LASSEN BUMMELN DÄMMERN WUNDERN
LASSEN BUMMELN DÄMMER WUNDER
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EDITORIAL Wabi-Sabi, so schreibt Leonard Koren in seinem gleichnamigen Buch, kann als ein umfassendes ästhetisches System bezeichnet werden. Es beschreibt die Schönheit unvollkommener und vergänglicher, anspruchsloser und schlichter sowie die Schönheit unvollständiger und unkonventioneller Dinge. Als Gegensatz zur Moderne, die dem herrschenden ästhetischen Prinzip der internationalen Industriegesellschaften entspricht, steht bei Wabi-Sabi die Natur im Mittelpunkt. Das Bleichen als eine „natürliche Methode“, die sich in der Vermählung von Tau, Sonne und Leinen als Wabi-Sabi-Prinzip bis heute im Namen des Hotels spiegelt, ist darüber hinaus auch inhaltlich gelebte Praxis. Lassen, Bummeln, Dämmern, Wundern - ausgehend von vier Begriffen begibt sich der Spreewald-Literatur-Stipendiat Sebastian Orlac für unsere nächsten vier Ausgaben der Kahnpost auf die Suche nach den Charakteristika dieser Methode und was sie mit Gelassenheit zu tun hat. Dabei umkreisen seine Überlegungen immer wieder das Haus, seine Geschichte und die Umgebung. Eine Fortsetzungsgeschichte, mäandernd wie die Wasserwege durch den Spreewald.
Herzliche Grüße
Ihre Christine und Heinrich Michael Clausing Burg im Spreewald im Frühsommer 2015
„Lass“, sagt meine Tochter und um sich Gehör zu verschaffen, wiederholt sie es gleich noch drei Mal: „Lass, lass, lass ...“ Was ich ihr lassen soll, ist der Kugelschreiber in ihrer Hand, ein Mitbringsel aus Venedig, in dessen Innern eine winzige Gondel auf dem Canale Grande hin und her gleitet. Die letzten Jahre hat er ein vergessenes Dasein in meiner Schreibtischschublade geführt. Doch ich möchte ihn meiner Tochter nicht ohne Weiteres über...
Erstens: Mein Schreibtisch gehört mir, die letzte Bastion in der Wohnung, die ich vor den Kindern verteidige. Zweitens: Ich ahne, dass es nicht beim bloßen Anschauen des Stifts bleiben wird. Ganz gleich, welche Gründe ich anführe, sie halten nicht dem entwaffnenden „Lass“ meiner Tochter stand. Also lasse ich sie. Zu dem Stift gibt es noch einen Stapel Schmierpapier, in der Hoffnung, mir für kurze Zeit Ruhe zu verschaffen. Vor mir steht aufgeklappt der Monitor, die weiße Seite meines Schreibprogramms. Ein Text soll entstehen. Bislang ist nur der Cursor zu sehen, der ungeduldig auf der Stelle blinkt. Meine Tochter macht sich daran, mit dem Stift die Schmierpapiere zu bekritzeln. Ich erstarre vor dem Weiß der leeren Seite. Anstatt es mit dem Text einfach zu lassen, bleibe ich sitzen und starre weiter. Nach einer Weile wundere ich mich, wie still es ist. Als ich mich umdrehe, sind die Grenzen des Schmierpapiers längst genommen. Blaue Linien ziehen sich über den Boden, die Wand und münden auf dem Lieblingshemd meiner Tochter in einem großen, dunklen Fleck.
Lassen. Was für ein wundersames Wort. 2300 Wörter muss man beherrschen, um das Zertifikat Deutsch zu erwerben. Lassen ist eines davon. Wie vielfältig es sich verwenden lässt. Man kann mit ihm etwas veranlassen, etwas zulassen, dabei belassen, sich einlassen, für immer unterlassen, etwas ablassen, anlassen, durchlassen, vorlassen, verlassen, etwas zurücklassen, loslassen, überlassen und schließlich hinterlassen. Allen Verwendungen ist eines gemein: Lassen bedeutet stets die Aufforderung zum Nichthandeln, sei es von einem selbst oder für andere. Etwas Aktives wird in etwas Passives geführt. Das ist erstaunlich. Denn es passt nicht zu unserer entschlossenen, handelnden, zielgerichteten Kultur, sich aktiv dafür zu entscheiden, etwas nicht zu tun, sich fallen oder gehen zu lassen. Gemeinhin würde man eine solche Bewegung eher fernöstlich verorten, im Zen-Buddhismus, im Konfuzianismus, im Daoismus. Doch offenbar haben auch wir eine Kultur des Nicht-Handelns, des Sein-Lassens.
