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Hermann Brugger, Fidel Elsensohn, Matthias Hofer, Christian Masoner, Claudio Gecele, Werner Beikircher, Peter Paal
from Jahrbuch 2016
by bigdetail
❙ Hermann Brugger, Fidel Elsensohn, Matthias Hofer, Christian Masoner, Claudio Gecele, Werner Beikircher, Peter Paal ❙
Lawinenmedizin 2016 – ein Update
Management of avalanche victims 2016 – an update
SUMMARY
Recent publications pertaining to the analysis of avalanche victim treatment and outcome have established a strong inference that an excessive number of asphyxial victims were transported to hospital for extracorporeal rewarming, contrary to the guidelines. Equally, crucial information regarding the physiological status of the victims at extrication was reportedly misplaced, thus precluding the medical hospital staff from correctly following the recommended triage guidelines on admittance. In 2015, the European Resuscitation Council (ERC) updated previous treatment guidelines and published a new algorithm for the on-site management of avalanche victims. The respective cut-off values for prolonged cardiopulmonary resuscitation and subsequent transport of arrested avalanche victims to hospitals with extracorporeal rewarming facilities have been changed; i.e., duration of burial increased from 35 to 60 min, core temperature cut off decreased from 32°C to 30°C and serum potassium levels decreased from 12 to 8 mmol/L. To improve patient data transfer from the avalanche site to emergency department admittance, the International Commission for Mountain Emergency Medicine (ICAR MEDCOM) proposed an avalanche checklist that should be completed by the rescue services on-site and be kept with the patient until hospital admission is complete. In an attempt to optimise prehospital management and decrease mortality of avalanche victims, both the implementation of the updated ERC recommendations and the avalanche checklist should jointly be introduced by respective air rescue, mountain rescue, and emergency medical services. Keywords: avalanche, cardiac arrest, checklist, hypothermia, mountain rescue
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ZUSAMMENFASSUNG
Aus kürzlich publizierten Studien kann man schließen, dass bisher, entgegen den Empfehlungen, zu viele asphyktische Lawinenverschüttete mit Herz-Kreislaufstillstand zur extrakorporalen Wiedererwärmung in ein Krankenhaus eingewiesen wurden und dass auf dem Transport entscheidende Informationen für eine korrekte Triage verloren gehen. 2015 wurden vom European Resuscitation Council (ERC) die bisherigen Empfehlungen zur präklinischen Erstversorgung von Lawinenverschütteten überarbeitet und als Algorithmus publiziert. Die Grenzwerte für eine prolongierte Reanimation und den Transport in ein Krankenhaus zur extrakorporalen Wiedererwärmung wurden für die Verschüttungsdauer von 35 auf 60 Minuten, die Kerntemperatur von 32°C auf 30°C und das Serumkalium von 12 auf 8 mmol/L adaptiert. Um den Datenfluss von der Erstbeurteilung des Lawinenverschütteten bis in den Schockraum des Aufnahmekrankenhauses zu garantieren, wurde von der Internationalen Kommission für Alpine Notfallmedizin (ICAR MEDCOM) eine Lawinencheckliste eingeführt, die durch die Rettungsorganisationen ausgefüllt und dem Patienten ins Krankenhaus mitgegeben werden soll. Beide Maßnahmen, die ERC-2015-Empfehlungen und die Lawinencheckliste ergänzen sich und sollten gemeinsam von Rettungsorganisationen inkl. Berg- und Flugrettung und Notarztdiensten eingeführt werden mit dem Ziel, die präklinische Behandlung von Lawinenverschütteten zu optimieren und deren Mortalität zu senken. Schlüsselwörter: Bergrettung, Checkliste, Herz-Kreislaufstillstand, Hypothermie, Lawine
FALLBEISPIEL
Am 12. März 2016 ereignete sich im Ahrntal in Südtirol ein schwerer Lawinenunfall mit insgesamt sechs Toten und nur einer Überlebenden. Eine große Lawine (maximale Abrisshöhe 1.50 m, Breite 300 m, Länge 1500 m, Abb. 1) riss auf 3.250 m Seehöhe sieben Skitourengeher über einen felsdurchsetzten Steilhang 700 m in die Tiefe und verschüttete 6 Personen ganz. Drei Verschüttete wurden von Kameraden geborgen, die restlichen vier in einer organisierten Rettungsaktion mit Beteiligung von drei Helikoptern, drei Notärzten am Unfallort und 70 Einsatzkräften der Bergrettung.
