden ist, gewinnen mobile und körpergetragene Assistenztechnologien an Bedeutung. In Hinblick auf die körperliche Unterstützung zur Vermeidung von physischen Fehlbelastungen sind Exoskelette ein aktuelles Beispiel. Exoskelette – tragbar, mobil, flexibel Exoskelette sind mechanische Stützstrukturen, die bestimmten Teilen des menschlichen Bewegungsapparates nachempfunden sind und dazu geeignet erscheinen, arbeitsbedingte körperliche Belastungen zu reduzieren. Die erzielte Entlastung unterscheidet sich nach aktiven und passiven Systemen. Aktive Systeme zeichnen sich durch die Verwendung von diversen Aktuatoren (z.B. elektrisch betriebene Motoren) aus, welche dem Träger von außen zusätzliche Energie zuführen und dadurch dessen Kraftlevel erhöhen. Im Gegensatz dazu kommen passive Exoskelette ohne jede externe Energiequelle aus. Sie bedienen sich gewisser Materialien, Federn und Klappen, die in der Lage sind, die eigene Körperenergie im Bedarfsfall umzuverteilen. Anwender werden dadurch etwa im Halten einer spezifischen Position oder beim Ausführen einer bestimmten Bewegung unterstützt. Da Exoskelette in der Regel „angezogen“ und direkt am Körper getragen werden, weisen sie, ähnlich wie Elemente einer persönlichen Schutzausrüstung, einen engen physischen Kontakt zum Benutzer auf. Dies unterscheidet sie von vielen anderen im Arbeitsumfeld genutzten Assistenzsystemen, die eine größere räumliche Distanz zu ihren Benutzern wahren. Ursprünglich aus dem militärischen und medizinischen Bereich kommend finden sich infolge technischer Weiterentwicklung und Designanpassungen mittlerweile eine Vielzahl an Modellen und Formen

unterschiedlicher industrieller Exoskelette am Markt. Wie erste Anwendungsszenarien meist in Produktionsstätten großer Automobilhersteller sowie eine wachsende Anbietervielfalt zeigen, sind es aktuell vor allem noch passive Systeme, welche als marktreife Produkte zur Verfügung stehen. Ersten Prognosen zur Folge soll das Markvolumen für Exoskelette bis 2026 jedoch insgesamt auf geschätzte 4,6 Milliarden US-Dollar pro Jahr ansteigen9. Einsatz in Theorie und Praxis In den letzten Jahren wurden Exoskelette verstärkt zum Objekt wissenschaftlicher Untersuchungen, bei denen Aspekte der technischen Entwicklung bzw. ihrer funktionalen Anwendung im Vordergrund standen. Anhand der punktuellen Ausführung vordefinierter Aufgaben und der damit einhergehenden Reproduktion spezifischer Bewegungsabläufe wurde im Laborsetting gezielt versucht, Belastungsveränderungen festzumachen. Das Heben von Objekten, körperlich anstrengende Überkopfarbeiten, statisches Halten sowie Tätigkeiten mit vorgebeugtem Oberkörper stellten dabei häufig den Ausgangspunkt der Studien dar. Unter vergleichsweiser Ausführung dieser Tätigkeiten mit und ohne ExoskelettUnterstützung wurden etwa durch EMG-Messungen Belastungsunterschiede ermittelt. Neben positiven Effekten auf die Belastungssituation von Nutzern traten teilweise auch nachteilige physische Effekte als Resultat einer Kräfteumverteilung bei passiven Exoskeletten zu Tage. Zudem beeinflusste das Auftreten von körperlichem Unbehagen oder eine mögliche Verringerung der Arbeitsgeschwindigkeit durch das Tragen von Exoskeletten deren funktionale Beurteilung mitunter negativ. Damit einhergehend wird in bestehenden Studien darauf hingewiesen, dass ein hoher Bedarf an weiterführenden Untersuchungen besteht, welche den Nutzer in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt. Ebenso wird die Notwendigkeit der direkten Anknüpfung an reale Arbeitsumgebungen, des Einbezug potenzieller Anwender sowie der Verwendung hochwertiger Studiendesigns hervorgestrichen.

Auch aus einem praxisorientierten Blickwinkel erscheint das Wissen um die Folgen und Voraussetzungen des Einsatzes von Exoskeletten an Arbeitsplätzen der Produktion und Logistik aus mehrfacher Sicht höchst relevant: So ist die Entscheidung zur Anschaffung technischer Assistenzsysteme in der Regel von wirtschaftlichen Überlegungen geprägt, welche im Kern auf ein vertretbares Kosten-Nutzen-Verhältnis abzielen. Daran anknüpfend setzt die Realisierung, der mit der Einführung der Assistenztechnologie verfolgten Zielsetzungen (u.a. Vorbeugung arbeitsbedingter Belastungen zur Reduktion von Ausfallzeiten) eine adäquate (Entlastungs-)Wirkung unter den jeweils gegeben Umständen voraus. Zusätzlich braucht es vor allem auch die Bereitschaft zur tatsächlichen Nutzung der Assistenztechnologie durch die jeweiligen Mitarbeiter an ihren Arbeitsplätzen als Basis für die mögliche Erzielung intendierter Unterstützungseffekte. Sollen Exoskelette in produktionsnahen Arbeitsumgebungen zukünftig also stärker zum Einsatz kommen und ihr gesundheitsförderndes Potenzial entfalten, ist es notwendig, ihre Wirkungen in unterschiedlichen industriellen Einsatzfeldern und damit direkt im Feld weiter zu erforschen. Die Kenntnis des durch Exoskelette realisierten subjektiven Entlastungsempfindens und die Voraussetzungen und Begleitbedingungen einer erfolgreichen Implementierung, sind aus einer theorie- sowie praxisgeleiteten Betrachtung heraus in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse. Diese schließt Konsequenzen auf Arbeitsausführung und Arbeitsleistung sowie den wahrgenommenen Tragekomfort seiner Nutzer mit ein. Zudem gilt es von einem ergonomischen Standpunkt aus die individuellen Bedürfnisse von potenziellen Anwendern zu berücksichtigen, welche abhängig von nutzerbezogenen Unterschieden wie Alter, Geschlecht oder Gesundheitszustand inklusive körperlicher Einschränkungen, variieren können. Es stellt sich damit schlussendlich die Frage, welche

