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G.Rammlmair
from Jahrbuch 2002
by bigdetail
Georg Rammlmair
Medizinische Therapie am Unfallort „Kann der Notarzt zum Risiko werden?“
On-site emergency treatment:can the doctor be a risk?
SUMMARY
Publications in emergency medicine literature concerning patient’s out come and quality management are restricted to pre-hospital medical treatment during ground rescue operations and the phase of hospitalisation. So far no studies were carried out systematically in Mountain Emergency Medicine referring to this.In the Alpine countries neither methodical case analysis nor international database is available. Keywords: Emergency medical system,outcome,pre-hospital treatment, mountain rescue,treatment failures,quality management.
ZUSAMMENFASSUNG
In der notfallmedizinischen Literatur finden sich Publikationen zur Fragestellung Outcome des Patienten und Qualitätssicherung nur im Bereich Notaufnahme und präklinischer,bodengebundener notärztlicher Versorgung.Die alpine Notfallmedizin hat sich mit dieser Fragestellung noch nicht systematisch beschäftigt.Es fehlt im Alpenraum sowohl eine methodische Erhebung der Ereignisse als auch eine internationale Datenbank. Keywords: Outcome,präklinisch,Notarzt,Alpineinsatz,Behandlungsfehler,Qualitätssicherung.
EINLEITUNG
Es stellt sich die Frage,ob der Notarzt bei seiner Tätigkeit im alpinen Gelände zum Risiko werden kann.Das Risiko,das durch den Notarzt entstehen kann,kann sich gegen die eigene Person (Unachtsamkeit im Gelände,inadäquate Ausrüstung,ev.Regressansprüche durch Patienten bei nicht sachgemäßer Versorgung),gegen den Patienten (Outcomereduktion),gegen das Team (durch Druckausübung auf Entscheidungen in
Extremsituationen …),gegen die Flughelfer und Bergrettungsmänner (Mehraufwand durch Sicherung des Arztes,Zeitverzögerung bei aufwendigen Maßnahmen im Gelände) richten. Bei der Literatursuche mittels Pub Med,Current Contents,Springer Link, Thieme,Cochrane Library mit geeigneten Suchbegriffen in Verknüpfung mit Alpinrettung oder Alpinismus gibt es keine Literatur.Viele Publikationen gibt es hingegen zum Thema klinische und präklinische Traumaversorgung,Qualitätsvergleiche und Outcomestudien zu Versorgungsstrategien und Qualitätssicherung in der Notaufnahme.
Die Relation der Gebirgseinsätze mit Notarzt zu allen RTH-Einsätzen in Südtirol betrug im Jahre 2000 152 zu 2.194.Ausgehend von der Beurteilung der präklinischen Versorgungsqualität in der Literatur bei der Versorgung von traumatischen Patienten und Patienten mit internistischen Krankheitsbildern durch den Notarzt des NAW oder RTH lässt sich die Versorgungsqualität durch den Notarzt im Gebirge in Ermangelung harter Daten maximal abschätzen.Es ist davon auszugehen,dass dieselben „Fehlleistungen“ vorkommen,allerdings in geringeren Fallzahlen.
DATENLAGE
In der retrospektiven Studie „Kann der Notarzt zum Risiko werden?“ (1) untersucht Seekamp die Versorgungsqualität von 1.297 Polytraumen ,die in den Jahren 1985–1996 an der Medizinischen Hochschule Hannover behandelt wurden,bzgl.der Nichteinhaltung der von den Fachgesellschaften empfohlenen Qualitätsstandards (DGU,DGNC,DGAI,ATLS aus USA).Die Dokumentation erfolgte mittels DIVI-Protokoll. Die Verletzungsschwere wurde in 76 % nicht erkannt,bei 28 % trat 1,bei 10 % traten 2 und bei 2% 3 Triagefehler auf.68% der Patienten waren bei Klinikeintritt im Schock,davon hatten 17 % < 2.500 ml Ringerlaktat erhalten.Es waren 6 % ohne Zugang und 16,5 % ohne Intubation.In 8 Fällen wurde eine unnötige Intubation durchgeführt und in 10 % musste die Tubusfehllage korrigiert werden.Bei 38 % von 122 Thoraxtraumen ohne Thoraxdrainage,die nach Intubation mit CPPV beatmet wurden,mussten 27 Spannungspneus entlastet werden.