Seit über einem Jahr führt ein Büchlein des in Berlin lebenden Philosophen Wilhelm Schmidt die Bestsellerlisten an: Gelassenheit. Der Namensvetter des Autors, Altkanzler Helmut hält in einem Interview zu seinem 95. Geburtstag die Gelassenheit sogar für die wichtigste Tugend im Leben. Der Begriff macht Karriere. Auch wenn er bereits tief in unserer Kultur verwachsen ist. Gelegenheit, ein Begriff der christlichen Mystik, findet sich im Mittelhochdeutschen und meint Gottergebenheit. Wer sich niederlässt, seinen Ort findet, ein maßvolles Leben führt, kann sich in der Ruhe Gott öffnen. In unserem heutigen Verständnis bewegt sich der Zustand zwischen Gleichmut und Gleichgültigkeit, durchaus verwandt mit der englischen Coolness. Doch wie wird man gelassen, cool, ausgeglichen? Mit dieser Frage verdient eine ganze Beratungs-Industrie ihr Geld. Man kann sich schnell im Gestrüpp dieses Wirtschaftszweiges verlieren. Eine einfache, wie bestechende Antwort hat bereits im 13. Jahrhundert Meister Eckard gefunden: „Man muss erst lassen können, um gelassen zu sein.“ Ich gebe zu, angesichts der Malerei meiner Tochter fällt mir das schwer. Doch ich lasse meine Wut fahren, nehme ihr ruhig den Stift ab und begleite sie ins Bad.
B leiche kahnhafen im sommer
Es hilft alles nichts, weder Handwäsche noch Gallseife. Der Fleck auf dem Lieblingshemd geht nicht raus. Also bleibt nur bleichen. Ich sehe mir den eingenähten Pflegehinweis an. Das Zeichen, das Bleichen erlaubt, gefällt mir. Ein leeres Dreieck. Man könnte meinen, auch das Bleichen entstammt der christlichen Mystik. Als würde das göttliche Auge der Vorsehung darüber wachen, wie aus Schmutz wieder reines Weiß wird.
So wie meine Tochter, die ich nun vor die Trommel gesetzt habe, um dem Schauspiel zuzusehen. Längst vorbei sind die Zeiten des Bleichangers, wie ich ihn noch aus meiner Kindheit kenne. Die Wäschestücke werden auf der grünen Wiese einzeln nebeneinander ausgelegt und für eine Weile feucht gehalten, sei es durch den morgendlichen Tau oder das regelmäßige Besprühen mit einer Gießkanne. Die ausgebreiteten Laken und Wäschestücke liegen eng beieinander wie Strandgäste in der Hochsaison. Doch im Gegensatz zu Urlaubern sollen sie nicht Farbe bekommen, sondern lassen. Nicht allein die
Sonne bleicht die Stoffe aus. Unter dem Einfluss von Licht und Luftsauerstoff bilden sich Peroxide, sowie durch die Photosynthese des Rasens reaktive Sauerstoffspezies, die den Bleicheffekt befördern. Je nachdem welcher Weißgrad gewünscht ist, kann das mehrere Wochen dauern. Keine leichte Übung, wenn man Unwetter, freilaufende Hühner und Kinder von der Wäsche fern halten muss. Es gibt ein berühmtes Bild von Max Liebermann: Die Rasenbleiche. In einem alten Bauerngarten breiten zwei Mägde ihre Wäschestücke aus. Würde das gebrochene Licht durch die knorrigen Bäume nicht so spätsommerlich scheinen, könnte man die Wäsche für letzte Reste von Schnee halten. Die weißen Flecken sind das Zentrum des Bildes. Auch wenn man auf ihnen Spuren von Gelb und Altrosa erkennen kann, schimmert durch sie das Weiß der Leinwand durch. Unbemalte Flächen, die als Leerstellen auf dem Bild übrig bleiben. Aus dem Weiß der Leinwand lässt der Maler eine Welt entstehen. Allerdings nicht ohne Eingriffe. Vor einem Jahr fanden Restauratoren am Köllner Wallraf-Museum heraus, dass Liebermann Teile des ursprünglichen Gemäldes übermalt und eine junge Wäscherin im Vordergrund hat verschwinden lassen. Ausgestellt hatte auf dem renommierten Pariser Kunstsalon, hatte die übergroße Darstellung der arbeitenden Wäscherin und ganz besonders ihr „käsiges“ Gesicht für Kritik gesorgt. Liebermann übermalte sie. Auf Röntgenaufnahmen kann man sie immer noch in Schemen über das Bild geistern sehen. Nichts verschwindet.