9 Terstegen & Sandrock, 2019 WINGbusiness 2/2020

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Abbildung 4: Die Exoskelette im Feldtest (©REWE-Group) Faktoren für eine erfolgreiche und nutzbringende Implementierung von Exoskeletten als moderne Systeme ergonomischer Werkerassistenz in Unternehmen und damit für die betriebliche Praxis eine Rolle spielen. Das Forschungsprojekt EnableMe 50+ Das durch die FFG geförderte Bridge 1-Projekt EnableMe 50+ beschäftigt sich mit der Methodik- und technologiegestützten Befähigung von Arbeitskräften der Generation 50+. Durch die Erhöhung des Durchschnittsalters von erwerbsfähigen Personen sind Unternehmen zunehmend dazu angehalten, sich mit den veränderten Bedürfnissen ihrer älteren Mitarbeiter auseinanderzusetzen. Zusammengefasst beinhalten diese Veränderungen tendenziell eine Verringerung physischer und sensorischen Fähigkeiten, eine Verschiebung im Bereich der geistig-kognitiven Fähigkeiten und einen Anstieg bei den sozialen Fähigkeiten. Vor diesem Hintergrund bestand die Zielsetzung des Projektes in der Entwicklung eines strukturierten Vorgehens zur Identifikation von alterskritischen Arbeitsplätzen in Industrie- und Handelsunternehmen. In einem weiteren Schritt wurde die Entwicklung von Lösungskonzepten zur Adaptierung dieser Arbeitsplätze mit dem Ziel verfolgt, die ergonomische Situation bei der Ausführung von Tätigkeiten zu verbessern und eine Reduktion der arbeitsbedingten Belastungssituation durch den Einsatz physischer Assistenzsysteme zu erwirken. Um die praktische Anwendbarkeit des Verfahrens zur Identifikation alterskritischer Arbeitsplätze zu gewährleisten, wurde am Status Quo der ergonomischen Bewertung in den Unternehmen aufgesetzt und dort

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eine fundierte Belastungs- und Tätigkeitsanalyse vorgenommen. Es konnte infolgedessen gezeigt werden, dass hinsichtlich der untersuchten Aufgabenbereiche körperliche Beschwerden und MSE im Altersverlauf auf ca. das 10-Fache ansteigen. Zudem wurde trotz Einhaltung ergonomischer Standards ein nicht zu vernachlässigender Anteil an alterskritischen Tätigkeiten bei den Partnerunternehmen festgestellt. Entsprechend der auftretenden Belastungsprofile wurde im Anschluss daran ein Prozessvorgehen für die systematische Auswahl von spezifischen Lösungen entwickelt. Aufgrund der Möglichkeit einer flexiblen und punktuellen Unterstützung relevanter Körperhaltungen und Tätigkeitsmerkmale wurde final die Technologie der Exoskelette für die praktische Erprobung im Feld ausgewählt. Testung im Feld

Hygiene und (Nicht-)Sichtbarkeit sowie der Tragekomfort als entscheidend für die Bereitschaft zur Nutzung von Exoskeletten heraus. Vielfache Tätigkeitswechsel innerhalb einzelner Arbeitsbereiche, Arbeitsdruck und die Notwendigkeit einer raschen Arbeitsführung wurden zusätzlich als potenzielle Hemmnisse einer störungsfreien Testung und Anwendung identifiziert. Die gewonnenen Erkenntnisse lieferten erste Implementierungshinweise und wurden in weiterer Folge sowohl bei der Planung der operativen Testungen berücksichtigt als auch zur Anpassung des Erhebungsdesigns verwendet. Neben allgemeinen soziodemographischen und gesundheitsbezogenen Daten wurde im Rahmen der Testungen als zentrale Messvariable das subjektive Belastungsempfinden für die entsprechenden Körperhaltungen und Tätigkeitsmerkmale jeweils für die Bedingung mit und ohne Exoskelett erhoben. Des Weiteren beurteilten die Mitarbeiter, inwieweit das Exoskelett angenehm zu tragen war und eine Unterstützung bei der Ausführung ihrer Arbeitstätigkeiten bot. Um ihre Nutzungsintention festzumachen, wurde abschließend danach gefragt, inwieweit sie das Exoskelett bei Bereitstellung auch tatsächlich nutzen würden. Die Ergebnisse der Erhebung zeigen, dass die beispielhaft ausgewählten Systemlösungen aus dem Bereich der Exoskelette eine hohe Praxistauglichkeit aufweisen, sofern eine Passung zwischen Tätigkeits- und Unterstützungsprofil von Arbeitsplatz und Exoskelett gegeben ist. Dieser sogenannte Task-Technology-Fit stellt