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Abb. 1: Lawine vom 12. März 2016 im Ahrntal, Südtirol, mit dem Abriss auf 3.250 m, einer Breite von 300 m und einer Länge von 1500 m. Alle sieben verschütteten Skitourengeher wurden am Auslauf unterhalb des felsdurchsetzten Steilhanges geborgen. (mit freundlicher Genehmigung von Dr. Werner Beikircher, Bruneck)
Eine Person mit Airbag und einer aus dem Schnee ragenden Hand konnte von Kameraden nach wenigen Minuten lebend geborgen werden, sie erlitt mittelschwere Verletzungen; fünf der sechs restlichen Verschütteten wurden nach 25–60 Minuten geborgen, hatten bei Bergung keine Vitalfunktionen und im EKG Asystolie, bei drei war der Status der Atemwege nicht dokumentiert. Eine weitere Verschüttete wurde nach 90 Minuten mit durch Schnee verlegten Atemwegen und ebenfalls Asystolie im EKG aus über 2 m Tiefe geborgen. Alle Verschütteten wurden nach der Bergung reanimiert, jedoch noch vor Ort für tot erklärt. Kein Verschütteter wurde unter prolongierter kardiopulmonaler Reanimation (CPR) zur Wiedererwärmung in ein Krankenhaus gebracht. Bei fünf Verschütteten wurde akute Asphyxie als Todesursache festgestellt, bei einem bestand der Verdacht auf tödliche Verletzungen, der jedoch nicht autop-
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tisch bestätigt wurde. Zusammenfassend weist dieser Lawinenunfall mehrere Besonderheiten auf: die immense Größe der Lawine und damit verbundene hohe Mortalität der Ganzverschüttungen (86%); der Fall zeigt auch, dass bei Anwendung der neuen 2015-Richtlinien des European Resuscitation Council (ERC), im Vergleich zu früheren Algorithmen, weniger Verschüttete mit Herzstillstand unter CPR in ein Krankenhaus zur Wiedererwärmung gebracht werden müssen.
LAWINENALGORITHMEN DER ICAR MEDCOM 1996 – 2013
Seit 1996 wurden von der Internationalen Kommission für Alpine Notfallmedizin (ICAR MEDCOM) drei Empfehlungen für Triage und Management von Lawinenverschütteten publiziert (1–3). Diese Empfehlungen beinhalten neben allgemeinen Therapieempfehlungen auch einen Algorithmus für die Triage von Lawinenverschütteten mit Herz-Kreislaufstillstand. Bei Patienten mit Herz-Kreislaufstillstand sollte eine Differenzierung zwischen Asphyxie und Hypothermie vor Ort möglich sein, so dass nur Patienten mit einem reversiblen Herz-Kreislaufstillstand prolongiert reanimiert und in ein Krankenhaus zur extrakorporalen Wiedererwärmung gebracht werden. Diese Zielsetzung ist bis heute unverändert geblieben. Für die Triage werden folgende prognostische Faktoren verwendet: Verschüttungsdauer, Vitalfunktion, Atemwege, EKG, Kerntemperatur unmittelbar nach der Bergung und das erste gemessene Serumkalium. In Bezug auf Verschüttungsdauer und Atemwege haben bisher alle Studien gezeigt, dass ein Lawinenverschütteter nur dann länger als 35 Minuten überleben kann, wenn er im Schnee atmen kann, d.h. freie Atemwege und eventuell eine Atemhöhle vor Mund und Nase aufweist (2,4,5). Sind hingegen Mund und Nase durch Schnee blockiert, galt eine Überlebenswahrscheinlichkeit nach >35 Minuten als unwahrscheinlich. Bei der Kerntemperatur galten bisher 32°C unmittelbar nach der Bergung ösophageal oder tympanal gemessen als Grenzwert, unterhalb dessen eine prolongierte CPR und Wiedererwärmung indiziert ist, vorausgesetzt die Atemwege sind frei. Die Begründung beruht auf der Annahme, dass bei einer Kerntemperatur <32°C alle Formen von Arrhythmien auftreten können, also auch ein Herz-Kreislaufstillstand durch Kammerflimmern (6). Allerdings wurden in die zu Grunde liegende Studie Hypothermie-Patienten mit diversen Ursachen eingeschlossen, jedoch keine Lawinenverschütteten (6). Nimmt man die ma-
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ximale Abkühlungsgeschwindigkeit von 9°C pro Stunde während einer Lawinenverschüttung an (7,8), dann wird die Kerntemperatur von 32°C frühestens nach 35 Minuten erreicht. Aus diesen Gründen galten bisher >35 Minuten Verschüttungsdauer und eine Kerntemperatur von <32°C als Grenzwerte für eine sinnvolle Wiedererwärmung, vorausgesetzt die Atemwege waren bei der Bergung frei. Das Serumkalium ist ein Indikator für den hypoxischen Zelltod und bei Lawinenverschütteten ein prognostischer Marker. Serumkalium wird in der Regel nicht präklinisch, sondern erst nach Krankenhausaufnahme gemessen. Der bisherige Grenzwert von 12 mmol/L basiert auf der Tatsache, dass in der Literatur kein Hypothermie-Patient einen höheren Wert als 11,8 mmol/L überlebt hat (9,10). Allerdings wurden auch in diese retrospektive systematische Analyse alle Hypothemie-Patienten diverser Ursachen, nicht nur Lawinenverschüttete eingeschlossen (5).
