BIANCO Alpine Lifestyle Magazine Summer 2017

Page 1



«Wer immer nur realistisch denkt, wird die Welt niemals begreifen»

CL AUDIO MAGRIS, ITALIENISCHER SCHRIFTSTELLER AUS TRIEST (* 1939)


4

EIN BILD

BIANCO 

SOMMER 2017


5


6

1000 WORTE

B

ayern, das (Substantiv): ein Bundesland in Deutschland, das sich durch prächtige Almen, saftige Wiesen, stolzes Gebirge und blaue Seen auszeichnet, ebenso durch Kühe, Bauernhöfe, den vom Einwohnervolk ausgeübten überdurchschnittlich hohen Bier-, Weisswurst- und Breznkonsum, eine im Vergleich zum Rest des Landes augenscheinliche altmodische Lebensweise – um nicht zu sagen Rückständigkeit – und einen Fussballkult, der an Fanatismus grenzt. Soweit die Klischees, von denen es im Zusammenhang mit Bayern noch unzählige mehr gibt. Die deutsche Wochenzeitung «Die Zeit» betitelte Bayern einst gar als «Heimat der Klischees». Weitere Stereotype besagen zum Beispiel: Die Einwohner Bayerns jodeln gerne und häufig, sind katholischer als der Papst, sprechen in einem unverständlichen Dialekt und sowieso kein anständiges Hochdeutsch und biesln des Öfteren wild – das heisst: urinieren abseits einer Toilettenanlage. Die Bayerin schnürt sich morgens das Dirndl eng um den opulenten Busen, der Bayer trägt kaum je was ausser Lederhosen, Lederhosen, Lederhosen. In der Welt ausserhalb Europas schrumpft ganz Deutschland zu einer Nation von Trachtenträgern zusammen. Deutschland ist Oktoberfest, Deutschland ist Bayern. Zumindest in den Augen der Amerikaner und Japaner. Wobei auch das in erster Linie ein Vorurteil sein dürfte. Als Klischee wurde ursprünglich ein vorgefertigter Druckstock im Buchdruck bezeichnet. Heute beschreibt der Begriff allerdings eher eine vorgefertigte Meinung oder Ansicht, die meistens auf Personengruppen bezogen ist. Im Stile von: Brasilianer sind leidenschaftlich, Schotten geizig, Polen kleptomanisch, Amerikaner fett, Schweden blond und Blondinen dumm, Brillenträger dafür besonders klug. Schweizern hingegen wird eine zuverlässige Pünktlichkeit nachgesagt, aber auch eine zwinglianische Verklemmtheit und ein gewisser Wohlstand. Vorurteile lassen sich auch auf kleinere Gruppen runterbrechen: Berner sind langsam, Zürcher arrogant, Aargauer können nicht Auto fahren und Appenzeller essen ihre Haustiere und wandern am liebsten nackt. Genau wie Gerüchte besitzen auch Vorurteile meist irgendwo einen Ursprung, einen sogenannten wahren Kern. Welche Grösse dieser Kern besitzt, dürfte von Fall zu Fall verschieden sein und liesse sich im Beispiel der Bayern mit einer – von Zürich aus – knapp viereinhalbstündigen Zugfahrt leicht herausfinden. Die Einwohner Bayerns, so lautet zumindest ein weiteres Vorurteil, sind tiefer

B i l d : E l l e n v o n Unw e r t h Te x t : L i nd a S o l a nk i

verbunden mit ihrer Heimat als so manch andere und tragen somit einen gewissen Stolz in sich, der auch den Klischees gilt. Während hierzulande beschämt auf den Boden geschielt wird, wenn im Transferzug des Flughafens Zürich hemmungsloses Jodeln aus dem Lautsprecher schallt, zelebrieren die Bayern ihre Klischees, tragen ihre Trachten an den dafür vorgesehenen Anlässen mit geschwellter Brust, trinken freudig und essen lustvoll, Bier, Schnaps, Brezn, Würste, Sauerkraut, Knödel, und am liebsten alles miteinander. Denn Stereotype bekämpft man nicht, indem man ihnen aus dem Weg geht, sondern indem man sie zünftig überspitzt. Das wissen die Bayern und dass weiss auch Ellen von Unwerth, ihres Zeichens Starfotografin, ehemaliges Topmodel und Exil-Bayerin. Im Rahmen ihres neusten Projektes mit dem stimmigen Titel «Heimat» reiste sie in ebendiese und lichtete eine ganze Palette an Klischees ab, selbstverständlich herrlich theatralisch und unverschämt übertrieben inszeniert. Da melken neckische Madln Kühe und verführen stramme Burschen, trinken Bier, jagen, fischen, hacken Holz und versprühen dabei pure Lebenslust. In einem der ausdrucksstärksten Bilder der Fotoserie häuten drei so gar nicht häuslich wirkende Grazien in Dirndldessous Kartoffeln mit einem Blick, der das Kochwasser zum Übersprudeln bringt. Auf dem Hauch von Nichts, mit dem die intimsten Stellen bedeckt sind, finden sich traditionelle Stickereien wieder. Mit Edelweissen verziertes Leder spannt sich über den Ausschnitt, Stoffschleifchen binden das geflochtene Haar zusammen, das die nobelblassen Gesichter krönt. Der Cast besteht aus zwar sehr deutsch aussehenden, aber vorwiegend niederländischen, russischen und polnischen Models, die etwas üppiger ausgestattet sind als das durchschnittliche Size-Zero-Mannequin. Die normalgenährte Figur und besonders der ausladende Busen waren Wunsch der Fotografin, weil in ihrer ursprünglichen Heimat – ganz im Gegensatz zu ihren aktuellen Domizilen Paris und New York – Kurven nach wie vor zum weiblichen Schönheitsideal gehören. Und

ELLEN VON UNWERTH. HEIMAT Ellen von Unwerth, Mark Schulz Hardcover in einer Schlagkassette, 454 Seiten € 750, TASCHEN Limitierte Collector’s Edition, nummeriert und von Ellen von Unwerth signiert

was wäre eine klischeegerechte Inszenierung ohne dralles Dekolleté? Die nostalgisch-frivole Fotopirsch darf als eine Hommage der Künstlerin verstanden werden an den Ort, an dem sie ihre Kindheit verbrachte und in dem der Grundstein für ihre Karriere gelegt wurde. Aufgewachsen in einem Waisenhaus und später bei verschiedenen Pflegefamilien im Allgäu, zog sie mit 16 Jahren nach München, um als Nummerngirl beim Zirkus ihr Geld zu verdienen. Obschon sie die Kreativität, den Zauber und das Mystische des Zirkus schätzte, endete das Engagement schon bald, nämlich als sie für ein Fotoshooting der Jugendzeitschrift «Bravo» gebucht und daraufhin vom Chef der Modelagentur Elite entdeckt wurde. Dieser schickte sie aus der Heimat nach Paris, wo sie schnell Erfolg hatte und zum Topmodel avancierte. Bei einer Reise nach Kenia entdeckte sie jedoch, dass sie die Kamera lieber in der Hand hielt, als davor zu posieren. Die Bilder, die sie damals von einheimischen Kindern schoss, wurden im französischen Magazin «Jill» publiziert. Als Fotografin hatte sie die Crème de la Crème der Modelszene vor der Linse, darunter Kate Moss, Naomi Campbell, Eva Herzigova und Claudia Schiffer (Ellen von Unwerth hat die damals noch unbekannte Claudia als Model für die Jeansmarke Guess verpflichtet, was den Anfang einer steilen Karriere markierte), aber auch Superstars wie Madonna, Britney Spears und Rihanna. Ihre Arbeit zeichnet sich durch eine kühle Erotik aus und ist vom Werk ihres Vorbilds Helmut Newton geprägt. Dieser Einfluss ist auch bei der hier abgebildeten Aufnahme sichtbar, wobei das Foto sich nebst aller Sinnlichkeit vor allem durch viel Ironie auszeichnet. So darf das Bild guten Gewissens mit einem Augenzwinkern betrachtet werden. Dabei gelten die Bayern genau wie die Deutschen an sich doch als besonders humorarm. Das finden jedenfalls rund 30 000 Nutzer der SocialNetwork-Plattform Badoo, die in einer Umfrage angaben, welche Nationen sie für witzig und welche für eher unlustig hielten. Im Vergleich mit 14 Ländern landeten unsere nördlichen Nachbarn auf dem letzten Platz. Die ersten drei Ränge belegten übrigens die Amerikaner, Spanier und Italiener, die Schweiz wurde in der Umfrage nicht berücksichtigt. Die Bayern, ein Volk von ernsten Sauertöpfen? Ein hartnäckiges Vorurteil, das nicht nur Kabarettisten wie Ottfried Fischer und Michael Mittermeier, sondern eben auch Bayernverbundene wie Ellen von Unwerth mit ihrer Heimat-Serie widerlegen. Schliesslich gilt Ironie als die intelligenteste Art von Humor. Und schlau, so will es der allgemeine Glaube, waren die Bayern schon immer.

BIANCO

SOMMER 2017


mountains.ch

MUOTTAS MURAGL Panoramarestaurant Mountain Dining täglich bis 23.00 Uhr Information und Reservation unter Telefon +41 81 842 82 32


Was mit liebe und Sorgfalt gemacht wurde, trägt die handschrift desjenigen, der es geschaffen hat. ganz besonders gilt das für unsere Weine. Jeder von ihnen ist einzigartig und unverwechselbar wie der Meister, der ihn gepflegt und zur reife geführt hat. PieMonTe azelia antichi Vigneti cantalupo castellari bergaglio domenico clerico aldo conterno giacomo conterno conterno Fantino Fratelli giacosa Moccagatta Monchiero carbone oberto – ciabot berton Pasquero elia – Paitin Vietti loMbardia barbacàn ca’del bosco comincioli VeneTo buglioni Silvano Follador gini Venegazzù

FriUli borgo del Tiglio gravner Venica & Venica romano Vitas

Marche Tavignano

ToScana castellare Fontodi Monastero San giusto a rentennano Montevertine castello dei rampolla Vecchie Terre di Montefili avignonesi lombardo le Macchiole Petra rocca di Frassinello Terenzi Mastrojanni Poggio antico Mormoraia ghizzano il borro

abrUzzo Torre dei beati Valentini

UMbria adanti

PUglia gianfranco Fino castel di Salve calabria luigi Viola Sicilia abbazia Santa anastasia Salvatore Murana Palari Feudi dei Pisciotto Sardegna Santadi

caratello Weine ag zürcher Strasse 204 e ch-9014 St.gallen T +41 71 244 88 55 F +41 71 244 63 80 info@caratello.ch www.caratello.ch


EDITORIAL

Wenn er da ist, ist er da Es gibt gewisse Sätze, die vergisst man ein Leben lang nicht. Grosse Sätze, vorgedacht und niedergeschrieben von grossen Persönlichkeiten. Die einem bei Gelegenheit ziemlich leicht über die Lippen kommen. Wie der Satz des russsischen Schriftstellers Lew Nikolajewitsch Tolstoi (1828–1910): «Denke immer daran, dass es nur eine wichtige Zeit gibt: Heute. Hier. Jetzt.» Oder jenen, den wir diesem BIANCO auf der ersten Seite vorangestellt haben, einprägsam ausgesprochen von Claudio Magris, dem italienischen Schriftsteller aus Triest (* 1939): «Wer immer nur realistisch denkt, wird die Welt niemals begreifen.» Not Vital, der grosse Unterengadiner Künstler, der in Sent lebt und arbeitet, aber auch in Beijing und in Rio de Janeiro, fühlt sich dort zu Hause, wo das Herz ist. Und mit dort meint er, wo er im Moment gerade ist. Auf die Frage, welchen Einfluss die Natur auf sein Schaffen habe, antwortet er mit Nietzsche: Wir lieben die Natur, weil sie keine Meinung von uns hat. «Die Natur im Engadin ist so stark, dass mein Studio in Sent keine Fenster hat.» Ansonsten müsste er sie unentwegt anschauen und käme kaum zum Arbeiten. 2017 ist das Jahr des Künstlers und neuen Schlossbesitzers von Tarasp. Not Vital und seinem Werk ist im Bündner Kunstmuseum Chur eine grosse Retrospektive gewidmet, gezeigt werden Dokumente und Werke von seinen Anfängen bis zu den Grossskulpturen der letzten Jahre. In verschiedenen Galerien sind viele andere seiner Werke zu sehen, dazu passt das im Verlag Scheidegger & Spiess erscheinende Buch mit einer Übersichtsschau zur Churer Ausstellung. Für meine Kollegin Brigitte Ulmer und den Fotografen Gian Marco Castelberg hat sich Not Vital viel Zeit für ein ausführliches Gespräch genommen, sein Atelier gezeigt, aber auch Schloss Tarasp, das ihm seit dem 30. März 2016 gehört. «Not Vital erscheint manchmal als flüchtiges, schwer zu fassendes Wesen», heisst es in der Reportage auf 12 Seiten. «Doch wer meint, er sei von sprunghafter Natur, irrt. Wenn er da ist, ist er da.» Wir wünschen Ihnen gute Unterhaltung. Auch beim Lesen und Blättern der anderen Beiträge im Sommer-BIANCO. Halten wollen wir es wie die Senter. «Die sind Randulins – Schwalben», sagt Not Vital. «Sie sind es gewohnt, ins Ausland zu gehen. Aber sie kommen immer wieder zurück.» Wir freuen uns auf Sie und den nächsten Winter.

WOLFRAM MEISTER HERAUSGEBER UND CHEFREDAKTOR

9


10

I N H A LT SOMMER 2017

14 APROPOS Bergschmuck. Bottas Fixpencil. Eye-Catcher fürs Handgelenk. Werkzeugkoffer. Futuristisches Leder.

22 NOT VITAL Er lebt und arbeitet in Beijing, Rio de Janeiro und in Sent. Sein Werk wird nun erstmals im Rahmen einer Retrospektive im Bündner Kunstmuseum Chur gezeigt. Zu Besuch bei Not Vital, dem neuen Schlossherrn von Tarasp 34 REKORDFLUG Mit dem Gleitschirm vom Klein Matterhorn nach Klosters

42 AU F D I E PÄ SS E , F E R T I G , L O S ! Welches Cabriolet nimmt man für den Umbrail, den Gotthard, das Stilfser Joch, den Susten, Klausen, Lukmanier, Grimsel, Nufenen, Furka? Hier sind die Antworten

BIANCO

SOMMER 2017


10 Years Festival da Jazz St. Moritz 6 – 31 July 2017

www.stmoritz.ch www.engadin.stmoritz.ch


12

I N H A LT SOMMER 2017

54 GOLF 60 Hektar Schottland im Wallis 60 VEGETALIS Zwischen Realität und Abstraktion: Natur in Szene gesetzt 64 FAT B I K E R Auf dicken Reifen über den Gletscher

70 TRADITION UND MODERNE Bergführer, die Könige der Alpen

RUBRIKEN 9 Editorial 91 Impressum 93 Comic 98 Letzte Seite

70 KURZ & KNAPP Eine Zeichnung wird Wirklichkeit. Echo-Jäger. Wörterbuch der Vogellaute. Gewürztraminer aus dem Bergstollen, Sekt vom Berg. Längste Hängebrücke der Alpen. Quereinsteiger locken mit Abgeschiedenheit und feiner Küche 96 ÜBER ALLE BERGE MIT… Fabio Soldati, Erfinder des «Peakfinder»

BIANCO

SOMMER 2017


vivanda genuina


14

APROPOS PRODUKTE, TIPPS UND MEHR

BE R G - WE R K E VO N GA BI V EI T Der Schmuck von Gabi Veit ist rau wie die Berge. Die Schmuckkünstlerin mit breitem Spektrum (Graphic Design, Installationen) ist in

den Bergen aufgewachsen, in den Dolomiten. Ihr Dialekt kennt viele Worte für Stein: Knott’n, Brock’n, Stoan. Ihre Heimatstadt Bozen ist umkreist von Bergen. Ein Berg, der sie alle überragt, mächtig und grazil zugleich, ist der Rosengarten. Eine Serie mit Ringen aus oxidiertem Silber und Granat nennt Gabi Veit «Rosengarten». Eine andere «Berg.Werk». «Ich schneide Wachs und höhle es aus. Gegossen werden die Schmuckstücke in Silber. Einzelstücke. So wie die Berge.» Der Gold-Ring stammt aus der Serie «Quasi». Im Prinzip rund, praktisch aus Ecken und Kanten. Nur zum Schein schwer oder wirklich leicht? «Quasi ist wie das Leben», sagt Gabi Veit. «Ungefähr.» www.gabiveit.it

BIANCO

SOMMER 2017


15

ZETTELWIRTSCHAFT Vielleicht geht es nur um die Telefonnummer eines neuen Restaurants, das «CheCha» von Reto Mathis auf Chantarella. Die kleine Erinnerung an die Vernissage heute in S-chanf: «Villa Flor», ab 18 Uhr. Die Öffnungszeiten der Metzgerei in Samedan an Samstagen: «Plinio», bis 17 Uhr. Oder das Markieren einer Seite in einem Kochbuch. Dann lugt bei einem gluschtigen Rezept ein Bergpanorama hervor, in Ocker vielleicht. Jedenfalls gibts jetzt für alle, die ohne Zettelwirtschaft nicht leben können, einen Zettelblock mit Bergpanorama-Rand in gemischten Farben. Auch für Städter, die von den Bergen träumen. Den Gipfelcube von Gmund-Papier aus der Serie «Berg & Tal» für etwas über 16 Euro. ch.gmund.com

Mario Bottas Fixpencil ist in zwei Ausführungen erhältlich: schwarzes Schachbrett auf weissem Grund oder weisses Schachbrett auf schwarzem Grund.

MIT SIGNATUR VON MARIO BOTTA

GRIMSEL MIT RHEINBLICK Der Grimsel, das Berner Oberland mit dem Oberwallis verbindend, ist in erster Linie ein Pass in den Alpen. In Basel steht der Name «Grimsel» für einen hellen, aufgeräumten Laden mit grossen Fenstern zum Rhein, nur einen Katzensprung entfernt vom weit über die Stadt hinaus bekannten Restaurant «Chez Donati». Wer ein Auge für die schönen Dinge hat, wird nicht merken, wie schnell hier die Zeit verstreicht. Thema ist das Wohnen in all seinen Facetten. Vom handlichen, perfekt gefertigten Küchenwerkzeug aus Ahornholz des Bündner Designers Carlo Clopath über den Moser-Fauteuil bis zu ledernen Medizinbällen in verschiedenen Grössen sowie alten Reisespiegeln in einfacher und ausklappbarer Version. Schmuck findet sich in einer Vitrine, in Gold oder Silber gefasste Bergkristalle aus der Grimsel-Region. Grimsel heisst das Geschäft, weil die Grimselstrasse mal die Adresse des Ladens war. www.grimsel.net

Mario Bottas jüngstes Bauwerk ist eine «Steinblume», Fior di Petra, auf dem schroff-felsigen Monte Generoso. Mit atemberaubendem Ausblick über das Tessin bis hin zu den Alpen im Norden. Der Monte Generoso ist quasi der Hausberg des 74-jährigen Architekten, der im Dorf Genesterio bei Mendrisio aufgewachsen ist. Botta greift gerne zum Bleistift, um mit dem ihm eigenen, kräftigen Strich etwas zu erklären. Der Fixpencil, legendä­ rer Minenhalter von Caran d’Ache (seit 1929) aus leichtem, robustem Aluminium, ist sein Begleiter im täglichen Leben. Die jüngste Co-Kreation der Genfer Manufaktur mit dem Tessiner Architekten ist der «Fixpencil Mario Botta», zu dessem Design ein Schachbrett inspirierte. Die schwarzen und weissen Rechtecke treffen jeweils an den Kanten aufeinander, so dass die sechseckige Schaftform sofort erkennbar ist. Zudem verlieh Praktiker Botta dem Stift eine praktische Funktion – es kann als Mass verwendet werden: 5 Rechtecke = 1 Zentimeter. Die sechseckige Schatulle im Architekten-Look enthält neben dem Fixpencil (mit Signatur des Architekten) neben der Graphitmine auch vier bunte Minen.


16

APROPOS PRODUKTE, TIPPS UND MEHR

FARB-FLASH FÜRS HANDGELENK Hublot bringt mit seinem Modell fluoreszierender Spitze auf polierter schwarzer Keramik die Zeit zum Leuchten. Die St. Galler Stickerei des Totenkopf-Motivs ist ein absoluter Eye-Catcher! Das Modell BIG BANG BRODERIE SUGAR SKULL

FLUO – die Lünette ist mit 36, das Zifferblatt mit 12 Saphiren besetzt – gibt es in den knalligen Farben Pink, Grün, Blau und Gelb. Die Auflage ist auf je 100 Stück limitiert. Der Preis liegt bei 15 000 Franken. www.hublot.com

2,7

EINE ZAHL & IHRE GESCHICHTE

MÄNNERSPIELZEUG Man muss nicht gleich mit jedem Koffer verreisen. Der Werkzeugkoffer aus Massivholz, wahlweise aus Nussbaum, Birnbaum und Zwetschge, ist ein stilvoller Aufbewahrungsort für 24 Werkzeuge, die dank Magnetfixierung stets griffbereit sind. Eine grossartige Geschenkidee für verwöhnte Heimwerker, die schon alles haben (4,5 kg, Fr. 2600.–). Natürlich geht alles auch grösseer und schwerer, dann wird aus dem schlanken Koffer ein schmaler, dreiteiliger Kasten mit einem Mittelstück und zwei aufklappbaren Seitenflügeln. Aus massivem Birnbaum oder Nussbaum, von Hand geschliffen, geölt und poliert. Mit 75 Werkzeugen aus Deutschland, Japan und der Schweiz (Fr. 13 800.–/15 800.–). Der Star bei Wood & Luxury, der selbst im japanischen Fernsehen einen Auftritt hatte. www.woodandluxury.com

Millionen Menschen sind in der Schweiz als Wanderer unterwegs. Übers ganze Jahr gesehen kommen sie auf rund 60 Wanderstunden, was auf die Bevölkerung hochgerechnet 54 Millionen Wandertage macht. Ein gutes Fünftel der Wanderer unternimmt mehr als zehn Wanderungen im Jahr, die länger als drei Stunden dauern. Geld wird beim Wandern ebenfalls ausgegeben: pro Tag etwa 45 Franken. Der durchs Wandern jährlich generierte Umsatz liegt bei 2,5 Milliarden Franken.