Unter Einsatz eines wissenschaftlich fundierten Studiendesigns fanden jeweils ein steh-, hebe- und trageunterstützendes passives Exoskelett, sowie eines zur Unterstützung gebeugter Körperhaltungen Eingang in die Felduntersuchung (Abbildung 4). Die Testung wurde an ausgewählten Arbeitsplätzen der Logistik mit den dort befindlichen Mitarbeitern durchgeführt und fand im Rahmen deren regulärer Arbeitstätigkeit statt. Um relevante Umgebungsbedingungen, Arbeitsspezifika und personen- sowie technologiebezogene Begleitfaktoren des Exoskelett-Einsatzes in Erfahrung bringen zu können, wurde der Testung eine qualitative Vorerhebung mittels verschiedener Workshops vorgelagert. Es zeigte sich eine allgemein bestehende Unsicherheit bezüglich der Benutzerfreundlichkeit und Sicherheit solcher Systeme. Darüber hinaus stellte sich die nachhaltige Entlastungswirkung (d.h., dass durch das Exoskelett eine spürbare Reduktion von vorlie- Abbildung 5:Subjektive Belastungsreduktion beim genden Beschwerden Heben durch ein Exoskelett (Links OHNE, rechts eintritt), Aspekte der MIT)

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TOP-THEMA eine wesentliche Voraussetzung für die wahrgenommene Entlastungswirkung sowie die Verwendungsbereitschaft seitens der Mitarbeiter dar. Im Mittel konnten die eingesetzten Exoskelette vor allem bei statischen Körperhaltungen und der manuellen Lasthandhabung eine starke Entlastung bewirken, zwei Bereiche die häufig mit der Entstehung von Erkrankungen des Muskel-Skelett-Apparates in Verbindung gebracht werden. Für die manuelle Lasthandhabung wurde eine signifikante Beanspruchungsreduktion von durchschnittlich 28 % nachgewiesen (Abbildung 5). Basierend auf der in der Studie festgestellten Entlastungswirkungen lässt sich abschätzen, dass durch den Einsatz eines passenden passiven Exoskeletts das ergonomische Risiko zur Entwicklung von MSE für 62 % der untersuchten Arbeitsplätze auf ergonomisch unbedenkliche Werte reduziert werden kann. Geht man davon aus, dass eine solche Reduktion der Beanspruchung langfristig ein Drittel der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund von muskuloskelettalen Beschwerden vermeidet10, würde sich ein enormes Einsparpotenzial für die adressierten Unternehmen ergeben.

Entlastungswirkung des jeweiligen Exoskeletts beispielsweise an dessen richtige Einstellung und Verwendung geknüpft. Dies bedeutet folglich, dass die richtige Anpassung des Exoskeletts an die Charakteristika seines Anwenders sowie die adäquate Einschulung und Unterweisung von betroffenen Mitarbeitern eine Voraussetzung für die Wirksamkeit des Exoskeletts darstellt. Darüber hinaus ist darauf zu achten, dass die Unterstützungsfunktion des Exoskeletts weitgehend der Beschaffenheit des Arbeitsplatzes sowie den dort auszuführenden Arbeitstätigkeiten entspricht (Abbildung 6) und die Arbeitsausführung nicht etwa durch technische Disfunktionalitäten, komplexe Handhabungsmechanismen oder als störend wahrgenommene Hardware- oder Designelemente beeinträchtigt wird. In diesem Zusammenhang sind Mitarbeiter als Experten ihrer Arbeitsplätze in der Lage, einen Beitrag zur Beurteilung der Sinnhaftigkeit des Einsatzes von Exoskeletten – spe-

auf Seiten der Mitarbeiter festgestellt werden konnte, welche eine spätere Ablehnung der Technologie begünstigte. Bezugnehmend auf die Umgebungsbedingungen ist speziell bei Testungen darauf Bedacht zu nehmen, dass diese in einem beschränkten zeitlichen Rahmen durchgeführt werden und daher beispielsweise Jahreszeit bedingte Temperaturschwankungen im Arbeitsbereich nicht entsprechend berücksichtigen können. So kann der Tragekomfort durch Hitze im Sommer als geringer wahrgenommen, als dies etwa im Winter der Fall ist, woraus sich wiederum Auswirkungen auf das Nutzungsverhalten ergeben können. Zusammenfassend liefern die vorliegenden Ergebnisse erste Hinweise für die zielgerichtete Implementierung von Exoskeletten zur Gestaltung altersgerechter Arbeitsplätze. Dennoch besteht ein Bedarf an weiterer Forschung, um belastbare Aussagen zur nachhaltigen Entlastungswirkung von Exoskeletten inklusive relevanter Begleit- und Akzeptanz-

Implikationen für Unternehmen Die Projekt- und Studienergebnisse haben gezeigt, dass Exoskelette neben allgemeinen technischen und organisatorischen Maßnahmen der Arbeitsgestaltung eine Möglichkeit bieten, bestimmte arbeitsbedingte körperliche Belastungen zu reduzieren, indem sie die Arbeitsausführung erleichtern und folglich den MuskelSkelett-Apparat ihrer Anwender schonen. Zudem besitzen sie das Potenzial, menschliche Leistungseinschränkungen zu einem gewissen Grad auszugleichen. Dies betrifft vor allem Einbußen, welche sich verletzungs- oder altersbedingt in Hinblick auf die Körperkraft oder körperliche Beanspruchung durch bestimmte Körperhaltungen und Bewegungen ergeben. Zu berücksichtigen bleibt, dass unterschiedliche technik-, organisations-, arbeitsumgebungs- und personenbezogene Faktoren das subjektive Entlastungsempfinden der dort tätigen Mitarbeiter beeinflussen können. So ist die Entfaltung der