hochzeit im teepavillon „ D ie 8 weisen “
Warum sollte eine Wäscherin nicht blasse Hautfarbe haben, im Angesicht der strahlend weißen Wäsche? So wie ich, der ich nun wieder vor meinem leuchtenden Monitor sitze. Allerdings lässt mich etwas anderes erbleichen. Schon in der Antike treten Pallor (Bleiche) und Pavor (Schrecken) gemeinsam als Schlachtgötter auf. Und wann immer Autoren vor ihren weißen Blättern oder Monitoren sitzen, verlässt auch sie die Gesichtsfarbe aus Angst vor der bevorstehenden Aufgabe.
Wie kann man in diese Leere etwas hineinschreiben, wie aus der eigenen vollen Welt, etwas in dieses Nichts überführen? Eine Frage, vor der nicht nur Autoren stehen. Ganz gleich was wir in unserem Leben an Eindrücken und Erfahrung gesammelt haben, wir gehen stets auf etwas Ungewisses zu und können uns fragen, woraus wir für den nächsten Schritt unsere Zuversicht nehmen. Neben mir auf dem Boden liegen noch die Linienzeichnungen meiner Tochter. Wie schafft sie es, so einfach loszulegen, während ich verharre? Was kann sie, was ich verlernt habe?
spreewald stundenweit . . .
Die Bleiche ist eine Ortslage von Burg im Spreewald. 1748 genehmigte Friedrich II dem Oberamtmann Crüger aus Cottbus hier eine Leinenweberfabrique zu errichten. Sein Nachfolger kommt 1766 auf die Idee, eine Bleiche einzurichten, um so die Stoffe gleich vor Ort weiterzuverarbeiten. Der Name ist bis heute geblieben. Auch noch für das nun ansässige Hotel. Erstaunlich, verbindet man mit Bleichem doch alles andere als Erholung. Wer schon mal da war, weiß, hier ist ohnehin alles etwas anders. Und wer länger bleibt, kann im Bleichen ein wichtigen Schlüssel zum Verständnis dieses Orts entdecken. Denn so wie das Bleichen ein Spiel der Elemente ist – Licht, Erde, Luft, Wasser – ist es auch dieses Haus. Man könnte ohne Weiteres noch das wärmende Feuer hinzufügen. Bleichen ist ein Prozess der Veränderung und auch die ...
scheint sich in einem ständigen Wandel zu befinden. Fast könnte man sie für einen Organismus halten, der weiter wächst, altert, reift, sich erneuert. Jedem Wandel wohnt aber auch ein Moment des Vergessens inne. Der Stoff lässt beim Bleichen seine Farbe. Man kann ihn nun neu färben. Erst auf das weiße, gebleichte Papier lässt sich etwas schreiben oder malen. So kann auch die Bleiche im Spreewald ein schöner Ort des Lassens und Vergessens sein, den man gereinigt verlässt, um einen Neuanfang zu wagen.
Das Piepen der Waschmaschine reißt mich aus den Gedanken, gleich gefolgt vom Geschrei meiner Tochter. Die Waschmaschine ist durchgelaufen. Gemeinsam öffnen wir sie und staunen. Das Bleichen hat nichts gebracht. Noch immer kann man, sanft schimmernd, den Fleck auf dem Hemd meiner Tochter entdecken. Vorsichtig sehe ich zu ihr und erwarte ein Donnerwetter. Immerhin ist es das Lieblingshemd. Doch sie will es am liebsten gleich anziehen. Der Fleck gefällt ihr. Warum auch nicht? Muss es denn immer das reine ...