DIE AKTUELLE DATENLAGE
Im Jahr 2014, ein Jahr nach Veröffentlichung der letzten ICAR-MEDCOM-Empfehlungen (3) wurden zeitgleich drei Outcome-Studien von Lawinenverschütteten publiziert (11–13). Die Überlebensraten der insgesamt 84 Patienten mit Herz-Kreislaufstillstand, die reanimiert und in einem Krankenhaus mit extrakorporalem Kreislauf wiedererwärmt wurden, betrugen 7,1% (n=28) (11), 16,7% (n=48) (12) und 0% (n=8) (13) und waren damit insgesamt mit 11,9% wesentlich niedriger als bei Hypothermie anderer Ursachen (47–100%) (14–16). Alle Überlebenden dieser Studien hatten einen beobachteten Herz-Kreislaufstillstand (in der Literatur findet man bisher nur einen Überlebenden einer mehrstündigen Lawinenverschüttung mit unbeobachtetem Herz-Kreislaufstillstand und gutem neurologischem Outcome) (17). Einschränkend sei erwähnt, dass alle drei Studien sehr weit zurück reichen (1987–2013) und die Inzidenz mit 0,2–2,7 Fälle pro Jahr extrem niedrig ist. Eine weitere kürzlich veröffentlichte Studie untersuchte die Befolgung der ICAR-MEDCOM-Empfehlungen durch Rettungskräfte und medizinisches Rettungspersonal in Nordtirol (18) und kam zum Ergebnis, dass besonders Lawinenverschüttete mit langer Verschüttungsdauer häufig nicht reanimiert und in ein Krankenhaus zur Wiedererwärmung gebracht wurden, auch wenn die Atemwege frei waren (siehe Beitrag Plankensteiner et al. in diesem Jahrbuch).
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Aus allen Studien kann man schließen, dass die geringe Überlebensrate von reanimierten und wiedererwärmten Lawinenverschütteten vor allem darauf zurückzuführen ist, dass die falschen Patienten ins Krankenhaus transportiert werden, d.h. zu viele asphyktische Patienten mit Herz-Kreislaufstillstand zur Wiedererwärmung anstatt die Langzeitverschütteten mit offenen Atemwegen und tiefer Unterkühlung. Die Differenzierung hypothermer von asphyktischen Patienten war offensichtlich aus verschiedenen Gründen unzureichend, auch weil auf dem Weg in die Aufnahmekrankenhäuser entscheidende Informationen verloren gegangen waren. Der Ruf nach einer Revision der Empfehlungen und einer Verbesserung der Datenerhebung und -weitergabe in das Zielkrankenhaus war deshalb gerechtfertigt. 2015 wurden die Empfehlungen auf Einladung des ERC neu erstellt und publiziert (19).