BIANCO

SOMMER 2017


17

VON GEISTERHAFTER QUALITÄT: FASHION-DESIGNER SRULI RECHT UND SEIN FUTURISTISCHES LEDER Es ist wasserfest, durchsichtig und weich wie Leder. In Tat und Wahrheit ist es auch Leder. Hauchdünnes Kalbsleder, das zu beinahe allen Produkten verarbeitet werden kann, ob Taschen, Schuhen oder Jacken. «Apparition» (Geistererscheinung) heisst die Lederinnovation, die bereits in verschiedenen satten und hellen Farben erhältlich ist. Fashion-Designer Sruli Recht, für seine textilen Experimente bekannt, hat während eines dreijährigen Prozesses alle praktischen Probleme gelöst, auch was die Biegsamkeit anbelangt

oder die Fähigkeit, Nässe auszuhalten. Bislang gab es zwar durchsichtiges Leder aus Schaf- und Ziegenhäuten, doch es war steif und durfte nicht nass werden. Neben seiner Transparenz, Flexibilität und Was-

serdichte überzeugt «Apparition» auch visuell. Es ist nicht glatt wie gewöhnliches Leder, sondern faltig und knittrig. Hinter der Entwicklung steht die Gerberei eines niederländischen Unternehmens (Ecco Leather). Ägyptische und griechische Gerbmethoden in Kombination mit modernen industriellen haben offensichtlich den Erfolg möglich gemacht. Ansonsten wird nicht viel verraten. Sruli Recht: «Die Technik, welche das Leder weich hält, bleibt natürlich ein Geheimnis.» www.eccoleather.com/en/apparition


18

APROPOS PRODUKTE, TIPPS UND MEHR

SCHÖNER ESSEN Im chinesischen Viertel von Mailand bittet eine Bar namens «oTTo» zu Tisch, die ziemlich aussergewöhnlich erscheint. Was eindeutig am Design der Wahl-Mailänderin Iris Roth liegt. Interiors sind ihre eine Leidenschaft, in erster Linie brilliert sie als Töpfermeisterin, deren Arbeiten in Restaurants und Bars in ganz Europa grossen Anklang finden. Wie ihre begeisternde Earth Collection. Handgemachte Tellerchen, Tassen und Schalen in erdfarbenen Tönen, die sich gleichen und doch alle anders, besonders sind. So wunderschön die Objekte, so praktisch sind sie auch – sie dürfen in den Geschirrspühler. www.irisroth.com

PROGNOSE FÜR DIE BERGE: NIEDERSCHLAG 0,0 MM 1 SONNENSCHIRM WEISHÄUPL: klassischer Sonnenschirm, multicolor gestreift www.weishaeupl.de 2 SONNENBRILLEN ORGREEN OPTICS: Vivid Pool, Sunbeam, gespiegelte Gläser ORGREEN OPTICS: Pool Life, Dazzle, gespiegelte Gläser www.orgreenoptics.com 3 SONNENBRILLEN MYKITA: Studio 4.3, The Round, Rahmen dreifarbig, innen und aussen aufwendig von Hand bemalt MYKITA: Studio 1.2, papierdünner Edelstahlrahmen, repetitive horizontale Linien verbinden geometrisch runde Brillengläser www.mykita.com 4 SANDALE UNÜTZER: Ornament-Sandale 7966, rotes Leder, Ledersohle www.unuetzer.com 5 ESPADRILLES ROYAL BLUSH: Leder-Espradrilles, handgenäht, mit Kautschuk überzogene Jutesohle, hochwertiges Lederfutter www.royalblushbyjk.com 6 SNEAKER THE OFFICE OF ANGELA SCOTT: The Hammonds, schwarz-weiss oder schwarz-schwarz www.theofficeofangelascott.com www.eclecticshop.ch 7 BADEANZUG, BADESHORTS VILEBREQUIN: Facette, Coral & Fish. Okoa, Coral & Fish www.vilebrequin.com

JAPANISCHES DESIGN Chitose Abe, Kopf hinter dem japanischen Label Sacai, hat sich in Japan wie in der westlichen Welt mit ihrer Mode einen Namen gemacht. Ehemann der Sacai-Designerin ist Junichi Abe vom japanischen Label Kolor, der mit Adidas eine interessante Kooperation eingegangen ist. Von ihm gibts polartaugliche Jacken, T-Shirts, aber auch coole Sneakers. Wie der bunte Kolor Response Trail Boost mit farblich abgesetzter Aussensohle.

8 SEIDENTUCH SEIDENMANN: Carré Ice Cream, Crêpe de Chine, 68 cm x 68 cm, rosa, grün oder dunkelblau www.seidenmann.ch 9 ARMSCHMUCK, ANHÄNGER ROYAL BLUSH: Cuff Twist Light, hand­gefertigt aus Kalbsleder, Sechskant-Messing-Magnetverschluss. Leaf Necklace, pflanzengegerbter Lederanhänger in Blattform einer Eiche, goldplattiertes Messingkettchen www.royalblushbyjk.com 10 BADI-PACKAGE ROTHIRSCH: Ananas-Ferien-Set in Mint. Badetasche, Badetuch, Ideen-Büchlein www.rothirsch.com 11 PANAMAHUT STETSON: Fedora Panama 1, hellblau www.stetson.eu/de

BIANCO

SOMMER 2017


19

–1–

–2–

–3–

–5–

–4–

–7–

–6–

–8–

– 10 –

–9–

– 11 –


20

APROPOS PRODUKTE, TIPPS UND MEHR

ALPENROMAN, KRIMI, WESTERN

DAS FINSTERE TAL Thomas Willmann Ullstein Ein abgeschiedenes Hochtal in den Alpen. Ein Fremder kommt ins Dorf und bittet um Unterkunft. Die Bewohner sind erst misstrauisch, gewöhnen sich nach einiger Zeit aber an den Fremden. Dann schneidet der erste Schnee das Tal von der Aussenwelt ab, und es gibt einen Toten, kurz darauf einen zweiten. Und das ist erst der Anfang.

EINE WELTREISE ZU DEN KÜHEN

UNBERÜHRTE SCHÖNHEIT

SGRAFFITO-SCHAL Meterdickes Gemäuer, Sgraffito-Verzierungen an den Fenstern, Kreuzgewölbe, Holzbalkendecken, Wandvertäfelungen und Stuck: Die «Chesa Salis», ein stattliches Engadiner Patrizierhaus von 1590, vor zwei Jahren als «das historische Hotel des Jahres» ausgezeichnet, brachte den seit Jahrzehnten in der Textilbranche tätigen Unternehmer Walter Notter auf die Idee, mit den Sgraffiti als Motiv einen Engadiner Schal zu produzieren. In Nepal, aus hochwertigem Cariaggi-Kaschmir. Das kommt nicht von ungefähr, denn seit sieben Jahren betreibt Notter mit lokalen Partnern in Kathmandu eine Spinn- und Webschule. Nun soll expandiert werden und ein neuer Produktionsbetrieb am Rande der nepalesischen Hauptstadt entstehen, mit eigener Pflanzenfärberei und einer jährlichen Kapazität von 60 000 Schals. Vom Erlös sollen dereinst 30 bis 40 Prozent in Nepal reinvestert werden. www.qiviut.ch www.creation-walter-notter.ch

Reisen zu den ursprünglichen Kühen der Welt Werner Lampert Verlag Servus Rinder aller Herren Länder sind in diesem 400 Seiten starken Buch versammelt. Ein Bildband mit wunderbaren Bildern von Ramona Waldner, Judith Benedikt und Fabrice Romain Monteiro, gleichzeitig ein Nachschlagewerk mit reichlich gebündelter Information und Zahlenmaterial. Im Kapitel «Alpen» sind die Kurzhornrinder Rendena (Trentino), die Murnau-Werdenfelser (Oberbayern), das Tiroler Grauvieh (Osttirol) und das Rätische Grauvieh (Graubünden), die original Simmentaler (Berner Oberland) und die Tarentaises (Haut-Savoie) vereint.

WO HÖRT MAN DIE SCHNEEFLOCKEN SINGEN?

111 ORTE IM ENGADIN, DIE MAN GESEHEN HABEN MUSS Silvia Schaub Emons Es ist nicht so, dass einem dieses unterhaltsame Buch mit dem kleinen Skifahrer auf dem Cover ganze Nächte raubte, wie das gut geschriebene Romane manchmal tun. Aber Silvia Schaub schafft es mit ihren Geschichten, dass man das Buch immer wieder zur Hand nimmt, dieses oder jenes Ein-Seiten-Stück liest. Ob man bereits etwas darüber weiss oder zum ersten Mal davon hört. Geordnet sind die 111 Orte, die man im Engadin gesehen haben muss, geografisch. Deshalb beginnt es mit einem Hotel in Bever, der «Lodge» («Das gestapelte Hotel»), und endet in Zuoz mit dem Lyceum Alpinum und seinem Theaterhaus, das bis 2011 ein Schwimmbad war («Im Zuoz Globe hat Shakespeare Vortritt»). Man erfährt so einiges über den Geisselmacher Ludwig Magni, über Schwalben (Randulins) und ihre Nester, die Galgensäulen in Zernez oder die längste Rolltreppe der Schweiz.

Den Engadiner Schal gibt es in sieben Farben: Blau, Rot, Grün, Schwarz, Bordeaux, Beige und Pink.

BIANCO

SOMMER 2017


HUUS Gstaad Schönriedstrasse 74 3792 Saanen • Gstaad +41 33 748 04 04 www.huusgstaad.com welcome@huusgstaad.com 46°29’35.8”N 7°16’01.9”E

Must - see!

HUUS ist weit mehr als «nur» ein neues Hotel – HUUS ist eine eigene Destination. Natürlich willkommen im wunderschönen Saanenland!


22

N O T V I TA L HAUSVISITE IN SENT

DER NEUE SCHLOSSHERR Polyglotter Künstler, aber tief verwurzelt im Unterengadin. Bildhauer, Maler und Erbauer bewohnbarer Skulpturen in Afrika, Brasilien, Mongolei, Indonesien und Patagonien. Und jetzt auch noch Schlossbesitzer von Tarasp. Eine Hausvisite bei Not Vital in Sent.

Te x t : B r i g i tt e U l m e r  Fo t o s : G i a n Ma r c o C a s telberg

BIANCO

SOMMER 2017


23

Der Kßnstler macht Auslegeordnung im Atelier: Porträts mit der Aura von Rembrandt, Ai Wei Wei und seinem Tai Chi-Lehrer.


24

N O T V I TA L HAUSVISITE IN SENT

Not Vital unterwegs am Felshügel, auf dem Schloss Tarasp steht, auf 1499 Metern über Meer.

BIANCO

SOMMER 2017


25

E Es war ein trüber Herbsttag im Jahr 2002, es schneeregnete und auf der Innstrasse zwischen Sent und Tschlin lag eine schmierige Seife. Aber Not Vital war wieder einmal sehr unternehmungslustig. Im Nadelstreifenjackett steuerte er seinen vierradangetriebenen Jaguar durch das Unterengadiner Tal wie ein Grossstadtdandy, unterwegs zu einem Haus, das er gerade gekauft hatte. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren. «Wir befinden uns», gab er Auskunft, «im Ringelschwänzchen der Schweiz.» Er meinte damit das Gebiet des Unterengadins nahe der österreichischen Grenze, das Ende der Schweiz, wenn nicht der Welt, die längste Zeit total abgelegen. Der Vereina-Tunnel war jetzt aber seit drei Jahren offen, und damit war auch das Unterengadiner Inntal plötzlich in erreichbare Nähe der Unterländer gerückt. Not Vital hatte gerade das Haus in Tschlin erworben, es war eher verfallen, sein Bruder, Duri Vital, ein inzwischen gesuchter Architekt, sollte es zu neuem Leben erwecken. Das Haus Planta in Ardez gehörte ihm da schon, ein prächtiges Engadinerhaus aus dem Jahr 1642, wo Vital seine wachsende Bibliothek mit romanischen alten Büchern untergebracht hatte und seine Fundaziun. Eigentlich war ich nach Sent gefahren, um mit dem Künstler über sein Werk und seinen Skulpturengarten zu reden, seinen Wunderpark am unteren Dorfeingang von Sent, mit einer Brücke aus siebzig Eselsköpfen auf Aluminiumstelen und einem Haus aus Muranoglas. Not Vital war damals ein Geheimtipp, bekannter in New York als in der eigenen Heimat. Aber wir redeten mindes­ tens so viel über Häuser. 15 Jahre später sitzen wir zusammen in seinem Elternhaus, am viereckigen Holztisch, Not Vital wird inzwischen von Museumsleuten und Kunsthändlern zwischen Yorkshire, Stockholm, New York, Paris und Chur hofiert. Er hat, verstreut auf der ganzen Welt, sonderbarste Behausungen gebaut, Unterstände und Wohntürme, «Häuser, um den Sonnenuntergang zu betrachten», in Agadez in Niger, in Brasilien südlich von Manaus, in der Mongolei bei Ulan-Bator, in Chile, auf der Insel Flores in Indonesien, im Südpazifik – der polyglotte Künstler wird wegen dieser bewohnbaren Skulpturen zu Vorträgen in Museen eingeladen. Wie bei seiner Kunst geht er auch beim Bauen vor wie in einer multikulturellen Jam-Session: Er arbeitet mit Handwerkern vor Ort, nach Konzepten und mit Materialien, die sich dem Ort anpassen. Und wieder gibt’s von einem «Haus» zu berichten. Dem Schloss Tarasp, das Not Vital letztes Jahr erworben hat.

Im Suler steht noch sein Koffer, er ist gerade zurück aus Stockholm, wo er eine Einzelausstellung eröffnete, zuvor arbeitete er mit einem Trupp von Assistenten in seinem Atelier in Beijing an der bisher grössten Retrospektive, die im Frühherbst anberaumt ist. Gerade hat er ein Telefon aus Agadez beantwortet, das Elternhaus wird derweil gefegt und sommerfrisch gemacht – ob es heute wohl eine ruhige Minute gibt? Er will uns das Schloss zeigen, auch sein Atelier im Garten, muss aber vorher noch an eine Beerdigung. Und jetzt, noch kurz ein Telefonat? Vermutlich Beijing. Auf einer schönen alten Engadiner Truhe erhebt sich still eine seiner grossen Gipsskulpturen, ein weisser Berg. Not Vital erscheint manchmal als flüchtiges, schwer zu fassendes Wesen (auch für seine Galeristen, die ihn vergeblich baten, sich ein Mobiltelefon zuzulegen), doch wer meint, er sei von sprunghafter Natur, irrt. Wenn er da ist, ist er da. Vielleicht hat er den Zug von seiner Mutter, die letztes Jahr mit «100 Jahren und 100 Tagen» starb, eine Engadinerin mit stark ausgeprägtem Sinn für Ästhetik, die, so Not, stark fokussieren konnte. «Niemand anders wollte das Schloss», sagt Vital, «auch nicht, als sich der Preis halbierte.» 11 Jahre stand es zum Verkauf. Das wunderte ihn doch sehr, schliesslich handle es sich beim Schloss Tarasp, erstmals erwähnt um 1040, um eine der schönsten Bauten der Schweiz, ein Wahrzeichen des Bündnerlands. Eine «Folly» des Dresdner Industriellen Karl August Lingner, der die ehemalige Trutzburg 1900 erwarb. Einst gehörte es den Herren von Tarasp, die aus der Region des Comersees ins Engadin gezogen waren, 1464 wurde es österreichisch. Napoleon schlug es 1803 dem neu gegründeten Graubünden zu, worauf es dem Verfall anheimfiel. Bis Karl August Lingner aus Dresden kam, der Odol-König. Er renovierte die Burg im historistischen Stil, liess prächtiges Holztäfer und antikes Engadiner Mobiliar kommen. 16 Jahre wendete er darauf auf, die Burg der Habsburger im historistischen Stil zu einem Wohnschloss umzubauen. Er liess Strässchen um den Burghügel anlegen, damit er spazieren fahren konnte – in Graubünden galt noch das Autofahrverbot. «Er hat genau so viele Goldmünzen für die Renovation ausgegeben wie Ludwig der II. für sein Schloss Schwanstein.» Nach dessen Tod ging es in den Besitz der deutschen Adelsfamilie von Hessen, die es schliesslich zum Verkauf ausschrieb. Dem kleinen Not war das Schloss, als er in Sent aufwuchs, immer im Blickfeld. Hingegangen seien die Vitals praktisch nie. «Es lag ja auf der anderen Seite des Inns, und Tarasp war eine katholische Enklave.» Da kam am Neujahrstag 2014 Not Vitals Neffe, der Förster im Tal ist, zu ihm. Warum nicht er das Schloss


26

N O T V I TA L HAUSVISITE IN SENT [ 1 ]

[ 2 ]

[ 6 ] [ 5 ]

[ 1 ] Majestätisch thront das 1000-jährige Schloss Tarasp über der Unterengadiner Landschaft. [ 2 ] Fotodokumente aus seiner Frühzeit, nun gerahmt für die Retrospektive: Not Vital im Hausgang seines Elternhauses in Sent. [ 3 ] Andy Warhols Popart-Kuhparade, antike chinesische Stiefel, Engadiner Stabellen und gotische Truhen: Mix der Kulturen im Schloss. [ 4 ] Malerei aus dem 12. Jahrhundert in der Schlosskapelle. [ 5 ] Aufgang zur Burg. [ 6 ] Antike Tapisserie und Malerei von Not Vital. [ 7 ] Das Badezimmer des Odol-Königs, mit handgemalten Delfter Kacheln. [ 8 ] Im Schlosshof. [ 9 ] Schlossküche mit einem Arrangement von Kupferpfannen aus Dresden. [ 10 ] Kunst im Laptop: Vital präsentiert seine über die ganze Welt verteilten architektonischen Skulpturen, die «Häuser, von denen man den Sonnenuntergang betrachten kann». [ 11 ] Eines der insgesamt 100 Gemächer im Schloss Tarasp. [ 9 ]

BIANCO

SOMMER 2017


27

[ 3 ]

[ 4 ]

[ 8 ]

[ 7 ] [ 11 ]

[ 10 ]


28

N O T V I TA L HAUSVISITE IN SENT

Eine Eselsbrücke in Not Vitals Park «Not dal Mot» in Sent: «Punt dals avens» aus Aluminium.

BIANCO

SOMMER 2017


29

Auch Berge erheben sich im wild-abschüssigen Kunstpark: Grossskulptur «Muntagna».


30

N O T V I TA L HAUSVISITE IN SENT

kaufe? «Wir gingen zusammen hin, schauten es uns an, und ich sagte: okay.» Am 30. März 2016 unterschrieb Not Vital auf dem Grundbuchamt. Ganz so einfach ging es natürlich nicht. Die Mittel musste auch er, der dank Galerienvertretungen in New York, Stockholm, Beijing, Luzern, Salzburg, Paris, St. Moritz und Zuoz vermutlich doch über ein bisschen Kapital verfügt, organisieren. Eine Hypothek gab ihm keine Schweizer Bank, aber der Senter Jon Peer, ein Unternehmer mit guten Verbindungen, schuf Kontakte zu einer französischen Bank mit Schweizer Niederlassung. «Ohne ihn wäre es nicht gegangen», sagt Vital. Die Verhandlungen hätten sich dann ein wenig in die Länge gezogen, bis der Preis von 7,9 Millionen feststand. Die Gemeinde Scuol musste noch ihr Plazet geben, den Betrieb mit 200 000 Franken zu unterstützen, und dazu brauchte es, guteidgenössisch, eine Volksabstimmung. «700 waren dafür, 300 dagegen», erzählt Vital.

D Dieses Schloss nun zu besitzen, sei «phantas­ tisch», sagt er, und das findet nicht nur er, denn im Tal ist man froh, dass das Schloss ein Einheimischer kaufte, der es für die Öffentlichkeit zugänglich lässt, und kein chinesischer Investor oder russischer Oligarch. Zu einem lebendigen Kulturzentrum möchte er es ausbauen, mit einem Skulpturenpark. Im obersten Stock habe er bereits ein kleines Museum mit sieben Räumen installiert; jeder Raum ist einem Künstler gewidmet. Wechselausstellungen soll es geben, tafeln wird man können. Duri, sein Bruder, «ein Genie», hat bereits die Probleme mit der Heizung und dem Wasser gelöst. Das Schloss war praktisch unbewohnt, und wenn das Wasser nicht mehr durch die Leitungen fliesse, sei es, wie wenn das Blut in einem Körper stockte. Kennt der Nomade keine Furcht vor Bindung durch Besitz? «Überhaupt nicht», sagt er. «Ich kann mich sehr schnell und gut auf etwas konzentrieren und dann wieder weggehen.» Das Schloss werde dereinst auch in seine Stiftung eingehen, wenn es abbezahlt sei. Vital wundert sich, wenn sich andere wundern. Seine Bindung zu Sent sei doch immer stark geblieben, ob er nun mehrheitlich in New York oder Lucca lebte oder, wie seit 2007, in Beijing und Brasilien. Jetzt werde der Ort halt noch stärker zum Rückkehrort. Überhaupt, das Weggehen und Zurückkehren liege ja in der Natur der Senter. «Die Senter sind Randu-

lins – Schwalben. Sie sind es gewohnt, ins Ausland zu gehen. Aber sie kommen immer wieder zurück.» Er spielt an auf die Engadiner Zuckerbäcker, die ihr Glück in Neapel und Bologna, Triest und Lucca suchten und im Sommermonat in ihre Häuser im Engadin zurückkehrten. Die Kindheit in Sent hätte ihm ein gutes Fundement fürs Leben gegeben. Fünf Monate hatten sie jeweils schulfrei, man ging ins Holz, baute Baumhütten, erschuf sich seine eigene Welt. Not Vitals Vater, Holzhändler von Sent in fünfter Generation, wollte, dass die Söhne etwas Neues lernen. Als Not ihm mitteilte, er wollte Künstler werden, soll er geantwortet haben: «Übertreiben musst du es auch wieder nicht.» Aufgebrochen ist Not trotzdem, ohne Schulabschluss mit 20, zuerst nach Paris. Es sei eine schlimme Zeit gewesen an der Kantonsschule Chur, die Schullektionen plötzlich auf Deutsch, er, der vorher im Dorf kein Wort Deutsch sprach. 1968 also ab nach Paris, es brodelt, er besucht Kunstgeschichte-Vorlesungen am neu gegründeten Centre universitaire expérimental de Vincennes, das überfüllt ist mit marxistischen Splittergruppen. 1970 geht er nach Rom, er wollte, sagt er, «einfach nur leben». Bestaunt Caravaggio in der Kirche San Luigi dei Francesi, will Maler werden. Fellini inspiriert ihn, er gründet einen kleinen Strassenzirkus, speiht Feuer, lässt eine echte Gans hinter einer mechanische Blechgans hinterherwatscheln, lässt irgendwie Rauch aus dem Kopf aufsteigen. 1974 One-Way-Ticket nach New York, er ist 26, zeichnet, malt unterdessen. Ein Foto zeigt ihn, den jungen Nobody, mit krausem Kopf mit dem Malergenie Willem De Kooning auf Long Island. Eine Woche lang hätten sie jeden Tag über Malerei geredet. Er nimmt sich ein billiges Loft, der Vater schickt ein bisschen Geld, Downtown New York war damals Drittweltland, er taucht in die East-Village-Szene ab, Clubs, begegnet Andy Warhol, Jean-Michel Basquiat, Mapplethorpe. Während expressive Malerei hoch im Trend steht, entscheidet sich Vital für Skulptur. Gips: Das Material ist weiss und man kann es formen wie den Schnee von Sent. Mit seltsam hoher Hängung und Skulpturen auf langen Stelzen zwingt er die Galerienbesucher, in die Höhe zu blicken, wie an Berge. Der Galerist Gian Enzo Sperone wird auf ihn aufmerksam (er unterhält heute auch eine Galerie in Sent). Er reist, in Lucca arbeitet er mit den Steinmetzen, in Agadez mit den Silberschmieden der Touareg, Galerien zwischen New York und Paris stellen eigentümliche Skulpturen und Zeichnungen aus, ein Amalgam aus Engadiner Wurzeln und archaischen Chiffren. Was er in seiner Kindheit und auf seinen ausgedehnten Reisen sieht, giesst er in eine minimalistische Formensprache. Seine Reisen führen ihn nach Patagonien und Brasilien, Afrika und China.