In einer Arbeit aus Israel „The sky is a limit:errors in prehospital diagnosis by flight physicians“ (2) wird die Versorgung von 186 Traumapatienten aus der Flugrettung von HAIFA beurteilt.76 % (337/443) der Verletzungen wurden erkannt.Übersehen wurden:mehr als 35 % der Pati-
enten mit hypovolämischem Schock,2 Fälle von ARI,7 % der Bewusstseinsstörungen,10 gravierende Verletzungen,56 schwere Verletzungen, wovon 42 erkennbar gewesen wären.Gesichts- und Extremitätenverletzungen wurden meistens richtig erkannt.In 5 besonderen Pathologiegruppen wurden viele Verletzungen übersehen:mehr als 50 % der Augenverletzungen,1/3 der HWS-Läsionen,Verletzungen von Abdomen,Thorax und Becken,2 von 4 Querschnittslähmungen und 1/4 aller Frakturen.
Sind Notarztdiagnosen zuverlässig,frägt Arntz (3) in einer retrospektiven Auswertung sämtlicher Alarmierungen in einem Notarztstützpunkt (Notarztwagen und Rettungshubschrauber) anhand von 2.254 Krankenhausberichten. Die Zuverlässigkeit von Notarztdiagnosen,die Qualität der primären Behandlung,die Entscheidung über den Transportmodus (mit oder ohne Notarztbegleitung) und das Zielkrankenhaus wurden dabei untersucht. Die Einsätze verteilten sich schwerpunktmäßig auf kardiopulmonale Erkrankungen (55 %),neurologische Krankheitsbilder (18 %) und Traumata (7 %).Bei 90 % waren Diagnose,Maßnahmen,Transportmodus und Transportziel korrekt,in 3 % wurden in der Untersuchung gravierende Irrtümer,in 4 % geringere Irrtümer und bei 3 % übertriebene Maßnahmen nachgewiesen.Unterschätzt wurden kardiopulmonare Erkrankungen. Arntz schließt mit der Feststellung,dass eine hohe Anzahl richtiger Diagnosen und Maßnahmen am Notfallort den Einsatz erfahrener Notärzte, die laufend mit der Behandlung akut lebensbedrohlicher Erkrankungsbilder befasst sind,erfordert.
EXTERNE BEWERTUNG
Die Tätigkeit des Notarztes wird auch in der Presse bewertet,wie man am Beispiel der Faktsendung am 23.10.1995 im Mitteldeutschen Rundfunk sehen kann,wo die Strategie des erstversorgenden Notarztes angeprangert wird: „Uns wurde neulich ein Kind – vor 2 Monaten zirka – eingeliefert.Es war ein acht Monate alter Säugling mit einer Verbrühung.Der erstversorgende Notarzt hat es nicht geschafft,dem Kind einen venösen Zugang zu legen.Obwohl die nächste Universitätsklinik – Luftlinie – fünf Kilometer entfernt war,wurde über eine Dreiviertelstunde versucht,dem Kind eine Infusion zu legen.Erst der nachgeordnete Notarzt,der dann mit dem Hubschrauber kam,konnte diesem Kind eine Infusion legen,und das hat diesem Kind doch in den ersten Stunden schwere Probleme gemacht,ausrei-
chend Flüssigkeit für den Körper zur Verfügung zu haben.“ (Dr.Axel Hennenberger,Kinderkrankenhaus Wilhelmstift Hamburg) Dick definiert Behandlungsfehler:Die Grenzen zwischen falsch und richtig liegen dort,wo die Diagnose und Indikation zur Behandlung richtig sind,die Durchführung der Behandlung aber nicht beherrscht wird.Er beurteilt die Kombination aus falscher Diagnose,nicht indizierter Behandlung und fehlerhafter Durchführung der nicht indizierten Therapie als besonders fatal (4).