DIE ERC 2015 RICHTLINIEN
Der Algorithmus der ERC-2015-Richtlinien ist in Abbildung 2 abgebildet. Ziel der Überarbeitung der Empfehlungen war es, sinnlose extrakorporale Wiedererwärmungen zu vermeiden, ohne potentiell rettbare hypotherme Lawinenopfer zu übersehen. Die Grenzwerte für die Triage mussten so gesetzt werden, dass deren Spezifizität 100% beträgt mit einem möglichst schmalen Konfidenzintervall. In die Literaturrecherche wurden nur Lawinenopfer eingeschlossen, da sich die Pathophysiologie von Lawinenverschütteten wegen der mit der Hypothermie vergesellschafteten Asphyxie (Triple H Syndrom) (20) deutlich von der Pathophysiologie hypothermer Patienten anderer Genese unterscheidet. Die prognostischen Faktoren von Lawinenverschütteten können deshalb nicht auf hypotherme Patienten anderer Ursache übertragen werden. Kerntemperatur und Verschüttungsdauer: Bisher wurde kein Lawinenverschütteter mit Herz-Kreislaufstillstand aus einer Kerntemperatur >30°C erfolgreich extrakorporal wiedererwärmt. Deshalb wurde der Grenzwert für die Kerntemperatur von 32°C auf 30°C gesenkt. Diese Änderung impliziert, dass entsprechend der maximalen Abkühlungsgeschwindigkeit von 9°C pro Stunde auch der Grenzwert für die Verschüttungsdauer von 35 auf 60 Minuten verlängert werden konnte. Serumkalium: das höchste Serumkalium, das ein Lawinenverschütteter mit Herz-Kreislaufstillstand überlebt hat, betrug 6,4 mmol/L (7). Bei einem Lawinenverschütteten mit Serumkalium 8,0 mmol/L konnte ein spontaner Kreis-
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Abb. 2: ERC-2015-Empfehlungen zum Management von Lawinenverschütteten (modifiziert nach (19), Übersetzung und Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
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lauf wiederhergestellt werden, er starb jedoch anschließend an Asphyxie (21). Deshalb wurde der Grenzwert für Serumkalium von 12 mmol/L auf 8 mmol/L gesenkt. Zusammenfassend (Tab. 1) wird empfohlen, dass bei einer Verschüttungsdauer ≤60 Minuten (oder einer ösophageal gemessenen Kerntemperatur ≥30°C) Patienten mit Herz-Kreislaufstillstand nach dem Standard-ALS Protokoll behandelt werden sollten. Diese Lawinenverschütteten sind in der ersten Stunde erstickt und Hypothermie konnte sich nicht rasch genug protektiv auswirken. Lawinenverschüttete mit einer Verschüttungsdauer >60 Minuten oder einer Kerntemperatur <30°C, Asystolie im EKG und blockierten Atemwegen können vor Ort für tot erklärt werden und sollten nicht in ein Krankenhaus zur Wiedererwärmung gebracht werden. Alle anderen Lawinenverschütteten hingegen (mit jeder Art elektrischer Aktivität im EKG oder Asystolie mit freien Atemwegen) sollten prolongiert reanimiert und in ein Krankenhaus zur Bestimmung des Serumkaliums oder direkt in ein Krankenhaus mit Herzlungenmaschine oder extrakorporaler Membranoxygenierung gebracht werden. Bei Serumkalium >8 mmol/L kann die CPR abgebrochen werden.