BIANCO

SOMMER 2017


31

ausgelegt, die bald in Galerien zu sehen sind, eine Art «automatische Zeichnungen» mit verschiedensten Materialien, Toblerone, Stanniolpapier, Klebestreifen. Berge, immer wieder. An der Wand hängen grossformatige Gemälde, diffuse Porträts, von Rembrandt, von seinem TaiChi-Lehrer, von seinem Nachbarn, dem Kunstaktivisten Ai Weiwei. Das Atelier ist fensterlos. Aussicht wäre nur Ablenkung, meint er. Die Idee grosser Fenster ist ihm fremd, wer solche im Engadin baue, habe das Engadin nicht verstanden. «Entweder ist man drinnen oder man ist draussen.» Entweder – oder: Kleine Bilder oder riesige. Kleine Skulpturen oder monumentale. Grossstadt oder abgelegene Natur. «Ich habe gerne Intensität. Dann passiert am meisten.» Jetzt muss er weg, ans Begräbnis im Dorf. Von weitem sieht man den Künstler später mit seinem Hut, die Glocken läuten, mitten unter den Einheimischen im Trauerzug laufen. Havanna meets Sent: Eine Zeichnung des Kubaners Kcho hängt über einer Skulptur von Not Vital im Senter Elternhaus des Künstlers.

Sein Galerist und Kunsthändler der potentesten Sammler, Thaddaeus Ropac, zelebriert ihn kürzlich in einem ehemaligen Flughafenhangar ausserhalb von Paris, und letztes Jahr hatte er seine bisher grösste Ausstellung Europas im angesehenen Yorkshire Sculpture Park in Grossbritannien. Über all die Jahre bleibt Vital tief verbunden mit dem Unterengadin. Die Berge, die Natur, der Schnee, die Tiere. Aber auch wegen der Sprache. «Ich sprach meine Muttersprache immer nur zu 15 Prozent meiner Zeit», sagt er. Romanisch zu sprechen und zu hören, das sei ihm wichtig. Auch wegen des Humors.

N Not Vital ist wieder auf dem Sprung, aber ob wir vorher noch sein neues Atelierhaus sehen wollen? Wir stiefeln durch den Garten, vorbei an einem blitzblanken Stahlobjekt, das das Hirn irgendwo zwischen einem Schlitten, einem Flugzeug und einem Automobil verortet. Stehen plötzlich vor einem Riesenfelsen, einer Zementstruktur, erbaut vom Bruder (das langwierige Baubewilligungsverfahren ist eine andere Geschichte). Im Innenraum öffnet sich eine neue Welt, hier steht auch sein chinesisches Baldachin-Bett wieder, das schon Besucher seines Lofts in New York am Broadway überrascht hatte. Am Boden sind seine neuesten Arbeiten

Z Zwei Stunden später steuert Not Vital seinen weissen Mini Station Wagon (den Jaguar hat er inzwischen gegen einen Bentley eingetauscht) dem Inn entlang, dann den Hügel hinauf, erzählt Kurve um Kurve eine Geschichte, etwa, dass die Gegend hier um die Jahrhundertwende der schickste Ort gewesen sei, und dass Prinz Charles 1963 zum Skifahren kam, denn seine Gotte war die Besitzerin von Tarasp. Er zeigt auf den Golfplatz, erbaut 1924. Beim Parkplatz, wo man bereits eine surreale, stachelig wirkende Skulptur von Vital aus der Ferne erspäht, geht es den Burghügel hoch, vorbei an den Geissen, die seinem kleinen Neffen gehören, bis wir vor dem grossen Tor stehen. Er steckt den riesigen schmiedeeisernen Schlüssel ins Schloss, das Tor ist in den rot-weissen Nationalfarben gestrichen. Über der Pechscharte steht undiskret geschrieben: «Hie Estereih.» Aber auch Vital hat markiert. Auf dem Dach, von weit her sichtbar, weht eine bolivianische Fahne, die Wiphala, auf der 46 Vierecke die eingeborenen Völker des Landes symbolisieren. Die Klinke auf der Innenseite des Tors ist ein Negativabguss seiner Finger. Aus Gold. Dahinter erscheint die Trutzburg. Sie zähle schätzungsweise 100 Räume, sagt Not Vital und führt uns, freudig wie ein Bub, der einem seine Baumhütte zeigen will, durch die zwei Wachhäuser, eines in den Felsen gebaut, und die Kapelle, und schliesslich öffnet er die neueste Errungenschaft: den Schindler-Lift. Kürzlich auf sein Geheiss eingebaut, bringt er uns in die oberen Gemächer: Wir schreiten


32

N O T V I TA L HAUSVISITE IN SENT

Kennt der Nomade keine Furcht vor Bindung durch Besitz? «Überhaupt nicht», sagt Not Vital. «Ich kann mich sehr schnell und gut auf etwas konzentrieren und dann wieder weggehen» BIANCO

SOMMER 2017


33

durch unzählige Schlafzimmer, ausgestattet mit den schönsten geschnitzten Engadiner Betten und Buffetts, vergoldeten Spiegeln, Gobelins, Schiefertischen und Stabellen aus dem 16. und 17. Jahrundert, dann die Bäder mit Originalarmaturen der Jahrhundertwende. Toilettenpapier, dünn und verblichen, aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, steckt noch in den Halterungen, Cheminées und Delfter Kacheln, handgemalt. Das Waffenarsenal. Die Wehrgänge – sie erinnern den Künstler an die Architektur in Kyoto. Vital zieht die Holzschiebefenster, lobt das alte Handwerk, blickt in den Innenhof und dann über die Weite. Auch der See gehört ihm nun. Die obersten Räume sind von seinem Bruder bereits renoviert, und hier nimmt Not Vitals eigene Vision Gestalt an. Jedem Künstler ist ein Raum gewidmet, etwa dem kubanischen Künstler Kcho oder dem Amerikaner Frederick Einhorn; der Künstler, der 1983 an Aids starb, war ein Freund Vitals. Werke von Alighiero Boetti, Rirkrit Tiravanjia und Rosmarie Trockel sind ausgestellt und die farbigen Besen des chinesischen Künstlers Li Gao. «Der erste Arte-Povera.Künstler Chinas.»

S CH L O SSVI S I T E I N TA RAS P Not Vitals Schloss Tarasp kann im Rahmen einer Führung besichtigt werden. In den Sommermonaten täglich mehrmals. Ausser an Montagen. Infos: Fon +41 81 864 93 68 www.schloss-tarasp.ch

W Wird der Nomade, energiegeladen wie ein Jungspund, aber kalendarisch doch im 70sten Lebensjahr, nun doch etwa sesshafter werden? Oder sind all die Behausungen ein Zeichen der Rastlosigkeit? Wieviele Häuser er nun eigentlich habe. «Ich kann das nicht zählen. Schafe kann man auch nicht zählen. Das bringt Unglück.» Und schiebt erklärend nach. «Nietzsche sagte einmal: «Als ich des Suchens müde war, erfand ich das Finden.» Vital ist grossartig im Finden. Ganz oben, unter den Pulvertürmen, hat er ein Schlafgemach bezogen – das kleinste im Schloss. Ein Tisch, ein Bett, eine wunderbare kleine Truhe aus dem 17. Jahrhundert, auf dem Bett liegt ein Buch. Er habe schon ein paar Male hier übernachtet. Und jetzt hat er auch endlich das Land, um ein weiteres Haus «um den Sonnenuntergang zu betrachten» zu bauen, wie jene in Agadez, Patagonien, Brasilien, Indonesien. Damit wird er sein Ziel erreichen, auf jedem Kontinent eines gebaut zu haben. Ob ich den südkoreanische Dichter Ko Un kenne, und sein Gedicht «Your Pilgrimage»? «The world’s too vast - to live in a single place - or three or four.» Vielleicht wird der Satz ja dereinst die jetzige Inschrift «Hie Esterreich» ablösen.

Kunst der walisischen Künstlerin Bethan Huws am Kapelleneingang: «Personally, I like the idea that Jesus was born in a stable.»

ENGLISH SUMMARY

N OT VI TA L Artist Not Vital is a polyglot, but he never forgot about his roots. They lie in the lower Engadine village of Sent, where he returns to whenever he can. The 69-yearold painter and sculptor has built habitable structures in Africa, Brazil, Mongolia, Indonesia and Patagonia, but his newest house is much closer to home – and much larger than anything he ever owned before. Not Vital has bought the castle of Tarasp, first mentioned around the year 1040. He plans on turning it into a public cultural centre with a sculpture park and rooms dedicated to all his artist friends. An maybe he’ll even build another one of his habitable structures on the vast land around the castle, «so I can watch the sunset from it». He would then have one on every continent.


34

REKORDFLUG 6 STUNDEN UND 46 MINUTEN

Schirm an Schirm zum längsten Flug MIT DEM GLEITSCHIRM VOM KLEIN MATTERHORN BIS KLOSTERS: DER REKORDFLUG DER BRÜDER CHRIGEL UND MICHAEL MAURER. DAUER: 6 STUNDEN UND 46 MINUTEN

Tex t : We r ne r Je ss ne r  Fo t o gra f i e : Rob e r t B ö s c h

BIANCO

SOMMER 2017


35

In Rufweite zueinander: Die Maurer-BrĂźder fliegen Ăźber den Aletschgletscher.


36

REKORDFLUG 6 STUNDEN UND 46 MINUTEN

Routenstudium: Michael (links) und Christian «Chrigel» Maurer tüfteln an der Route. Erhabener, erhebender Moment: der Start am Klein Matterhorn auf 3800 Metern (grosses Bild).

D

Das Schwierigste sei gewesen, sagt Chrigel Maurer heute, dem anderen zu vertrauen. Das liege in der Natur der Materie. «Normal ist es so, dass zwei Piloten zwei Lösungen haben.» Darum hatte man auch einen Plan entworfen, an den man sich hielt – und den man dennoch jederzeit bereit war umzuwerfen. Der Plan also: mit der Bahn aufs Klein Matterhorn auf 3 800 Meter zu fahren, um 10 Uhr Vormittags zu starten und sich mit den Gleitschirmen in nordöstlicher Richtung vorzuarbeiten, solange die Thermik sie tragen würde. «Unser WorstCase-Szenario war, dass wir bereits am Furkapass runtermüssen. Bei normalen Bedingungen dachten wir, bis in die Region Flims oder Chur vorzudringen. Wenn alles perfekt laufen sollte, könnte es sogar noch weiter gehen.» Und es ging weiter: 6 Stunden und 46 Minuten nach dem Start landeten die beiden Brüder bei Klosters und hatten dabei 198 Kilometer Luftlinie zurückgelegt. In Wahrheit waren es aber viel mehr: Schon wenn man die zwei Fix-Koordinaten einkalkuliert, die die beiden auf ihrer Z-förmigen Strecke passiert haben, errechnen sich aus den GPS-Daten 220 Kilometer. Rechnet man das Ganze dreidimensional, nimmt also die Höhengewinne und -verluste mit, landet man bei unglaublichen 309 Kilometern. Es war pures Glück, das die beiden erfahrenen Flieger am Klein Matterhorn empfanden, als sie sich an einer der

BIANCO

SOMMER 2017


37


38

REKORDFLUG 6 STUNDEN UND 46 MINUTEN

Tückisch: die Navigation in den Alpen. Streckenkenntnis ist unerlässlich, das GPS diente nur zur Rückversicherung.

Passübergänge sind wegen dort auftretender Ausgleichswinde besonders tückisch zu fliegen. Grösstes Hindernis: der Furkapass.

BIANCO

SOMMER 2017


39

Wie sich die Umgebung ändert: vom Gletscher des Matterhorns über schroffe Felsen und Almen bis hin zu den saftigen Wiesen von Klosters bei der Landung knapp sieben Stunden später.

Die Maurers sind besonnene Männer keine Hasardeure. Abenteurer: das schon

höchs­ten Stationen, die man in der Schweiz als Startpunkt nutzen kann, in die Lüfte machten: «Unglaubliche Aussicht, klarer Himmel, die Höhe: Das war schon sehr speziell.» Mit ihren Wettkampfschirmen – den schnellsten, die es am Markt gibt – flogen der 33-jährige Chrigel und sein um acht Jahre jüngerer Bruder Michael davon. Chrigel vorn, «weil ich hier mehr Erfahrung habe», Michael hinterher. Es galt, Kilometer zu machen, effizient zu fliegen. Dabei versuchten die beiden Piloten, einander nicht zu verlieren: «Die Challenge war, auf Rufweite zueinander zu bleiben. Wir hatten zwar auch Funk und die Route war vorher abgesprochen, aber Kommunikation von Schirm zu Schirm ist doch durch nichts zu ersetzen.» Bis auf zwei Meter kamen einander die Brüder in der Luft nahe. Das nennt sich dann wohl Präzision. Vorbei an Zermatt, Vips und Brig türmte sich das erste Hindernis auf, das gefürchtete: der Furkapass. Die Herausforderung dabei war aber nicht, wie man meinen könnte, seine Höhe, denn immer wieder schraubten sich die Maurers auf 3000 oder mehr Meter Seehöhe (ohne jedoch im Laufe des Fluges die Starthöhe wieder zu erreichen). Die Schwierigkeit bei Pässen sind die dort herrschenden Ausgleichswinde, die man zuvor nicht abschätzen kann. Sie können einen viel Zeit kosten oder gar zu Boden zwingen. Hier zeigte sich die flie-


40

REKORDFLUG 6 STUNDEN UND 46 MINUTEN

gerische Klasse der Maurers, und auch die Winde waren an diesem Tag gnädig. «Als wir den Furka passiert hatten, war die Erleichterung gross. Jetzt hatten wir schon viel geschafft. Langsam konnten wir beginnen, den Flug zu geniessen.» Apropos: Die kulinarische Verpflegung an Bord, wenn man das so sagen kann, bestand aus Müesli- und Energieriegeln. Getrunken wurde aus einer Flasche mit Schlauch. Und in, erm, Gegenrichtung? «Wir verwendeten Urinalkondome wie im Krankenhaus.» Kann man sich auf einen solchen Langstreckenflug überhaupt vorbereiten, kann man die Herausforderungen simulieren? Natürlich, meint Chrigel Maurer, man müsse einfach viel fliegen und auf den einen Tag mit den besonderen Bedingungen warten, dann seien Langstreckenflüge wie dieser im Grunde kein Problem. Es ginge eben ein wenig länger. Den Weltrekord für den längsten Einzelflug hält übrigens ein Franzose mit 405 Kilometern, der Rekord in der Gruppe wurde mit 524 Kilometern in Brasilien aufgestellt. Auch Chrigel Maurer ist allein schon weiter geflogen als bei seinem Flug mit dem Bruder, 333 Kilometer waren es in diesem Frühling. «Generell ist gemeinsam zu fliegen aber leichter als allein. Das ist wie beim Radfahren», sagt er.

«Gemeinsam zu fliegen, ist leichter als allein. Das ist wie beim Radfahren» Für absolute Rekorde sei die Topographie der Schweiz aber ohnehin nicht geeignet. Darum sei es bei diesem Flug auch um etwas anderes gegangen, meint er. Es wäre das Erlebnis, der Fakt, etwas mit seinem Bruder geschafft zu haben, die Aussicht, die fliegerischen Herausforderungen der Alpen. Hier ist er daheim, keiner kennt die Alpen so wie Chrigel Maurer. Seine Erfolge beim Red Bull X-Alps, einem Bewerb, bei dem sich Athleten zu Fuss und mit Schirm von Salzburg nach Monte Carlo bewegen, haben ihn ausserhalb der Szene bekannt gemacht. Er hat diesen Bewerb bereits viermal gewonnen – so oft wie kein anderer. Bruder Michael ist um acht Jahre jünger, hat neun Jahre nach seinem Bruder mit dem Fliegen begonnen und zählt dennoch zu den besten Fliegern der Schweiz. 2012 hat er den Gleitschirm-Testpilotenjob von Chrigel übernommen, 2017 wurde er Vater. Die Maurers sind besonnene Männer, keine Hasardeure. Abenteurer: das schon. «Für Laien ist das, was wir machen, ohnehin nicht verständlich», macht sich Chrigel Maurer keine Illusionen. Man hat aber nicht den Eindruck, dass ihn das sonderlich beschäftigen würde. Am Himmel ist es einsam, und das ist vermutlich ganz in Ordnung so. Da tut es manchmal gut, seinen Bruder an der Seite zu wissen. Mit etwa 40 km/h bewegten sich die beiden Maurers

KLEIN MATTERHORN

BRIG

MÜNSTER-GESCHINEN

0 km

60 km

90 km

BIANCO

SOMMER 2017


41

nach Osten. Richtung Chur, das war grob der Plan gewesen, doch es ging weiter, immer weiter. Man flog nun in östlichere Richtung als ursprünglich geplant. Richtung Engadin zu drehen hätte vielleicht eine längere Flugzeit gebracht, doch diesen Plan verwarf man wieder. Das GPS diente nur der Rückversicherung, die Route entstand im Kopf. Immer wieder nutzte man Thermiken, um sich mit 30 km/h in die Höhe zu schrauben, um danach mit Spitzen von bis zu 65 km/h Kilometer zu machen. Unter ihnen die Landschaft, die sie kannten. Andermatt war längst vorbei, die Baustelle da unten, schau mal, die Windräder. Von Ort zu Ort han198 Kilometer, 220 Kilometer, 309 Kilometer! Highlight zum Start: Die ersten Flugminuten entlang der majestätischen Kulisse des Matterhorns. 6 Stunden und 46 Minuten später landeten die beiden Brüder bei Klosters und hatten dabei 198 Kilometer Luftlinie zurückgelegt. In Wahrheit waren es aber viel mehr: Schon wenn man die zwei Fix-Koordinaten einkalkuliert, die die beiden auf ihrer Z-förmigen Strecke passiert haben, errechnen sich aus den GPS-Daten 220 Kilometer. Rechnet man das Ganze dreidimensional, nimmt also die Höhengewinne und –verluste mit, landet man bei unglaublichen 309 Kilometern.

«Normal ist es so, dass zwei Piloten zwei Lösungen haben» gelten sie sich entlang, dahinter dr Hubschrauber mit unserem Fotografen Robert Bösch an Bord, der den Flug mit seiner Nikon dokumentierte. Das hätte noch etwas zweites Gutes ge­ habt, lacht Chrigel heute, denn so habe man für die Heimreise bequem den Heli nutzen können statt Bahn und Bus. Irgendwann war dann der Tag aus. Der Flug hätte noch weitergehen können, eigentlich. Aber keine Sentimentalitäten: Die zwei Brüder können jederzeit wieder in die Luft gehen – gemeinsam. Pläne schmieden – das tun sie bereits. Was bleibt, ist die Erinnerung an den gemeinsamen Flug vom Klein Matterhorn nach Klosters. Auf eines legt Chrigel Maurer dabei Wert: «Dieser Flug war gekonnt, nicht geglückt.»

ENGLISH SUMMARY

FURKAPASS

TRUNS

110 km

170 km

KLOSTERS

200 km

When brothers Christian and Michael Maurer set off from Klein Matterhorn with their paragliders, their plan was to get to Flims or Chur – or maybe even a little bit further if the weather would allow for it. 6 hours and 46 minutes later they landed in the vicinity of Klosters, having travelled a linear distance of 198 kilometres. And their trip is even more impressive when it’s looked at in three dimensions. Once all the ascents and descents are added and the actual route is taken into account, it all adds up to a stunning 309 kilometres. Christian Maurer wants to be clear about one thing: «This was not pure luck – we succeeded because of our abilities.»


42

A L P E N PÄ S S E IM CABRIO

Tex t : Ni na Ve tt e rl i

I l l u s t ra t i o n: H e l g e Je p s e n

Andere haben Autobahnen ohne Tempolimit. Wir haben Kurven ohne Ende.

Auf

Scharfe Kurven, steile Kurven, weite Kurven, S-Kurven, ja Kurven jeder Couleur. Zugegeben, die gibt es unsere Kurven wurden

die

auch auf Rennstrecken. Doch nicht etwa zwischen Latte

macchiato und Mittagspause in einem Planungsbüro entworfen. Nein, sie sind ein Produkt des Känozoikums. Vor rund 30 Millionen Jahren gab es noch keinen Latte macchiato. Es gab noch nicht mal

Pässe,

Reissbretter. Dafür gewaltige Massen von Stein, die sich durch die Kollision zweier Kontinentalplatten zu einem interessanten Gebilde, im heutigen Sprachge-

brauch Alpen genannt, formten. Die früheren Erdbewohner fanden daran wenig

fertig,

Gefallen, hätten sie für ihre Handelsreisen und Kriege doch lieber Autobahnen ohne Tempolimits gemühsam erschlossene

habt, als sich über Saumpfade

zu

schleppen. Doch wie sich heute, nach der Entdeckung des Asphalts, herausstellt,

los!

war alles für einen guten Zweck. Und seit der Erfindung des Cabriolets für ein potenziertes Zweifel mehr.

Naturerlebnis bestehen sowieso keine Höchstens noch Fragen wie: Welche Pässe

lohnen sich? Mit welchem Auto? Warum? Wir haben die Antworten.