Abbildung 6: Unterstützungsprofile verschiedener Exoskelette in der industriellen Anwendung (Typ1: Stehunterstützendes System, Typ2: Trageunterstützendes System, Typ3: Hebeunterstützendes System, Typ4: Soft Exoskelett für gebeugte Körperhaltungen, Typ5: System zur Unterstützung der Lendenwirbelsäule) ziell hinsichtlich des Vorliegens eines Task-Technology-Fits – zu leisten. Auch im Sinne einer offenen Kommunikation betreffend des intendierten Nutzens der Technologie bei Testung sowie im Falle einer geplanten späteren Einführung ist die Wahl eines partizipativen Ansatzes empfehlenswert. Dies rührt daher, dass teilweise eine große Unsicherheit und Skepsis gegenüber Exoskeletten als neue Form technischer Assistenzsysteme

faktoren treffen zu können und ein vertieftes Verständnis für deren Interaktion zu gewinnen. Diesbezüglich braucht es vor allem industrielle Langzeitstudien, die wissenschaftlich begleitet die Feststellung einer nachhaltigen Belastungsveränderung an industriellen Arbeitsplätzen ermöglichen. Basierend auf den im Projekt EnableMe 50+ gewonnenen Erkenntnissen wird sich das IIM der weiteren Erforschung der Potenziale von

10 Leoni & Mühlheimer 2008, S. 78 WINGbusiness 2/2020

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TOP-THEMA Assistenzsystemen zur Unterstützung von (älteren) Arbeitnehmenden in der Industrie widmen. Literatur [1] Statistik Austria. (2018). Jahresdurchschnittsbevölkerung 1981-2018 nach Geschlecht bzw. breiten Altersgruppen. Retrieved from https://www. statistik.at [2] Tempel, J., & Ilmarinen, J. (2013). Arbeitsleben 2025: das Haus der Arbeitsfähigkeit im Unternehmen bauen. VSA-Verlag. [3] Leoni T., (2019). Fehlzeitenreport 2019 Krankheits- und unfallbedingte Fehlzeiten in Österreich Die flexible Arbeitswelt: Arbeitszeit und Gesundheit. Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung [4] EU-OSHA – European Agency for Safety and Health at Work (2010). OSH in figures: Work-related musculoskeletal disorders in the EU – Facts and Figures. EU-OSHA [5] Eurofound - European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions. (2012). 5th European Working Conditions Survey. Publications Office of the European Union. [6] Terstegen, S. & Sandrock, S. (2019). Exoskelette - Physische Assistenzsysteme an Produktionsarbeitsplätzen. ifaa — Institut für angewandte Arbeitswissenschaft e. V. [7] Zana JP. et al., (2019). MSDs: Recommendations for Prevention, Rehabilitation and Occupational Reinsertion – Re-

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sults from a Survey by the Ergonomics Working Group of the ISSA Health Services Section. Advances in Intelligent Systems and Computing, vol 820. Springer, [8] GKK Bundesverband, (2010). GKK Gesundheitsreport 2011 Zukunft der Arbeit, BKK Bundesverband [9] Loeni T. & Mahringer H., (2008). Fehlzeitenreport 2008 Krankheits- und unfallbedingte Fehlzeiten in Österreich. Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung

AutorInnen: Dipl.-Ing Dr.-techn. Matthias Wolf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Innovation und Industriemanagement an der Technischen Universität Graz und war Projektleiter des FFG geförderten Projekts „EnableMe50+“. In seiner Dissertation beschäftigte er sich mit technologischen Möglichkeiten aus dem Bereich der Assistenzsysteme zur Förderung einer altersgerechten Arbeitsgestaltung.

Dipl.-Ing. Dr.-techn. Matthias Wolf wissenschaftlicher Mitarbeiter am IIM der TU Graz

Sandra Siedl BA MA wissenschaftliche Mitarbeiterin am IAA und Dissertantin am LIT Robopsychology Lab der JKU Sandra Siedl, BA MA ist wissenschaftliche Projektmitarbeiterin am Institut für Arbeitsforschung und Arbeitspolitik an der Johannes Kepler Universität Linz und wirkte am FFG-Förderprojekt „EnableMe50+“ über seine dreijährige Laufzeit hinweg mit. Im Rahmen ihrer Dissertation am LIT Robopsychology Lab der JKU setzt sie sich mit dem Einfluss neuer Technologien auf deren Akzeptanz und das Nutzungserleben seiner User auseinander.

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UNINACHRICHTEN

Auch Bundeskanzler Sebastian Kurz, Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer, Wirtschaftslandesrätin Barbara Eiblinger-Miedl und der Präsident der steir. IV, Georg Knill konnten sich von der Qualität des PAYERprotect im Rahmen einer Produktvorstellung überzeugen. Foto: © IIM-Institut, TU Graz

Akute Hilfe in der COVID-19 Krise

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er Schutz von medizinischem Personal hat in der Covid-19 Pandemie große Priorität. Schutzkleidung war in der Intensivphase der Pandemie nicht bzw. nicht in geeigneter Qualität verfügbar. Dank der Initiative von Univ.-Prof. Dr. Christian Ramsauer, Leiter des Instituts für Innovation und Industrie Management der TU Graz und seines Stellvertreters Dr. Hans Peter Schnöll in Kooperation mit Univ.-Prof. Dr.Dr. Philipp Metnitz, Leiter der Klinischen Abteilung für Allgemeine Anästhesiologie, Notfall- und Intensivmedizin der Med Uni Graz, konnten für die KAGes binnen kurzer Zeit eine große Menge dringend benötigter GesichtsSchutzschilder gefertigt werden. Auf über 30 3D-Druckern wurden im Rahmen einer Pilotserie im Schumpeter Labor für Innovation des Instituts für Innovation und Industrie Management 5.000 Schutzschilder produziert. Die 3D-Druck-Kapazitäten des Instituts wurden hierfür durch zusätzliche Drucker weiterer Institute der TU Graz, der ÖH sowie Privatpersonen ergänzt. So konnten pro Tag bis zu 400 Schutzschilder produziert werden. Die GesichtsSchutzschilde wurden von Ärztinnen