sein? Weiße Westen und weiße Zähne stehen für Perfektion. Perfekt ist nicht nur ein beliebtes Adjektiv unserer Zeit, sondern auch eine Zeitform: Die vollendete Gegenwart. Ich habe gegähnt. Nichts passiert mehr. Perfektion ist also vor allem eines: Öde. Warum sollte das geliebte Hemd keinen Fleck haben? Es hat etwas erlebt, sich verändert und kann davon erzählen. Den Dingen ihre Spuren, sie im Fluss und im Wandel zu lassen, ist etwas, dass auch jenen Ort im Spreewald ausmacht. Die Idee des Wabi Sabi, das alte japanische Schönheitsideal, dessen Ursprünge bis ins 7. Jahrhundert, zurückreicht, hat auch die Gestaltung der Bleiche maßgeblich beeinflusst. Der Begriff ist kaum übersetzbar. Der amerikanische Autor Richard R. Powell hat es so versucht: Wabi Sabi nährt alles, was authentisch ist, da es drei einfache Wahrheiten anerkennt: nichts bleibt, nichts ist abgeschlossen und nichts ist perfekt.“
smoker ‘ s lounge
Juchzend läuft meine Tochter in ihrem Hemd mit dem Flecken durch die Wohnung. Ich lasse sie. Doch ich kann es nicht lassen und schlage im Wörterbuch lassen nach. Dabei lerne ich eine Zeile weiter ein neues Wort. Im Grunde ist es ein altes, doch ich bin ihm so noch nie begegnet: lass für müde, schlaff. Auf dem gleichen Wortstamm beruht auch das letzten aus verletzen, was nichts anderes bedeutet, als jemanden zu schwächen, müde zu machen. Lassen, letzen und lass sind sprachgeschichtlich miteinander verwandt. Ist unser Lassen also doch nur aus Erschöpfung entstanden, aus Schwäche? Ist unser Nicht-Handeln vielmehr ein Nicht-Mehr-Können? Vielleicht haben es unsere Vorfahren so gesehen. Doch auch unsere Sprache kann sich wandeln und wir uns mit ihr. Ein weitaus bekannterer Verwandter von lass ist das schöne Wort ...
In unserem heutigen Verständnis sind wir nun schon sehr nahe an der Coolness und von dort aus ist es nicht mehr weit zur Gelassenheit.
„Damit eine Geschichte entstehen kann, muss man auch etwas vergessen“, schreibt der serbische Autor Dragan Velikic. Vor mir liegen die Zeichnungen meiner Tochter. Eines der Blätter blieb unbemalt. Ich nehme es zur Hand und begreife: Nicht das leere Blatt hindert mich los zu legen, sondern, dass in mir zu viel ist. Und so wie Papier einmal gebleicht wurde und seine Farbe gelassen hat, muss auch ich vergessen, um zu beginnen. Und so lasse ich alles zurück, meine Gedanken, meine Vorhaben, meine Ideen, bis ich sogar das Lassen lasse, zum Stift greife und ...
Fortsetzung folgt
Foto: Bernward Reul
der Autor
Sebastian Orlac
Geboren 1970 in Bochum, lebt gerne mit Frau, Tochter und Sohn in Berlin. Nach dem Abitur arbeitet er zunächst als Regieassistent, dann als Regisseur für Schauspiel (u.a. Schauspielhaus Bochum, Nationaltheater Weimar) und Musikvideos. Seit 2001 schreibt er Theaterstücke, Romane, Erzählungen, Drehbücher. 2006 ist sein erster Roman „Verteidigung der Himmelsburg“ bei Klett-Cotta erschienen. Im ZDF sind u.a. die von ihm geschriebenen „Lotta“-Filme mit Josephine Preuß zu sehen, sowie Ende 2013 das Helmut Schmidt Doku-Drama „Lebensfragen“. Zusammen mit der Gruppe KULTURMASSNAHMEN realisiert er zudem seit 2002 „Die Show des Scheiterns“, deren TV-Adaption 2012 für den Grimme-Preis nominiert wurde. Spreewald Literatur Stipendium der Spreewälder Kulturstiftung, Winter 2010-2011
IMPRESSUM Herausgeber und Redaktion: Christine und Heinrich Michael Clausing BLEICHE RESORT & SPA Bleichestraße 16 · 03096 Burg / Spreewald, Telefon+49(0)35603-620 · Fax +49(0)35603-60292 www.bleiche.de · reservierung@bleiche.de Hotel „Zur Bleiche“ Heinrich Michael Clausing e.K. Fotos: Nikolaj Georgiew, www.georgiew.de Text: Sebastian Orlac Konzept & Gestaltung: Ronald Reinsberg, reinsberg.de Druck: Druckteam, Berlin
BLEICHE RESORT & SPA · BLEICHESTRASSE 16 · D-03096 BURG / SPREEWALD · TELEFON +49(0)35603-620 · FAX +49(0)35603-60292 WWW.BLEICHE.DE · RESERVIERUNG@BLEICHE.DE