Veruptatur simagnatem sit, id quam fugit mil iumque estota nusam, enestiasi doluptium qui dit, quidentur aut qui imet ma quist, ut ipsandit ellor aut rem ipitatem volorecte volorest,

BIANCO

SOMMER 2017


ALBULA

43

2312 m ü. M. K A N T O N E Graubünden V E R B I N D U N G Filisur – La Punt-Chamues-ch L Ä N G E / Z E I T 30,4 km; ca. 55 Minuten E I N K E H R M Ö G L I C H K E I T Albula Hospiz Abenteuerlicher Pass mit teils schlechtem Strassenbelag, dafür umso schöneren Aussichten PASSHÖHE

BESONDERHEIT

RANGE ROVER EVOQUE CONVERTIBLE 2.0 TD4E 4,36 Meter langes, 4-sitziges SUV-Cabrio 2,0-Liter-R4-Diesel mit 180 PS (132 kW) und 430 Nm F A H R L E I S T U N G E N 0–100 km in 10,3 s; 195 km/h Höchstgeschwindigkeit V E R B R A U C H 5,7 l/ 100 km; 149 g CO₂/km (offizielle Angabe) P R E I S ab Fr. 57 900.– (Basisversion ab Fr. 57 900.–) KAROSSERIE

MOTOR

WARUM IST DER ALBUL A FÜR DEN RANGE ROVER EVOQUE CONVERTIBLE WIE GESCHAFFEN?

Weil hier selbst auf der asphaltierten Piste ein gewisses Offroad-Feeling aufkommt

Dem erst sanft geschwungenen, dann zunehmend kurvigeren Asphaltband vom Albulatal ins Hochgebirge folgen: Kann man machen. Muss man aber nicht. Rein theoretisch liesse es sich auch geradeaus fahren. Wozu hat man denn das einzige Luxuscabrio, das es dank Allradantrieb, viel Bodenfreiheit und dem raffinierten «Terrain Response System» mit Dickicht, Flüssen, Felsen und Geröll aufnimmt? Doch nicht etwa, um mit dem Zweitönner auf Kurvenkünstler zu machen! Natürlich ist der Offroad-Ausritt nicht wirklich eine Option. Weil es reicht, zu wissen, man könnte. Weil die Natur des Piz Palpuogna geschützt ist. Und weil der Range Rover Evoque der rauen Albulaschlucht vielleicht doch nicht gewachsen wäre. Besser, man folgt besagtem Asphaltband, erfreut sich am Anblick der auf Steinviadukten kreuzenden Rhätischen Bahn und lacht über die anderen CabrioFahrer, die von ihrer niedrigen Sitzposition aus keine so tolle Aussicht geniessen. Vor allem ist das Offroad-Equipment auf der verkehrstechnisch unbedeutenden, nur von Ausflüglern genutzten Strasse nicht umsonst. Der Belag befindet sich über weite Strecken in mässigem Zustand; auf der Engadinerseite warten gar Frostaufbrüche. Und wenn es ein Auto gibt, das mit der Würde eines Königs über holpriges Terrain gleitet, dann ja wohl ein Range Rover. Ob die westliche oder östliche Seite des Passes schöner ist? Darüber könnte man sich genauso streiten wie über die Schönheit dieses Cabrios. Doch da wären wir wieder beim Konjunktiv. Wer will denn an einem schönen Tag auf dem schönsten Pass Graubündens schon streiten?


44

UMBRAIL

A L P E N PÄ S S E IM CABRIO

2501 m ü. M. Graubünden, Lombardei (I) V E R B I N D U N G Santa Maria – Bormio L Ä N G E / Z E I T 31,5 km; ca. 1 Stunde E I N K E H R M Ö G L I C H K E I T Berghaus Astras Höchstgelegener Strassenpass der Schweiz. Mündet zudem in die berühmte Stilfserjochstrasse PASSHÖHE

KANTONE

BESONDERHEIT

Wir erinnern uns: Während der Französischen Revolution fielen die Truppen Napoleons über den Umbrail ins Val Müstair ein. Was nicht heissen soll, dass das kleine britische Cabrio den nach dem französischen Diktator benannten Komplex hätte. Aber der Auftritt des 320 PS starken Mini John Cooper Works mit seinem stechenden LED-Blick, den vergrösserten Lufteinlässen und der blutroten Kühlergrillstrebe mutet doch ähnlich autoritär an. Der Sound aus der Abgasanlage: ein einziger Schlachtruf. Und dank messerscharfer Lenkung, Sportfahrwerk, elektronischer Differenzialsperre und Traktionskontrolle ist der 3,87 Meter kurze Fronttriebler sowieso Herrscher über alle Kurven. Perfekt, also, um auf der schmalen, steilen Kurvenstrecke ausgehend von Santa Maria den östlichsten Zipfel der Schweiz zu erobern – vorbei an Alpwiesen, durch dichte Nadelwälder über eine kurze Schotterpassage, bis sich wieder ein fester Strassenbelag mit hohem Unterhaltungswert zur Passhöhe hinauf schlängelt. Und wenn die Zollstation dort oben schon so selten besetzt ist: Na bitte, dann kann man auch gleich noch Italien annektieren. Auf der Südseite mündet die Strasse nämlich in die berühmte Stilfser-Joch-Strasse ein, die entlang wild bewachsener Hänge und einer wüstenartigen Gerölllandschaft nach Bormio hinunterführt. Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Das stärkste aller Mini-Cabrios kommt in Frieden. Selbst MINI JOHN COOPER WORKS CABRIO (MAN.) dann, wenn in das StoffverK A R O S S E R I E 3,87 Meter langes, 4-sitziges Cabrio deck eine patriotische UnionM O T O R 2,0-Liter-R4-Turbobenziner mit 231 PS (170 kW) und 320 Nm Jack-Flagge eingewoben ist. F A H R L E I S T U N G E N 0–100 km in 6,6 s; 242 km/h Höchstgeschwindigkeit Doch der Alltag wird damit in V E R B R A U C H 6,5 l/ 100 km; 152 g CO₂/km (offizielle Angabe) Veruptatur die Verbannung simagnatem geschickt.sit, id quam fugit mil iumque estota nusam, enestiasi doluptium quidentur qui imet ma quist, ut ipsandit aut rem ipitatem volorecte volorest, P Rqui E I dit, S ab Fr. 42 aut 900.– (Basis-Cabrio ab Fr. ellor 28 230.–) WARUM IST DER UMBRAIL FÜR DAS MINI JCW CABRIO WIE GESCHAFFEN?

Weil das vom Hersteller versprochene Go-Kart-Feeling auf der schmalen Strasse gut zur Geltung kommt

BIANCO

SOMMER 2017


GOTTHARD

45

2107 m ü. M. K A N T O N E Uri, Tessin V E R B I N D U N G Göschenen – Airolo L Ä N G E / Z E I T 30,9 km; ca. 1 Stunde E I N K E H R M Ö G L I C H K E I T Ristorante Prosa/Vecchia Sosta B E S O N D E R H E I T Der Klassiker unter den Schweizer Alpübergängen PASSHÖHE

PORSCHE 911 CARRERA 4 CABRIOLET 4,50 Meter langes, 2+2-sitziges Cabriolet 3,0-Liter-6-Zylinder-Boxer mit 370 PS (272 kW) und 450 Nm F A H R L E I S T U N G E N 0–100 km in 4,7 s; 289 km/h Höchstgeschwindigkeit V E R B R A U C H 8,9 l/ 100 km; 206 g CO₂/km (offizielle Angabe) P R E I S ab Fr. 142 900.– (Basis-Cabrio ab Fr. 133 900.–) KAROSSERIE

MOTOR

WARUM IST DER GOTTHARD FÜR DAS PORSCHE 911 CARRERA CABRIOLET WIE GESCHAFFEN?

Weil er eine Ikone ist – genau wie der 911 Carrera mit seinem Boxermotor im Heck

Der Strassentunnel ist eine gute Sache – ja, gemeinsam mit dem Basistunnel eigentlich das Beste, was man sich als sportlich ambitionierter Nord-Süd-Reisender wünschen kann. Denn so hat man die historische Handelsroute über das erhabene Gotthardmassiv für sich. Na schön, nicht ganz für sich, da der Übergang auch von touristisch ambitionierten Reisenden frequentiert wird. Aber der Schönheit der Schöllenenschlucht, dem Mythos Teufelsbrücke und den imposanten Weiten des Urserenhochtals tut dies keinen Abbruch. Das Auto der Wahl für den Klassiker unter den Schweizer Pässen: natürlich der Porsche 911 Carrera. Allradantrieb darf sein, zumal sich der hochalpine Sommer gerne mal einen Winterscherz erlaubt. Doch die Version muss nicht S, GTS, Turbo oder gar Turbo S lauten. Wenn die Postkutschen des 19. Jahrhunderts mit fünf Pferden auskamen, werden die 370 PS des Basismodells ja wohl reichen. Hauptsache, die optionale Sportabgasanlage ist an Bord, damit der neuerdings turbogeladene Boxer fast so stimmgewaltig wie die früheren Saugmotoren röhrt. Ach, und die adaptive Dämpferregelung mit Comfort-Modus sollte auch nicht fehlen, denn auf der Südseite geht es möglichst über die denkmalgeschützte La Tremola mit ihrem – nomen est omen – Zitter-Belag. Das Gefühl, mit den Kurven eins zu werden, ist bei dieser Sportwagen-Ikone ohnehin serienmässig. Und falls der Sommer auf der Nordseite tatsächlich Scherze macht, zahlt sich spätestens nach der Passhöhe, jenseits der Wetterscheide, das gegenüber dem Coupé fast 16 000 Franken teurere Cabrio aus.


46

A L P E N PÄ S S E IM CABRIO

STILFSER JOCH

2758 m. ü. M. Trentino, Südtirol V E R B I N D U N G Bormio – Prad L Ä N G E / Z E I T 47 km; ca. 1:49 Stunden E I N K E H R M Ö G L I C H K E I T Alpengasthof Tibet/Hotel-Restaurant Stilfserjoch B E S O N D E R H E I T Gilt als König der Pässe und eher anspruchsvoll zu fahren PASSHÖHE

KANTONE

Das Stilfser Joch heisst auf Italienisch Passo dello Stelvio. Und, klingelt was? Genau. Alfa Romeo hat kürzlich ein Modell danach benannt. Doch bei allem Respekt für die Kurvenkünste des neuen Kompakt-SUVs: Um den König der Alpenpässe zu meistern, darf es gerne eine Nummer kleiner sein. Flacher. Leichter. Puristischer. Und vor allem offener. Wer bei der Marke bleiben will, wählt also den 4C Spider. Luxus sucht man in dem Zweisitzer vergebens. Die Lenkung bietet noch nicht mal Servounterstützung. Dafür schmeisst sie den knapp eine Tonne schweren Wagen allein schon beim Gedanken an eine Kurve ums Eck, während der 4-Zylinder bellt und raspelt, das Doppelkupplungsgetriebe die Gänge reinhämmert und das Fahrwerk keinerlei Interpretationsspielraum über die Beschaffenheit des Fahruntergrunds zulässt. Dieses Auto ist Arbeit – und genau darum richtig, um die 48 liebevoll nummerierten, aber höchst tückischen Kurven zu meistern, die vom Veltlin durch das Valle del Braulio und zuweilen glitschige Felsentunnels über eine Hochebene und schliesslich per Umbrailpass zurück in die Schweiz oder – konsequenterweise – hinunter ins Vinschgau führen. Der Pass ist mit 2758 m ü. M. so hoch, dass ein Regenschauer hier oft Schnee bedeutet. Unsichere Fahrer reisen vielleicht doch besser mit einem allradangetriebenen Alfa Romeo Stelvio an. Sportwagen-Puristen begnügen sich dagegen mit einem Stossgebet in einer der A L FA R O M EO 4 C höchstgelegenen Kapellen K A R O S S E R I E 3,99 Meter langer, 2-sitziger Spider des Alpenraums und stürzen M O T O R 1,8-Liter-R4-Turbo mit 240 PS (177 kW) und 350 Nm F A H R L E I S T U N G E N 0–100 km in 4,5 s; 258 km/h Höchstgeschwindigkeit sich wieder ins KurvenV E R B R A U C H 6,8 l/ 100 km; 157 g CO₂/km (offizielle Angabe) abenteuer. R E I S ab Fr. 81 000.– Veruptatur simagnatem sit, id quam fugit mil iumque estota nusam, enestiasi doluptium qui dit, quidenturP aut qui imet ma quist, ut ipsandit ellor aut rem ipitatem volorecte volorest, WA R U M I ST DA S ST I L FS E R J O C H F Ü R D E N A L FA R O M EO 4 C W I E G ES C H A F F E N ?

Weil er alles von einem kleinen, leichten, heckangetriebenen Sportwagen abfordert

BIANCO

SOMMER 2017


SUSTEN

47

2224 m ü. M. K A N T O N E Uri, Bern V E R B I N D U N G Wassen – Innertkirchen L Ä N G E / Z E I T 45,8 km; ca. 1 Stunde E I N K E H R M Ö G L I C H K E I T Berggasthaus Sustenpass Hospiz Die erste, eigens für den Autoverkehr neu konzipierte Passstrasse im Alpenraum PASSHÖHE

BESONDERHEIT

M A Z DA M X - 5 R F ( S K YACT I V- G 1 6 0 ) 3,92 Meter langer, 2-sitziger Targa-Roadster 2,0-Liter-R4-Benziner mit 160 PS (118 kW) und 200 Nm F A H R L E I S T U N G E N 0–100 km in 7,4 s; 215 km/h Höchstgeschwindigkeit V E R B R A U C H 6,9 l/ 100 km; 161 g CO₂/km (offizielle Angabe) P R E I S ab Fr. 34 300.– (Basis-RF ab Fr. 31 300.–) KAROSSERIE

MOTOR

WARUM IST DER SUSTEN FÜR DEN MAZDA MX-5 RF WIE GESCHAFFEN?

Weil es auf dieser abwechslungsreichen Strecke weniger auf Leistung denn Kurventalent ankommt

Wenn endlich mal die Sonne scheint, kann es nicht schnell genug gehen. 13 Sekunden, bis sich das dreiteilige Hardtop zusammengefaltet und unter die Heckklappe verzogen hat, sind gefühlt die Hälfte des Sommers. Anders als der normale Mazda MX-5 mit manueller Stoffmütze lässt sich die neue RFVersion – kurz für Retractable Fastback – ausserdem nicht bei voller Fahrt öffnen. Der Anblick des FaltdachOrigamis vor der zerklüfteten Reuss-Schlucht ist den Stopp jedoch wert. Obwohl, mit Sicht aufs Maiental könnte man das Verdeck wieder schliessen, nicht? Das Sustenhorn als Kulisse: öffnen! Gwächtenhorn: schliessen! Und wenn dann erst der mächtige Steingletscher hinter dem Scheiteltunnel auftaucht: öffnen! Sofort! Wie gut, bietet der Susten so viele Haltemöglichkeiten. Überhaupt scheint die Strecke in weiser Voraussicht für dieses Auto konzipiert worden sein. Als die Behörden der Kantone Uri und Bern 1938 den Bau der ersten modernen Passstrasse im Alpenraum beschlossen, müssen sie an einen kleinen, leichten Targa-Roadster gedacht haben. An einen Hecktriebler, der weniger von seiner Motorleistung als seinem Kurvengeschick lebt. Bestimmt wurde bei der Streckenplanung auch bedacht, dass eine knackige Handschaltung möglichst oft bedient werden will. Und dass ein 4-Zylinder Tunnels braucht, um akustisch zur Geltung zu kommen. Danke, liebe Behörden. Danke für dieses Meisterwerk der Strassenbaukunst, schiesst es einem Kurve für Kurve durch den Kopf – unterbrochen nur vom akuten Bedürfnis, rasch das Dach zu schliessen. Oder wieder zu öffnen.


48

KLAUSEN

A L P E N PÄ S S E IM CABRIO

1948 m ü. M. Glarus, Uri V E R B I N D U N G Linthal – Altdorf L Ä N G E / Z E I T 47,5 km; ca. 1:40 Stunden E I N K E H R M Ö G L I C H K E I T Hotel Klausenpasshöhe Von 1922 bis 1934 Austragungsort des bekanntesten und härtesten Bergrennens seiner Zeit PASSHÖHE

KANTONE

BESONDERHEIT

83,9 km/h. Mit diesem Durchschnittstempo jagte der deutsche GP-Pilot Rudolf Caracciola seinen zigarrenförmigen Mercedes von Linthal hinauf zur Passhöhe. In Minuten: 15:22:20 – kein anderer bezwang die 136 Kurven schneller. In Dezibel: unbekannt. Aber unglaublich laut muss es zwischen 1922 und 1934 gewesen sein, wenn das jährliche Klausenrennen den Glarus erschütterte. 83,9 km/h? Locker, denkt man auf den sanften Kurven durch den Urnerboden. Unsereins fährt ja statt Zigarre lieber einen Neuzeit-Mercedes wie den ultimativen AMGRoadster GT C mit 557 PS, 316 km/h Spitze und – nebst Annehmlichkeiten wie Sitzheizung und Nackenföhn – elektronischen Schutzengeln. Allerdings sind dem Mythos Klausenrennen stets auch Automobilisten auf der Spur, die Caracciola wahrscheinlich für eine italienische Speise halten. Und mal abgesehen davon, dass man als Besitzer eines über 200 000-fränkigen Autos an seinem Führerschein hängt, gilt es, vor den Spitzkehren unterhalb der Passhöhe hart in die Keramikbremsen zu steigen. 83,9 km/h? Und damals noch auf einer Schotterpiste? Verrückt! Demut, das ist es, was einen dieser Pass lehrt. Vor der Tollkühnheit der Rennsportpioniere, der anspruchsvollen Strecke und der spektakulären Szenerie am Fusse des Claridens. Man zieht dann den Comfort- statt Sport-Fahrmodus vor, erschüttert das Land nicht mehr als nötig mit seinem V8-Grollen und gönnt sich beim einstigen RennzielMERCEDES-AMG GT C ROADSTER Haus eine ausgiebige Rast. K A R O S S E R I E 4,54 Meter langer, 2-sitziger Roadster Oder aber eine nur 15:22,19 M O T O R 4,0-Liter-V8-Biturbo mit 557 PS (410 kW) und 680 Nm Minuten lange. So war man F A H R L E I S T U N G E N 0–100 km in 3,7 s; 316 km/h Höchstgeschwindigkeit wenigstens in einer Disziplin V E R B R A U C H 11,4 l/ 100 km; 259 g CO₂/km (offizielle Angabe) Veruptatur schneller alssimagnatem Caracciola. sit, id quam fugit mil iumque estota nusam, enestiasi doluptium qui imet quist, ut ipsandit ellor aut rem ipitatem volorecte volorest, P R Equi I Sdit, abquidentur Fr. 203aut 900.– (GTma Roadster ab Fr. 167 000.–) WARUM IST DER KL AUS FÜR DEN MERCEDES-AMG GT C ROADSTER WIE GESCHAFFEN?

Weil die Rekordzeit auf der früheren Klausenrennstrecke mit einem Mercedes eingefahren wurde

BIANCO

SOMMER 2017


LUKMANIER

49

1914 m ü. M. K A N T O N E Graubünden, Tessin V E R B I N D U N G Disentis – Biasca L Ä N G E / Z E I T 61,5 km; ca. 1:07 Stunden E I N K E H R M Ö G L I C H K E I T Hospezi Santa Maria Einzige Möglichkeit, die Schweizer Alpen unterhalb von 2000 Metern zu überqueren und ohne Wintersperre PASSHÖHE

BESONDERHEIT

AU D I A 5 CA B R I O L E T 2 . 0 T F S I Q UAT T R O 4,67 Meter langes, 4-sitziges Cabrio 2,0-Liter-R4-Turbobenziner mit 252 PS (185 kW) und 370 Nm F A H R L E I S T U N G E N 0–100 km in 6,3 s; 250 km/h Höchstgeschwindigkeit V E R B R A U C H 6,3-6,6 l/ 100 km; 144–151 g CO2/km (offizielle Angabe) P R E I S ab Fr. 68 000.– (Basis-Cabrio ab Fr. 55 200.–) KAROSSERIE

MOTOR

WARUM IST DER LUKMANIER FÜR DAS A5 CABRIOLET WIE GESCHAFFEN?

Weil er mit seinen eleganten Kurven eher zum gediegenen Cruisen denn zur Kurvenhatz lädt

Als ob die Höhe eines Passes von Belang wäre! Als ob es auf die Anzahl Kurven ankäme! Ist ein Sonntagsausflug etwa ein Wettbewerb? Ohne mich, sagt sich der Besitzer des wohl schönsten aller Audis und lädt seine Familie zu einer gepflegten Fahrt über den schon zur Römerzeit genutzten, kulturhistorisch bedeutsamen Lukmanierpass ein. Während der Anreise bleibt das dreilagige AkustikVerdeck geschlossen – man soll sich auf der Autobahn unterhalten können. Und beim Startpunkt in Disentis gilt es, erst die Kopfraumheizung zu aktivieren. Doch dann, auf Knopfdruck, ist der Himmel plötzlich nah. Näher, als er in dem im Jahr 720 gegründeten Benediktinerkloster je sein könnte. In eleganten Kehren geht es durch kleine Tunnels in die Höllenschlucht. Das Fahrwerk entschärft Bodenwellen, die Assistenzsysteme sind hellwach, der Motor säuselt leise im Hintergrund. Die Strasse steigt stetig bergan, der Duft von Arven liegt in der Luft. Kleine Dörfer mit Walserhäusern ziehen vorbei, bis kurz vor der Passhöhe der Stausee Lai da Sontga Maria auftaucht und die Sonnenterrasse des Hospizes zu einem Espresso lädt. Auf der Tessiner Seite – ach, die Sonnenstube! – öffnet sich bald der Blick auf das Valle di Blenio mit seinen Alpenweiden und atemberaubenden Panoramen. Die nun enger werdenden Kurven wollen nicht schnell gefahren werden. Nur ein bisschen. Nur ein kleines, kleines bisschen, wenn man schon mit souveräner Motorisierung und Quattro-Antrieb unterwegs ist. Hat sich gerade jemand auf dem Rücksitz beklagt? Nein, das war wahrscheinlich nur der Wind.