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und Ärzten im laufenden Betrieb getestet, von den zuständigen Stellen der KAGes aus hygienischer Sicht geprüft und für den Einsatz im nicht chirurgischen Bereich freigegeben. Die Schutzschilde sind wiederverwendbar und können leicht gereinigt und desinfiziert werden. Das Schutzschild der Pilotserie besteht im Wesentlichen aus drei Bauteilen: Das Trägerteil des Schildes wird mittels FDM-3D-Druckverfahren aus PLA Kunststoff gefertigt. Das Schild selbst besteht in der Pilotserie aus einer handelsüblichen Overheadfolie, die mittels eines DIN-A4-Vierfachlochers gelocht und am Trägerteil fixiert wird. Dies ermöglicht bei Bedarf den einfachen Tausch des Schildes beziehungsweise eine leichte Reinigung desselben. Befestigt wird das Schutzschild mit einem in der Länge einstellbarem, waschbarem Gummiband. Die CAD-Daten stehen auf der Homepage des IIM-Instituts unter www.iim.tugraz.at zur Verfügung. Das gemeinsam mit Ärzten mehrerer Krankenhäuser entwickelte und in Pilotserie produzierte Schutzschild wurde in weiterer Folge gemeinsam mit PAYER Medical aus St. Bartholomä zum Serienprodukt weiterent-

wickelt. Es bietet effektiven Schutz gegen eine Tröpfen-Infektion durch eine optimierte Formgebung des Visieres und wurde insbesondere hinsichtlich der sicheren Wiederverwendung durch einfache Reinigung und Desinfektion optimiert. Das Produkt ist zertifiziert und zugelassen als persönliche Schutzausrüstung nach EN 166. PAYER Medical garantiert höchste Qualitätsstandards durch die Produktion unter Einhaltung der medizinischen Norm ISO 13485. Mit dem Schutzschild „PAYERprotect“ steht ein Schutzschild aus österreichischer Produktion mit kurzen Lieferketten und hoher Verfügbarkeit zur Unterstützung des Medizinischen Bereichs und all jenen bereit, die besonderen Schutz im Umgang mit Mitmenschen benötigen. Nähere Informationen finden Sie unter www.payergroup.com . Dieses Projekt zeigte das große Potential der Kombination der Stärken und Möglichkeiten der Maker Community, der Industrie und der universitären Forschung. In kürzester Zeit konnten Engpässen in der Versorgung mit Schutzausrüstung beseitigt werden und die langfristige Verfügbarkeit des Produktes durch die Serienentwicklung sichergestellt werden.

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UNINACHRICHTEN

Foto: ©Kanizaj

Was, schon 25 Jahre? Institut Industrial Management | Industriewirtschaft feiert Jubiläum Vor 25 Jahren begannen die Vorlesungen für das Diplomstudium „Industriewirtschaft“ als eines der ersten Wirtschaftsingenieur-Studien außerhalb der Technischen Universitäten und überhaupt einer der ersten Fachhochschul-Studiengänge in Österreich und an der FH JOANNEUM. Ein Vierteljahrhundert? Time to take stock.

Wirtschaftsingenieur-Institut Industrial Management… Aus dem ersten Diplomstudiengang hat sich das Institut Industrial Management | Industriewirtschaft (kurz: IWI) entwickelt, mit zwei Wirtschaftsingenieur-Bachelor- und zwei -Masterstudiengängen – jeweils Vollzeit und berufsbegleitend – sowie zwei berufsbegleitenden Weiterbildungsmaster (Einkauf sowie MBA & ERP/SAP). Das bedeutet: 280 Lehrveranstaltungen pro Jahr und bis heute kumuliert 1.500 AbsolventInnen. Das methodische Profil des Studiums integriert Ingenieurswissenschaften und Wirtschaftswissenschaften im Verhältnis 60:40 als notwendiges Rüstzeug für zukünftige Führungskräfte. Die AbsolventInnen sind Ingenieure und Betriebswirte in einer Person. Sie lernen während des Studiums, technisches und wirtschaftliches Wissen in anspruchsvolle Projekte einzubringen. Damit waren die inhaltlichen Bedingungen erfüllt, um die AbsolventInnen im Jahr 2001 als erste FH-WirtschaftsingenieurInnen

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in den Österreichischen Verband der Wirtschaftsingenieure aufzunehmen. Die Studierendenzahlen entwickelten sich über die 25 Jahre sehr

positiv. Trotz des Starts eines zweiten Wirtschaftsingenieur-Studiums in Kapfenberg (Infrastrukturwirtschaft) 1999 steigerten sich speziell mit den berufsbegleitenden Studiengängen ab 2006 und dann durch die Teilung in Bachelor (ab 2008) und Master (ab 2011) die Studierendenzahlen von anfangs rund 160 auf derzeit bis zu 370 im Jahr. …in der Industrieregion in Kapfenberg und international Standort des Studiums wurde im letzten Moment statt Graz die Industrie-

stadt Kapfenberg, hatte diese doch die F&E-Gebäude von Böhler Edelstahl gekauft und in die landespolitische Diskussion um Standorte für die neue Fachhochschule Joanneum eingebracht. Der Standort Kapfenberg hat jahrhundertelange industrielle Tradition und ist heute Sitz vieler HightechUnternehmen – davon 15 Weltmarktführer Ihrer Branche – im Zentrum einer der größten Industrieregionen Österreichs. Internationalität ist für viele dieser Unternehmen sowohl auf der Lieferanten- als auch auf der Kundenseite ein Muss. Das Studium bietet daher im Bachelor zwei Fremdsprachen (neben Englisch oft Spanisch, Russisch, Chinesisch…) und im Master ca. 50 % der Lehrveranstaltungen in englischer Sprache. Zusätzlich sind in den fünf Studienjahren bis zu vier optionale Auslandssemester bei dutzenden Partneruniversitäten weltweit möglich. Und „Internationalization at home“ wird großgeschrieben, hat doch Kapfenberg eine der höchsten Auslandsstudierendenraten in der Steiermark.