DIE LAWINEN-CHECKLISTE DER ICAR MEDCOM
Jeder Lawinenunfall bedeutet für das Opfer und die Retter einen Wettlauf mit dem Tod. Für den Ersthelfer auf dem Lawinenfeld gilt es, die objektiven Gefahren zu beachten, sich auf einem extremen Gelände zu bewegen, möglichst rasch die Lawinenverschütteten zu lokalisieren und zu bergen. In diesem Szenario müssen sofort Verschüttungsdauer, Atemwege, Körperkerntemperatur und das EKG bei der Bergung erhoben werden und vom Ersthelfer, unabhängig der Qualifikation dokumentiert werden. Diese Schlüsselparameter können später nur mit großer Unsicherheit oder gar nicht mehr rekonstruiert werden. Die Behandlung vor Ort und vor allem die späteren Schritte der CPR und Wiedererwärmung hängen wesentlich von diesen Befunden ab. Die Studie von Plankensteiner et al. (siehe Beitrag Plankensteiner et al. in diesem Jahrbuch) zeigt, dass die internationalen Richtlinien nur unzureichend angewandt wurden. In vielen Fällen wurden die Erstbefunde mangelhaft dokumentiert und die Opfer nicht der empfohlenen Behandlung zugeführt. Die Zahl der überlebenden Opfer war sehr gering und in vielen Fällen wurde keine CPR trotz offener Atemwege und langer Verschüttungsdauer initiiert. Die Ursachen mögen im mangelnden Bewusstsein für die Wichtigkeit der Erstbefunde liegen,
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sowohl bei den Ersthelfern und dem Rettungspersonal sowie in der Tatsache, dass erhobene Befunde bei der weiteren Entscheidung über die Therapie im Aufnahmekrankenhaus nicht mehr verfügbar waren. Trotz des Versuchs, die Richtlinien für die Behandlung von Lawinenverschütteten so einfach und übersichtlich wie möglich zu gestalten, kann die Anwendung theoretischen Wissens und das Setzen der richtigen Maßnahmen im Stress eines Lawinenunfalls eine große Herausforderung darstellen. Gerade die Entscheidung, eine CPR zu beginnen oder zu unterlassen, muss auf der Basis des Lawinenalgorithmus und der entscheidenden Fakten getroffen werden. Nicht immer ist unmittelbar bei der Bergung ein erfahrener Notarzt zur Stelle. Es ist somit essentiell, dass die Bergretter geschult werden, diese entscheidenden Befunde zu erheben, zu dokumentieren und die richtigen Maßnahmen zu beginnen. Dies ist umso entscheidender bei Mehrfachverschüttungen. Die steigende Anzahl der Mannschaften auf dem Lawinenfeld und die Unübersichtlichkeit der Situation erschweren Ersthelfern und Notärzten die Einhaltung der Richtlinien. Lückenlose Daten- und Befunderhebung und ein kontinuierlicher Informationsfluss vom Lawinenfeld bis ins Aufnahmekrankenhaus sind in solchen Situationen oft schwer durchführbar.
DAS KONZEPT DER LAWINENCHECKLISTE
Die Verwendung von Checklisten zur Optimierung der Behandlung von Patienten und der Verbesserung der Behandlungsergebnisse wird von der Weltgesundheitsbehörde WHO seit 2008 empfohlen und hat in der Medizin viel Beachtung erfahren (22). Diesem Konzept folgend hat die ICAR MEDCOM eine Checkliste zur Behandlung von Lawinenopfern erstellt, die auf den neuesten Erkenntnissen und Studien zur Behandlung dieser Patienten basiert (Abb. 3). Zusammen mit einer Lehrpräsentation und unter Beachtung der neuen ERC-Empfehlungen wurde sie 2015 von der ICAR MEDCOM zur Anwendung empfohlen. Das Ziel ist die Erhöhung der Überlebenschance von Lawinenopfern durch eine bessere Beachtung der gültigen Behandlungsalgorithmen und den besseren Informationstransfer vom Ersthelfer auf dem Lawinenfeld bis ins Zielkrankenhaus. Die richtige Verwendung der Checkliste setzt intensive theoretische und praktische Schulung voraus. Die Checkliste kann und soll von jedem Ersthelfer unabhängig vom Ausbildungsgrad bei jeder Lawinenverschüttung angewendet werden. Unmittelbar bei Freilegung des Kopfes sollen sofort Verschüttungsdauer, Atemwege und