50

A L P E N PÄ S S E IM CABRIO

GRIMSEL

2164 m ü. M. Bern, Wallis V E R B I N D U N G Innertkirchen – Gletsch L Ä N G E / Z E I T 32,5 km; ca. 40 Minuten E I N K E H R M Ö G L I C H K E I T Alpenrösli/Berghotel Grimselblick B E S O N D E R H E I T Wilde, wunderschöne Gebirgslandschaft, geprägt von vielen Stauseen PASSHÖHE KANTONE

Den Grimselpass zu erreichen, ist im Prinzip keine Kunst. Abenteuerlich wird die Sache erst mit einem E-Auto. Erst recht, wenn es so mutig daherkommt wie das mit knallfarbiger Kunststoffkarosserie aufwartende FreizeitCabrio Citroën E-Méhari. Die Einrichtung ist spartanisch. Fenster gibt es keine. Bloss eine Heizung und den aus dem 60er-Jahre-Méhari bekannten Unterboden-Stöpsel für den Regenwasserabfluss. Wir gehen jetzt mal von Traumbedingungen aus: Sonne auf der Haut, Wind in den Haaren, kein Motorgeräusch, das die hochalpine Idylle auf der sich durch enge Schluchten, über Flüsse und schwarze Felsen windenden Strasse stört. Ein Auge dürfte aber stets zur Reichweitenanzeige schielen. Offiziell liegen 100 Kilometer drin, was bei der 32,5-Kilometer-Strecke problemlos erscheint. Doch die steilen Kurven fordern von der 30-kWh-Batterie alles ab. Da macht es Sinn, das Navi vor dem Start im Haslital nach einer Ladestation zu befragen. Obwohl, welches Navi? Aber gut, es gibt ja Handys mit Online-Empfang und das Internet sagt: Infrastruktur vorhanden. Es sagt auch, dass es hier viele Hotels gibt (bei 8 bis 13 Stunden Ladezeit von Vorteil). Der Lohn der Mühe: entspanntes Cruisen. Feriengefühle. Ein einzigartiges Naturerlebnis. Und nicht zuletzt mehr Wertschätzung für die Staumauern des Räterichsboden-, Grimselund Totensees zur Produktion von sauberem Strom. Auf der Passhöhe soll es übrigens eine weitere Ladestation CITROËN E-MÉHARI geben. Aber echte Abenteurer K A R O S S E R I E 3,81 Meter langes, 4-sitziges Cabriolet versorgen sich lieber selbst M O T O R E-Motor mit 68 PS (50 kW) und 140 Nm mit Energie und laden die F A H R L E I S T U N G E N 0–50 km in 6,4 s; 110 km/h Höchstgeschwindigkeit Batterie beim Runterrollen V E R B R A U C H 200 km innerorts, 100 km ausserorts (offizielle Angabe) Veruptatur ins Wallis. simagnatem sit, id quam fugit mil iumque estota nusam, enestiasi doluptium quidentur qui imet ma quist, ut ipsandit ellor aut rem ipitatem volorecte volorest, P Rqui E Idit, S ab Fr. 27aut 100.– (+ Akkumiete Fr. 82.–/Monat) WARUM IST DER CITROËN E-MÉHARI FÜR DEN GRIMSEL WIE GESCHAFFEN?

Weil er mit seinen Wasserkraftwerken genauso unter Strom steht wie das Auto

BIANCO

SOMMER 2017


NUFENEN

51

2478 m ü. M. K A N T O N E Wallis, Tessin V E R B I N D U N G Ulrichen – Airolo L Ä N G E / Z E I T 37,9 km; ca. 1:30 Stunden E I N K E H R M Ö G L I C H K E I T Restaurant Nufenenpass Der höchste Schweizer Alpenpass, der sich komplett auf Schweizer Boden befindet PASSHÖHE

BESONDERHEIT

FERRARI 488 SPIDER

4,57 Meter langer, 2-sitziger Spider 3,9-Liter-V8-Turbo mit 670 PS (492 kW) und 760 Nm F A H R L E I S T U N G E N 0–100 km in 3,0 s; 325 km/h Höchstgeschwindigkeit V E R B R A U C H 11,4 l/ 100 km; 260 g CO₂/km (offizielle Angabe) P R E I S ab Fr. 277 600.– KAROSSERIE

MOTOR

WARUM IST DER NUFENEN FÜR DEN FERRARI 488 SPIDER WIE GESCHAFFEN?

Weil ein Superlativ von einem Pass nach einem Superlativ unter den Sportwagen schreit

Der Nufenen ist der höchste komplett in der Schweiz gelegene Pass. Mit seiner Erschliessung 1969 ist er auch einer der jüngsten. Der Grund: Lawinen. Erst nach dem Bau des Stausees unterhalb des Griesgletschers traute man sich an eine Strasse zwischen dem Oberwallis und Tessin, wobei die Schutzkeile im Bedrettotal noch heute vor der weissen Gefahr warnen. Über die Kuppe fegen ausserdem starke Winde; die Passhöhe ist selten wolkenfrei. In anderen Worten: Da sind Naturgewalten am Werk. Denen möchte man nicht auf dem Trottinett begegnen. Nein, lieber in einem Ferrari 488 Spider. Mindestens. Die 670 PS lassen die meisten Konkurrenten abblitzen. Dank explosiver Kraftentfaltung und ultrapräziser Lenkung kommt der Mittelmotorsportler auch gegen die Serpentinen an, die sich an verschneiten Schluchten vorbeischlängeln. Das kleine, bei bis zu 45 km/h versenkbare Dach muss geöffnet sein, um dem Wettergott mit einem eigenen Sturm zu kontern und dem donnernden V8-Biturbo ungefiltert zu lauschen. Doch das Wichtigste überhaupt sind Carbon-Keramikbremsen. Denn die Natur hat sich eine besondere Gemeinheit ausgedacht: Murmeltiere, die lässig über die Strasse schlendern. Wer sich an die Regeln hält, wird mit der brachialen Schönheit des Ägenentals und einem eindrucksvollen Blick auf Berner Alpen, Gotthardmassiv und den Griesgletscher belohnt. Er wird während des Abstiegs über eine kurze Betonplattpiste von einer imposanten Dreitausender-Gipfelkette begleitet. Und tatsächlich ist die Natur hier, auf der Alpensüdseite, eine andere, lieblichere.


52

A L P E N PÄ S S E IM CABRIO

FURKA

2429 m ü. M. Uri, Wallis V E R B I N D U N G Andermatt – Gletsch L Ä N G E / Z E I T 45,8 km; ca. 1:04 Stunden E I N K E H R M Ö G L I C H K E I T Hotel-Restaurant Tiefenbach/Hotel Bélvèdere B E S O N D E R H E I T Schauplatz der Verfolgungsjagd im James-Bond-Klassiker «Goldfinger» PASSHÖHE

KANTONE

Hupend, schleudernd und sichtlich überfordert versucht die Blondine im Ford Mustang Cabrio am Aston Martin DB5 vorbeizukommen, der sie auf der Furkastrasse soeben überholt hat. Zunächst scheint der Fahrer des britischen Sportwagens das Manöver gentlemanlike zuzulassen – nur um den Mustang dann mit reifenaufschlitzenden Metallklingen von der Strecke abzubringen. Alles nur Fiktion, versteht sich, stammt die Szene doch aus dem Bond-Streifen «Goldfinger» von 1964. Und die Schleuder-Action ist auch nicht mehr so zeitgemäss, seit Ford seinem PonycarKlassiker ein anständiges Fahrwerk und moderne Assistenzsysteme spendiert. Dennoch sei beim Überholen Vorsicht geboten, die Strasse ist sehr schmal. Und überhaupt, wozu die Hast? Entlang der kunstvoll angelegten Verbindungsstrecke zwischen Andermatt und dem Oberwallis lassen sich von dem viersitzigen Cabrio aus einzigartige Ausblicke auf die Drei- und Viertausender der Berner Alpen geniessen. Mit etwas Glück sieht man sogar die historische Dampflok der Furkabahn vorbeischnaufen. Und nach dem letzten kurvigen Aufstieg gibt es Liebesgrüsse vom Gotthard und vom Urserental. Die bevorzugte Motorisierung des bulligen, nach den Designwirren der 80er und 90er endlich wieder am UrMustang orientierten Amis: eigentlich ja der traditionelle V8. Eigentlich. Der Anblick des durch den Klimawandel rapide schmelzenden Rhonegletschers rund drei F O R D M U S TA N G C O N V E R T I B L E Kilometer unterhalb der K A R O S S E R I E 4,78 Meter langes, 4-sitziges Cabrio Passhöhe stimmt jedoch M O T O R 2,3-Liter-R4-Turbobenziner mit 317 PS (233 kW) und 432 Nm nachdenklich. Ob es der F A H R L E I S T U N G E N 0–100 km in 5,8 s; 233 km/h Höchstgeschwindigkeit 2,3 Liter kleine, deutlich V E R B R A U C H 8,2 l/ 100 km; 184 g CO₂/km (offizielle Angabe) Veruptatur sparsameresimagnatem 4-Zylinder nicht sit, id quam fugit mil iumque estota nusam, enestiasi doluptium qui dit, quidenturP RautE qui ma45 quist, ut ipsandit ellor aut rem ipitatem volorecte volorest, I S imet ab Fr. 900.– genauso tut? WA R U M I S T D E R F U R K A F Ü R D E N F O R D M U S TA N G G T C O N V E R T I B L E W I E G E S C H A F F E N ? Weil der Ford Mustang bei der Furka-Szene in «Goldfinger» 1964 seine Filmpremiere feierte

BIANCO

SOMMER 2017


Trust your taste. And your friends.

Auf dinn.ee sehen Sie nur die Restaurants, die Sie und Ihre Freunde bewertet haben. Und zwar weltweit. Starten auch Sie Ihren eigenen Restaurant Rating Club: Die kostenlose App dinn.ee auf Ihr iPhone laden, Ihre Freunde in Ihren Club einladen und fertig. Danach tun Sie das, was Sie sowieso schon gerne tun: Gut essen gehen und ihre Entdeckungen mit Ihren Freunden teilen.


54

GOLF L I N K S P L AT Z L E U K

Der Weg durch den Dunst ins Glück: Wer hier spielt, fühlt sich den Golfgöttern nahe.

BIANCO

SOMMER 2017


55

60 Hektar Schottland im Wallis

DAS GRÜN, DER WIND, DER BUNKERSAND: JEDER QUADRATMETER ERINNERT HIER AN SCHOTTL AND. DER GOLF CLUB LEUK IST DER UNGEWÖHNLICHSTE PL ATZ DER SCHWEIZ.

Te x t u nd Fo t o g ra f i e :

St e f a n Ma i wa l d


56

GOLF L I N K S P L AT Z L E U K

E

s ist so stürmisch, dass der Wind an den Hosenbeinen zerrt. Gestern kam der Temperatursturz, auf einigen Gipfeln ist es weiss geworden. Kein angenehmes Wetter. Schon gar nicht, wenn man dabei auf einem freien Feld steht und die Fallwinde ungebremst abbekommt. «Wunderbar», ruft Giuseppe Abatemarco. «Schottische Bedingungen, so muss es sein!» Ein paar Vögel versuchen, gegen den Wind zu kreuzen, kehren aber bald wieder schimpfend in ihre Baumkronen zurück. Die Macher des Golf Club Leuk hatten nämlich eine Vision: Sie träumten von einem durch und durch schottischen Golfplatz mitten in der Schweiz, besser noch: einem sogenannten Linksplatz, also einem Course, auf dem das Spiel einst erfunden wurde. Das klingt erst einmal wie eine unlösbare Aufgabe. Linksland ist in Schottland und Irland der nur schwer zu bewirtschaftende Streifen zwischen Meer und Acker; er lag meistens brach, die Schotten liessen lediglich ihre Schafe auf dem salzigen Untergrund grasen. Bis irgendwann, vermutlich um das Jahr 1200, ein Schäfer auf die Idee kam, seinen Hirtenstab umzudrehen und mit dem dicken Knauf Steinchen durch die Gegend zu schiessen – und damit die Basis für ein Business schuf, das jedes Jahr weltweit 60 Milliarden Franken umsetzt. Schottland in der Schweiz: Der Golf Club Leuk im Wallis, auf einem Hochtal in 600 Metern gelegen und im Jahr 2002 eröffnet, ist das Ergebnis dieser Vision. Als Architekt gewann man John ChilverStainer, der einen schottischen Platz baute, ohne dass ihm, wie es oft bei solchen Projekten passiert, die Vorstände und Geldgeber reinquatschten. Was macht nun einen schottischen Golfplatz aus? Als Erstes ist ein harter sandiger Boden notwendig, der auch Regen gut wegsteckt. Bei Nässe drainieren die Sandböden so gut, dass sich im Gegensatz zu den bei Inlandplätzen üblichen Lehmböden kein Schlamm bildet. Auch extreme Trockenheit im Sommer, wenn Lehmböden bereits grosszügig gewässert werden müssen, übersteht Linksland mit einem müden Lächeln. Es war ein riesiges Glück, dass hier im Wallis der Boden schon sandig war. Linksplätze sind demnach bei fast jeder Witterung bespielbar. Als Nächstes sind Bunker ein entscheidendes Element.

BIANCO

SOMMER 2017


57

Dank dem sandigen Boden kann der Platz nahezu ganzjährig bespielt werden und steckt jedes Wetter weg. Wer den Ball möglichst zügig ins Loch befördern will, muss sich aber auf besondere Bedingungen einstellen.

Traditionelles Küstengolf in einer alpinen Region: Diese Vision kostete viel Geld und Arbeit, war aber den Aufwand wert. Auf Golfer wartet eine einmalige Erfahrung


58

GOLF L I N K S P L AT Z L E U K

Bunker sind in Schottland entstanden, weil die Schafe auf dem Linksland Schutz vor den Stürmen suchten und nach und nach Mulden scharrten, in die sie sich kuschelten. Ein weiteres Merkmal sind stark ondulierte Greens, und Spieler in Schottland müssen zudem den Wind einkalkulieren. Auf Linksland wachsen keine Bäume, man ist den Elementen schutzlos ausgeliefert. Gut, dass auch hier im GC Leuk ein windstiller Tag eine Rarität ist. Erschwerend sind die Fairways oft hart und sehr schnell, so dass der Ball auch bei guten Schlägen in ungünstige Lagen verspringen kann. Daher wird in Schottland traditionell das «Ground Game» gepflegt, bei dem der Ball flach und unter Ausnutzung der Wellen im Gelände gespielt wird. Auf amerikanischen und modernen europäischen Plätzen wird der Ball dagegen meist hoch aufs Ziel gespielt, weil er auf den weichen Fairways und Grüns schnell zum Halten kommt. Die Vision hatte ihren Preis: Die Investitionen beliefen sich nur für den Platz auf vier Millionen Franken. Doch damit ist Giusy Abatemarco, 46 Jahre, Handicap 3, noch längst nicht am Ende. Bis heute wurden weitere sechs Millionen Franken investiert, und 2019 wird ein Golfhotel eröffnet, auch das Clubhaus, bislang noch ein Provisorium, wird neu errichtet. Das Hotel, verspricht Giusy, wird ebenfalls viele schottische Elemente enthalten. Bislang ist der GC Leuk noch so etwas wie ein Geheimtipp, aber mit dem Golfhotel könnte hier beinahe eine Art Pilgerziel für Golffanatiker entstehen. Denn man hat hier tatsächlich alles, was man auch in Schottland vorfindet. Ausser die Gischt der Nordsee.

WELC H ES L E UK ER LO CH IST AM «T Y PI SC HSTEN» S C H OTTI SC H ? f__ Wie sind Sie zum Golf gekommen? a__ Als

17-jähriger Fussballer und Mitglied des Regionalkaders besuchte ich die Handelsmittelschule für Sportler am Kollegium in Brig. Als ich eine Sportverletzung kurierte, hat mich ein Studienkollege auf die Driving Range mitgenommen. Von dieser faszinierenden Sportart konnte ich seitdem nicht mehr loslassen.

Das offene, subtil ondulierte Gelände erinnert an schottische und irische Plätze – und verändert die Strategie: Annäherungen sollten eher flach als hoch gespielt werden.

ENGLISH SUMMARY

A L P I N E S COT L A N D The founders of the Leuk Golf Club had a vision: to create a traditional links course right here in the Swiss mountains. Co-owner Giusy Abatemarco‘s Scottish dream did come with a price tag though – the course cost 4 million Swiss Francs, and another 6 million were needed for the ongoing project of a hotel and a new club house, both of which will be built with Scottish features. Leuk might currently be off the beaten golf track, but the future looks promising.

BIANCO

SOMMER 2017


59

f__ Was genau fasziniert Sie daran?

Es ist eine Einzelsportart in der Gemeinschaft. Der soziale wie der sportliche Aspekt ergänzen sich hervorragend. Zusätzlich ist Golf herausfordernd, und man kann sich seiner Sache nie sicher sein. Einer guten Runde kann sofort die Katastrophe folgen. Zusätzlich können verschiedene Personen mit verschiedenen Spielstärken zusammen auf die Runde gehen. Alt und Jung, Mann und Frau. Beim Tennisspielen geht das nicht. a__

Landwirtschaft in eine Sport- und Erholungszone umzuwandeln. Viele Golfplätze in der Schweiz sind klein und kurz. Sie entsprechen nicht den heutigen Grössen und Längen, die wir aus England oder den USA kennen. In der Schweiz werden möglichst viele Löcher auf eine viel zu kleine Fläche gebaut. Dieses Problem hatten wir in Leuk nicht. Die Bodeneigenschaften mit siltig-sandigen Sedimenten kamen einem Linksplatz zusätzlich entgegen. Architekt John Chilver-Stainer konnte seinen Plan vollständig verwirklichen. Zum Glück hat sich niemand in die Arbeit des Architekten eingemischt und ihn alles machen lassen.

f__ Wie verbinden Sie Beruf und Sport?

Im GC Leuk wurde ich anfangs Captain, ein Jahr später übernahm ich die administrative Leitung als Direktor. Einige Jahre später erwarb ich ein Aktienpaket und bin nun Mitinhaber der Anlage. a__

f__ Menschen, die beruflich mit Golf zu tun

haben, kommen meistens nur noch selten zum Spielen …

f__ Wie oft sind Sie in Schottland?

Ich versuche, alle zwei Jahre nach Schottland zu fliegen. St. Andrews ist das Golfmekka. Dort sollte jeder Spieler einmal im Leben Ferien machen. Natürlich gibt es in England, Wales und Irland ebenfalls hervorragende und echte Linksplätze. a__

a__ Bei

mir ist das anders. Ich versuche, so viel wie möglich zu spielen. Ich kann wohl von mir sagen, dass ich ein «Playing Manager» bin. Diese Freiheit nehme ich mir. Ich habe von Anfang an gesagt: Es darf kein reines Business werden, ich will so viel wie möglich spielen. Obwohl Golf ein schöner Sport, aber ein brutales Business ist. Umso besser, dass ich auf meiner täglichen Runde immer sehe, wie der Platz aussieht und wo Arbeiten nötig sind.

f__ Welches Leuker Loch ist am «typischs-

ten» schottisch?

f__ Was sind die besonderen schottischen

Elemente Ihres Platzes?

Linksgolf besteht aus verschiedenen Elementen: Wind, ondulierte Greens, tiefe Bunker, Rough, Festuca-Gras und natürlich die Küste. Nur die Küste haben wir hier nicht.

Industriestrasse, 3952 Leuk Fon 027 473 61 61 www.golfleuk.ch Im Jahr 2019 werden im GC Leuk ein neues Hotel mit 18 Zimmern und ein neues Clubhaus eröffet

f__ Wie haben Sie das mit dem schottischen

GOLF IM ZENTRALWALLIS Rund um den GC Leuk liegen innerhalb einer halben Autostunde vier hervorragende 18-Loch-Anlagen, darunter der GC Crans-sur-Sierre. Hier findet das jährliche Omega European Masters der European Tour statt

a__

Boden so gut hingekriegt?

Zunächst: Fläche ist in der Schweiz ein rares Gut. Jedoch hatte man in Leuk die Chance, eine 60 Hektar grosse Fläche a__

Ganz klar die Nummer 9, ein Tribut an die berühmte Bahn 9 von Muirfield in Schottland. Spieler können mehrere Strategien wählen und müssen vor allem auf die vier Bunker am linken Fairwayrand achten. Es ist ein Par 5 mit 528 Metern. Im Gegenwind spielt es sich heftig. a__

f__ Wie überstehen Golfverrückte wie Sie

den alpinen Winter?

Meine Lebenspartnerin ist eine ehemalige Skiweltcup-Fahrerin. Deshalb bin ich im Winter meistens auf den Skipisten im Wallis zu finden. Jedoch verlängere ich meine Golfsaison im Dezember in Portugal. Quinta do Lago an der Algarve ist meine Winterresidenz. a__


60

V E G E TA L I S Z W I S C H E N R E A L I TÄT U N D A B S T R A K T I O N

PETER VANN HAT BEREITS JANE BIRKIN, JEAN-PAUL SARTRE ODER KL AUS KINSKI FÜR DIE «VOGUE» PORTRÄTIERT. ER GILT ALS EINER DER WELTBESTEN AUTOFOTOGRAFEN. SEINE AUFWENDIG INSZENIERTEN MOTIVE SIND INZWISCHEN TEIL DES KOLLEKTIVEN GEDÄCHTNISSES GEWORDEN.

NATUR IN SZENE GESETZT Fo t o s : Pe t e r Va nn  Te x t : Da r i o C a nt o ni

E

delweiss, Alpenrose und Enzian sind wohl die bekanntesten Vertreter der Alpenpflanzen. Die Alpen verfügen jedoch über eine weitaus grössere biologische Vielfalt. Rund 40 Prozent der in Europa vorkommenden Flora ist in den Alpen heimisch. Viele Pflanzenarten kommen nur hier vor. Wissenschaftler schätzen, dass im Alpenraum über 13 000 Pflanzenarten und mehr als 30 000 Tierarten vorkommen. Vom winzigen Käfer bis hin zu Grossraubtieren und dem kleinsten Baum der Welt. Gründe für diesen ausserordentlichen biologischen Reichtum sind die kleinräumige Gliederung der Landschaft, die vielfältige Bodenbeschaffenheit, die ausgeprägten Höhenunterschiede und extremen Klimaverhältnisse sowie landschaftsverändernde Naturereignisse wie Lawinen, Murgänge, Steinschlag oder Hochwasser. Oberhalb der Waldgrenze im Bereich der Schutthalden und alpinen Rasen ist die Vegetationszeit sehr kurz, die Luft trocken, die Winde sind kräftig und die Temperaturunterschiede

enorm. Zusätzlich gibt es nur wenig Humus und Nährstoffe. Die Pflanzen haben deshalb besondere Strategien entwickelt, um in der harschen Umwelt zu überleben. So dient der Zwergwuchs als Schutz vor Wind und Schneedruck. Unter dem Boden weisen die meisten Alpenpflanzen aber ein weitverzweigtes Wurzelsystem auf. Die Trockenwiesen im Rhätischen Dreieck zwischen Engadin, Tirol und Südtirol sind ein eigentliches Paradies der Biodiversität. Hier war auch der Fotograf Peter Vann unterwegs und hat über die Dauer von fast zwei Jahren die Spielarten der biologischen Vielfalt festgehalten. Nichts Besonderes, könnte man sagen. Denn Naturfotografen gibt es viele. Doch bei Peter Vann zieht sich das Überraschungsmoment wie ein roter Faden durch sein fotografisches Werk. Was beim raschen Hinschauen allzu einfach mit «Gräser vor farbigen Flächen» beschrieben werden könnte, lohnt den zweiten Blick auf alle Details. Da ist nichts Künstliches, nichts von Nachbearbeitung im Studio oder geplantem Ar-

BIANCO

SOMMER 2017


61

Acker-Kratzdistel oder Ackerdistel (Cirsium arvense) vor hellgelber Leinwand.

Alpen-Kuhschelle, auch Alpenanemone (Pulsatilla alpina) vor hellgrüner Leinwand.