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UNINACHRICHTEN

1.500 AbsolventInnen… Zu Beginn war es schwierig, als Hochschule in dieser industriell gebürsteten Umwelt Fuß zu fassen. Doch mittlerweile verteilen sich die bisher rund 1.500 AbsolventInnen nicht nur in der Steiermark, sondern in ganz Österreich und darüber hinaus. Das Institut hat sich an den Karrierepfadanalysen1 der WirtschaftsingenieurVorbilder in Österreich, Deutschland und den USA orientiert und in den 25 Jahren etabliert. Im Jubiläumsjahr spondieren rund 80 neue DiplomingenieurInnen des Instituts. 500 F&E-Projekte mit Unternehmen Hochschulen sollen als „Werkstätten des Erkenntniszuwachses“2 zur Lösung gesellschaftlicher, volkswirtschaftlicher, betriebswirtschaftlicher und individueller Probleme beitragen. Die Nähe zu einer globalen und regionalen Produktionswelt und die gute Vernetzung zur nationalen Industrie bieten dem IWI-Institut die Möglichkeit zu bisher 500 angewandten F&E-Projekten. Neben EU- und national geförderten Forschungsprojekten werden in methodischer Anlehnung an das Massachusetts Institute of Technology (MIT) laufend transdisziplinäre Projekte mit Industrieunternehmen gemeinsam durchgeführt. Ergebnisse und Erkenntnisse fließen direkt oder über Publikationen in die forschungsgeleitete Lehre ein. Lehr- und Forschungsschwerpunkte Die Konzeption des Bachelor-Studienganges sieht ein Verbinden der in der Industrie wesentlichen Wert1 Vgl. Bauer, Ulrich/Priebernig, Karina/Swobodnik, Sigrid/Zunk, Bernd M., Wirtschaftsingenieurwesen-Berufsbildstudie 2018, S. 57ff. 2 Gruppe 2004 – Michelsen, Gerd et al., Hochschule neu denken. Neuorientierung im Horizont der Nachhaltigkeit, Frankfurt 2004, S. 20. WINGbusiness 2/2020

schöpfungsbereiche in systematischer tigsten Erfolgsfaktors unseres Landes Weise vor: – motivierte und engagierte Mitarbei Management/Betriebswirtschaft terInnen. Sie machen die Wirtschafts(hier vor allem Logistik, Prozessingenieur-Bilanz von IWI positiv. management, Controlling), www.fh-joanneum.at/iwi Produktionstechnik (hier sowohl iwi@fh-joanneum.at Fertigungstechnik als Chronologische Entwicklung von IWI auch Automatisierung) 1995 Der Diplomstudiengang Industriewirtschaft startet: und Aufbauphase Angewandte Infor- 1999 Beginn der Vortragsreihe „Unternehmensführung in der Praxis“ mit bisher 80 Vorträgen aus matik (hier vor allem dem Top- Management mit 8.000 TeilnehmerInnen betriebliche Informatiim Audimax Kapfenberg onssysteme, Enterprise 2001 Gründung des Industrial Management Club (IMC) für AbsolventInnen und Aufnahme in den Resource Planning) Österreichischen Verband der Wirtschaftsingenieure WING An diese Grundlagen anknüpfend fokussiert der 2002 ERP-Competence Center für vertikale Integration wird gegründet Master International In2003 Start der institutseigenen Buchreihe „Industrielles dustrial Management Management“ im Leykam-Verlag auf die Kompetenzen 2004 Start der Weiterbildungs-/Seminarreihe „Knowledge Factory“ der unternehmensinter2005 Start des berufsbegleitenden Weiterbildungsnen und -übergreifenden masters Supply Management (MSc) Wertschöpfungsoptimie- 2006 Der Diplomstudiengang wird nun auch berufsbegleitend angeboten rung (Network Business, vertikal und horizontal) 2008 Umwandlung der Diplomstudiengänge in die Wirtschaftsingenieur-Bachelorstudiengänge und bietet zwei WahlverIndustriewirtschaft|Industrial Management. tiefungen: Supply Chain 2010 SCM-Competence Center für horizontale Integration wird etabliert Engineering und Smart 2011 Die Masterstudiengänge International Industrial Production & Services. Management als Nachfolge und Erweiterung In den 25 Jahren hastarten: ab jetzt 5 Jahre zum DI ben sich strategisch um 2012 Dutzende internationale Kooperationen mit europäischen, amerikanischen & asiatischen Unidie beiden Hauptthemen versitäten führen zu Auslandssemester und 2 der vertikalen (ERP ComDouble-Degrees (Universität Udine, National First University of Science/Technology Taiwan) petence Center mit ERP/ 2014 Eröffnung eines ersten Industrie-4.0-Labors für MES) und horizontalen vertikale Integration (ERP/MES), digitale MikroIntegration (Supply Chain fabriken und 3D-Druck Competence Center) wei- 2015 Genehmigung des berufsbegleitenden Weiterbildungsmasters General Management mit ERP/SAP tere Forschungsgruppen (MBA) entwickelt, auf die sich 2016 Internationale FIBAA-Gold-/Premium-Akkreditierung des IWI-Masters International Industrial die 35 akademischen von insgesamt 40 Mitarbeite- 2017 Management Einführung von Wahlvertiefungen im Master: rInnen des Instituts auftei„Supply Chain Engineering“ und „Smart Production & Services“ über das gesamte 3. Studiensemester len: Digital Shopfloor & Analytics (Smart Produc- 2018 Eröffnung des Smart Production Lab als eine der größten Lehr- und Forschungsfabriken für Industrie tion Lab, FabLab), Service 4.0 in Mitteleuropa Engineering, Arbeit der 2018 Das FabLab als integrativer Bestandteil des Smart Production Lab und „Makerspace für alle“ beginnt Zukunft (Change & Augseinen regelmäßigen Betrieb 2019 Eine mented Reality) sowie „Schallmauer“ wird mit 500 erfolgreich durchgeführten F&E-Projekten durchbrochen Strategie & Controlling. zweite „Schallmauer“ fällt mit dem Die Meilensteine der 2020 Die 25-Jahres- Jubiläum: 1.500 AbsolventInnen! chronologischen Entwicklung der ersten 25 Jahre (siehe Kasten) FH-Prof. Dr. Martin sind Ergebnis Tschandl des klassischen M a nagement z yLeiter des Instituts klus Malikscher Industrial Management Prägung (Ziele, FH JOANNEUM, Strategien, AufCampus Kapfenberg gaben…) und vor martin.tschandl allem des wich@fh-joanneum.at