UMFRAGE BEI INSIDERN
Im Rahmen einer Umfrage bei Ärzten der IKAR,verantwortlichen Ärzten von Flugrettungsbasen und beim Bergrettungsdienst Südtirol wurden mündlich Fehlverhalten von Ärzten nur in wenigen Fällen mitgeteilt: 1 Fall von Überschätzung des Verletzungsmusters,2 Fälle von Ausrüstungsmängeln (Notarzt ohne adäquate Schuhe am Lawinenkegel,Arzt ohne Skiausrüstung nachts am Lawinenkegel),1 Fall von falschem Defihandling mit Zerstörung des Gerätes,1 Fall von Verlust von medizinischer Ausrüstung,2 Fälle von falscher Auswahl des Zielkrankenhauses (bei Unterkühlten und bei schwerem SHT),1 Fall von falschem Einhängen im Windenhaken,wodurch der Flugretter tödlich abstürzte. Die wenigen Rückmeldungen führen zur Annahme,dass es eine erhebliche Dunkelziffer geben muss.Der Autor stellte im Rahmen seines Vortrags die Frage an das Auditorium,ob es in den letzten 10 Jahren in ihrem Versorgungsgebiet Rettungseinsätze gegeben hat,wo die Vorgangsweise des Notarztes zur Beeinträchtigung der Rettungsaktion geführt hat.Ungefähr 20 Personen zeigten durch Handheben solche Erfahrungen an.
QUALIFIKATION DES ALPINNOTARZTES
Für die Versorgung im Gebirge ist von Seiten des Arztes Ausbildung, Erfahrung und gezielte,umfeldgerechte Vorgangsweise erforderlich. Die Frage von Seekamp (1) formuliert Dick um in die Frage „vor welchem (Not-)Arzt muss der (traumatisierte) Notfallpatient gegebenenfalls geschützt werden“ und bietet die Antwort „nicht vor dem Notarzt,der qualifiziert und damit auch fähig ist,die Entscheidung,wann,wie und was behandelt wird,vor allem aber den Entschluss fassen kann,nicht immer invasiv handeln zu müssen“. Die Qualifikation des alpin tätigen Notarztes ist nicht genau definiert.
Der Ausbildungskatalog für den Notarzt variert je nach Herkunftsland (z.B.Bundesrepublik Deutschland:2 Jahre klinische Erfahrung,1/2 Jahr Intensivmedizin,80 Stunden Weiterbildung,20 NA-Einsätze unter Aufsicht bei lebensbedrohlichen Krankheitsbildern).Ob ein Facharzt für Notfallmedizin erforderlich ist,bezweifelt der Autor.Der Notarzt benötigt Sicherheitstraining und alpinistische Ausbildung.Die kontroverse Diskussion im Rahmen früheren Bergrettungsärzte-Tagungen sei ins Gedächtnis gerufen,wo zwischen Minimalausbildung und Forderung nach einem 25-jährigen Anästhesiefacharzt mit 10 Jahren Erfahrung und Bergführerdiplom der Vorschlag von W.Phleps steht,dass es ein Arzt mit Geländegang sein soll,der sich sicher im Gelände bewegen kann,Selbstsicherung und selbständigen Abstieg/Abfahrt beherrscht. Der Alpinarzt soll weiters über körperliche Fitness,Führungsqualitäten, Stresstoleranz und Teamfähigkeit verfügen. Die ärztliche Leistung des Notarztes wird an den Vorgaben für ärztliche Versorgung,den Standards in der Notfallmedizin:ERC/AHA (nach EBM-Kriterien),den Standards der DGU,DGNC,DGAI,ATLS,PBLS gemessen.Standards gibt es in der alpinen Notfallmedizin nicht,bestenfalls Expertenmeinungen. Alpinmedizin ist Medizin in Grenzsituationen.Die Vorgangsweise in der Bodenrettung und Flugrettung lässt sich nicht im Maßstab 1 :1 auf die alpine Rettung übertragen.Die Bewertung der Versorgung im alpinen Ambiente als „erschwerender Faktor“ muss anders erfolgen.Die optimale Versorgung bedeutet daher im Gebirge,nicht immer alles Machbare unter allen Umständen zu tun (nicht immer invasiv handeln zu müssen).Für die Qualität der Versorgung ist Erfahrung und Qualifikation entscheidend.