Gräser auf Magerwiese vor grüner Leinwand.

Wiesen-Knöterich, auch Schlangenwurz (Polygonum bistorta) vor roter Leinwand.


62

V E G E TA L I S Z W I S C H E N R E A L I TÄT U N D A B S T R A K T I O N

Vom Winde verweht

BIANCO

SOMMER 2017


63

Schon in seinen aufwendig inszenierten Autobildern setzte Peter Vann nicht selten spezielle Leinwände ein, um einen perfekten Hintergrund zu schaffen.

VEGE TAL IS Peter Vanns farbstarke Naturfotos zwischen Realität und Abstraktion sind diesen Sommer in der Chesa Salis in Bever ausgestellt. www.chesa-salis.ch, www.galeriepetervann.com Peter Vann: Das fotografische Werk Peter Vann gilt als einer der wichtigen zeitgenössischen Automobil-Fotografen und hat in den letzten drei Jahrzehnten wie kein anderer die Szene geprägt. Der grossformatige Bildband wurde vom Fotografen handsigniert und liegt in einer limitierten Auflage von 1000 Exemplaren vor. Verlag Delius Klasing, 2011

rangement. Die optische Ruhe des farbigen Hintergrunds sublimiert vielmehr, was Natur und Pflanzenwelt des Engadins uns an Rhythmus und Bewegung anbieten. Die Gräser vor den Farbflächen wirken abstrakt, reduziert und grafisch, werden zum eigenständigen Kunstwerk. Auf ähnliche Weise hat Peter Vann im Jahr 2012 Bauern und Tierhalter im Engadin besucht, seine Leinwand aufgestellt und die oft uralten Rassen porträtiert. Die Bilder von Schaf und Schwein, Gockel und Rind stehen in der Tradition der mittelalterlichen Bestiarien, die sich dichterisch oder illustrativ mit der Tierwelt auseinandersetzten. Vanns Bestiarium lässt das Bäuerliche und Archaische seiner Wahlheimat aufleben und rührt uns an, weil die jahrtausendealte Symbiose von Mensch und Nutztier weiterhin tief in unserer Seele schlummert. Die Technik mit der Leinwand hat Peter Vann, Fotografenlegende und bekannt als Wegbereiter der modernen Autofotografie, schon vor Jahren perfektioniert. Für die Inszenierung seiner Automobile suchte er immer nach dem ultimativen Hintergrund, dem stimmigsten Ambiente. Ungewohnte Kontraste und der metallische Schein der Farben in den Bildern wurden zu seinem fotografischen Markenzeichen. So prunkt ein schwarzer Bugatti von 1939 auf einer Weide in Connecticut vor herbst­

roten Indian-Summer-Bäumen, ein 37er Talbot mit ornamentalen Chromleisten steht horizontal am unteren Bildrand vor einer bizarren Felswand an der französischen Südküste, oder er präsentiert den Ferrari 512 S Modulo in einem architektonischen Umfeld, welches an das Innere des Todessterns aus der Kultserie «Star Wars» erinnert. Diese Bilder sind 2011 in der repräsentativen Retrospektive «Peter Vann: Das fotografische Werk» mit 142 vom Künstler ausgewählten Fotografien wiedererschienen. Viele der einzigartigen Motive sind Ikonen und heute längst Teil des kollektiven Gedächtnisses der automobilen Welt. Bereits sein allererster Bildband, «Die schönsten Autos der Welt», hatte sich über zweihunderttausendmal verkauft. Es folgten mindestens 20 weitere. Von den heutigen Automobilen hält der Wahlengadiner nicht mehr all zu viel. «Heute ist das Auto ein Gebrauchsgegenstand wie ein Waschmittel oder eine Sonnenbrille, obwohl ja in der Werbung sehr viel über Emotionen geschrieben wird. Alles ist clean, künstlich geliftet bis zum Geht-nicht-mehr. Ich mag das definitiv nicht.» Der Künstler hat sich weiterentwickelt. Peter Vann fotografiert heute lieber Landschaften oder auch mal Gräser auf einer alpinen Magerwiese. Diese setzt er ebenso emotional und grafisch durchkomponiert ins Bild wie früher seine Autos.

ENGLISH SUMMARY Peter Vann rose to fame as a car photographer. His first book «Extraordinary Automobiles» sold over 200 000 copies, and he went on to publish more than 20 other books about cars. But nowadays Vann, who lives in the Engadine, is not that fond of cars anymore: «Cars have become an article of daily use, just like a washing liquid or a pair of sunglasses. Despite so much being written about emotions in advertisements, it’s all far too clean and artificially polished up ad nauseam. I really dislike it.» The artist has moved on and now prefers to take pictures of alpine plants – much in the same graphic, emotional style he once used to capture the essence of cars.


64

FAT B I K E R PIONIERE AUF EXTRABREITEN PNEUS

BIANCO 

SOMMER 2017


65

FAHREN, WO NOCH KEIN FATBIKE WAR: SCHWEIZER SPORTLER WAGEN DIE ERSTBEFAHRUNG DES CORVATSCH IM ENGADIN HOCH ÜBER ST. MORITZ.

N E K C I D F AU EN F I E R R DEN E R E B Ü TSCH E L G Vor dir die Abfahrt, hinter dir das Bernina-Massiv: Wie sich Mountainbiker das Paradies vorstellen.


66

FAT B I K E R PIONIERE AUF EXTRABREITEN PNEUS

BIANCO 

SOMMER 2017


67

Harter Schnee, an der Oberfläche leicht aufgefirnt: Perfekte Bedingungen für Fat Bikes, die ihre Namen aus den mindestens 4 Zoll breiten Reifen beziehen und an der Oberfläche bleiben, wo normale Mountainbikes längst einsinken würden.


68

FAT B I K E R PIONIERE AUF EXTRABREITEN PNEUS

Und irgendwo da unten die Welt: Für die Erstbefahrung des Corvatsch wählten Lukas Häusler (links) und Severin Beier die frühen Morgenstunden eines kurzzeitig sonnigen Sommertages.

Tex t : We r ne r Je ss ne r  Fo t o g ra f i e : Fi l i p Zu a n

L

anglaufloipen? Langweilig! Lasst uns die Erstbefahrung des Corvatsch wagen!» Es ist nicht ganz klar, wer der drei Freunde ursprünglich die Idee hatte, den mit 3303 Metern höchsten erschlossenen Berg des Engadins mit Fatbikes zu bewältigen, Lukas Häusler, Severin Beier oder Filip Zuan. Fatbikes? Robuste Mountainbikes, die ohne viel Federtechnik auskommen, mit ihren mehr als doppelt so dicken Reifen auf losem Untergrund aber massive Vorteile aufweisen. Man fährt sie mit wenig Luftdruck, etwa einem halben bar, was die Traktion massiv erhöht. Ausserdem – und das ist der Grund, warum man sie hauptsächlich im Winter sieht – schwimmen sie im Schnee leichter auf. Auf diese Art müsste der Gletscher, der das oberste Drittel des Corvatsch bedeckt, im Sommer eigentlich fahrbar sein, so das Kalkül. Die letzte Seilbahn brachte die drei Jungs nach oben, dorthin, wo Lance Armstrong einst seine Höhentrainings abgehalten hatte. Je höher es ging, desto besser wurden auch die Wetterbedingungen. Auch der Schnee erwies sich bei ersten anfänglich noch zaghaften Versuchen als fahrbar. Die Stimmung schlug von vorsichtig-optimistisch in euphorisch um. Filip Zuan: «Die Stille da oben war überwältigend. Wir waren die einzigen Menschen am Berg, nachdem sich Hüttenwirt Hampi verabschiedet hatte. Vor unseren Augen lag das Bernina-Massiv mit dem

berühmten Bianco-Grat, die Sonne färbte die Szenerie rot. Es war ein Abend, den du nicht so schnell wieder vergisst.» Ein gemeinsames Käsefondue, eine geteilte Flasche Rotwein, dann ins Bett. Als um 4.30 Uhr der Wecker läutet, ist es draussen noch dunkel. Erst in der nächs­ ten Stunde erhebt sich die Sonne, leichter Wind verbläst die wenigen tief hängenden Wolken. Ein Bilderbuchmorgen, Bilderbuchschnee. Hart, leicht angefroren, perfekt fahrbar für die Fatbikes. Lukas Häusler, Mountainbike-TrailBauer von Beruf und als solcher den ganzen Sommer am Rad, zieht die ersten Spuren in den Schnee, Severin Beier folgt ihm. Die beiden Locals sind exzellente Biker, konditionell und fahrtechnisch top. Den Corvatsch kennen sie von Kindesbeinen an, sie wissen, wie er im Sommer, im Herbst und im Winter aussieht. Nur aus der Lenkerperspektive kannten sie ihn bisher nicht. Die Höhe kann ihnen nichts anhaben, der unbekannte Untergrund auch nicht. Mit sanftem Druck dirigieren sie die Räder über den Gletscher des Corvatsch, als erste Menschen überhaupt. Die dicken Reifen schlucken Unebenheiten besser als gedacht. Die Linienwahl ergibt sich nahezu von selbst, nur hie und da bleiben unsere drei Freunde stehen, um sich zu orientieren, zu staunen und, ja: zu geniessen. So schnell werden sie hier nicht mehr raufkommen, nicht mit dem Mountainbike.

Langsam weicht der Schnee Geröll. Es folgen Passagen, die selbst mit den traktionsstarken Fatbikes nicht mehr fahrbar sind. Nun heisst es schieben, tragen, schieben, bevor es über Schotterstrassen ins Tal geht. Um halb 9 Uhr sitzen drei Gestalten in Bike-Klamotten und mit breitem Grinsen beim Frühstück. Schon lange hat es nicht mehr so gut geschmeckt. Draussen hetzen Menschen zur Arbeit, im Tal beginnt der Alltag. Langsam ziehen Wolken auf und verdecken den Blick auf den Corvatsch. Noch ein Kaffee, noch ein Müesli und sickern lassen, was soeben passiert ist: Erstbefahrung des Corvatsch mit Mountainbikes, souverän geglückt.

ENGLISH SUMMARY

A CO N Q U EST Lukas Häusler, Severin Beier and Filip Zuan are pioneers. The three friends from the Engadine are about to conquer the Corvatsch on their Fatbikes. It 4.30 am on a Summer day as they set off, their 4-inch tyres carving lines into the snowy surface of the glacier. Four hours later the adventure is over and the three are enjoying their breakfast in the valley – time to let it all sink in.

BIANCO

SOMMER 2017


MIT SICHERHEIT SCHÖNER FAHREN. SCANDINAVIAN LUXURY DESIGN IM NEUEN VOLVO XC60. ERLEBEN SIE IHN JETZT BEIM VOLVO VERTERTER IN IHRER NÄHE ODER AUF VOLVOCARS.CH/XC60

SWISS PREMIUM 10 JAHRE/150 000 KM GRATIS-SERVICE 5 JAHRE VOLL-GARANTIE

INNOVATION MADE BY SWEDEN.

Volvo Swiss Premium® Gratis-Service bis 10 Jahre/150 000 Kilometer, Werksgarantie bis 5 Jahre/150 000 Kilometer und Verschleissreparaturen bis 3 Jahre/150 000 Kilometer (es gilt das zuerst Erreichte). Nur bei teilnehmenden Vertretern. Abgebildetes Modell enthält ggf. Optionen gegen Aufpreis.


70

BERGFÜHRER TRADITION UND MODERNE

DIE

KÖNIGE His toris ch e A uf n ah n men : Mus eum des Fo tog es ch äf ts F l u ry Pon tres in a

Fotos: Filip Zuan Tex t: Mich ael Jü rgs

HANS HAUSER

DER

ALPEN DIE GESCHICHTE DER SCHWEIZ IST AUCH EINE GESCHICHTE IHRER BERGFÜHRER. EINE VON IRDISCHEN TODESÄNGSTEN UND EINE VON ÜBERIRDISCHEN ERLEBNISSEN, DEM HIMMEL SO NAH. DAS VORBILD DER GRÜNDERVÄTER PRÄGT IHRE HEUTIGEN NACHFOLGER. TRADITION UND MODERNE SIND LEIDENSCHAFTLICH VEREINT IN DER LIEBE ZUR NATUR.

BIANCO

SOMMER 2017


71

GIAN LUCK Musste nach der Matura wie jeder junge Eidgenosse erst einmal die Rekrutenschule absolvieren. Zum Glück im Gebirge. Diese Vergangenheit, militärische Bergführeraus­bildung genannt, bereitete ihn ideal auf seine Zukunft vor. Danach begann er eine Ausbildung zum Bergführer. Wusste aber schon als Aspirant, dass er zudem etwas Eigenes machen wollte und dafür mehr brauchte als Steigeisen, Pickel und Seil. Studierte Betriebswirtschaft an der Fernuniversiät Hagen. Diese Stadt hat er nie gesehen. Für die Prüfung musste er nicht mal die Berge verlassen. Praktisch erfahren als Bergführer, theoretisch als Betriebwirt, gründete er gemeinsam mit drei Partnern die Bergsteigerschule Go Vertical in Pontresina. Die leitet der 35-Jährige bis heute.


72

BERGFÜHRER TRADITION UND MODERNE

ROMANO SALIS Stammt aus einer geradezu typischen Bergführerfamilie. Der Vater ist Bergführer, hat vergeblich versucht, seine Söhne von diesem Beruf abzuhalten, war bei der Polizei zuständig für alpine Unfälle, und auch sein Bruder Giancarlo lebt von den Bergen und für die Berge. Romano Salis, geboren 1991, ist wie sein Bruder Giancarlo, der auch zum Team der Bergführerschule Go Vertical gehört, in Pontresina aufgewachsen und in seiner Heimat bekannt als Landschaftsfotograf. Als aktiver Bergführer kennt er die schönsten Motive im Engadin. Zusätzlich arbeitet Salis für den Kanton Graubünden als Wildhüter, übt also drei Berufe aus.

BIANCO

SOMMER 2017


73

LUZI ENGI

JOS REINSTADLER

FALLER

MARTIN SCHOCHER

CHRISTIAN SCHNITZLER

JOHANN DANUSER

SAMI WOHLWEND

HANS KASPER

CHRISTIAN KLUCKER


74

TRADITION BERGFÜHRER

ANDREAS RAUCH

BIANCO

SOMMER 2017


75

GIANCARLO SALIS Wollte nach der Schulzeit ein Jahr lang raus aus dem Tal ­der Kindheit und andere Länder sehen. Die allerdings mussten Berge vorweisen können. Er kletterte sich, nicht nur im übertragenen Sinn, durch die Welt, arbeitete nach der Rückkehr in die Heimat zunächst auf dem Bau in der Nähe von Bern, begann dann aber im Engadin eine Ausbildung zum Bergführer. Giancarlo Salis ist drei Jahre älter als sein Bruder Romano. Sein erster Beruf war nicht das, was er wirklich wollte. Sein geschultertes Werkzeug gehört heutzutage zur Ausrüstung bei speziellen Touren. Dann werden statt der hölzernen Eispickel industriell gefertigte aus KohlenstoffFasern benutzt.

CHRISTIAN FURGER Strahlt nicht nur auf diesem Foto eine gelassene Ruhe aus. Was zu den wesentlichen Eigenschaften in seinem Beruf gehört. Der 34-Jährige ist Bergführer-Aspirant, lebt seit zehn Jahren in Pontresina zusammen mit einer Jägerin, deren Bruder wiederum – Bergführer ist. Die Ausbildung dauert drei Jahre. Zur Theorie gehören Wetterkunde und Stresstests, zur Praxis Klettern und Skifahren. Eispickel und Seil sind die wichtigsten Helfer bei allen Touren, im Sommer wie im Winter. Ein Bergstock, der einst zur Ausrüstung gehörte, wurde als altmodsch ausgemustert, gilt aber heute, inzwischen faltbar, als modern. Weil er beim Klettern die Gelenke unterstützt.


76

BERGFÜHRER TRADITION UND MODERNE

ANSELM TSCHARNER Hiess ursprünglich anders. Geboren 1975 in Bayern. Ein zurückhaltender, witziger Typ, was sich sichtbar auch in diesem Foto ausdrückt. Ihn hat es der Liebe wegen ins Engadin gezogen. Tscharner ist der Nachname seiner Frau Martina und den hat er adoptiert. Mit ihr zusammen betreibt er zwischen Juni und Oktober eine Bergstation für Speisen und Getränke, die Segantini-Hütte, benannt nach dem Alpenmaler Giovanni Segantini, einem der berühmtesten Vertreter des realistischen Symbolismus, geboren in Tirol, gestorben in der Nähe von Pontresina, ebendort auf dem Oberen Schafsberg, wo jetzt die Hütte steht. Im Winter arbeitet er als Bergführer.

BIANCO

SOMMER 2017


77

CHRISTIAN GRASS


78

TRADITION BERGFÜHRER

BENADETSCH CADONAU

BIANCO

SOMMER 2017


79

LUKAS MATHIS Wuchs auf einem Bauernhof im österreichischen Vorarlberg auf. Seine Kindheit prägte ihn. Er erlernte das Schreiner- Handwerk, besass mal eine eigene kleine Firma, bestand in seiner Heimat die Prüfung zum Bergführer und zog anschliessend ins Berninatal nach Pontresina. Dort schlug er Wurzeln, dort ist er zu Hause. Lukas Mathis bezwingt als Tourenführer nicht nur die Berge, ist ausserdem ein hervorragender Kiteboarder, kurzum: ein Könner in vielen Sportarten. Er hat seine Hobbys zum Beruf gemacht. Mathis ist 35 Jahre alt, ernährt sich vegan, betreibt Yoga. Der Junggeselle lebt in einer harmonischen Partnerbeziehung mit der Natur.


80

BERGFÜHRER TRADITION UND MODERNE

MARCEL SCHENK Trägt auf diesem Foto die moderne Variante des Eispickels. Ob aus dem Holz der Esche oder des Haselbaums gefertigt wird oder aus Karbon, entscheidet jeder Bergführer selbst. Marcel Schenk war schon als Hobby-Alpinist ein Bergsportler auf allerhöchstem Niveau. Geboren 1985 am Zürichsee, kam er schon als Bub ins Engadin und entdeckte dort seine Leidenschaft fürs Klettern. Er ist zudem verantwortlich für die technische Leitung der Bergschule Go Vertcal. Als Vorschrift für die Lizenz als Bergführer gilt, dass die Kandidaten einen Erstberuf vorweisen können. Alternativ wird auch die Matura anerkannt. Marcel Schenk ist gelernter Schreiner.

BIANCO

SOMMER 2017


81

THUMESCH MANELL A POOL


82

BERGFÜHRER TRADITION UND MODERNE

er junge Tag des 9. August 1934 stieg mit schwachem Licht im fernen Osten auf, und ein eisiger Wind sang ihm dazu das Morgenlied», notierte Bergführer Robert Imseng in seinem Tagebuch. Doch während sich beim verschlafenen Blick nach draussen seine Kameraden im sogenannten Führer-Schlafzimmer der Britannia-Hütte wieder umdrehten und sich unter ihren warmen Wolldecken verkrochen, weckte er seine Kunden und «nach einem kräftigen Frühstück machten wir uns sofort zum Abmarsch bereit». Im flackernden Schein von Laternen, er voran, die beiden Touristen dahinter, stapften sie auf dem Gletscherpfad dem Gipfel des lockenden Viertausenders entgegen, und als die «Sonnenscheibe blutig rot im Osten aufstieg», waren «alle Strapazen vergessen» und die «weissen Bergriesen» der Westalpen boten im Morgenrot einen «herrlichen Ausblick». Um ein solches Alpenglühen zu erleben, brauchte es damals und braucht es heute landeskundige Profis: die Bergführer. Nur sie wissen sichere Wege zum Glück, nur sie erkennen aufkommende Gefahren, wenn das Wetter umzuschlagen droht und im Augenblick, in dem sie verweilen wollen, plötzlich der Schrecken lauert. Schreckliches passierte damals wenige Minuten später. Unter Ismeng barst das Eisfeld, der «weite Rachen des Gletscherschlundes» verschlang ihn. «Es war ein Augenblick höchster Seelenqual, lebendig begraben, eingepresst zwischen den kalten, eisigen Armen des weissen Todes». Mit seinem Eispickel, der wie Bergstock und Seil zur Standardausrüs­ tung aller Bergführer gehörte, hackte er sich zwar einen festen Halt in die Gletscherwand, aber sein Leben hing nur noch an einem Strang. Aus eigener Kraft würde er sich nicht mehr retten können. Doch auf einmal spürte er einen «starken Ruck am Seil». Seine Klienten, für deren Unversehrtheit eigentlich ja er verantwortlich war, zogen ihn langsam nach oben zurück ins Leben. Unverletzt bis auf ein paar Schrammen und Prellungen entstieg er dem Grab. «Ich entschloss mich», notierte er Tage später, «die Tour durch-

zuhalten». Als die drei schliesslich auf der Passhöhe angekommen waren, fühlten sie sich «beim Anblick des Gletschermassivs der Monte-Rosa-Gruppe für alle Schrecken und Mühen entschädigt». Dreihundert Kilometer entfernt in den Ostalpen, wo Piz Palü und Piz Bernina ihr stolzes Haupt erheben, der eine knapp unter 4000 Meter hoch, der andere knapp über 4000, hat am 24. Juli 1863 die Geschichte der Bergführer von Pontresina begonnen. Alexander Flury, damals 38 Jahre alt, gelingt mit Freunden die Erstbesteigung des Piz Palü, gelegen im Grenzgebiet zwischen Graubünden und dem Veltlin. Local Heroe Flury gehört 1871 auch zu den Gründern der Bergführervereinigung von Pontresina. Berühmt ist er als Fotograf. Er gab dem Dorf und der Landschaft und seinen Bergführern ein Gesicht. Geschichte schrieben zunächst zwei Brüder aus seiner Nachbarschaft, Hans und Christian Grass, denen als Erste die gefährliche Überschreitung des Piz-PalüGipfelgrates gelungen war. In der GrassFamilie erhörten alle männlichen Nachkommen den Ruf der Berge. Kaspar Grass zum Beispiel, Sohn von Hans, auf dem Foto unten abgebildet im Sonntagsstaat