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IMPRESSUM

WING to your success

…wir sind für Sie garantiert von Nutzen … Gerade in Zeiten wie diesen stellen ein reizvoller Workshop, das Verteilen von lukrativen Flyern oder eine interessante Firmenpräsentation effiziente und kostengünstige Möglichkeiten zur Werbung für Unternehmen in Fachkreisen dar. Hervorzuheben ist der Zugang zur Technischen Universität als Innovations- und Forschungsstandort der besonderen Art, denn im Zuge von Bachelor- und/oder Masterarbeiten können Sie Studenten in Ideen für Ihre Firma miteinbeziehen und mit ihnen innovative Lösungen ausarbeiten. Nicht zuletzt wird auf diesem Weg auch für die Zukunft vorgesorgt. Denn schließlich sind es die heutigen Studenten der Technischen Universität, die morgen als Ihre Kunden, Händler oder Lieferanten fungieren. Mit WINGnet-Werbemöglichkeiten kann man diese nun schon vor dem Eintritt in das Berufsleben von sich und seiner Firma überzeugen und somit eine gute Basis für eine langfristige und erfolgreiche Zusammenarbeit schaffen. WINGnet Wien veranstaltet mit Ihrer Unterstützung Firmenpräsentationen, Workshops, Exkursionen sowie individuelle Events passend zu Ihrem Unternehmen. WINGnet Wien bieten den Studierenden die Möglichkeit- zur Orientierung, zum Kennenlernen interessanter Unternehmen und Arbeitsplätze sowie zur Verbesserung und Erweiterungdes universitären Ausbildungsweges. Organisiert für Studenten von Studenten.Darüber hinaus bietet WINGnet Wien als aktives Mitglied von ESTIEM (European Students of Industrial Engineering and Ma-

WINGbusiness Impressum Medieninhaber (Verleger) Österreichischer Verband der ­Wirtschaftsingenieure Kopernikusgasse 24, 8010 Graz ZVR-Zahl: 026865239 Editor Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Siegfried Vössner E-Mail: voessner@tugraz.at Redaktion/Layout Chefin vom Dienst & Marketingleiterin: Mag. Beatrice Freund Tel. +43 (0)316 873-7795, E-Mail: office@wing-online.at Redakteure Dipl.-Ing. Sigrid Weller BSc. E-Mail: sigrid.weller@tugraz.at Mag.rer.soc.oec. Elisabeth Poandl E-Mail: elisabeth.poandl@tugraz.at Dipl.-Ing. Florian Schierlinger-Brandmayr E-Mail: florian.schierlinger-brandmayr@tugraz.at Dipl.-Ing. Theresa Passath BSc. E-Mail: theresa.passath@unileoben.ac.at Ortbauer Bernhard MSc., BSc. E-Mail: bernhard.ortbauer@tugraz.at Dipl.-Ing. Andreas Kohlweiss, BSc E-Mail: andreas.kohlweiss@tugraz.at

Anzeigenleitung/Anzeigenkontakt Mag. Beatrice Freund Tel. +43 (0)316 873-7795,E-Mail: office@wing-online.at

nagement) internationale Veranstaltungen und Netzwerke. In 24 verschiedenen Ländern arbeiten 66 Hochschulgruppen bei verschiedenen Aktivitäten zusammen und treten so sowohl untereinander als auch zu Unternehmen in intensiven Kontakt. Um unser Ziel - die Förderung von Studenten - zu erreichen, benötigen wir Semester für Semester engagierte Unternehmen, die uns auf verschiedene Arten unterstützen und denen wir im Gegenzug eine Möglichkeit der Firmenpräsenz bieten. Die Events können sowohl in den Räumlichkeiten der TU Wien als auch an dem von Ihnen gewünschten Veranstaltungsort stattfinden. Weiters können Sie die Zielgruppe individuell bestimmen. Sowohl alle Studienrichtungen als auch z.B. eine Festlegung auf Wirtschaftswissenschaftlichen Studiengängen ist möglich. Außerdem besteht die Möglichkeit eine Vorauswahl der Teilnehmer, mittels Ihnen vorab zugesandten Lebensläufen, zu treffen. Auf unserer Webseite http://www.wing-online.at/de/ wingnet-wien/ finden Sie eine Auswahl an vorangegangenen Events sowie detaillierte Informationen zu unserem Leistungsumfang WINGnet Wien: Theresianumgasse 27, 1040 Wien, wien@wingnet.at ZVR: 564193810