QUALITÄTSSICHERUNG
Arntz ist überzeugt,dass die Überprüfung von Diagnosen,Maßnahmen und Entscheidungen in der notärztlichen Tätigkeit ein geeignetes Instrument ist,im Rahmen des Qualitätsmanagements systematisch Fehlerquellen aufzudecken. Zur Dokumentation sind im deutschen Sprachraum Notarztprotokolle basierend auf der DIVI-Empfehlung mit dem MIND (minimalen Notarztdatensatz) weit verbreitet.Bergrettung und Flugrettung verwenden zusätzlich eigene Einsatzprotokolle.Debriefing in den Notarzt-/RTHStützpunkten und Erfahrungsaustausch innerhalb der Organisationen sind Instrumente der Qualitätssicherung.So weit bekannt,gibt es in kei-
ner alpinen Rettungsorganisation weder ein strukturiertes Ereignismonitoring von Zwischenfällen und Beinahezwischenfällen,noch eine Datenbank und auch keine Bewertungsinstrumente für Einsätze. Wenn die Qualität der Teammitglieder und des Arbeitsprozesses Bergrettungseinsatz überprüft werden soll,muss die Frage zum möglichen Risikofaktor Arzt auch auf die anderen Teammitglieder Flughelfer,Pilot und Bergrettungsmann ausgeweitet werden.
SCHLUSSFOLGERUNG
In der Versorgung des am Berg verunfallten/erkrankten Patienten werden Fehlleistungen des Notarztes und des Teams nicht systematisch erfasst.Daher gibt es im Vergleich zum NAW-und RTH-Dienst keine genauen Daten. In die Bewertung der Tätigkeit des Alpinnotarztes oder Notarztes im alpinen Gelände muss die Art und Weise der Annäherung des Notarztes zum Patienten,der Abtransportmodus und der Zeit- und Umweltfaktor in der Alpinrettung berücksichtigt werden.Ziel kann nicht die vollständige Übereinstimmung der präklinischen Diagnosen mit den bei der Aufnahme mit allen technischen Hilfsmitteln gewonnenen Diagnosen sein.Die wesentlichen Pathologien müssen mit den präklinisch zur Verfügung stehenden Mitteln erkannt und behandelt werden. Es ergibt sich somit eine Forderung nach einem internationalen Protokoll zur Dokumentation von Ereignissen in der Alpinrettung mit genauen Einsatzbewertungskriterien.Als Forum kann die Homepage der IKAR/CISA dienen.Die Dokumentation muss freiwillig erfolgen und unter strenger Einhaltung der Anonymität des Einsenders und der Personen,die an der Rettung beteiligt sind.Die Auswertung der Daten erfolgt zentral.Jeder Mitwirkende erhält die anonymisierten Ergebnisse.
LITERATUR
(1) Seekamp A.,Regel G.,Pohlemann T.,Schmidt U.,Koch C.,Tscherne H.:Kann der Notarzt zum Risiko werden.Notfall & Rettungsmedizin 2,3-17 (1999). (2) Linn S.,Knoller N.,Giligan C.G.,Dreifus U.:The sky is a limit:errors in prehospital diagnosis by flight physicians.Am J Emerg Med 15(3): 316-20 (1997).
(3) Arntz H.R.,Klatt S.,Stern R.,Willich S.N.,Beneker J.:Sind Notarztdiagnosen zuverlässig? Anaesthesist 45 (2):163-170 (1996). (4) Dick W.F .:Opfer auf beiden Seiten.Notfall & Rettungsmedizin 2: 1-2(1999).