KASPAR GRASS

BIANCO

SOMMER 2017


83

mit Janker, Krawatte und Hut, präsentiert sich und sein Werkszeug, Seil und Pickel, im Atelier des Alexander Flury. Der durfte sogar sonntags öffnen. Für den Kirchgang in Santa Maria hatten sich die Dorfbewohner zu Ehren des Herrn in Schale geworfen und so lag es für die Bergführer nahe, sich anschliessend ablichten zu lassen. Die Abzüge verteilten sie werbend als höchst eigene Visitenkarten in den Hotels. Von Kaspar Grass ist eine goldene Regel überliefert. Immer dann, wenn eine «Lindwurm Lawine» Richtung Tal donnert: «Sich auf den Schnee legen, hohles Kreuz und die Arme weit ausbreiten.» Am 24. März 1913, notierte er, habe er so überlebt und dann seine Begleiter retten können. Berufskollege Samuel Giovanoli aus dem nahen Sils Maria dagegen hatte vergebens versucht, seine Begleiter zu retten. Nach einem Lawinenunglück schrieb er: «Vier junge Menschen, die gestern noch mit Begeisterung in die herrliche Bergwelt hinaufgezogen sind, lagen auf der Totenbahre. Ein grimmiges Schicksal hatte sie hinweggerafft. Machtlos steht der Mensch dem ewigen Geschehen gegenüber. Unbeweglich, wie eiserne Götzen, stehen die Berge in der Runde, kalt, unempfindlich, naturgewaltig. Wir werden uns wieder einmal bewusst, wie klein und schwach aller menschlicher Wille ist.» Flury gründete 1863 in Pontresina sein Geschäft für «Photo-Bedarfsartikel», ein Unternehmen für Hochgebirgsfotografie. Das besteht noch heute. Es ist das ältes­te in der Schweiz. Sein Atelier im ersten Stock des hölzernen Chalets war bekränzt von einem gläsernen Dach. Er spezialisierte sich sowohl auf Landschaften als auch auf Porträts von Bergführern. Sie wurden vor «Faux Terrains», gemalten Gebirgsszenen, diese aufgerüstet mit echten Steinen und Baumstümpfen, fürs Familienalbum aufgenommen und um sich bei potentiellen Kunden anzubieten – betuchten Engländern, Italienern, Deutschen. Diese wiederum sorgten bei Flury zusätzlich für Mehrwert, weil sie sich als Erinnerung an ihre Abenteuer im Engadin vor den Wandbildern zusammen mit ihren Führern fotografieren liessen. Unter den knorrigen Profis der Berge erblühten mitunter sogar sanfte Poeten: «Gibt es etwas Schöneres als eine anmutge Gebirgslandschaft im Sonnenglanz, im fahlen Schein des Mondes! Grüne Rasenhänge, dunkle Tannenwälder, schroffe Flühe, blaue Glet-

scher und Silberfirne berauschen die Seele mit immer neuen herrlichen Bidern.» Flury stellte die Silber-HalogenidBeschichtung der Glasplatten eigenhändig her, das Albuminpapier für die Abzüge importierte er aus Dresden. Glasplatten mussten beschichtet und belichtet und im Labor entwickelt werden, die Negative waren so gross wie die Fotos. Nachdem 1871 der Londoner Arzt und Amateurfotograf Richard Leach Maddox die Trockenplatte erfunden hatte, mussten Fotografen für Landschaftsaufnahmen nicht mehr wie dato bei der Nassplatten-Technik eine Dunkelkammer mitschleppen. Die Fotos von Alexander Flury zählen zu den Schätzen der Lichtbildkunst des 19. Jahrhunderts. Ungefähr zweieinhalbtausend Exponate gehören heute dem Museum von Foto Flury Pontresina, alle für die Nachwelt auch digital archiviert. Der einstige Laden für «Photo-Bedarfsartikel» ist noch immer im Besitz von Flurys Nachkommen. Das Chalet ist ersetzt von einem zweistöckigen Neubau direkt an der Via Maistra, die durch Pontresina führt. Verkauft werden vom heutigen Inhaber Alfred Lochau Kameras und Postkarten und alle Aufträge von Passfotos bis zu Porträts für Bewerbungen erledigt. Die damals im Mutterland der Bergführer erforderlichen Voraussetzungen, um den Bergführerberuf ausüben zu dürfen, sind in ihrem Schweizer Bürokratendeutsch vergleichbar mit der Amtssprache ihrer deutschen Nachbarn. Artikel 3 beispielsweise bestimmte, dass zum «Führerkurs» ein jeder «militärdienstpflichtige Schweizerbürger zu­ge­­lassen» werden kann, soweit er «gut beleumundet und nicht wegen Vergehen in der bürgerlichen Ehrenfähigkeit eingestellt ist». Ausserdem müsse er beweisen, dass er «des Skifahrens kundig ist … Jeder Führer oder Träger soll seine Pflichten im Tale und im Gebirge gewissenhaft erfüllen, sich gegen seine Reisenden und Touristen höflich, anständig und ehrenhaft betragen und sie vor Gefahren warnen und schützen. Er soll sich namentlich vor Trunkenheit hüten.» Chroniken zufolge bot allerlei zwielichtiges Volk den Touristen seine Dienste an. Es han-

«Jeder Führer soll seine Pflichten gewissenhaft erfüllen und soll sich vor der Trunkenheit hüten»


84

BERGFÜHRER TRADITION UND MODERNE

dele sich um «herumtreibende, auswärtige» Bergführer ohne Aufenthalts- oder Niederlassungslizenz, sie «belästigten auf Strassen und Plätzen und vor Gasthöfen» die Gäste. Erwähnt wird der Suff in Berg und Tal nicht von ungefähr. Zur damaligen Entlohnung für eine 24-Stunden-Schicht gehörten neben je 500 Gramm Speck, Käse, Brot und Bargeld in Höhe von sechs Batzen ein Mass Wein, was ungefähr anderthalb bis zwei Litern Rot- oder Weiss­ wein entspricht. Ordnung war deshalb dringend geboten, ein Reglement. Wer ohne Lizenz erwischt wurde, die ihn per Metallabzeichen als Absolvent eines bestandenen Kurses auswies, wurde mit Geldbussen und mitunter sogar mit Gefängnis bestraft. Der ehemalige Gemsenjäger Melchior Anderegg, eine legendäre Figur in den Alpen, erhielt 1856 als erster Schweizer das von da an gültige Bergführerpatent. Auch die Touristen waren geistigen Getränken als Wegzehrung nicht abgeneigt. Im Rucksack, den ein Hotel für die zweitägige Bergtour eines Gastes und seiner beiden Führer vorbereitet hatte, waren verpackt: 8 Flaschen Italiener, 1 Flasche Kirsch, 1 Kilo Zucker, Kaffeepulver, 4 Kilo Brot, Butter, Salz und Pfeffer, 15 harte Eier, Schafbraten, Schinken, Zigarren und Wolldecken für die Übernachtung in einer Berghütte. Begonnen hatte es einst als Nebenerwerb von Bergbauernbuben, in damaligen Chroniken auch Bauernlümmel genannt. Sie wurden als Träger für Ausrüstung und Proviant der Oberschicht beschäftigt. Nur die, vor allem die englische, Upper Class konnte sich die touristische Eroberung der Berge leisten. Bedingung für ein Engagement: Zuvorkommend sollten die Burschen sein – und nüchtern. In ihren Tagebüchern benutzten sie bei der Schilderung ihrer Erlebnisse mit ihren Kunden die Worte «mein Herr», ganz so, als seien sie die Knechte und nicht die wahren Könige der Alpen. Immer dann, wenn einer abgestürzt war in eine Gletscherspalte, nicht das Glück hatte wie Robert Imseng, gerettet zu werden, erschlagen wurde von einem Felsbrocken oder erstickt von einer Lawine, wenn alle Versuche der Bergführer,

«Gibt es Schöneres als Gebirge im Sonnenglanz, im fahlen Schein des Mondes, die Seele berauschend?»

ihre Schutzbefohlenen oder sich selbst zu retten, gescheitert waren, widmeten ihnen die Davongekommenen einen hilflos wehmütigen Nachruf: «Ein blühendes Leben war entwichen. Über dem Piz Corvatsch ballten sich schwere Wolken. Es war … als ob er höhnisch herunterlachte und sagen wollte: Ha, seht ihr, diesmal bin wieder ich Sieger geblieben.» Im steten «Kampf mit den sichtbaren und unsichtbaren Mächten der Urgewalt» starben dereinst auch Bergführer. Von manchen wurden die Überreste erst nach Jahrzehnten gefunden, nachdem das Eis sie freigegeben hatte. Dass ein alter Bergführer deshalb ein guter Bergführer gewesen sein muss, weil er überlebt hat, gilt nach wie vor. Klettern und Ski laufen zu können, ist Grundvoraussetzung für den Beruf, ebenso die Beherrschung einer Fremdsprache, bevorzugt Englisch. Bewerber werden während der dreijährigen Ausbildung, Kosten etwa 25 000 Franken, auch in der Praxis am Berg getestet. Allenfalls ein Drittel der Aspiranten schafft die Abschlussprüfung. Frauen selten, was an den körperlichen Herausforderungen für den Knochenjob liegt und nicht am männlichen Alleinvertretungsanspruch. Eine Internationale der Bergführerverbände (IVBV) vertritt 20 Nationen aus Europa, Asien, Amerika. Das Gütesiegel für ihre 6000 Mitglieder, davon 1400 in der Schweiz, in den Farben Blau und Weiss, zeigt eine Weltkugel samt spitzen Bergen. Wenn sie unterwegs sind in den Alpen. hat wie auf hoher See ein Schiffskapitän der Bergführer das letzte Wort. Falls er die Umkehr beschliesst, weil Gefahr droht, sind Beschwerden sinnlos, etwa deartige, man habe für acht Viertausender bezahlt und nicht nur für sieben. Die Drohung, den Protestierer vom Seil zu binden und ihn zurückzulassen, die allerdings wirkt. Früher war es mehr ein Sommer- als ein Winterberuf, heute ein Jahresberuf. Im Winter beginnen die Touren morgens bei Tagesanbruch, im Sommer früh um 3 Uhr. Jetlag gehört dann zum Alltag. Mit steigenden Temperaturen steigt die Lawinengefahr. Die moderne Kommunikationstechnik ist zwar hilfreich, man kann jederzeit per Handy Hilfe holen bei Gefahr und Not. Doch Wettervoraussagen im Internet ersetzen nicht die Erfahrung vor Ort. Die heutige Bergsteigerschule in Pontresina, zu deren Team die sportlichen Männer auf den Farbfotos hier gehören,

BIANCO

SOMMER 2017


85

DAVID HEFTI Lebt in Davos, wo er in der Hochsaison im Winter als Bergführer arbeitet. Im Sommer verstärkt er seine Kollegen in Pontresina. Der junge Familienvater ist mit seinen 25 Jahren der Benjamin im Team. Während fast alle Bergführer ursprünglich aus einem handwerklichen Beruf in den neuen wechselten, meist waren sie Schreiner oder Tischler, fällt David Hefti aus diesem üblichen Rahmen. Er hat sich einst zum IT-Techniker ausbilden lassen, konnte aber dem Ruf der Berge nicht widerstehen und machte deshalb seine Sehnsucht zum Beruf. Auf den ist er stolz. Stolz zu sein auf den Beruf, teilt er mit allen Bergführern.

ENGLISH SUMMARY

AL PINE GUIDE S In past times alpine guides would work mainly in summer, but nowadays it’s an all-season job. During the winter tours start at the crack of dawn, in summer t­ hey depart at 3 am. Alpine guides are used to feeling jet-lagged. The young men in our images are all members of Pontresina’s «Go Vertical», a mountaineering school headed by Gian Luck, who descends from a local family of mountain guides. By setting up his own business, Luck took a considerable risk. But mountain guides are used to risks, and Luck didn’t fall. He keeps heading for the peak.

ist als GmbH ins Handelsregister eingetragen. Ihr Name: Go Vertical, was wörtlich übersetzt bedeutet Geh senkrecht, aber im übertragenen Sinne besser gedeutet dem Lebensmotto des Geschäftsführers Gian Luck entsprechen könnte – erdverbunden den Blick nach oben zu richten. Auch Gians Vater war Bergführer. Auch Gian hat die Lizenz als Bergführer. Aber als junger Mann schon wollte er vor allem was Eigenes schaffen. Seine früh geborene Leidenschaft fürs Klettern und fürs Skifahren, ist Basis der Geschäftsidee, als er zusammen mit Freunden Go Vertical gründete. Er ging ins Risiko, so wie als Bergführer. Senkrecht. Aber er stürzte nicht ab. Parallel leitete er schon früh die legendäre Bergsteigerschule von Pontresina. Vor acht Jahren dann entschieden sich Gian Luck und seine Partner, Tradition und Neuzeit, Bergsteigerschule und Go Vertical, für die Zukunft zu vereinen. Die ist auch im Berninatal längst digital. Der Kontakt mit Kunden weltweit wird per E-mail und Mobiltelefon hergestellt, bevor sie sich zum ersten Mal vor Ort treffen. Erst dann können die Profis die Kondition ihrer Klienten beurteilen und die passende Tour auswählen. Durchschnittliche Kosten für einen Kunden pro TourTag 645 Franken, jeder weitere Begleiter schlägt mit knapp 50 Franken zu Buche. Errechnet vom Verband nach einer Umfrage unter seinen Mitgliedern, basierend auf deren Angaben, wie viel sie pro Jahr für sich und ihre Familien brauchen, ausgehend von 200 bis 220 witterungsbedingt möglichen Arbeitstagen. Was die Go Vertical GmbH, an der ihre Bergführer auch persönliche Anteile halten, auf ihrer Homepage anbietet, ist längst mehr als nur die klassische Unique Selling Proposition der Alpen, also Klettertouren im Sommer, Skitouren im Winter. Seit die Schweiz ein für die Feriengäste so teures Land geworden ist, spüren sie das an ihrem Umsatz. Es gibt jetzt Shops für die Ausrüstung von Alpinisten, es gibt einen Hochseilgarten und eine Kletterhalle, es wird Canyoning und Schneeschuhlaufen angeboten. Viele Teammitglieder sind fest angestellt und können selbst entscheiden, wann im Laufe eines Jahres sie ihr Arbeitskonto ausgleichen. Da die Alpen aller Voraussicht nach ewig glühen werden, haben sie einen zukunftssicheren Beruf. Die Heimat ernährt ihre Kinder.


86

KURZ & KNAPP L A U B WA L D S TAT T F U S S B A L L

EINE ZEICHNUNG WIRD WIRKLICHKEIT

Aus Klaus Littmanns Skizzenbuch: Details zu den in Holz-Containern steckenden Bäumen. Der Laubwald im Fussballstadion wird 200 Bäume umfassen.

BIANCO

SOMMER 2017


KURZ & KNAPP N O T V I TA L

D

ie ungebrochene Anziehungskraft der Natur» heisst eine Zeichnung des österreichischen Künstlers Max Peintner aus dem Jahr 1971. Sie zeigt einen Wald von Laubbäumen mitten in einem Stadion, das dem ehemaligen Praterstadion in Wien nachempfunden ist, mit fiktiver Hochhauskulisse im Hintergrund. 1983 sah der Basler Kulturimpresario Klaus Littmann diese Zeichnung in Wien und wollte sie erwerben – sie befand sich aber schon lange in Besitz amerikanischer Kunstsammler. Das Bild mit dem «Zoo für Bäume» aber setzte sich im Kopf des Ausstellungsmachers Klaus Littmann fest und liess ihn über all die Jahre nicht mehr los. Als ihm die Geschichte des leeren Wörtherseestadions in Klagenfurt zu Ohren kam, sah er vor seinen Augen die Zeichnung plötzlich Wirklichkeit werden. Das Fussballstadion, seinerzeit für die Fussball-Europameisterschaft gebaut, die von Österreich und der Schweiz gemeinsam ausgetragen wurde (und lediglich zwei Länderspiele sah), wird seit 2008 kaum gebraucht. Für das 100-MillionenEuro-Bauwerk fehlt der Stadt Klagenfurt mit ihren 100 000 Einwohnern die Fussballmannschaft. Seit drei Jahren wird am Baum-Projekt geplant, das im Sommer 2017 in Klagenfurt vorgestellt wurde und im September und Oktober 2019 Wirklichkeit werden soll: ein Laubwald im Fussballstadion, 200 bis zu 15 Meter hohe Bäume – Berg-Ahorn, Spitz-Ahorn, Birke, Hain-Buche, WeissBuche, Esche, RotErle. Die Wurzeln der einzelnen Bäume, die im Stadion aufgestellt werden, stecken in Holz-Containern. Diese werden mit Erde abgedeckt, um einen schönen Waldboden entstehen zu lassen. Die Besucher des Kunstprojekts dürfen den Wald in ihrem Stadion Tag und Nacht von den Tribünen aus bestaunen. Natürlich erhofft sich Klagenfurt einen «Christo»-Effekt, wobei das niemand so ausspricht. Maria-Luise Mathiaschitz, Bürgermeisterin der Stadt Klagenfurt: «Wir wollen zeigen, dass es neben Sport und Konzerten im Stadion auch aufsehenerregende Kunstprojekte gibt.» Nach der Kunstinstallation werden die Bäume übrigens in den nahen Lakeside Park umgepflanzt, und das Stadion bekommt eine neue Rasenfläche.

Ausstellungen, Bücher, Skulpturenpark: Es ist das Jahr des Unterengadiner Künstlers Not Vital

Not Vitals Gipsskulptur «Muntagna» in Sent.

SCHAUEN Erstmals überhaupt ist in der Schweiz Not Vitals Werk im Rahmen einer gross angelegten Retrospektive zu sehen, und zwar im Bündner Kunstmuseum Chur. Gezeigt werden Dokumente und Werke von seinen Anfängen bis zu den Gross­skulpturen der letzten Jahre. NOT VITAL, «UNIVERS PRIVAT» Retrospektive, Bündner Kunstmuseum Bahnhofstrasse 35, 7000 Chur 9. September bis 19. November 2017 di–mi 10–17, do 10–20, fr–so 10–17 Uhr, mo geschlossen www.buendner-kunstmuseum.ch Bereits in den Sommermonaten sind Werke von Not Vital in verschiedenen Galerien zu sehen. NOT VITAL, «NAIV» Zeichnungen, Bilder und Skulpturen Galerie Tschudi Chesa Madalena, Somvih 115, 7524 Zuoz 23. Juli bis 16. September 2017 Vernissage: 22. Juli, 16–18.30 Uhr NOT VITAL, AUSSENSKULPTUR «TONGUE» Galerie Andrea Caratsch Via Serlas 12, 7500 St. Moritz, ab Juni 2017

NOT VITAL, CASTELLO DI BROLIO Località Madonna a Brolio, 53013 Gaiole in Chianti Ab Anfang Juli 2017 NOT VITAL, «EARLY BRONZES» Galerie 107 107 Bugl Scuot, 7525 S-chanf 29. Juli bis 29. August, 15–19 Uhr

LESEN Anlässlich der Churer Übersichtsschau erscheint im September der Katalog: «Not Vital» Herausgeber Bündner Kunstmuseum Chur Verlag Scheidegger & Spiess 200 Seiten, 120 Abbildungen, ca. Fr. 49.–

ENTDECKEN Skulpturenpark «Not dal Mot» Am westlichen Dorfeingang von Sent Mit Skulpturen, einer Brücke aus Eselsköpfen, einem Glashaus www.notvital.ch/not-dal-mot

87


88

KURZ & KNAPP H Ö R - U N D S P R A C H W E LT E N

Auf der Suche. Nach jenen Wörtern, die uns für den Gesang der Vögel abhanden gekommen sind. Nach dem Echo, das nur an bestimmten Orten zu erleben ist

WELCHER VOGEL KNIPPT? WELCHER MURXT, WELCHER ZIPPT?

Siebenfaches Echo auf der Roslenalp (SG).

ECHO-JÄGER IN DEN ALPEN Wer im Melchtal auf der Toralp unterwegs ist, am «Wisi Bucher», und bei optimalen Bedingungen richtig laut in die Berge hineinruft, richtig lauscht, wird mit etwas Glück ein mehrfaches Echo zu hören bekommen. Der Rekord in der Sammlung des Echo-Jägers Christian Zehnder, eines in Basel lebenden Musikers und Klangkünstlers von 56 Jahren, ist ein siebenfaches Echo auf einem Wanderweg oberhalb der Alphütte Roslenalp (SG), auf einem kleinen Felsvorsprung, drei Meter neben dem Wanderweg: das Kreuzberg-Echo. Unsichtbar, flüchtig und nur an bestimmten Orten zu erleben, hat das Echo die Menschen bereits in der Antike fasziniert. Heute kann man es mithilfe moderner Technik vermessen, genau lokalisieren, akustisch perfekt einfangen. Und im Internet, wie Christian Zehnder das tut, archivieren. «Echo Topos Schweiz» heisst das Projekt der Echo-Jäger der Alpen. Mit der dazu entwickelten App lassen sich die Stellen mit den besten Echos in den Bergen finden und selbstgefundene Echos in die Echo-Karte eintragen. Diesen Herbst sollen an 30 Orten die Echos mit Spezialmikrofonen aufgenommen werden, später genaue Wegbeschreibungen und ungewöhnliche Geschichten dazugestellt werden. Man kann sich fragen, was so spannend am Echo sein kann, dass ein Sänger wieder und wieder vom Jagdfieber erfasst wird und sich aufmacht, den Widerhall seiner Rufe in den Bergen zu kartografieren? Für den Alpinisten und Sportkletterer Christian Zehnder sind die Alpen ein Bestandteil seines Lebens. Natürlich beglücke ein imposantes Bergpanorama. Aber genau sogut könne man sich zu einer akustischen Tour in den Alpen aufmachen. Und sich irgendwann fragen, wo es solche Echo-Orte in den Bergen gibt. «Die Alpen sind zwar gut erforscht, ihre Flora und Fauna, die Geologie und die Wetterphänomene», sagt Christian Zehnder in einem Gespräch mit der «ZEIT, «aber der Akustik hat sich noch keiner angenommen. Selbst Wanderkarten erwähnen keine Echo-Orte. Dabei gehört es zu unserem Schweizer Heimatgefühl, in die Berge zu rufen. Aber man macht das halt einfach mal, und wo genau das Echo war, daran erinnert sich hinterher kaum jemand mehr.» www.echotopos.ch Von der Suche nach Widerhall 1 CD, 54 Minuten, Stiftung Eadio Basel, Fr. 19.90, Euro 16,90

Im Wörterbuch der Vogellaute von Peter Krauss (Germanist, Jazzpianist, Übersetzer und Vogelgesangssprachforscher) sind 327 Verben für die Lautäusserungen von über 100 Vögeln in ihrer Übersetzung in die Sprache der Menschen versammelt. Von murxen (Schnepfe) bis gixen (Drossel), von knäken (Ente) bis zetschen (Elster), von wispeln (Meisen) bis kläffen (Adler). Tirelieren, tirilieren, dirdirlieren, jubilieren, schmettern, tremolieren, quirilieren, quinkelieren, trillern, wirbeln – das sind alleine zehn von siebzehn Verben, die Peter Krauss für den Lerchengesang in alten Lexika, Jagdbüchern, ornithologischen und literarischen Werken gefunden hat. Krauss geht es in seinem schönen wie einzigartigen Buch um die Dokumentation des mit den Vögeln verschwundenen Sprachreichtums. Entstanden ist eine ornithologische wie bibliophile Preziose von 224 Seiten, mit farbenprächtigen Reproduktionen aller Vögel, zumeist aus alten britischen Büchern. «Selten», schreibt der «Spiegel», «hat ein linguistisches Werk so viel Spass gemacht.» Peter Krauss Singt der Vogel, ruft er oder schlägt er? Handwörterbuch der Vogellaute Matthes und Seitz, Berlin

Die Elster

Roslenalp, SG , Akustik: 7 faches Mehrfachecho

BIANCO

SOMMER 2017


KURZ & KNAPP TRINKEN

Spitzenweine von den Südtiroler Alpenhängen sind in aller vinophiler Munde. Hohen Trinkgenuss bieten ein im Berg gereifter, exklusiver Gerwürztraminer und ein Sekt aus höchst gelegener Kellerei

ARUNDA: SEKT VOM BERG

Epokale 2009 im Korb: Willi Stürz und Wolfgang Klotz.