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Vitalzeichen des Lawinenopfers beurteilt und dokumentiert werden. Als Verschüttungsdauer wird der Zeitraum von der Verschüttung bis zur Freilegung des Gesichts definiert. Bei der Beurteilung der Atemwege soll festgestellt werden, ob die Atemwege durch Schnee oder Erbrochenes verlegt sind, andernfalls davon ausgegangen wird, dass die Atemwege frei sind und das Opfer nach Stillstand der Lawine atmen konnte. Als Atemhöhle gilt jeder noch so kleine Schnee-Hohlraum vor Mund und Nase bei gleichzeitig freien Atemwegen. Pro Patient sollte eine Checkliste verwendet werden, diese verbleibt am Patient. Sinnvoll ist die Kombination mit dem Patientenleitsystem, vor allem bei Mehrfachverschüttung. Jeder Bergretter, Flugretter oder Notarzt, der zu einem Lawinenunfall gerufen wird, sollte mindestens eine Checkliste in seiner Ausrüstung mit sich führen. Checklisten, die mit dem Gros des Einsatzmaterials am Unfallort einlangen, sind nutzlos. Die Checkliste ist farblich in zwei Sektoren gegliedert. Der weiße Teil dient zur Dokumentation der entscheidenden Erstbefunde – Verschüttungsdauer und Atemwege. Ist die Verschüttungsdauer nicht bekannt, kann alternativ die Körperkerntemperatur angegeben werden. Zudem soll die Größe einer eventuell vorhandenen Atemhöhle auf der Rückseite dokumentiert werden. Der weiße Teil wird normalerweise durch den Ersthelfer vor Ort ausgefüllt. Sind Vitalzeichen vorhanden erfolgt die weitere Behandlung nach den Regeln des Basic-Life-Support mit Stabilisierung der Vitalfunktionen oder Beginn der CPR. Diese wird in der Regel bis zur Übernahme durch einen Notarzt weitergeführt. Der rote Teil dient dem Notarzt oder entsprechend ausgebildeten Sanitätern zur Dokumentation der Befunde und zur Entscheidung über die weiteren Behandlungsschritte. Bei Verschütteten mit Herz-Kreislaufstillstand und einer Verschüttungsdauer über 60 Minuten sind die Atemwege (unmittelbar bei der Bergung durch den Ersthelfer beurteilt) und idealerweise die Körperkerntemperatur die entscheidenden Parameter für das weitere Procedere: Reanimationsabbruch oder weitere Behandlung durch den Notarzt und Transport ins Aufnahmekrankenhaus (3,19). Es ist von entscheidender Bedeutung für die richtige Handhabung der Lawinencheckliste, dass diese in die Regelausbildung für alle Bergretter inklusive Notärzte auf den Notarzthelikoptern integriert wird. Nur durch die wiederholte Anwendung bei Übungen kann erreicht werden, dass die Checkliste ihre entsprechende Beachtung findet. Dazu gehört auch, dass sie in einer technisch gut verwendbaren Form (z.B. plastifiziert und dauerhaft beschreibbar) vorliegt.
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Abb. 3: Lawinencheckliste (modifiziert nach (23), Übersetzung und Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
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FAZIT FÜR DIE PRAXIS
Die Empfehlungen zur präklinischen Erstversorgung von Lawinenverschütteten mit Vitalfunktionen und zur Triage von Lawinenverschütteten mit Herz-Kreislaufstillstand wurden in den ERC-2015-Richtlinien wesentlich vereinfacht. Durch die Verlängerung des Grenzwertes für die Verschüttungsdauer von 35 auf 60 Minuten ist zu erwarten, dass die Zahl der Lawinenverschütteten, die zur Wiedererwärmung in ein Krankenhaus mit Herzlungenmaschine oder extrakorporaler Membranoxygenierung angemeldet werden deutlich abnimmt, ohne dass dadurch potentiell rettbare hypotherme Patienten übersehen werden. Der Behandlungsalgorithmus (Abb. 2, Tab. 1) ist durch die Reduktion der Entscheidungsschritte einfacher geworden. Um auch den Datenfluss von der Erstbeurteilung des Lawinenverschütteten bis in den Schockraum des Aufnahmekrankenhauses zu garantieren, sollte die Lawinencheckliste (23) (Abb. 3) durch die Mitglieder der beteiligten Rettungsorganisation ausgefüllt und dem Patienten mitgegeben werden. Beide Maßnahmen, die Vereinfachung des Algorithmus und die Lawinencheckliste ergänzen sich und sollten gemeinsam durch Rettungsorganisationen inkl. Berg- und Flugrettung und Notarztdiensten eingeführt werden.
Tab. 1: Präklinisches Vorgehen bei Lawinenverschütteten ohne Vitalfunktion. CPR = kardiopulmonale Reanimation, ALS = erweiterte CPR, ECLS = extrakorporale Wiedererwärmung, K+ = Serumkalium
Vitalfunktion Verschüttungsdauer Kerntemperatur Atemwege Procedere
nicht vorhanden ≤60 Min ≥30°C Nicht relevant CPR, ALS
nicht vorhanden
Nicht vorhanden + Asystolie im EKG >60 Min
>60 Min <30°C
<30°C Frei oder nicht bekannt CPR, ECLS (K+?)
Verlegt Stop CPR
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LITERATUR
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