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Druck Druckhaus Scharmer GmbH, Europastraße 42, 8330 Feldbach Auflage: 1.800 Stk. Titelbild: (c) Adobe Stock Foto WING-Sekretariat Kopernikusgasse 24, 8010 Graz, Tel. (0316) 873-7795, E-Mail: office@wing-online.at WING-Homepage: www.wing-online.at Erscheinungsweise 4 mal jährlich, jeweils März, Juni, Oktober sowie Dezember. Nachdruck oder Textauszug nach Rück­sprache mit dem Editor des „WINGbusiness“. Erscheint in wissenschaftlicher Zusammen­ arbeit mit den einschlägigen Instituten an den Universitäten und Fachhochschulen Österreichs. Der Wirtschaftsingenieur (Dipl.-Wirtschaftsingenieur): Wirtschaftsingenieure sind wirtschaftswissenschaftlich ausgebildete Ingenieure mit akademischem Studienabschluss, die in ihrer beruflichen Tätigkeit ihre technische und ökonomische Kompetenz ganzheitlich verknüpfen. WING - Österreichischer Verband der Wirtschaftsingenieure ist die Netzwerkplattform der Wirtschaftsingenieure. ISSN 02567830

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Andreas Leitgeb, Georg Micheu

Firmenbesichtigung EUROPLAST 42. Treffen der Wirtschaftsingenieure von Kärnten und Osttirol, 05. März 2020, EUROPLAST – Dellach im Drautal

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assen sich die Begriffe Nachhaltigkeit, Ökologie und Kunststoffproduktion vereinbaren? Diese Aufgabenstellung hat sich Dr. Arthur Primus, ein langjähriges WING-Mitglied und Geschäftsführer der EUROPLAST selbst auferlegt und zeigt, wie es möglich ist einen auf erdölbasierenden produzierenden Betrieb in Richtung Nachhaltigkeit zu steuern. Die EUROPLAST Kunststoffbehälterindustrie GmbH stellt Kunststoffprodukte im Spritzgussverfahren her, die sich vom Standard abheben. Auf 58.000 m² und mit 130 Mitarbeiter werden derzeit zum überwiegenden Teil Kunststoffbehälter gefertigt, die Einsatz im öffentlichen Bereich und auch in der Automotivindustrie finden. Beim 42. Treffen der Wirtschaftsingenieure konnten wir diese Fragestellung gemeinsam mit Dr. Arthur Primus diskutieren und auch die Fragestellung wie sich ein auf kunststoffbasierendes Produkt in die nachhaltige Vision des Unternehmens einfügen lässt. Der Betrieb selbst glänzt nicht nur durch Urkunden, wie Leitbetrieb des Jahres 2019, sondern auch der Maschinenpark lässt selbst große Gameplayer in der Spritzgussindustrie konkurrenzlos wirken. Derzeit werden die größten Spritzgussmaschinen Österreichs bei EUROPLAST verwendet, um die Kunststoffbehälter herzustellen. Durch einen eingeführten systematischen kontinuierlichen Verbesserungsprozess und digitaler Betriebsdatenerfassung ist es bei EUROPLAST möglich eine nachhaltige Qualität bei jedem einzelnen Produkt zu garantieren. Alle Spritzgussmaschinen werden digital überwacht und liefern Echtzeitdaten. Dies ermöglicht auf einen präventiven Instandhaltungsprozess zu setzen. Jedoch die größte Herausforderung bei einem Betrieb mit abgelegenem Standort ist, die notwendigen Fachkräfte zu finden und zu halten. Dies ist aus Sicht von Dr. Arthur Primus eine der härtesten Aufgabenstellungen. Deshalb setzt er mit EUROPLAST Fokus auf Employer Branding und zählt auch sein Team zum wichtigsten Asset der EUROPLAST. Online wirbt EUROPLAST intensiv für Fachkräfte im Bereich der Kunststofftechnik und ist mit dieser Strategie auch erfolgreich. Die Behälter sind auch schon für Industrie 4.0 ausgerüstet. Bei jedem Produkt besteht die Möglichkeit den internen RFID Chip für das Sammeln von Informationen zu nutzen. Eine beispielhafte Anwendung erläutert Dr. Arthur Primus von smarten Müllbehältern, die ihren Füllstand erkennen und ein Signal senden, wenn ein Behälter ausgewechselt werden muss. Dadurch wird nur noch bei Bedarf ein Behälter ausgetauscht und somit ein überwiegender Teil der Leerfahrten von Müllentsorgern vermieden. Als nebenberuflicher Lektor u.a. in Produktion & Logistik kennt Dr. Arthur Primus das Verschwendungspotential in der Logistik, dass es noch zu eliminieren gilt. Die Vereinbarkeit von Nachhaltigkeit und Kunststoffspritzgussverfahren war auch das Thema was uns als Wirtschaftsingenieure fesselte und gemeinsam diskutieren ließ. Der Betrieb selbst bezieht Strom ausnahmslos aus erneuerbaren Energien und ist somit auch in der Bilanz CO2 neutral. Auch bei den erdölbasierenden Produkten wird stark auf recycelte Materialien zurückgegriffen. Gemeinsam mit Saubermacher hat EUROPLAST ein Wertstoffsammelbehälter entwickelt, der zu 100% aus recycelten Materialien hergestellt wird. Es wird auch bereits an Behältern aus biologischen Materialien geforscht und getestet, um die interne nachhaltige Ausrichtung weiter zu fördern. In Summe hat sich EUROPLAST mit Flexibilität, Schnelligkeit, innovativen und technisch hochstehenden Lösungen, hervorragenden Materialwissen und patentierten Features zu einem der führenden Unternehmen in der kunststoffverarbeitenden Branche etabliert.


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