TRAMIN: GEWÜRZTRAMINER AUS DEM BERGSTOLLEN 2009 GEWÜRZTRAMINER EPOKALE Kellerei Tramin, Tramin Zunächst verhalten, frisch, zart, leicht cremig, deutlich floral, Melone, Nektarine und Litschi, Spur Blütenhonig, später auch eine an Safran erinnernde Würznote. Saftig, mit deutlicher Süsse, aber auch mineralischer Art und Säure, saftig-süffiger Nachhall, glasklar, jugendlich, rassig, lang, noch viel Potenzial. 19/20 trinken –2038 2015 GEWÜRZTRAMINER NUSSBAUMER Kellerei Tramin, Tramin 18/20 trinken –2028 2014 GEWÜRZTRAMINER NUSSBAUMER Kellerei Tramin, Tramin 16/20 trinken –2025

Drei Kilometer geht es hinein mit der Bahn in ein stillgelegtes Bergwerk. Auch nach der Endstation ist noch nicht Schluss, geht es immer tiefer hinein in den Berg, Quer- und Hauptstollen, Verbindungsgänge und Sackgassen. Man verliert leicht die Orientierung. Willi Stürz, Kellermeister der Cantina Tramin, findet sich gut zurecht, leuchtet den Weg aus und erzählt von seiner skurrilen Idee, Gewürztraminer jahrelang ins Dunkel zu legen, in ein Bergwerk, in den Poschhausstollen am Schneeberg im Ridnauntal in Südtirol. Noch bis 1985 wurden die Anlagen genutzt, doch dann wurde die Arbeit unwirtschaftlich. Willi Stürz prägt die Qualitätspolitik der Kellerei in Tramin, dem Südtiroler Dorf, das zumindest der Legende nach Urheimat des Gewürztraminers ist. Die gleichbleibende Temperatur im Stollen war der Grund für den ungewöhnlichen Lagerort gewesen, ziemlich genau 11 Grad hat es im Berg, jahraus, jahrein, dazu völlige Dunkelheit und Ruhe. Was 2009 begann, wurde konsequent fortgeführt. Stürz, der sich seit Jahren dafür ins Zeug legt, das Lagerungspotenzial des Gewürztraminers zu beweisen, hat nach dem Premierenjahrgang kistenweise Weine der Nachfolger eingelagert, sich jedoch mit der Vermarktung Zeit gelassen. Erst im Juni 2017 fuhren die Helfer erstmals zum Abholen von Flaschen in den Stollen: Der 2009er «Epokale» ist seit Sommer 2017 auf den Markt erhältlich. www.cantinatramin.it

Auf 1200 Metern wachsen keine Weintrauben mehr. Für die höchstgelegene Sektkellerei in den Alpen (und Europas) müssen Chardonnay (von Porphyrböden rund um Terlan), Pinot noir (von Moränen-SchuttLehm-Böden oberhalb von Salurn) und Weissburgunder (von kalkhaltigen Böden des Überetsch) aus den besten Lagen Südtirols nach Mölten hergeschafft werden. Ein nicht geringer logistischer Aufwand, aber mit prickelndem Ergebnis. Vom klassischen Brut bis zum Jahrgangssekt. 1979 war Premiere, mit den ersten 300 Flaschen Sekt der Familie Reiterer. Heute werden 10 verschiedene Sekte, jährlich insgesamt 100 000 Flaschen, produziert. ArundaSekt aus Südtirol schmeckt übrigens nicht nur in den Bergen, auch unterhalb von 1200 Metern. BRUT METODO CLASSICO DOC Arunda Sektkellerei, Mölten 50% Chardonnay, 30% Weissburgunder, 20% Blauburgunder 17/20 trinken 2010 EXTRA BRUT RISERVA DOC Arunda Sektkellerei, Mölten 60% Chardonnay, 40% Pinot noir 17/20 trinken –2024 www.arundavivaldi.it

89


90

KURZ & KNAPP N AT U R - U N D N E R V E N K I T Z E L

Der türkisfarbene Lag La Cauma mit seiner Isla ist ein Naturerlebnis. Die längste Hängebrücke der Alpen ein Bauwerk, bei dem selbst Ingenieuren Angst und Bange werden kann

Das Projekt ist weit fortgeschritten: Die Visualisierung der neuen Hängebrücke.

490 METER LANGE HÄNGEBRÜCKE Der Europaweg zwischen Grächen und Zermatt gilt als eine der schönsten ZweiTages-Wanderungen in den Alpen. Die Sicht auf das Bergpanorama inklusive Matterhorn hat ihn weltweit bekannt gemacht. Der Weg führt von Grächen über Gasenried zum Grat, von dort hoch über dem Mattertal nach Süden zur Europahütte in Randa, weiter auf die Täschalp und schliesslich nach Zermatt. Eine Hängebrücke beim Grabengufer oberhalb von Randa wurde vor sieben Jahren bei einem Felsabbruch zerstört, gerade mal zwei Monate nach ihrer Eröffnung.

Eine Brücke, die dafür gesorgt hatte, dass Wanderer den Europaweg durchgehend auf einer gleichmässigen Höhe bewältigen konnten. Seither müssen sie einen anstrengenden Umweg von zwei Stunden in Kauf nehmen oder brechen die Tour vorzeitig ab. Eine neue, spektakuläre Brücke – es wird mit 490 Metern die längste alpine FlussHängebrücke der Alpen, die am höchsten Punkt 75 Meter über dem Boden schwebt – ist noch nicht gebaut, obwohl sämtliche Baubewilligungen vorliegen. Doch die Kosten für die an einem etwas tie­ fer gelegenen Standort geplante Brücke, die

vom Lärchberg auf das Höüschbiel führt, liegen bei 750 000 Franken. Und für die Trägergemeinden alleine ist es nicht möglich, die Finanzierung sicherzustellen. Deshalb wurde zur Unterstützung und definitiven Realisierung des Projektes ein Spendenkonto bei der Raiffeisenbank MischabelMatterhorn eingerichtet. Mit einem Laufmeter-Sponsoring (Fr. 1000.– pro Meter). Ende Juni 2017 lag der Sponsoring-Stand bei 92 Prozent. Ein grosser Befürworter der Sache ist Adolf Ogi, alt-Bundesrat: «Dieses bedeutende Teilstück des Europawegs muss unbedingt wieder begehbar sein.»

PARADIESISCHE INSELN In der Schweiz, die im Lauf ihrer Geschichte selbst immer wieder als «Insel» bezeichnet wurde, gibt es höchst entdeckenswerte, reale Inseln. In Seen sind es gezählte 1143 Inseln, in Flüssen (breiter als fünf Meter) genau 722 Inseln. «Eine stolze Inselbilanz für eine Alpennation», konstatiert der Schweizer Heimatschutz, der jetzt die 33 schönsten Inseln der Schweiz in einem attraktiven Büchlein vereint hat. Isla, die schönste Insel der Alpen, liegt im Bündnerland, im türkisfarbenen Lag la Cauma auf knapp 1000 Metern über Meer und misst 3000 Quadratmeter. Zum kleinen Bergsee gelangt man zu Fuss durch den Flimserwald

Die schönsten Inseln der Schweiz Schweizer Heimatschutz Fr. 16.–, Mitglieder: Fr. 8.– www.heimatschutz.ch

oder mit der kostenlosen Standseilbahn. «Cauma» bezeichnet im Romanischen den Rastplatz des Viehs zur mittäglichen Hitzezeit. Im Sommer sind diese Weiden heute von Badegästen belegt, die den See mit seinen einladenden Buchten geniessen. Die perlenförmige Isla ist schwimmend, mit Blick auf ein beeindruckendes Bergpanorama, oder mit einem Kahn erreichbar. Während der Saison vermietet das Restaurant Pedalos und Ruderboote. Ein Baumgürtel umschliesst die Insel und birgt eine kleine verwunschene Lichtung. Das Wasser des Bergsees ist angenehm warm, weil es von unterirdischen Quellen gespeist wird.

BIANCO

SOMMER 2017


KURZ & KNAPP SCHÖN UND ABGELEGEN

IMPRESSUM

BIANCO, 10. Jahrgang Ausgabe Sommer 2017

Vom grossen Tourismus recht fern locken Quereinsteiger im Tessin und im Bündnerland Touristen mit Abgeschiedenheit und feiner Küche

BEI VINCENZO PEDRAZZINI Wer die sehr vielen und noch mehr Kurven nach Campo hoch fährt, wird reichlich belohnt. Mit einer eizigartigen Landschaft, wie man sie so noch nie gesehen zu haben glaubt, einer Terrasse aus Wiesen und ein paar verstreuten Häusern. Mitten drin die markanten, unübersehbaren Palazzi Pedrazzini mit grossen Fresken aus dem 18. Jahrhundert, die ausdrücken, wie reich die Pedrazzinis waren, eine Händlerfamilie, die ihr in Deutschland und Italien erwirtschaftetes Geld in der abgelegenen Berggemeinde investierte. In Sichtweite, an der Case Pedrazzini 1: das Gasthaus des 10 permanente Einwohner zählenden Ortes, die «Locanda». Mit ihr und dem sehr geglückten Umbau scheint der Frühling in die Abgeschiedenheit zurückgekehrt zu sein. Nicht umsonst gilt das Restaurant und Hotel mit Zunamen «Fior di Campo» als eine der interessantesten neuen Adressen im Tessin, was Ambiente, Gastfreundschaft, Kulinarik und Lebenfreude anbelangt. Die Natur bestimmt das sportliche Programm: Wandern im Sommer, Schneeschuhlaufen und Tourenskifahren im Winter. Sehenswert sind die herrschaftlichen Häuser. Den Schlüssel zur Pfarrkirche am Ort bekommt man im «Fior di Campo», inklusive spannender Geschichten. Das Gotteshaus, zwischen 1987 und 2012 restauriert, hat sich aufgrund der ab 1863 durch den Bergrutsch entstandenen Schäden in den

HERAUSGEBER UND CHEFREDAKTOR Wolfram Meister wolfram.meister@biancomag.ch BIANCO Grubenstrasse 11, CH-8045 Zürich Fon +41 44 450 44 10 BIANCO Via Brattas 2, CH-7500 St. Moritz www.biancomag.ch ART DIRECTOR Jürgen Kaffer GRAFIK Falk Heckelmann VERLAG, ANZEIGEN BIANCO Verlag GmbH Brigitte Minder Grubenstrasse 11, CH-8045 Zürich Fon +41 44 450 44 12 brigitte.minder@biancomag.ch REDAKTION AUTOREN Dario Cantoni, Werner Jessner, Michael Jürgs, Stefan Maiwald, Christoph Schuler, Linda Solanki, Brigitte Ulmer, Nina Vetterli

letzten 150 Jahren um 28 Meter verschoben und um 8 Meter gesenkt. Wer in Campo in der zauberhaften «Locanda» einkehrt, sollte vorab unbedingt ein Zimmer reservieren. Dann lässt sich ohne Probleme die eine oder andere Flasche eines Tessiner Winzers aus dem Keller des Bordeaux-Liebhabers Pedrazzini entkorken. Fior di Campo Case Pedrazzini 1, 6684 Campo (Vallemaggia) Fon 091 754 15 11 www.fiordicampo.ch

BEI LIVIA WERDER In einem Seitental der Surselva, im Val Medel, liegt Curaglia. Ein Dorf ohne Sehenwürdigkeiten und ohne Skilifte. Am Dorfrand: ein frisch eröffnetes Hotel, das «Medelina». Mit 15 Hotelzimmern, einem Seminarraum und einer Bibliothek. Im Restaurant «Marenda» werden an langen, hübsch aufgedeckten Holztischen die Gäste mit einem Drei- oder Viergänger verwöhnt. Jetzt geht es in die erste Sommersaison. Mit Bergtheater (bei schönem Wetter draussen, bei Regen drinnen), mit Musik (mal romanische und englische Lieder, mal Jazz), mit Kunstausstellungen, mit Strickkursen, mit Geissen-Trekking und mit Wurst-Werkstatt (Küchenchef Aluis Albin).

FOTOS Röbi Bösch, Gian Marco Castelberg, Peter Vann, Filip Zuan, Annette Fischer, Federico Cavicchioli ILLUSTRATIONEN Helge Jepsen COMIC Andrea Caprez PRODUKTEFOTOS mit freundlicher Genehmigung der Hersteller COVERFOTO Gian Marco Castelberg ENGLISCHE TEXTE Katharina Blansjaar KORREKTORAT Marianne Sievert DRUCK AVD Goldach, Sulzstrasse 10, CH-9403 Goldach Auflage Sommer 2017 20 000 Exemplare PREIS Einzelheft CHF 25.– BIANCO erscheint 2x jährlich, im Sommer und Winter Alle Rechte vorbehalten

Hotel Medelina Sur Vitg 100, 7184 Curaglia Fon 081 947 40 77 www.medelina.ch

www.biancomag.ch Freunden Sie sich mit BIANCO auf Facebook an: www.facebook.com/biancomag

91


PAOLO CONTE Fazil Say HIROMI John Pizzarelli JAMIE CULLUM Othella Dallas HERBIE HANCOCK Helge Schneider Michel Camilo NIGEL KENNEDY Lee Ritenour CHICK COREA The Manhattan Transfer Fourplay MADELEINE PEYROUX and more …

5. – 31. JULI 2017 FESTIVALDAJAZZ.CH

host

main partner

presenting partner

partner

main media partners

partner muottas muragl


COMIC ALPENBITTER

93


94

COMIC ALPENBITTER

BIANCO 

SOMMER 2017


95


96

Ü B E R A L L E B E R G E M I T… FA B I O S O L D AT I

GIPFEL KENNER »PEAKFINDER« IST DIE ERFOLGREICHSTE ALPINE APP. DER SCHWEIZER INFORMATIKER FABIO SOLDATI HAT SIE VOR SIEBEN JAHREN ERDACHT. UND SEITHER HAT ER 500 000 APPS VERKAUFT – ZU JE 5 FRANKEN. MIT »PEAKFINDER« L ASSEN S ICH MEHR ALS 250 000 BERGE WELTWEIT MÜHELOS IDENTIFIZIEREN, UND REGELMÄSSIG WERDEN VERBESSERTE VERSIONEN MIT ALLERLEI EXTRAS VERÖFFENTLICHT.

I nt e r v i e w : St e f a n Ma i wa l d

BIANCO

SOMMER 2017


97

f__ Gerade kam ein Update auf den Markt.

Was kann PeakFinder, ausser Berge zu erkennen? a__ Ich habe mehr als ein Jahr an der neuen

Version gearbeitet. Nun wird die perspektivische Geländedarstellung von PeakFinder auf dem Grafikprozessor des Smartphones berechnet. Also so, wie die meisten Computerspiele auch programmiert sind. f__ Was bedeutet das in der Praxis? a__ Durch diese Umstellung

kann der Nutzer mit PeakFinder von Berg zu Berg fliegen und die Berglandschaften ganz neu entdecken. Es entstehen dadurch auch völlig neue Möglichkeiten für Erweiterungen. In zwei Wochen werde ich eine Version veröffentlichen, in der die Sonnen- und

B E R U F Der 42-Jährige bekam die Idee zur App während einer Wanderung und einem Zwist um einen Bergnamen. 2010 gründete Soldati die Firma PeakFinder GmbH und brachte die App PeakFinder Alps für das iPhone auf den Markt. Später folgten Versionen für die USA und Kanada und die Plattformen Android und Nokia Symbian. Seit 2014 gibt es die mobile App PeakFinder Earth. Diese Version funktioniert nun weltweit in allen Bergregionen A U S B I L D U N G Elektronikerlehre, anschliessend Studium der Informatik W E B S E I T E www.peakfinder.org

höheren Berg zu kommen. PeakFinder ist da aber nicht so pingelig und zeigt einfach alle Bergspitzen an, die in openstreetmap. org erfasst sind.

routen. Dort stelle ich immer wieder mal gerne das Zelt auf und geniesse bei Sonnenuntergang die wunderbare Sicht über die Tessiner Berge.

f__ Gibt es weisse Flecken in der App?

f__ Der höchste Berg, den Sie je bestiegen

a__ Ja, manche

Gebiete sind schlecht abgedeckt, beispielsweise China. Es gibt aber auch viele Berggebiete, wo nur die markantesten Gipfel einen Namen haben. Dort zeigt PeakFinder nur wenige Namen an.

haben?

f__ Ist Ihnen auch mal ein echter Schnitzer

f__ Es ist bestimmt ein Vorurteil, aber man

passiert?

stellt sich Informatiker selten sportlich vor. Gibt es eigentlich viele Informatiker, die Bergsteiger sind?

Als ich mit PeakFinder begann, habe ich nicht realisiert, dass die Namensgebung von Bergen auch eine gewisse politische Bedeutung hat. In Katalonien habe ich die Berge zuerst nur auf Spanisch benannt. Ein Nutzer hat mich dann aufmerksam gemacht, dass die Berge auch katalanische Namen haben. Seitdem zeigt PeakFinder beide Namen an. a__

f__ Welche zwei Berge ähneln sich so sehr,

dass die App Schwierigkeiten bekommt? a__ Die App

hat damit eigentlich kein Problem. Für den Nutzer kann die Identifizierung aber schwieriger sein, wenn markante Berge zur Orientierung fehlen. f__ Mal ehrlich: Gibt es auch hässliche

Berge? a__ Ausser Abfallberge

eigentlich nicht.

f__ Welchen Berg wollen Sie unbedingt noch

Mondbahnen eingezeichnet sind. Dadurch weiss der Nutzer, hinter welchem Berg und zu welcher Zeit die Sonne untergehen wird. Die Schattierung der Berglandschaft wird zudem dem Sonnenstand angepasst. f__ Mount Everest, Matterhorn – klar. Aber

mit eigenen Augen sehen? a__ Ich

plane im Herbst nach Nepal zu reisen und freue mich sehr auf die Berglandschaft. Ich mache aber keine schwierigen Bergtouren. Die meisten Berge werde ich mir dort wohl von weiter unten aus anschauen.

was ist der kleinste Hügel, der von der App noch erfasst wird?

f__ Vorwitzige Frage: Erkennt die App auch

PeakFinder bezieht die Daten von der Open-Data-Karte openstreetmap.org. Diese Karte funktioniert ähnlich wie Wikipedia: Freiwillige Nutzer erweitern die Karte kontinuierlich. Sie bestimmen also, welche Hügel erfasst sind. In Deutschland zeigt PeakFinder auch bei einigen Bergwerken die Namen der Schutthalden an.

a__

a__

f__ Tatsächlich? a__ Es gibt natürlich schon eine Definition,

was ein Berg ist und was nicht. In den Alpen spricht man von einem Berg, wenn die Schartenhöhe zwischen 100 und 300 Metern beträgt – wenn man 100 bis 300 Meter runtersteigen muss, um auf den nächst-

Mount Rushmore?

Der Mount Rushmore wird angezeigt. Allerdings sind die vier Präsidenten in der Panoramadarstellung von PeakFinder nicht erkennbar. f__ Und den Paramount-Berg? a__ Den Paramount-Berg gibt es so ja nicht.

Vermutlich soll aber der Berg Artesonraju in Peru als Vorlage für das Logo gedient haben. Und der Artesonraju ist PeakFinder natürlich bekannt. f__ Wo ist der schönste Aussichtspunkt in

der Schweiz, um die Berge zu bewundern?

Es gibt auf dem Gotthard ein kleines Seelein, etwas abgelegen von den Wandera__

a__ Vor

zwei Jahren war ich auf dem John Muir Trail in Kalifornien und habe zum Abschluss den 4421 Meter hohen Mount Whitney bestiegen.

Ich habe viele Informatiker-Freunde, die sportlich sehr aktiv sind! Ich glaube, ein Ausgleich zu dieser bildschirmbezogenen Arbeit ist für viele sehr wichtig. Ich begebe mich sehr gerne in die Berge, um klare Gedanken zu kriegen. Die kreativen Ideen habe ich selten vor dem Bildschirm. Sie entstehen viel eher auf langen, ausgedehnten Wanderungen in den Bergen. a__

f__ Ihr nächstes Abenteuer als Bergsteiger? a__ Ich

gehe gerne mit dem Zelt oder Tarp los. So auch dieses Wochenende. Wahrscheinlich gehe ich ins Berner Oberland. Aber ich plane häufig spontan und schaue gerne vor Ort, wo es mich hinzieht. f__ Und Ihr nächstes Abenteuer als

Informatiker?

Zurzeit macht mir die Arbeit an PeakFinder noch viel Spass. Mit dieser App kann ich meine Leidenschaft für Berge und fürs Programmieren perfekt verbinden. Die Ideen für Erweiterungen und Verbesserungen gehen mir nicht so schnell aus! a__

ENGLISH SUMMARY 42-year-old Fabio Soldati had the idea for PeakFinder while he was on a hike and arguing over ­a peak’s name with a friend. He founded his company in 2010 and soon after released the PeakFinder Alps app for iPhone. Additional versions for the US and Canada were added later, and the app became available for Android and Nokia Symbian. PeakFinder Earth has been out since 2014, giving its users access to peak names all around the globe. Soldati likes to enjoy the outdoors himself, but he isn’t too keen on climbing those high peaks: «I’m planning on travelling to Nepal later this year, but I won’t attempt any serious mountaineering. I’m probably just going to look at most of those peaks from the lowlands.»


98

LETZTE SEITE

BYE-BYE! Die Küche der Alpen – und ihre Bücher. Eine Momentaufnahme in der Zürcher Buchandlung Orell Füssli Kramhof. Eine kulinarische Auslage mit Köstlichkeiten aus dem Alpenraum. Von der gerösteten Wildleber bis zum geeisten Kaiserschmarrn. Ein alpines Dessert. Mit der Frage, die eine Zürcher Zeitung kürzlich stellte: Wird die Alpenküche die neue Nordic Cuisine? DAS NÄCHSTE HEFT ERSCHEINT IM DEZEMBERI 2017 www.biancomag.ch BIANCO

SOMMER 2017




Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.